Swan und der Inspektor

Es gibt zwei Probleme, was den Umgang mit dem Terminator-Zwischenfall betrifft«, sagte Inspektor Genette eines Abends zu Swan, als sie Richtung Asteroidengürtel hinausflogen. Sie reisten mit einer kleinen Gruppe von Interplan-Leuten und ehemaligen Terminator-Einwohnern, doch abends waren sie oft die letzten beiden Personen in der Kombüse. Das gefiel Swan: Genette saß dann beim Essen immer auf dem Tisch, auf einem eigens zu diesem Zweck mitgebrachten Polsterkissen, und lümmelte sich anschließend mit aufgestütztem Ellbogen zum Trinken darauf, sodass sie sich auf Augenhöhe unterhalten konnten. Es war ein bisschen, als redete man mit einer Katze.

»Nur zwei?«, fragte Swan.

»Zwei. Erstens, wer hat es getan, und zweitens, wie können wir diesen Täter aufspüren und fangen, ohne dabei noch mehr Leute auf die gleiche Idee zu bringen? Das sogenannte Nachahmerproblem, und allgemeiner ausgedrückt die Notwendigkeit, die Wiederholung einer derartigen Attacke zu verhindern. Das halte ich für das schwierigere Problem von beiden.«

»Und die Frage, wie man es angestellt hat?«, warf Swan ein. »Ist das nicht auch ein Problem?«

»Ich weiß, wie man es gemacht hat«, sagte Genette leichthin.

»Tatsächlich?«

»Ich glaube schon. Meiner Meinung nach kann es nur auf eine Art vonstattengegangen sein, also war es wohl auch so. Ganz egal, wie unwahrscheinlich, wie man so sagt, obwohl die Erklärung in diesem Fall überhaupt nicht unwahrscheinlich ist. Aber ich muss gestehen, dass ich nichts weiter darüber sagen möchte, solange wir beide von unseren Qubes mitgeschnitten werden.« Genette hob eine Hand und zeigte auf das dicke, fast würfelförmige Armbandpad, das Passepartout enthielt. »Ich nehme an, dein Qube nimmt ununterbrochen auf?«

»Nein.«

»Aber oft?«

»Ja. Ich denke schon. Wie bei allen anderen auch.«

»Tja, in jedem Fall möchte ich mir ein paar Sachen im Asteroidengürtel ansehen, bevor ich mir meiner Hypothese sicher sein kann. Wir reden also weiter, wenn wir dort draußen sind. Aber ich möchte, dass du über das zweite Problem nachdenkst: Mal angenommen, wir fassen den Verbrecher und können, zum Beispiel in einer Gerichtsverhandlung, erklären, was passiert ist – wie sorgen wir dafür, dass nicht jemand anders das Gleiche tut? Ich glaube, an dem Punkt kannst du mir helfen.«

Sie reisten im Terrarium Moldava. Es flog einen Aldrin-Zyklus ab, der sie innerhalb von acht Tagen nach Vesta bringen würde. Das Innere der Moldava wurde komplett zum Anbau von Weizen verwendet, und viele der Mitreisenden versammelten sich nach der täglichen Feldarbeit in einem Freizeitheim, das sich auf einer breiten Hügelkuppe im Bugbereich befand. Von dort aus konnte man zu dem einwärts gekrümmten Flickenteppich von Feldern emporschauen, auf denen verschiedene Weizensorten in zahlreichen Grün- und Goldtönen wuchsen. Es war wie eine karierte Version des Himmels.

Swan verbrachte einen Großteil ihrer Zeit im Gespräch mit den örtlichen Ökologen, die über ihre zahlreichen kleinen Probleme mit Weizenkrankheiten reden wollten. Jean blieb in den Interplan-Räumlichkeiten und setzte, als sie am Mars vorbeikamen, Nachrichten an die Leute in den Terrarien um Vesta herum ab. In dieser Zeit traf Swan sich abends zum Essen mit der Interplan-Gruppe und blieb anschließend lange auf, um sich mit Genette zu unterhalten. Manchmal sprach sie dabei von der Arbeit, die sie tagsüber verrichtete. Die hiesigen Bewohner machten Versuche mit Weizensorten, die das Wasser besser von den Fruchtständen abperlen ließen, und forschten nach einer Möglichkeit, durch Genmanipulation mikroskopisch kleine »Tropfspitzen« zu erzeugen, wie die, die man in der Makrowelt bei tropischen Blättern vorfand, an deren langen Spitzen sich die Oberflächenspannung des Wassers brechen konnte, sodass es ablief. »Ich hätte gerne Tropfspitzen im Gehirn«, sagte sie. »Ich will nicht an Dingen festhalten, die mir Schmerzen bereiten.«

»Viel Glück dabei«, sagte Inspektor Genette höflich, hielt die Aufmerksamkeit dabei jedoch weiterhin auf das Essen gerichtet. Eine ganze Menge Essen für eine so kleine Person.

Ein paar Tage später erreichten sie die Vesta-Zone, eines der am dichtesten besiedelten Gebiete im Asteroidengürtel. Während des Accelerandos waren viele Terrarien dichter zusammengerückt und hatten sich zu Gemeinschaften zusammengeschlossen, von denen die Vesta-Zone eine der größten war. Die Moldava setzte eine Fähre mit dem Interplan-Team an Bord ab. Sobald die Fähre abgebremst und sich Vesta angenähert hatte, stiegen sie erneut um, diesmal auf ein Interplan-Schiff mit Interplan-Besatzung.

Es handelte sich um ein erstaunlich wendiges kleines Raumschiff namens Schnelle Gerechtigkeit, und schon bald bewegten sie sich gegen den gewaltigen Strom von Asteroiden, wobei sie das eine oder andere Mal bei kleinen Felsbrocken hielten, auf denen Genette mit Leuten reden wollte. Für diese Gespräche erhielt Swan keinerlei Erklärung, und sie verkniff sich ihre Fragen, während sie Orinoco Fantastico, Crimea, Tal von Oro, Irawady 14, Trieste, Kamputschea, John Muir und Winnipeg aufsuchten. Dann hielt sie es nicht mehr aus und fragte doch.

»Bei all diesen kleinen Welten gab es in letzter Zeit Unregelmäßigkeiten in den Umlaufbahnen«, erklärte Genette, »und ich wollte fragen, ob sie eine Erklärung dafür haben.«

»Und, hatten sie eine?«

»Anscheinend gab es einige unvermittelte Abreisen aus der Vesta-Zone, und dadurch wurden einige der benachbarten Asteroiden wohl vom Kurs abgebracht.«

Vesta selbst erwies sich für einen Asteroiden als ziemlicher Brocken – er hatte einen Durchmesser von sechshundert Kilometern, war mehr oder weniger kugelförmig und vollständig von einem Atmosphärenzelt umhüllt, was ihn zu einem der größten Beispiele für die als »Einschweißen« bekannte Paraterraforming-Methode machte. Normalerweise bedeckten solche Zelte nur Teile von Mondoberflächen, wie früher die Kuppeln; sie waren auf Kallisto und Ganymed und Luna weit verbreitet, aber all diese Monde waren so groß, dass man nie auf die Idee gekommen wäre, sie ganz zu umhüllen. Als nächstes Stadium würde man einen kleinen Mond mit einer zeltartigen Blase umgeben. Das war eine praktikable Draußen-Alternative zu den ausgehöhlten Innenwelten. Swan vermutete, dass Terminator selbst auch ein Fall von Prototerraforming war, obwohl sie die Stadt nie so betrachtet hatte. Außerdem hegte sie den Draußenwohnern im Asteroidengürtel gegenüber das Vorurteil, dass sie zu viel Strahlung und zu wenig Gravitation abbekamen und besser dran wären, wenn sie sich in einen Felsbrocken hineingrüben und ihn in Rotation versetzten.

