Kiran und Lakshmi

Als er das nächste Mal durch die Kleopatra-Bahnstation kam, rief Kiran bei der Nummer an, die Swan ihm gegeben hatte, und Lakshmi selbst ging ran. Als Kiran ihr sagte, woher er die Nummer hatte, erklärte sie ihm den Weg zu einem nahen Nudelhaus und sagte ihm, dass sie in einer Stunde dort sein würde, was sie dann auch war. Sie erwies sich als typische geborene Venusianerin – hochgewachsen, gut aussehend, einsilbig. Die Kombination aus chinesischer Abstammung und indischem Namen erinnerte ihn an einige andere Leute, die er hier kennengelernt hatte: Man hatte ihm zu verstehen gegeben, dass sie Venusianer auszeichnete, die sich ein Stück weit von ihrer alten Heimat lösen wollten. Durch ihren Namen brachten sie zum Ausdruck, dass sie inzwischen mehr Venusianer als Chinesen waren.

»Arbeite auf jeden Fall weiter für Shukra«, sagte Lakshmi sofort zu ihm, obwohl Shukra ihn in einem Zustand des xuanfu (treibendes Chaos) zurückgelassen hatte. Sie würde ihm helfen, den kuo suo zu erreichen (beide Worte bedeuteten »Ort«, aber laut Kirans Übersetzter war suo der eigene Ort und bezeichnete gleichzeitig seinen Arbeitstrupp). Sie würde ihm eine bessere Stelle verschaffen, bei der er unter anderem als Kurier unterwegs sein und Dinge und Informationen von einem xiaojinku zum anderen befördern würde. Xiaojinku, kleine Gold-Zentrallager: In Kirans Ohren klang es nicht schlecht. Er willigte ein. Erst danach sagte Lakshmi ihm, dass man ihn in jinxing gongzi bezahlen würde, in unsichtbarer Währung. Das klang weniger gut, aber etwas an der Art, wie sie es sagte, überzeugte ihn davon, dass es schon in Ordnung gehen würde.

Nachdem sie ihm seine neue Arbeit erklärt hatte, musterte Lakshmi ihn. »Shukra hat dich von Swan Er Hong, aber er hat dich nicht eingesetzt. Hält er dich für dumm? Oder vielleicht Swan? Oder mich?«

Beinahe hätte Kiran gesagt, dass Shukra vielleicht der Dumme war, aber Lakshmi schien gar keine Antwort von ihm zu erwarten. Sie stand auf und ging, und eine Stunde später hatte er eine neue Identifikationsnummer und damit eine ganz neue Identität und einen neuen Namen. Nichts davon schien irgendjemanden zu interessieren. Sein erster Auftrag von Lakshmi bestand darin, ein kleines Päckchen von Kleopatra aus zurück nach Colette zu bringen; diesmal sollte er fliegen, damit es schneller ging. Zu dem Paket gab Lakshmi ihm eine Übersetzungsbrille, die aussah wie ein Paar dicker, altmodischer Augengläser mit Kopfhörern an den Bügeln. »Besser zum Übersetzen«, erklärte sie ihm.

Also buchte er sich einen Flug und fand dabei heraus, dass seine neue Identität eine ganze Menge Credits besaß – es war geradezu unheimlich. Aber auch interessant festzustellen, über was für Ressourcen Lakshmi verfügte. Möglicherweise über ein ganzes kleines xiaojinku oder sogar mehrere. Die Leute aus seinem alten Trupp hatten gesagt, dass sie in der Arbeitsgruppe war, und die Arbeitsgruppe herrschte über den Planeten.

Ihre Übersetzerbrille war jedenfalls ein Fortschritt: Wenn er chinesische Schriftzeichen mit all ihren komplizierten Ideogrammen sah, dann erschien vor ihnen nun in leuchtend roten Buchstaben eine englische Übersetzung. Verblüfft stellte er fest, was es in der Stadt alles an Informationen zu lesen gab: Nehmt euch vor den Drei Fehlenden in Acht. Stimmt für Stormy Chang. Das Bier vom Hohen Berg. Umwandlungen Tür in der mittleren Himmelshälfte. Anscheinend handelte es sich um eine Geschlechtsklinik. Gib Vater eine zweite Schwester, forderte einen ein anderes Schild auf.