Doch jetzt, als sie Vesta aus der Nähe betrachtete, sah der Asteroid gut aus. An so einem Ort gab es Wetter und einen Himmel (die Zeltplane befand sich zwei Kilometer über der Oberfläche), und Pauline erzählte ihr, dass die Vestaner Kiefernwälder, Berglandschaften, Tundra, Grasland und zahlreiche kalte Wüsten angelegt hatten. Überall dort herrschte natürlich sehr geringe Gravitation, was bedeutete, dass die Leute ständig flogen und umhertänzelten, in einer weichen, beinahe schwebenden Umwelt. Gar keine so schlechte Idee. Sie hatten sogar einen riesigen Berg.

Swan war also durchaus interessiert an einem Besuch auf Vesta, aber Genette hatte ein anderes Ziel im Sinn. Nachdem noch ein paar weitere Interplan-Leute zu ihnen hinzugestoßen waren, machten sie sich auf den Weg zu einem nahe gelegenen Terrarium namens Yggdrasil.

Als sie sich Yggdrasil näherten, stellte Swan fest, dass es sich um einen weiteren Kartoffelasteroiden handelte, der diesmal dunkel war und sich nicht drehte. »Es ist verlassen«, erklärte Genette. »Eine kalte Hülle.«

In der Luftschleuse des Hoppers schwebte Swan mit einer eleganten kleinen Plié-Figur zum Anzughalter, stieg in einen Raumanzug und folgte Genette und mehreren Interplan-Ermittlern zur Luftschleuse hinaus in die Leere.

Yggdrasil war eine ganz gewöhnliche Innenwelt von vielleicht dreißig Kilometern Länge gewesen. Sie drangen durch ein großes Loch im Heck ein; dort hatte man den Antrieb entfernt. Langsam flogen sie hinein und hielten sich mit ihren Anzugdüsen aufrecht. Wie sie so Seite an Seite flogen, sahen sie aus wie die umgekehrte Version jener Pharaonenstatuen, bei denen die Schwester-Frau des Monarchen so dargestellt ist, dass sie ihm nur bis zu den Knien geht.

Im Innern des Terrariums kamen sie zum Stillstand. Abgesehen von den entfernten Reflexionen des Lichts ihrer Helmlampen herrschte absolute Finsternis. Swan war schon in vielen Terrarien gewesen, die sich noch im Bau befunden hatten, aber das hier war etwas anderes. Genette warf eine helle Lampe nach vorne und aktivierte kurz eine Düse, um den Rückstoß des Wurfes auszugleichen. Das winzige Licht trieb durch den leeren Raum vor ihnen und ließ die Wände des Zylinders deutlich hervortreten.

Swan blickte sich um, und die Bewegung versetzte sie in eine leichte Drehung. Hier war es so düster, so verlassen. Eine emotionale Aufwallung brachte sie ins Trudeln. Vielleicht lag es am Schicksal ihrer armen Heimat Terminator: Sie drückte sich die Faust ans Visier und hörte sich selbst Wehklagen.

»Ja«, sagte die kleine, silberne Gestalt, die neben ihr schwebte. »Hier ist es zu einem Druckverlust gekommen, ohne Vorwarnung. Yggdrasil war ein ganz gewöhnliches Konglomerat aus Chondrit und Wasser-Eis. Bei den Ermittlungen über den Unfall kam heraus, dass ein kleiner Meteorit zufällig eine unentdeckt gebliebene Nahtstelle in der Zylinderwand getroffen und vaporisiert hat, worauf es zu einem katastrophalen Druckverlust im Innern kam. Es war nicht das erste Mal, dass so etwas geschehen ist, aber in diesem Fall war der Asteroid als A++ eingestuft worden. In den bisherigen Fällen, bei denen es zu Rissen kam, waren die Asteroiden als B oder C eingestuft gewesen, und man hat sie leichtsinnigerweise besiedelt. Ich habe mir also einige ältere Unfälle angesehen und dabei auf bestimmte Auffälligkeiten geachtet und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich diesen Asteroiden noch einmal genauer in Augenschein nehmen muss. Vor allem von außen, aber erst wollte ich einen Blick ins Innere werfen.«

»Sind viele Menschen gestorben?«

»Ja, etwa dreitausend. Es ging sehr schnell. Einige Leute konnten sich in Gebäuden mit Schutzräumen retten und andere hatten Raumanzüge oder Luftschleusen in der Nähe. Alle übrigen Bewohner des Stadtstaats sind ums Leben gekommen. Die Überlebenden beschlossen, das Terrarium als Mahnmal leer treiben zu lassen.«

»Also ist das hier jetzt eine Art Friedhof.«

»Ja. Irgendwo hier drin gibt es eine Gedenkstätte, ich glaube, am anderen Ende. Ich möchte mir den Riss von innen ansehen.«

Genette besprach sich mit Passepartout und führte Swan dann durch den Innenraum zu einem Spazierweg an der gegenüberliegenden Zylinderseite. Das Stadtbild hier erinnerte an Paris, mit breiten Straßen zwischen trapezförmigen, fünf Stockwerken hohen Häuserblocks.

Sie schwebten über einen Bereich, in dem der Asphalt zusammengestaucht war und die Gebäude schräg standen. Es sah aus wie auf alten Erdbebenfotos von Terra. Die Stille war befremdlich.

»Warum mussten sich die Leute ein Konglomerat aushöhlen? Gibt es nicht genug Nickel-Eisen-Asteroiden in der Gegend?«, fragte Swan.

»Das sollte man meinen. Aber man hat ein paar von diesen Dingern ausgehöhlt und festgestellt, dass es ganz wunderbar funktionierte. Wenn man die Wände dick genug lässt, dann werden sie durch die Rotation und den inneren Luftdruck nicht ernsthaft beansprucht. Normalerweise müssten sie halten, und das tun sie auch. Aber der hier ist eingerissen. Ein kleiner Meteor hat ihn an genau der falschen Stelle erwischt.«

Sie schwebten über einen Bereich, in dem die heftigen Erschütterungen einige der weißen Betonplatten fortgeschleudert hatten, sodass sich ein langer Riss durchs Pflaster zog. Dahinter war das All: Swan sah die Sterne.

Sie ließen die verwüstete Straße hinter sich und schwebten wieder aus dem Asteroiden hinaus. Draußen bewegten sie sich mit behutsamen Hüpfern und Düsenstößen über den Fels, auf die Art, auf die man in der Mikrogravitation von Asteroiden am besten vorankommt. Swan hatte in ihrer Zeit als Terrarien-Designerin einige Zeit bei solch niedriger Schwerkraft verbracht, und wie man sah, hatte Genette die entsprechende Fortbewegungsweise perfektioniert, was bei einer Person, die hauptsächlich im Asteroidengürtel lebte, nur logisch war.

Als sie den Spalt auf der Außenseite erreichten, waren dort bereits mehrere Interplan-Mitarbeiter am Werk. Mit einigen Ballettsprüngen und einer Drehung flog Genette kopfüber abwärts und machte dabei Fotos von der Innenseite der Bruchstelle. Einige kleine Höhlungen in den Seiten untersuchte Genette auf einer Hand stehend, das Visier wenige Zentimeter vom Gestein entfernt.

»Ich glaube, ich habe alles, was ich brauche«, hieß es dann nach einer Weile.

Schwebend sahen sie den anderen beim Weiterarbeiten zu. Genette sagte: »Du hast doch einen Qube im Schädel, stimmt’s?«

»Ja. Pauline, sag Hallo zu Inspektor Genette.«

»Hallo zu Inspektor Genette.«

»Kannst du ihn abschalten?«, fragte Genette.

»Ja, natürlich. Schaltest du deinen auch ab?«

»Ja. Falls es tatsächlich das ist, was geschieht, wenn wir sie abschalten.« Durch das Visier konnte Swan Genettes ironisches Lächeln erkennen. »Alles klar. Passepartout schläft. Und Pauline?«

Auch Swan hatte den Knopf unter der Haut an ihrer rechten Halsseite gedrückt. »Ja.«

»Sehr gut. Also, jetzt können wir etwas offener miteinander reden. Sag mal, wenn dein Qube an ist, nimmt er dann alles auf, was du hörst und siehst?«

»Normalerweise schon. Natürlich.«

»Und steht er in direkter Verbindung mit irgendwelchen anderen Qubes?«

»In direkter Verbindung? Du meinst durch Quantenverschränkung?«

»Nein, nein. Angeblich macht die Dekohärenz das ja unmöglich. Ich meinte bloß Funkkontakt.«

»Tja, Pauline hat einen Funkempfänger und -sender, aber ich entscheide über Aus- und Eingang.«

»Kannst du dir da sicher sein?«

»Ja, ich glaube schon. Ich stelle die Aufgaben, und sie erfüllt sie. Ich kann all ihre Tätigkeiten anhand ihrer Logbücher überprüfen.«

Die kleine silberne Gestalt schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Ist es bei dir nicht genauso?«, fragte Swan.

»Ich glaube schon«, antwortete Genette. »Bloß bin ich mir bei all den Qubes, bei denen es sich nicht um Passepartout handelt, unsicher.«

»Warum? Meinst du, dass Qubes etwas mit den Ereignissen hier zu tun haben könnten? Oder mit denen auf dem Merkur?«

»Ja.«

Swan starrte überrascht das neben ihr schwebende Wesen an, das wie eine große Puppe in einem Raumanzug aussah. Es machte ihr ein bisschen Angst. Die Stimme dieses Wesens erklang durch ihr Helmmikrofon in ihrem Ohr, ganz ähnlich wie die von Pauline. Ein heller, hoher Alt, angenehm und belustigt.

»Hier gibt es auf beiden Seiten der Bruchstelle eine ganze Menge kleiner Krater. Der hier zum Beispiel …« Genette streckte den Zeigefinger aus, und ein grüner Laserpunkt erschien an der Wand einer kleinen Höhlung, zeichnete ihre Kreisform in einer schnellen Bewegung nach und verharrte dann in ihrer Mitte. »Siehst du das? Und das?« Der Laserpunkt zog einen weiteren Krater nach. Alle Einschlagstellen waren sehr klein. »Die sind frisch genug, um zum selben Zeitpunkt wie der Riss aufgetreten zu sein.«

»Stammen sie also von Bruchstücken?«

»Nein. Die Gravitation ist hier so gering, dass kaum ein Bruchstück zurückfällt. Wenn doch, dann würde es einfach aufsetzen und nicht einschlagen. Diese Löcher sind tiefer.«

Swan nickte. Auf der holperigen Asteroidenoberfläche lagen viele Steine herum. »Und wie stuft der alte Bericht diese Krater ein?«

»Als Anomalien. Man hat vermutet, dass es sich um Lochbrüche handelt, verursacht durch Eisvorkommen, die durch die Aufschlaghitze geschmolzen sind. Möglich wäre das. Aber ich nehme an, dass du dir die Berichte über den Terminator-Unfall angesehen hast?«

»Ja.«

»Erinnerst du dich, dass es dort auch Anomalien gab? Was immer in die Schienen eingeschlagen ist, es war kein sauberer Treffer. Es gibt Krater, die weiter draußen liegen, sehr kleine Krater, die vor dem Zwischenfall noch nicht da waren. Zugegeben, auf dem Merkur könnten sie von herabgefallenen Bruchstücken stammen …«

»Könnte es nicht sein, dass der Einschlagkörper auf dem Weg nach unten auseinandergebrochen ist?«

»Das passiert normalerweise nur, wenn es eine Atmosphäre gibt, die ihn aufheizt und abbremst.«

»Könnte nicht auch die Gravitation des Merkur dafür verantwortlich sein?«

»Deren Auswirkungen wären zu vernachlässigen.«

»Ich weiß nicht, vielleicht ist er dann auch nicht auseinandergebrochen.«

Die kleine Gestalt nickte. »Ja, so ist es.«

»Wie meinst du das?«

»Er ist nicht auseinandergebrochen. Genau genommen hat er sich zusammengesetzt.«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine damit, dass seine Masse sich erst im allerletzten Moment überhaupt zusammengeballt hat. Deshalb hat keines der Frühwarnsysteme des Merkur ihn kommen sehen. Wenn der Meteorit von irgendwo gekommen wäre, hätten sie ihn sehen müssen, aber kein einziges Überwachungssystem hat ihn entdeckt. Für mich sieht das nach einem Problem der Nachweisgrenze aus. Eine solche Grenze liegt entweder in der Messmethode begründet, oder sie wird künstlich festgelegt und liegt über dem eigentlichen, unteren Grenzwert.«

»Warum denn das?«

»Normalerweise, damit es nicht ständig Alarm gibt, obwohl eigentlich gar keine Gefahr besteht.«

»Ah.«

»Jedes System ist anders, aber beim Verteidigungsapparat des Merkur stimmt die Schwelle, ab der ein Alarm ausgelöst wird, so ziemlich mit der methodischen Nachweisgrenze überein. Das heißt, das System schlägt ab einem Wert an, der doppelt so hoch wie der kleinste messbare Wert ist, was dem Sechs- oder Siebenfachen der Standardabweichung der Messvariabilität entspricht. Das ist eine typische Einstellung, bei der man damit rechnen kann, sowohl möglichst wenig falsche Negative als auch möglichst wenige falsche Positive zu erhalten.