Dann war er im Flugzeug, und dann über den unruhigen Wolken und in der ewigen Nacht unter Venus’ Sonnenschild. Die Wolkenoberseiten zu seinen Füßen wurden nur vom Sternenlicht erhellt. In einem Flugzeug zu sitzen erinnerte ihn an die Erde. Wenn man aus dem Fenster schaute, sah man sie als bläulichen Doppelstern hoch am Himmel. Die Erde war doppelt so hell wie der Mond, und zusammen sahen sie aus wie ein Schmuckstück und so schön, dass sein Herz einen kleinen Satz machte. Dann verzogen sich die Wolken unter ihnen, und er sah geborstene, zerklüftete Kämme – wahrscheinlich die Maxwell Montes. Es handelte sich um eine gewaltige Bergkette, den Himalaja der Venus.

In Colette gab er Lakshmis Päckchen jemandem, der ihn an der Tür seiner Wohnstatt erwartete, und zwei Tage später kam dieselbe Person vorbei und bat ihn darum, ein Päckchen mit dem Flugzeug nach Kleopatra zu bringen.

Zurück in Kleopatra ging Kiran seinen Anweisungen gemäß zu der Promenade empor, die direkt an der Innenseite der Kuppel entlang um den Krater herumlief. Auf der Außenseite der Kuppel rutschte in einer niemals endenden Lawine der Schnee herab. Das Päckchen sollte zum 328. der 360 Grade gebracht werden, die die Ringpromenade wie ein Ziffernblatt unterteilten. Er stellte fest, dass das Geländer als Orientierungshilfe nummeriert war. Die Person, die bei der Nummer 328 auf ihn wartete, jemand Kleines von unbestimmtem Geschlecht, sprach Chinesisch. »Wir sind die Nachtläufer von Bengal, eine sehr wichtige Arbeit«, übersetzte Kirans Brille laut, was dem Sprecher, der anscheinend Englisch verstand, ein Lächeln entlockte. Die Brille hatte wohl etwas Lustiges gesagt, aber Kiran wusste nicht, was. »Erzähl mir mehr«, sagte er hastig, und der oder die Kleine führte ihn zu einer nahe gelegenen Bar.

Kexue (Wissenschaft) setzte sich auf die Theke, während Kiran sich auf einem Stuhl niederließ, und für ein paar Stunden lauschte Kiran den Geschichten, die ihm seine Brille ins Ohr murmelte, Geschichten, die für ihn wenig Sinn ergaben, aber trotzdem interessant waren. Sie waren Teil eines Projekts, Lakshmi war eine Göttin, Wissenschaft hatte ihr einmal den Fuß geküsst und seiner bescheidenen Existenz dabei beinahe durch einen Elektroschock ein Ende gesetzt; man konnte die Götter nicht berühren, sondern ihnen nur gehorchen. Als sich ihre Wege trennten, erhielt Kiran Kexues Nummer und das Versprechen, dass sie sich mal wieder treffen würden.

Seine Rückreise nach Colette, bei der er ein weiteres Päckchen dabeihatte, sollte diesmal am Boden stattfinden, in einem eigens dafür vorgesehenen Geländewagen. Er stellte fest, dass er an Bord dieses massiven, sechsrädrigen Fahrzeugs bestenfalls ehrenhalber der Fahrer war, da es von einer KI gesteuert wurde. Ziemlich schnell surrte es über eine Straße aus zertrümmertem Felsgestein und festgedrücktem Kies und überholte dabei mit geschickten Spurwechseln gewaltige Minenfahrzeuge. Kiran hatte den Eindruck, dass das Passagierabteil sich von dem Gewicht im Laderaum nach hinten neigte. Man hatte ihm nicht gesagt, worum es sich bei der Ladung handelte, aber auf den Armaturen tickte ein Dosimeter gleichmäßig vor sich hin. Vielleicht Uran? Das Päckchen, das Kexue ihm gegeben hatte, war nicht versiegelt, und so schaute er hinein, in der Hoffnung, dass man ihm dabei nicht im Nachhinein auf die Schliche kommen konnte. Er stellte fest, dass er einen Stoß handschriftlicher Aufzeichnungen beförderte. Die chinesischen Buchstaben sahen aus wie die Kalligrafie eines Betrunkenen und waren von kleinen, skizzenhaften Vogel- und Tierzeichnungen umgeben. Seine Brillengläser legten rote Buchstaben über die Schriftzeichen:

Nur der, der Augen hat, kann sehen.