Jetzt stell dir vor, was dann unterhalb des Meldeniveaus liegt. Im Prinzip eigentlich nur sehr kleine Steinchen, die deutlich weniger als ein Kilogramm wiegen. Aber wenn es sich um viele solche Steinchen handeln würde, die sich erst im letzten Moment zusammenballen, wobei jeder einzelne mit anderer Geschwindigkeit aus einem anderen Himmelsquadranten kommt, jedoch so aufeinander abgestimmt, dass sie alle zur selben Zeit an derselben Stelle eintreffen … dann wären sie bis zur letzten Sekunde nur kleine Steinchen. Man hätte sie vom anderen Ende des Sonnensystems aus werfen können, und vielleicht sogar im Laufe mehrerer Jahre. Und trotzdem, wenn sie in richtiger Weise geworfen werden, dann treffen sie sich zum geplanten Zeitpunkt. Viele Tausende, sagen wir mal.«

»Also eine Art intelligenter Mob.«

»Nur dass er nicht mal intelligent ist. Er besteht bloß aus Steinen.«

»Wäre das machbar? Ich meine, gibt es etwas, das berechnen kann, wie fest und in welche Richtung man die Steine werfen muss?«

»Ein Qube könnte das. Wenn ein hinreichender Teil der Masse des Sonnensystems in Bezug auf ihren Ort und ihre Flugrichtung erfasst ist und genug Rechnerleistung zur Verfügung steht, ist das machbar. Ich habe Passepartout darum gebeten – er sollte eine Umlaufbahn für eine Kugel aus einem Kugellager oder Kugelschreiber oder etwas Ähnliches berechnen, die man vom Asteroidengürtel aus so werfen will, dass sie ein bestimmtes Ziel auf dem Merkur trifft. Es hat nicht besonders lange gedauert.«

»Aber könnte man diese Würfe auch durchführen? Ich meine, kann man eine Abschussvorrichtung bauen, die die Steinchen mit der nötigen Präzision schleudert?«

»Passepartout sagt, es gibt Maschinen, deren Toleranzbereich zwei oder drei Größenordnungen unterhalb des nötigen Werts liegt. Man bräuchte bloß eine ruhige Abschussfläche. Je stabiler, desto besser, wenn man konsistente Ergebnisse will.«

»Das ist ein ganz schöner Schuss ins Blaue«, erwiderte Swan. »Wie viele Massekörper wurden in die Bahnberechnung einbezogen?«

»Ich glaube, Passepartout hat die schwersten zehn Millionen Objekte im Sonnensystem einbezogen.«

»Und von all denen kennen wir den genauen Standort?«

»Ja. Soll heißen, die KIs kennen ihren genauen Standort. Und die größten Terrarien und Raumschiffe setzen ihre Flugpläne Jahre im Voraus fest. Was die Berechnungen angeht, man braucht einen Qube, um sie innerhalb eines vernünftigen Zeitrahmens anzustellen, will sagen, schnell genug, um in Echtzeit Abschussanweisungen zu geben.«

»Wie lange dauert das?«

»Ein Qube wie Passepartout braucht drei Sekunden. Konventionelle KIs brauchen etwa ein Jahr pro Steinchen, womit das Ganze natürlich nicht zu bewerkstelligen wäre. Ohne Quantenrechner geht es also nicht.«

Swan wurde mit einem Mal übel, als befände sie sich wieder im Tunnel unter der Oberfläche des Merkur. »Es geht also um zehntausend kleine Steinchen, die im Laufe von Monaten oder Jahren durch das Sonnensystem geschleudert werden und deren Bahn und Geschwindigkeit so aufeinander abgestimmt sind, dass sie alle zur selben Zeit am selben Punkt eintreffen.«

»Ja. Und mit Sicherheit sorgen ein paar stochastische Gravitationsfluktuationen am Ende dafür, dass das eine oder andere Steinchen danebengeht. In dem Fall müssten die meisten dieser Steinchen sogar weit am Ziel vorbeigehen.«

»Aber einige verfehlen es nur knapp.«

»Genau. Und daher die kleinen Löcher, die wir hier sehen. Vielleicht ist ein Raumschiff dafür verantwortlich, das seinen Flugplan geändert hat, oder etwas in der Art. Etwa ein oder zwei Prozent der Steinchen dürften ein derartiges Clinamen erfahren, schätzt zumindest Passepartout.«

Jetzt krampften sich ihre Eingeweide ernsthaft zusammen. »Also tut jemand das mit Absicht.« Sie deutete mit einer Handbewegung auf das verlassene Terrarium.

»So ist es. Und ein Qube muss in die Sache verwickelt sein.«

»Scheiße.« Sie hielt sich einen Arm vor den Bauch. »Aber wie … wie könnte jemand …«

Genette legte ihr eine kleine Hand auf den Arm. Yggdrasil schwebte unter ihnen dahin, kalt und tot. Eine graue Kartoffel. »Lass uns auf die Gerechtigkeit zurückkehren.«

Zurück an Bord des Interplan-Hoppers saß Swan nach dem Essen noch bis spät abends mit Genette in der Messe.

Swan, die nicht aufhören könnte, über das, was sie heute erfahren hatte, nachzudenken, sagte: »All das bedeutet also, dass wer auch immer …«

Genette gebot ihr mit erhobenen Händen Einhalt. »Bitte erst die Qubes ausschalten.«

Nachdem sie ihre Geräte beide ausgeschaltet hatten, fuhr Swan fort: »Das bedeutet, wer immer das getan hat, könnte die Tat bereits vor Jahren begangen haben.«

»Oder zumindest vor einiger Zeit, ja. Vor einer ganzen Weile.«

»Und die Steinchen wurden von mehr als einem Ort aus abgeschossen.«

»Ja. Aber vielleicht gibt es die Abschussvorrichtung trotzdem noch. Diese Pistole oder dieses Katapult, oder was auch immer benutzt wurde, muss ein hochpräzises Gerät sein. Eine außergewöhnliche handwerkliche Meisterleistung. Der Toleranzbereich, den Passepartout angegeben hat, ist sehr gering. Dafür braucht man Molekulardrucker und Ähnliches. Vielleicht können wir das Werk aufspüren, in der etwas derart Ausgefallenes hergestellt wurde – das werden wir überprüfen. Und dann erfahren wir vielleicht auch, wer es in Auftrag gegeben hat.«

»Und weiter?«, fragte Swan.

»Wir suchen nach dem Programm für die Fabrik und dem Entwurf für das Gerät. Die Druckanweisungen. Und nach einem Programm, mit dem man die nötigen Umlaufbahn-Berechnungen anstellen kann. Qubes denken sich so etwas nicht aus, solange man sie nicht dazu auffordert – davon sind wir zumindest bisher ausgegangen. Der Qube, der so ein Programm entwickelt hat, müsste diesen Vorgang aufgezeichnet haben, wenn ich es richtig verstehe. Also existiert das Programm wahrscheinlich noch irgendwo. Und bislang ist die Zahl der Werke, die Qubes herstellen, begrenzt.«

»Könnten diese Leute ihren Qube nicht zerstört haben, nachdem er seinen Zweck erfüllt hatte?«

»Ja. Aber es gibt keinen Grund anzunehmen, dass er seinen Zweck erfüllt hat.«

Der Gedanke ließ sie schaudern.

»Wir müssen den Qube suchen, das Programm zur Umlaufbahnberechnung, das Fertigungsprogramm und auch das Werk, die Abschussvorrichtung und die Abschussplattform, worum auch immer es sich bei Letzterer handelt.«

Swan runzelte die Stirn. »All diese Dinge sind vielleicht zerstört oder zumindest sorgfältig weggeräumt.«

»Das ist wahr. Du begreifst sehr schnell, worin genau unser Problem besteht. Wie dem auch sei, wir müssen bei diesen Ermittlungen wie Buchhalter vorgehen und alle Aufzeichnungen prüfen. Wie so oft bei unserer Arbeit.« Erneut lächelte Genette ironisch. »Bei Interplan geht es nur sehr selten so dramatisch zu, wie es manchmal dargestellt wird.«

»Schon in Ordnung. Aber was gibt es noch zu tun, während du damit beschäftigt bist? Was kann ich tun?«

»Du kannst dich mit der anderen Hälfte des Problems befassen. Dabei werde ich dich schon bald unterstützen.«

»Mit der anderen Hälfte?«

»Dem Motiv.«

»Aber wie sollte man das ermitteln? Und wenn man es ermittelt hat, wie sollte man es jemandem zuordnen? Eine solche Tat ist so krank, dass mir allein beim Gedanken daran schlecht wird. Sie ist böse.«

»Böse!«

»Ja, böse!«

Genette zuckte mit den Schultern. »Lassen wir das beiseite, und gehen wir einfach davon aus, dass es sich um einen vereinzelten Impuls handelt. Der deshalb vielleicht auch Spuren hinterlässt.«

»Dass jemand Terminator hasst? Dass jemand dazu fähig ist, ganze Welten zu ermorden?«

»Ja. Das ist kein besonders verbreiteter menschlicher Impuls. Deshalb fällt er vielleicht auf. Und außerdem handelt es sich vielleicht um eine politische Tat, eine Art Terrorismus oder Krieg. Vielleicht ist es eine Art Botschaft oder der Versuch, jemanden zum Handeln zu zwingen. Das gibt uns einen Ansatzpunkt, um der Sache nachzugehen.«

Swans Magen krampfte sich zusammen. »Verdammt. Ich meine – im Weltraum hat es noch nie einen Krieg gegeben. Wir sind ohne welche ausgekommen.«

»Bis jetzt.«

Das brachte sie ins Grübeln. Mindestens seit einer Generation gab es aus allen Ecken Warnungen davor, dass die Reibereien zwischen Erde und Mars zu einem Krieg führen könnten, oder dass die Erde das restliche System mit in ihre Probleme hineinziehen würde. Auf der armen alten Erde gab es immer noch kleine Kriege und terroristische Anschläge, und bisweilen hatte Swan den Eindruck, dass manche Diplomaten die Angst vor der terranischen Zwietracht ausnutzten, um sich mehr Prestige und höhere Budgets zu verschaffen. Diplomatie als notwendige friedenserhaltende Maßnahme in einem Sonnensystem kurz vor dem großen Knall – eine solche Sichtweise kam den Diplomaten natürlich gelegen. Doch was, wenn sie recht hatten?

Swan sagte: »Ich dachte, dass wir Raumer klug genug wären, um all das zu vermeiden. Dass wir uns schlauer anstellen würden, sobald wir erst einmal hier draußen sind. Dass wir uns bessern würden.«

»Sei nicht albern«, erwiderte Genette knapp.

Swan knirschte mit den Zähnen. Nachdem sie heftig um ihre Selbstbeherrschung gerungen hatte, sagte sie: »Aber es könnte auch irgendein Geisteskranker sein. Jemand, der verrückt geworden ist und nur deshalb tötet, weil er es kann.«

»Die Sorte gibt es auch, ja«, pflichtete ihr Genette bei. »Und wenn einer davon sich einen Qube verschafft …«

»Aber jeder kann sich einen Qube beschaffen!«

»Ganz und gar nicht. Nicht einmal jeder, der im All wohnt. Sie werden von der Fertigung an weiterverfolgt und theoretisch wird ihr Standort jederzeit überwacht. Und egal, welcher Qube mit dieser Sache zu tun hatte, er muss dafür wie gesagt programmiert worden sein. Man könnte aus seinen eigenen Protokollen ersehen, was er getan hat.«

»Gibt es blockfreie Gruppen, die Qubes herstellen?«

»Tja … kann sein. Wahrscheinlich.«

»Und wie finden wir dann den Qube oder die Person?«

»Oder diese Gruppe?«

»Ja, oder diese Nation oder diese Welt!«

Genette zuckte mit den Schultern. »Ich möchte noch mal mit Wang sprechen – er hat einen wirklich leistungsstarken Qube und verfügt über die größten Datenbanken unter den Blockfreien. Und außerdem hat ihn womöglich die gleiche Macht attackiert. Aber ich habe zugegebenermaßen ein bisschen Angst davor, mit seinem Qube zu sprechen, weil es derzeit so viele Hinweise auf sonderbares Verhalten bei Qubes gibt. Als hätten sie neuerdings einen freien Willen, oder zumindest als würde man Dinge von ihnen verlangen, die sich deutlich von ihren bisherigen Aufgaben unterscheiden. Manche Qubes, die wir unter Beobachtung gehalten haben, tauschen mittlerweile auf völlig neue Art und Weise Nachrichten aus.«

»Meinst du damit, dass sie miteinander quantenverschränkt sind?«

»Nein. Das scheint aufgrund des Dekohärenzproblems wirklich unmöglich zu sein. Sie verständigen sich per Funk, wie jeder andere auch, aber die Nachrichten werden an beiden Enden intern verschlüsselt, wobei Überlagerungseffekte genutzt werden. Die Verschlüsselung lässt sich also nicht knacken, nicht mal, wenn wir unsere eigenen Qubes dafür einsetzen. Das ist der Grund dafür, dass ich diese Gespräche fürs Erste nicht in Hörreichweite irgendwelcher Qubes führen möchte. Ich weiß nicht, welchen ich trauen kann.«