Bei großen Unternehmungen ist selbst das Scheitern ruhmvoll.

Das sah für ihn nach einem Code aus. Ob die Nachricht persönlicher oder offizieller Natur, wichtig oder nebensächlich war, wusste er nicht. Kirans Brille hatte einige von Kexues Worten dahingehend übersetzt, dass Lakshmi gezwungen wäre, sich an nichts als eine Stimme in ihrem Ohr zu halten, wenn sie sowohl Shukra als auch die Qubes umgehen wollte. Vielleicht hatten diese Aufzeichnungen damit zu tun. Kexue hatte gesagt, dass die Lage ganz oben sehr, sehr undurchsichtig wäre.

»Wie in China?«, hatte Kiran gefragt.

»Nein«, hatte Kexue geantwortet, »nicht wie in China.«

Zurück in Colette überreichte Kiran das Päckchen der Person, die schon beim ersten Mal vor der Tür seiner Unterkunft gewartet hatte, um sich anschließend wieder seinem Trupp anzuschließen und ein paar Wochen auf dem Eis zu verbringen. Dann erhielt er erneut einen Anruf von Lakshmi und flog nach Kleopatra, um ein weiteres Päckchen abzuholen. So lief das viele Male, ohne dass sich die einzelnen Aufträge groß voneinander unterschieden. Da Kiran weiter bei seinem Trupp in Colette wohnte und auf die eine oder andere Art für Shukra arbeitete, hatte er den Verdacht, dass er versehentlich zu einer Art Maulwurf oder Doppelagent geworden war, aber sicher sein konnte er sich nicht. Er würde Swan zu seiner Verteidigung anrufen müssen, falls er jemanden verärgerte. Eines Tages fand er beim Aufsetzen seiner Übersetzungsbrille durch Zufall heraus, dass sie auch gesprochenes Chinesisch mit schwebenden roten Schriftzeichen übersetzte, und nicht nur geschriebene Ideogramme. Das war eine tolle Entdeckung, die ihm half, schneller zu lernen und sich dabei nicht auszuklinken. Die sichtbare Welt war nun überall rot beschriftet – einerseits konnte einen das gehörig durcheinanderbringen, andererseits war es angenehm, dass ihm endlich mal alles erklärt wurde. Von nun an trug er die Brille fast immer.

So transportierte er Päckchen und gelegentlich einen radioaktiven Geländewagen über Ishtars Rückgrat hin und her. Mit einem Blick auf die Landkarte sah Kiran, dass das riesige Hochplateau, das die westliche Hälfte Ishtars beherrschte (handelte es sich dabei um Ishtars Schultern oder Ishtars Hintern?), Lakshmi-Planum hieß. Er wusste nicht, ob es sich dabei um einen Zufall oder eine Anspielung handelte. Er musste ein persönliches Dosimeter tragen, das tickend die Millisievert anzeigte. Ein Glück, dass die Langlebigkeitsbehandlungen gute Mutationstherapien beinhalteten!

Viele Fahrten machte er alleine, und die KIs an Bord der schweren Fahrzeuge waren wahrhaft einfach gestrickt. Die Übersetzungsbrille erinnerte stark an einen Hund, aufmerksam, aber berechenbar. Kiran hatte Hunde noch nie gemocht, aber da es für ihn ohnehin schon schwer genug war, sich zurechtzufinden, musste er sich mit diesem wohl anfreunden.