Swan nickte. »In der Beziehung bist du wie Alex.«

»Das stimmt. Ich habe mit ihr darüber geredet, und wir hatten die gleiche Meinung zu diesem Problem. Ich habe ihr einige nützliche Prozeduren beigebracht. Jetzt muss ich also darüber nachdenken, wie wir in dieser Sache fortfahren und wie ich mich am besten mit Wang und seinem Superqube verständige. Wahrscheinlich steckt die Erklärung für all das schon längst irgendwo in dem Qube, unerkannt, weil niemand ihm befohlen hat, nach ihr zu suchen. Trotz all des Geredes über Balkanisierung zeichnen wir die Geschichte der Welt nach wie vor bis auf die Ebene von einzelnen Menschen und Qubes auf. Um den Täter aufzuspüren, müssen wir also nur die Geschichte des Sonnensystems in den letzten paar Jahren nachlesen. Dort müsste sich die Antwort finden.«

»Sieht man von den Blockfreien ab.«

»Nun ja, von denen hat Wang auch die meisten in seiner Datenbank.«

»Aber du willst nicht, dass ein Aufzeichnungssystem deine Fragen mitbekommt«, sagte Swan. »Falls es sich bei ihm um den Täter handelt.«

»Ganz genau.«

Das üble Gefühl in Swans Magen hielt auch nach diesem Gespräch weiter an. Jemand hatte ihre Stadt ermorden wollen – und hatte sie doch nicht direkt getroffen, weshalb die Einwohner verschont geblieben waren, mit Ausnahme derjenigen, die in der Panik bei der Evakuierung ums Leben gekommen waren und jener armen Konzertgruppe, die bei dem Einschlag getötet worden war.

War es so gewesen? Sie wusste nicht, welchen Reim sie sich darauf machen sollte, dass der Einschlag Terminator verfehlt hatte.

Letztlich redete sie doch mit Pauline darüber. Sie hatte eine Idee, die sie überprüfen wollte, und mit Pauline ging das am besten. Schließlich war sie als Stimme in Swans Ohr immer präsent und hörte alles, was Swan laut aussprach. Früher oder später würde sie ohnehin von allem erfahren.

Also: »Pauline, weißt du, worüber Genette und ich gesprochen haben, während du abgeschaltet warst?«

»Nein.«

»Kannst du es erraten?«

»Möglicherweise habt ihr über den Zwischenfall von Yggdrasil gesprochen, den du ja gerade gesehen hattest. Dieser Zwischenfall erinnert in mancherlei Hinsicht an den bei Terminator. Falls es sich um absichtliche Attacken handelte, dann könnten ihre Urheber die Geschossbahnen mithilfe eines Quantencomputers berechnet haben. Falls Inspektor Jean Genette glaubt, dass die Sache etwas mit Quantencomputern zu tun hat, dann wird Genette vielleicht nicht wollen, dass ein Quantencomputer etwas über die Einzelheiten der Ermittlungen mithört. Das wäre vergleichbar mit Alex’ Bemühungen, einige ihrer Überlegungen vollständig vor allen KIs zu verbergen und aus ihren Aufzeichnungen herauszuhalten, seien es nun Dateien auf Quantenrechnern oder digitale. Die Grundannahme dabei scheint zu sein, dass Quantencomputer, falls sie verschlüsselte Funknachrichten miteinander austauschen, möglicherweise Aktivitäten planen, die den Menschen schaden könnten.«

Genau wie sie vermutet hatte: Pauline war in der Lage, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Zweifellos galt das auch für viele andere Qubes, einschließlich Genettes Passepartout, der mit Sicherheit auf Forensik und Nachweismethoden programmiert war. Wenn-dann, wenn-dann, wie viele Milliarden Male pro Sekunde? Es ähnelte vielleicht ihren Schachprogrammen, die sich als übermenschlich gut in diesem speziellen Spiel erwiesen hatten. Insofern hatte es kaum einen Sinn, die Qubes vor bestimmten Gesprächen abzuschalten.

Was bedeutete, dass Swan ruhig sagen durfte: »Pauline, wenn jemand bei der Berechnung einer Flugbahn für einen Körper, der Terminator treffen und zerstören soll, vergessen würde, die relativistische Präzession des Merkur miteinzubeziehen und lediglich gemäß der klassischen Orbitalmechanik vorginge, wie weit würde er Terminator dann verfehlen? Vorausgesetzt die Annahme, dass der Körper ein Jahr zuvor vom Asteroidengürtel aus abgeschossen wurde. Versuch es mit ein paar verschiedenen Abschussstellen, Flugbahnen und Zeitpunkten, sowohl mit den Relativitätsgleichungen für die Präzession als auch ohne sie.«

Pauline sagte: »Die Präzession des Merkur beträgt 5603,24 Winkelsekunden im Jahrhundert nach dem julianischen Kalender, wobei der Anteil, der von der durch die allgemeine Relativitätstheorie beschriebenen Krümmung der Raumzeit verursacht wird, 42,98 Winkelsekunden im Jahrhundert beträgt. Jede Flugbahn, die ein Jahr dauert und ohne Einbeziehung dieses Faktors berechnet wurde, muss ihr Ziel deshalb um 13,39 Kilometer verfehlen.«

»Was auch in etwa passiert ist«, sagte Swan und spürte einmal mehr Übelkeit in sich aufsteigen.

Pauline sagte: »Da es sich um eine Präzession handelt, hätte das Geschoss östlich und nicht westlich der Stadt einschlagen müssen.«

»Oh«, sagte Swan, »Tja, dann …« Sie wusste nicht, welchen Reim sie sich darauf machen sollte.

Pauline fuhr fort: »Die normalen Orbitalmechanik-Programme für die Transportrouten entlang der inneren Planeten beziehen die allgemeine Relativität routinemäßig ein. Man muss nicht daran denken, die Relativitätsgleichungen einzubeziehen. Wenn allerdings jemand, der das nicht wüsste, versuchen würde, eine Flugbahn für einen Einschlag zu programmieren, ohne dabei auf frei verfügbare Vorlagen zurückzugreifen, könnte dieser Jemand möglicherweise die Relativitätsgleichungen noch einmal hinzufügen, obwohl sie bereits einbezogen wurden. Wenn dieser Jemand dann direkt auf die Stadt zielen würde, entstünde eine Abweichung von 13,39 Kilometern in westlicher Richtung.«

»Ah«, sagte Swan, der nun noch übler wurde. Sie schaute sich nach einem Platz zum Hinsetzen um. Terminator war eine Sache, die Einwohner der Stadt waren eine andere: ihre Familie, ihre Bekanntschaften … dass es vielleicht jemanden gab, der dazu fähig war, all diese Menschen zu ermorden … »Aber … das klingt nach einer menschlichen Fehlleistung.«

»Ja.«

Später an jenem Abend blieb Swan einmal mehr lange in der Kantine. Ihr gegenüber am Tisch saß Genette und aß Weintrauben. Swan sagte: »Seit du mir von der Steinchen-Attacke erzählt hast, glaube ich, dass es wahrscheinlich eigentlich direkt Terminator hätte treffen sollen und jemand einen Fehler gemacht hat. Wenn dieser Jemand nicht gewusst hätte, dass die Relativitätsgleichungen für die Präzession des Merkur bereits in die Standardalgorithmen einbezogen sind und sie zusätzlich berechnet hätte, dann würde er genau so weit in westlicher Richtung am Ziel vorbeischießen, wie es tatsächlich der Fall war.«

»Interessant«, sagte Genette und musterte sie aufmerksam. »Ein Programmierfehler, mit anderen Worten. Ich war davon ausgegangen, dass man Terminator absichtlich verfehlt hat – dass es sich gewissermaßen um einen Warnschuss handelte. Darüber muss ich genauer nachdenken.« Nach einer kurzen Pause: »Danach hast du wohl deine Pauline befragt?«

»Das habe ich. Sie hatte bereits geschlussfolgert, worum es bei unserem Gespräch im Groben ging, während sie abgeschaltet war. Mit Passepartout verhält es sich sicher genauso.«

Ohne etwas zu erwidern, runzelte Genette die Stirn.