In Kleopatra machte er sich nach seinen Treffen mit Kexue immer auf die Suche nach den lautesten Bars, die er finden konnte. Am Ende einer Gasse hörte er englischen Gesang, eine ganze Gruppe, die die Ballade von John Reed sang, und er wäre beinahe gerannt, um sicherzugehen, dass sie nicht auf rätselhafte Weise wieder verschwinden würden, ehe er bei ihnen war. Aber es stellte sich heraus, dass es bloß eine Singbar war, in der schlechtes Bier und schlechte Witze serviert wurden und einige wenige Leute Englisch sprachen. Trotzdem traf er dort eine Frau, Zaofan (Steh auf und rebelliere). Er ging mit ihr ins Hinterzimmer, und als sie nach dem Sex wieder auftauchten, in die Welt der Sprache zurückkehrten und sich in der Dunkelheit vor der künstlichen Morgendämmerung der Stadtkuppel unterhielten, erwähnte sie, dass sie ebenfalls für Lakshmi arbeitete. Kiran verspürte einen kurzen Anflug von Angst – das schien ihm mehr als bloß Zufall zu sein. Sehr vorsichtig stellte er ihr einige Fragen, und nach einer Weile vermittelten ihm ihre Antworten den Eindruck, dass die Hälfte der Bevölkerung Kleopatras für Lakshmi arbeitete, sodass ihr Zusammentreffen vielleicht doch ein Zufall sein mochte. Das war ein angenehmer Gedanke: Er wollte nicht gern in irgendwelche Intrigen verwickelt sein, die er nicht verstand. Andererseits wollte er durchaus in die Intrigen verwickelt sein, die er verstand. Das würde bedeuten, dass er Fortschritte machte. Also hing er von da an in der Singbar herum, und mithilfe seiner Brille und mit den Leuten dort, die Englisch und in ein oder zwei Fällen ein bisschen Telugu sprachen, redete er eine ganze Menge. Einmal saß er zum Beispiel zwischen einem Uiguren und einem Vietnamesen, deren Englisch derart verfremdet war, dass es schon wieder nach Lyrik klang. Doch er konnte die beiden verstehen, und in solchen Situationen dankte er stumm den englischen und amerikanischen Großreichen der Vergangenheit und sog jedes Wort in sich auf.

Wann immer er seine Freundin Zaofan fand, blieb er in ihrer Nähe, und mithilfe von ihr und ihrer Einheit brachte er mehr über Lakshmi in Erfahrung. Lakshmi gehörte zur Arbeitsgruppe, da waren sich alle einig. Sie mochte Shukra nicht; sie mochte China nicht. Genau genommen wusste niemand, ob sie überhaupt etwas mochte. Es gab Gerüchte darüber, dass Lakshmi in der indischen Mythologie ein Avatar der Todesgöttin Kali war – oder vielleicht verhielt es sich auch umgekehrt, da war sich niemand so sicher. Ihre Lakshmi war angeblich ein Hermaphrodit und hatte einen Liebhaberverschleiß wie eine Schwarze Witwe. Niemand wollte ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen. In ihrer Jugend war sie überall auf der Venus gewesen, und manche behaupteten, dass sie in ihren Sabbatjahren Schutzgelder in Peking erpresste, unter dem Kriegsnamen Zhandhou (Kämpfe!). Shukra steckte tief in der Scheiße – »Bevor die Sache zu Ende ist, wird er sanwu sein, du wirst schon sehen. Vielleicht wird es sogar vier Fehlende geben, wenn sie ihn auch noch kastriert.«

Anscheinend hatte Lakshmi das gefrorene Kohlendioxid der Venus schräg ins All schießen wollen, was die Rotation der Venus im Laufe der Zeit beschleunigt und ihnen einen natürlichen Tag beschert hätte. Dieser Plan war jedoch zugunsten der umfangreichen Einlagerung verworfen worden. Da Lakshmi allerdings eine so große Macht in der Arbeitsgruppe darstellte, bestand immer die Möglichkeit, dass die Dinge eines Tages wieder anders liegen würden. Wer konnte das schon sagen? Die Arbeitsgruppe war ein verschwiegener kleiner Kreis, der zu überschießender Begeisterung und plötzlicher Fraktionsbildung neigte. Die meisten in der Singbar hielten sie für eine gefährliche Kraft, die sich kein bisschen um die einfachen Venusianer scherte, wenn sie sich nicht gerade bei der Terraforming-Arbeit einsetzen ließen. Mit anderen Worten, es war wie früher in China! China 2.0! Die Chinawelt! Das Reich der Mitte näher an die Sonne verlegt! Das innere Reich der Mitte sozusagen! Man hatte hier eine Menge Bezeichnungen dafür.

Manche Leute in der Bar fanden, dass es sich bei alldem um Übertreibungen und Klischees handelte. Schließlich säßen sie hier in der Singbar zusammen und vollbrächten dort draußen täglich tolle Taten, womit sie ein Teil der Geschichte der Venus wären, egal was die Leute über die Regierung sagten – aber solche Meinungen wurden mit Gelächter und Hohnrufen quittiert. Anscheinend waren die meisten Anwesenden der Meinung, dass sie nur hilflose Beobachter eines gewaltigen Dramas waren, das sich über ihren Köpfen abspielte, ein Drama, dass sie schließlich mit in den Abgrund reißen würde, da konnte man so viel reden oder hoffen, wie man wollte. Deshalb sollte man sich lieber mit Trinken und Palavern und Singen und Tanzen betäuben, bis man schließlich erschöpft durch die frühmorgendlichen Straßen taumelte. Und so folgte auch Kiran Zaofan zu ihrem Platz auf dem Matratzenlager ihres Arbeitstrupps. Nach einigen Malen akzeptierte man ihn als Mitbewohner, was recht angenehm war.

Einmal hatte er bei seiner Rückkehr nach Colette das Gefühl, beobachtet zu werden, und als er es bemerkte, schloss sein Verfolger zu ihm auf. Es war ein großer Mann, der ihm mit einem Blick verriet, dass sich noch jemand hinter Kiran befand. Sofort rannte Kiran in eine verstopfte Gasse und schob sich seitwärts durch die Hintertür eines Ladengeschäfts, was allgemeine Empörung zur Folge hatte, die seine Verfolger hoffentlich behindern würde. Anschließend ging es nur noch darum, so schnell wie möglich zu rennen, immer tiefer in das Labyrinth aus kreisförmigen Gassen in Colettes Innenstadt. Haken schlagend eilte er zu Lakshmis kleiner Vertretung in Colette und zog sich selbstbewusst vor dem Wachmann am Eingangstresen hoch. »Ich will Lakshmi sehen«, schnaubte er. Die Brauen des Wachmanns hoben sich weit, und sofort zeigte eine Pistole auf Kirans Gesicht.

Es dauerte eine Weile, bis Lakshmi in Colette war, und während dieser Zeit ließ der Wachmann ihn nicht aus der Vertretung. Er war mehr oder weniger verhaftet, doch als Lakshmi eintraf, schien sie mit seiner gelungenen Flucht zufrieden zu sein.

»Unterm Rand bei der 123 in Kleopatra gibt es ein geschlossenes Gebäude«, sagte sie, als er seine Geschichte zu Ende erzählt hatte. »Zieh nach Kleopatra, übernachte dort bei deiner Freundin, und lass dich ein bisschen treiben. Versuch festzustellen, wie viele Leute dieses Gebäude täglich betreten und verlassen. Ich glaube, Shukra versucht, ein xiaojinku in meiner Stadt aufzubauen.«

»Funktioniert das wie eine hawala?«, fragte Kiran.

Lakshmi beachtete seine Frage nicht. Sie ging, und auch Kiran durfte gehen.

Als Kiran also das nächste Mal in Kleopatra war, ließ er sich treiben. Er ging durch die Stadt in den 110. Abschnitt, wo es weniger Speichen-Boulevards gab, dafür mehr größere Industriegebäude. Die Bars waren ebenfalls entsprechend größer. Er betrat eine in der Nähe der Anlage bei der 123 und setzte sich an das Fenster, durch das der Barkeeper den Kellnern die Getränke reichte. Dann schaltete er seine Übersetzerbrille ein und blickte starr vor sich hin, als schaute er sich einen Film auf ihr an, während er das schlechte Bier trank und die Übersetzung der Gespräche um ihn herum las.

Sie sind so schön, das ist ein Fehler.

Lakshmi wollte sie so haben.

Psst! Sie, deren Name nicht ausgesprochen werden darf!

Doch Kiran hörte sie lachen. Die Brille schrieb kein rotes Ha!Ha!Ha! auf die Linsen wie bei einem Comic; eigentlich hätte ihm das gefallen.