Swan fuhr fort: »Ich kann nicht glauben, dass jemand versuchen würde, so viele Menschen umzubringen. Oder es sogar wirklich tun würde, wie an Bord der Yggdrasil. Wir haben doch so viel Raum zur Verfügung … so viel von allem. Ich meine, wir leben in einer Gesellschaft, in der es eigentlich keine Not mehr gibt. Ich kapiere das nicht. Du sprichst von einem Motiv, aber in einem physiologischen Sinne gibt es kein Motiv für so etwas. Wahrscheinlich bedeutet es, dass das Böse wirklich existiert. Ich dachte, das wäre nur ein alter religiöser Begriff, aber da lag ich wohl falsch. Mir wird ganz schlecht davon.«

Genettes hübsches kleines Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Manchmal glaube ich, dass es das Böse nur in Gesellschaften gibt, die keine Not mehr kennen. Vorher konnte man immer alles auf Bedürfnisse oder Ängste zurückführen. Man konnte, wie du es offenbar auch getan hast, daran glauben, dass zusammen mit Angst und Mangel auch der Impuls verschwinden würde, etwas Schlimmes zu tun. Die Menschheit würde sich sozusagen als ein Volk von Bonobos erweisen, als altruistische Kooperative, geprägt von allseitiger Liebe.«

»Genau!«, rief Swan. »Warum nicht!«

Genette zuckte abgeklärt und gleichmütig mit den Schultern. »Vielleicht waren wir nie frei von Angst und Mangel. Es ist nicht nur Nahrung und ein Dach über dem Kopf, was uns ausmacht. Man sollte meinen, dass es sich dabei um die bestimmenden Faktoren handelt, aber viele wohlgenährte Bürger eines Gemeinwesens sind voller Wut und Angst. Sie verspüren gemalten Hunger, wie die Japaner sagen. Gemalte Angst, gemaltes Leid. Der Zorn des unterwürfigen Willens. Der Wille ist eine Frage der freien Entscheidung, aber Unterwerfung bedeutet die Abwesenheit von Freiheit. Deshalb fühlt der unterwürfige Wille sich besudelt, er verspürt Schuld und bringt sie zum Ausdruck, indem er etwas Äußerliches angreift. Und so geschieht dann etwas Böses.« Ein weiteres Schulterzucken. »Wie auch immer man es sich erklärt, die Menschen tun Böses. Glaube mir.«

»Das muss ich wohl.«

»Bitte.« Genette lächelte jetzt. »Ich möchte dich nicht mit all den Dingen belasten, die ich schon gesehen habe. Manches davon hat bei mir ganz ähnliche Fragen aufgeworfen wie bei dir. Das Konzept des unterwürfigen Willens hat mir dabei weitergeholfen. Und in letzter Zeit frage ich mich, ob nicht jeder Qube definitionsgemäß eine Art unterwürfiger Wille ist.«

»Aber dieser Programmierfehler, der erklären könnte, warum der Einschlag sich westlich der Stadt ereignet hat – der war menschlich.«

»Ja. Nun ja, den unterwürfigen Willen gibt es zuallererst bei den Menschen. Ein Teil von ihnen weiß, dass die Taten, die sie begehen, falsch sind, aber sie begehen sie trotzdem, weil sie einem anderen Teil ihres Selbst Erleichterung verschaffen.«

»Aber die meisten Menschen versuchen doch, Gutes zu tun«, wandte Swan ein. »Das ist doch ersichtlich.«

»Bei meiner Arbeit nicht.«

Swan betrachtete die kleine, so ordentliche und flinke Gestalt. »Das verändert wahrscheinlich die Sicht, die man auf die Dinge hat …«, sagte sie nach einer Weile.

»Allerdings. Und … man bekommt es immer wieder mit denselben Rechtfertigungen zu tun. Es ist sogar bekannt, welche Bereiche des Gehirns für diese Rechtfertigungen zuständig sind. Wie zu erwarten, liegen sie dicht bei den Regionen, die mit dem religiösen Empfinden zu tun haben. Nicht weit von den Epilepsie-Triggern und dem Gefühl für Sinnhaftigkeit. In diesen Bereichen gibt es ein wahres Feuerwerk, wenn man etwas Böses tut oder sich dafür rechtfertigt. Überleg dir mal, was das bedeutet!«

»Aber alles, was wir tun, findet irgendwo im Gehirn statt«, sagte Swan. »Es kommt nicht darauf an, wo im Gehirn.«

Genette war anderer Meinung. »Dort drin gibt es Muster. Verstärkungen. Schlimme Erlebnisse sorgen dafür, dass sich gewisse Bereiche im Gehirn stärker ausbilden. Das Gehirn baut sich so um, dass sich die schrecklichen Gefühle immer weiter hochschrauben. Worauf wieder Handeln folgt.«

»Was sollen wir denn dann machen?«, rief Swan. »Man kann keine perfekte Welt erschaffen und sich dann die anständigen Leute dazu kaufen, das ist falsch herum, das kann nicht funktionieren.«

Genette zuckte mit den Schultern. »Egal wie rum, die Sache kommt mir nicht besonders Erfolg versprechend vor.« Ein kurzes Zögern. »Es kann alles derart danebengehen. Vielleicht können wir das Leben im All nicht bewältigen. In diesen beschränkten Umgebungen. Ich habe Kinder gesehen, die man in Skinner-Boxen großgezogen hat … Menschenopfer …«

»Du musst dringend ein Sabbatjahr einlegen«, warf Swan ein, die nicht noch mehr hören wollte.

Mit einem Mal erkannte sie, wie erschöpft Genette aussah. Normalerweise waren die Gefühle von Kleinen schwer zu erraten; auf den ersten Blick sahen sie praktisch makellos wie Puppen oder unschuldig wie Kinder aus. Doch jetzt bemerkte Swan die geröteten Augen, den leicht fettigen Glanz des blonden Haars, die Strähnen, die sich aus dem Haargummi des schlichten Pferdeschwanzes gelöst hatten und in alle Richtungen abstanden.