Nachdem er den ganzen Abend lang den Barbesuchern zugehört hatte, stand er ein Weilchen auf der Straße herum, nahm eine Straßenbahn zur Randpromenade und spazierte durch die fragliche Nachbarschaft, wobei er beiläufig Blicke nach unten warf. Er ließ die Gespräche um ihn herum von seiner Brille aufzeichnen. Später am selben Abend saß er an einem Ecktisch in einer Bar nahe der Innenstadt und spielte die Aufzeichnungen verbal ab, in der Hoffnung, das eine oder andere Gespräch von Wachleuten aufgeschnappt zu haben. »Sie muss damit aufhören, das ist zu viel.« Jemand anders war nicht besonders glücklich über diese Worte. »Wir arbeiten für Big Pears, tu es einfach.«

Immer wieder spielte Kiran die Aufzeichnungen und Übersetzungen der Brille ab, wobei er versuchte, ein Gefühl für den Klang der chinesischen Sprache zu bekommen, und über die Bedeutung der Gesprächsfetzen grübelte. Da gab es anscheinend einen »Mann aus Schanghai.« Nánrén husheng. Er schien ein bedeutender Mann zu sein. Schanghai war überflutet, dachte Kiran. Vielleicht handelte es sich einmal mehr um einen Code. In der Singbar gab es ein Lied: »Meine Heimat war Schanghai – jetzt liegt sie unter dem Meer – ich kam auf die Venus, weil ich nicht bei den Fischen wohnen wollte – und jetzt bin ich hier, und es ist nasser als am Meeresgrund – und voller Haie! Liebe Güte!«

Das Wort »sie«, tamen, schien sich auf die Arbeitsgruppe zu beziehen, oder auf irgendeine einflussreiche Kraft, die hinter den Kulissen wirkte. »Sie« wollen dies, »sie« werden das tun. Von unten gesehen war die Arbeitsgruppe offenbar völlig undurchsichtig. Entweder wurde sie gewählt oder eingesetzt; niemand wusste, was zutraf. Angeblich gehörten ihr etwa fünfzig Mitglieder an. Manche behaupteten, dass sie den Tongs der alten Heimat ähnelte, andere meinten, dass sie sich ihre Methoden bei den frühen Hans abgeschaut hätten, oder sogar von der untergegangenen Irokesen-Liga Nordamerikas.

Zaofan und ihr Trupp steckten voller weiterer Geschichten, die man sich draußen auf der Straße in kleinen Häppchen erzählte. Lakshmi arbeitete mit anderen zusammen, darunter (natürlich) Vishnu sowie ein Rama und ein Krishna. Einen indischen Namen anzunehmen war vergleichbar damit, sich unter der Qing-Dynastie den Zopf abzuschneiden. Wenn diejenigen, die das taten, Teil der Arbeitsgruppe waren, was sagte das dann über die Beziehungen zwischen der Venus und China aus?

Vishnu und Rama waren anscheinend nur bei Treffen, die im Raumhafen vom Kleopatra abgehalten wurden, was vielleicht bedeutete, dass sie nicht von diesem Planeten stammten oder dass sie viel reisten. Krishna lebte auf Venus, aber in Nabuzana, einer Schluchtstadt auf Aphrodite. Einmal wurde Kiran zu Lakshmi ins Zimmer gerufen, als Krishna zu Besuch war, oder zumindest behauptete Zaofan das später, als er ihr den Besucher beschrieb, den man ihm nicht vorgestellt hatte und der kein Wort gesprochen hatte.

Shukras neues Gebäude bei Kleopatra 123 (falls es das war, worum es sich handelte) war sorgfältig gesichert. Nach den eintreffenden Nahrungsmitteln und dem ausgehenden Recyclingmaterial zu folgern wohnte dort rund um die Uhr eine kleine Belegschaft. Kiran verbrachte eine Menge Zeit in der Umgebung, spazierte umher und behielt das Gebäude im Auge, manchmal von der Randpromenade aus. Kiran fand heraus, dass Lakshmis Leute ebenfalls mehrere geschlossene Häuser in Kleopatra hatten. Vielleicht war sie deshalb der Meinung, dass Shukra sich in ihr Revier drängte, indem er sich auch eines anlegte.

Dann kehrte er eines Tages zu Zaofans Unterkunft in Kleopatra zurück und stellte fest, dass ihr Bereich des Matratzenlagers von einer ganz anderen Gruppe belegt war. Zaofan war fort, genau wie Stärke der Nation und Großer Sprung – die gesamte kleine Gruppe, die ihn aufgenommen hatte. Der Verwalter der Unterkunft erklärte ihm, dass sie alle zusammen abgereist waren, nachdem sie einen Anruf von jemandem auf Aphrodite erhalten hätten. Er zuckte mit den Achseln. So lief das eben auf Venus, brachte er damit zum Ausdruck. Die Leute erhielten ihre Arbeitsanweisungen und zogen mit ihren Trupps weiter. Wenn man nicht zu einem Trupp dazugehörte, dann ging das einen nichts an. Man war xuan, man hing in der Luft.

»Nein!«, rief Kiran laut. »Zaofan!« Er hatte mit diesen Leuten zusammen gelacht, er hatte ihre Namen auf Englisch gesagt und sie damit zum Lachen gebracht!

Die neuen Leute auf dem Matratzenlager kehrten ihm den Rücken zu, bis er bereit war zu reden.

Dann stellten sie sich vor, und da er ihnen erzählen konnte, wo es hier in der Gegend gute Bars und dergleichen gab, nahmen sie ihn in ganz ähnlicher Weise auf, wie der vorangegangene Trupp es getan hatte. Trotzdem fühlte Kiran sich verändert und blieb diesen Leuten gegenüber reservierter als bei seiner ersten Gruppe – bei der es sich eigentlich um seine zweite gehandelt hatte, wenn er genauer darüber nachdachte. Das würde immer wieder passieren, das begriff er jetzt. Man konnte sich anderen Menschen nicht beliebig oft hingeben.

Der Verwalter der Unterkunft, mit dem er sich inzwischen recht gut verstand, erkannte, was in Kiran vorging. »So darfst du nicht denken, sonst kapselst du dich ab! Du kannst dich selbst so oft hingeben, wie du Gelegenheit dazu erhältst. Es gibt da keinen begrenzten Vorrat.«

»Es tut zu sehr weh, wenn die anderen fortgehen.«

Der Verwalter zuckte mit den Schultern. »Es hat keinen Sinn, sich an jemanden zu hängen. Lass los und wende dich neuen Dingen zu. Dein kuo ist dein suo

Dein Ort ist Dein-Ort. Die Philosophie von jemandem, der eine Schlafstatt betrieb. Aber jedes Gebäude auf Venus war eine solche zeitweilige Unterkunft. Vielleicht sogar jedes Gebäude im Sonnensystem.

In der neuen Gruppe gab es ebenfalls ein paar Leute, die für Lakshmi arbeiteten, unten an der neuen Meeresküste, die gerade im Süden gebaut wurde. Sie legten die Städte vor dem Ozean an, der nach wie vor täglich in Form von Schnee niederging. In Sachen Meeresspiegel würde man noch viele Jahre lang mit hohen Einsätzen spielen, und so ziemlich jeder mischte mit. Es gab dabei sogar einen Markt für eine Art Termingeschäfte, insofern man Wetten darauf abschließen konnte, wie hoch der Meeresspiegel letztlich steigen würde. Anscheinend war die Bandbreite dabei ziemlich groß – über zwei Höhenkilometer, was in der Horizontalen gewaltige Landstriche umfasste. In der Arbeitsgruppe und selbst in China wurden offenbar ständig Abmachungen getroffen, gebrochen und erneut getroffen; ständig kamen neue Anweisungen. Man schob riesige Massen von noch nicht abgesondertem Trockeneis umher; und dann war mit einem Mal Schluss damit, und gewundene Wälle blieben wie Höhenlinien auf einer Karte überall in der weißen Landschaft zurück. Das Zeug musste vergraben werden, bevor die Temperaturen noch weiter stiegen, sonst würde es wieder in die Atmosphäre ausdampfen und sie alle vergiften. Das Terraforming, hieß es, wurde langsam zu einem mörderischen Geschäft.

All das war Kiran neu, und als er Lakshmi das nächste Mal sah, erzählte er ihr von seinen neuen Schlafgenossen und fragte, ob er sie begleiten durfte, wenn sie das nächste Mal zur Küste reisten. Erst schüttelte sie den Kopf, dann runzelte sie die Stirn und dann willigte sie ein.

»Fahr einfach da runter, sieh dir die Stadt an, und merk dir, wie sie aufgebaut ist. Ich lasse es dich wissen, wenn ich möchte, dass du etwas dort hinbringst.«

Also begleitete er sein neues Team mit einem Geländefahrzeug nach Vinmara. Auf dem Weg den gewaltigen Südhang von Ishtar hinab kamen sie an einer weiteren neuen Stadt vorbei, die mit einem Hafen an der abfallenden Seite gebaut wurde; dann fuhren sie durch eine Reihe riesiger Haarnadelkurven noch mal etwa tausend, vielleicht auch zweitausend Meter hinab und erreichten schließlich Vinmara, die man ebenfalls als Hafenstadt anlegte. Kiran schloss daraus, dass die Höhe des künftigen Meeresspiegels heftig umstritten sein musste, aber sein neues Team erklärte abfällig, dass die Stadt, an der sie vorbeigekommen waren, eine sinnlose Geste sei und dass ihre Bewohner das Hafenbecken bestenfalls als Schwimmbad würden nutzen können.

Vinmara selbst war anscheinend mehr als gebaut, denn es bestand größtenteils aus Biokeramik, die sich in gerundeten Schichten entlang des geplanten Uferverlaufs ablagerte. Die Strandpromenade oder Klippenstraße würde einen Stadtbezirk entlang der Meeresbucht verankern, die sich dort eines Tages befinden sollte. Oberhalb der gekrümmten Uferlinie stieg die Stadt steil zu einem Kamm in ihrem Rücken an, der sich bereits mit größtenteils weißen oder beigen Muschelformen und pastellblauen, griechisch anmutenden Borten bedeckte.

»Diese Stadt hier ist Lakshmis Werk?«

Ja, es war eines ihrer Projekte im Rahmen der Arbeitsgruppe.

»Und jemand anders baut die Hafenstadt weiter oben am Hang?«

Ja, das war die Stadt von Shukras Leuten. Sie waren Dummköpfe und Idioten.

»Aber weiß man denn nicht, wie hoch der Meeresspiegel steigen wird?«, fragte Kiran. »Ich meine, das Wasser ist doch bereits oben in der Atmosphäre, stimmt’s?« Er deutete mit einer knappen Geste auf den nie endenden Gewittersturm. »Warum sollten sie sich bei den Modellen verrechnen?«

Seine Teamkameraden zuckten mit den Schultern. Ein oder zwei von ihnen warfen einander Blicke zu, die Kiran zu dem Schluss gelangen ließen, dass er diese Frage als ein weiteres ungelöstes Rätsel des Sonnensystems abheften musste. Der entsprechende Ordner in seinem Kopf war schon ziemlich voll. Schließlich sagte einer seiner Kameraden: »Man muss Entscheidungen treffen. Manche Becken werden entweder geflutet oder nicht.«

Sie gingen mit ihm in ein Straßencafé an der Rückseite der neuen Seemauer, von dem aus man eine gute Aussicht auf einen weiteren kleinen Seehafen hatte, der über einem schwarzen Felsen aufragte. Jeder der runden Tische in dem Café hatte einen eigenen Sonnenschirm, obwohl die ganze Stadt ja von einem Schutzzelt überspannt war. Am Anfang waren sie fast die einzigen Gäste. Dann trudelten nach und nach weitere ein. Ein Gitarrentrio stellte sich auf und begann zu spielen, und die Leute fingen an zu tanzen. Eine Party in einem trockenen Hafen, in einem nachtdunklen Gewitter an einem leeren Meer. Die Wärmelampen waren eingeschaltet, und wenn man lange genug tanzte, konnte man sich sogar die Füße aufwärmen. Kiran tanzte die ganze Zeit mit einer jungen Frau aus seinem neuen Trupp – ja, die alte Anziehungskraft zwischen Männern und Frauen war für Kiran nach wie vor die verlässlichste Richtlinie in Sachen Sex, und überall auf der Tanzfläche konnte man Varianten dieses Rituals beobachten. Tatsächlich war es oft schwer zu erkennen, wer Mann war und wer Frau, und dieses Mädel war genau genommen einen halben Meter größer als er und ziemlich maskulin und selbstsicher. Dementsprechend schmolz Kiran willig wie ein Mädchen dahin, das noch in dieser Nacht schwanger werden möchte. Egal! Er schaute gerne in ihr Gesicht auf!

Er versuchte, mit ihr zu reden. »Lyánhé? Shengren syingyu?« Vereinigung? Fremder sexuelles Verlangen?

»Syin pengyu syingyu«, machte sie sich über ihn lustig.

Neuer Freund sexuelles Verlangen, schrieb seine Brille in Rot über die Welt. Noch besser!

»Tyauwu!«, befahl sie ihm. Tanz.

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