Und einen Gesichtsausdruck, der kein bisschen an das übliche ironische Lächeln auf Genettes Lippen erinnerte. »Ich muss tatsächlich mal ein Sabbatjahr einlegen. Genau genommen bin ich spät dran, und ich hoffe, dass unsere Ermittlungen mich bald ohnehin zur Erde führen werden. Ich bin nämlich ein bisschen erschöpft. Der Mondragon ist eine wunderbare Sache, aber es gibt viele Terrarien, die ihm nicht angehören, und einige davon sind ernsthaft gestört. Da wir kein allgemeingültiges Recht durchsetzen, kommt es letztlich zu einer Art libertärer Selbstbedienung für alle, nach dem Zufallsprinzip. Und das bedeutet Ärger. So sehe ich das. Es ist vielleicht einfach zu viel – die politischen Unzulänglichkeiten in Kombination mit den physischen Problemen, die der Aufenthalt im Weltraum mit sich bringt. Möglicherweise versuchen wir hier draußen, uns an Umstände anzupassen, an die wir uns nicht anpassen können.«

»Und was sollen wir dann machen?«, fragte Swan einmal mehr.

Genette zuckte mit den Schultern. »Durchhalten, nicht aufgeben. Vielleicht müssen wir hier draußen einsehen, dass ein Leben ohne Not Himmel und Hölle zugleich bedeutet. Beides überlagert sich, wie die Potenziale eines Qubits, bevor seine Wellenfunktion kollabiert. Gut und Böse, Kunst und Krieg. Alles potenziell vorhanden.«

»Aber was sollen wir machen?«

Genette lächelte leise, wechselte die Haltung und setzte sich im Schneidersitz Swan gegenüber auf den Tisch, wie ein Garten-Buddha oder eine Tara, glatt und stilisiert. »Ich möchte mit Wang reden. Ich lasse mir etwas dafür einfallen. Und mit deinem Freund Wahram. Das wird sehr viel unkomplizierter. Alles Weitere … hängt davon ab, was ich in Erfahrung bringe. Hat Alex dir zufällig auch einen Brief für mich oder für sonst jemanden hinterlassen?«

»Nein!«

Genette hob die Hand, nun ein diamantener Buddha: »Kein Grund zur Verärgerung. Ich wünschte nur, sie hätte es getan, weiter nichts. Für sie war es nur ein Notfallplan, eine Sicherheitsmaßnahme für eine Situation, mit deren Eintreten sie nicht gerechnet hatte. Wahrscheinlich hat sie sich gedacht, dass Wang dem Rest der Gruppe von ihren Plänen erzählen wird. Und ich hoffe, dass sie damit recht hatte.«

Am darauffolgenden Tag brachten die Ermittler des Inspektors Neuigkeiten, und nach einer Unterredung kehrte Genette zu Swan zurück und erklärte: »Wangs Qube hat einen Asteroiden auf einer Umlaufbahn zwischen Jupiter und Saturn identifiziert, der genau so weit nach außen von seiner Bahn abgekommen ist, wie es der Fall sein müsste, wenn man von dort aus auf Terminator geschossen hätte. Die Veränderung hat sich vor drei Jahren über einen Zeitraum von sechs Monaten zugetragen. Wang hat die Aufzeichnungen der Saturn-Liga über Schiffsbewegungen im Raum um den Saturn durchgesehen und darin Signale entdeckt, die aussehen, als hätte ein kleines Schiff den Asteroiden verlassen und wäre von dort aus in die äußere Atmosphäre des Saturn eingetreten. Vielleicht ist es zur Oberfläche abgesunken, aber der Winkel, in dem es in die obere Wolkenschicht eingetreten ist, lässt vermuten, dass es sich dort oben eingenistet hat. Nicht wenige Schiffe tun das. Wenn dem so ist, können wir es vielleicht aufspüren.«

»Das ist gut«, sagte Swan. »Aber … du hast diese Spur von Wangs Qube, stimmt’s?«

Genette zuckte mit den Achseln. »Ich weiß. Aber es war die Saturn-Liga, die den Kurs des Schiffs verfolgt hat, und während seines Sinkflugs haben sie es mit einem Sender markiert. Außerdem haben sie den Sender, den es bereits hatte, identifiziert und wissen daher, dass es einem Konsortium von der Erde gehört.«

»Von der Erde!«

»Ja. Ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll, aber du weißt ja, dass man einen Steinchen-Mob nicht aus einer Atmosphäre abschießen kann, und auch nicht aus einer Kuppel oder einem Zelt heraus. Der Abschuss muss auf einer Freifläche im Vakuum stattfinden. Wenn man sich also auf der Erde befindet und etwas Derartiges bewerkstelligen will, muss man erst ins All hinaus.«

»Das ist mir klar. Aber … die Erde? Ich meine, wer auf der Erde …?«

Genette bedachte sie mit einem so durchdringenden Blick, dass sie verstummte. »Es gibt über fünfhundert Organisationen auf der Erde, die sich gegen die Besiedelung des Weltraums durch Menschen aussprechen.«

»Aber warum?«

»Meistens weisen sie darauf hin, dass die Probleme der Erde nach wie vor ungelöst sind und behaupten, dass die Raumer einfach nur versuchen, vor ihnen davonzulaufen. Die körperlichen Veränderungen bei Raumern werden oft als Beginn einer forcierten Ausdifferenzierung der Art gesehen. Man hat die Bezeichnung Homo sapiens celestis für uns vorgeschlagen. Manche sprechen auch von einer Ausdifferenzierung nach Klassen. Viele Terraner unterziehen sich keiner Langlebigkeitsbehandlung. Entsprechend wird behauptet, dass die Raumzivilisation pervers, böse, dekadent und grausam sei. Dass sie den Lauf der menschlichen Geschichte aus dem Lot brächte.«

»Verdammt«, sagte Swan. »Ich dachte, den Leuten auf der Erde wäre klar, wie viel Gutes wir für sie tun.«

»Also bitte«, erwiderte Genette. »Dann verbringst du deine Sabbatjahre offenbar an sehr behüteten Orten.«

Swan überlegt eine Weile. »Also, was machen wir?«

»Ich will zum Saturn und nach diesem kleinen Schiff suchen. Passepartout glaubt, dass er anhand seiner Eintrittsstelle seinen jetzigen Aufenthaltsort berechnen kann.«

»Und kann ich mitkommen?«

»Aber gerne doch. Wir sind schon auf dem Weg.«

Sie setzten mit der Schnelle Gerechtigkeit auf ein vorbeikommendes Terrarium namens Innere Mongolei über, eine wunderschöne Innenwelt voll großer, wogender grüner Hügel, die immer wieder von schwarzen Felsvorsprüngen durchbrochen wurden und nicht nur Herden von Wildpferden eine Heimstatt boten, sondern auch scheuen Wolfsrudeln. Für Letztere hatte Swan eine besondere Schwäche. Die kleinen Ortschaften lagen auf Hügelkuppen und sahen aus wie Gruppen hübscher Jurten. Darum herum gab es Rasenflächen und an Plätzen mit besonderer Aussicht Schwimmbecken. Genette brachte nur einige wenige Helfer mit und verbrachte eine Menge Zeit damit, gemeinsam mit ihnen in einer von mehreren Jurten auf einer Hügelkuppe an anderen Fällen zu arbeiten – zumindest vermutete Shaw, dass es das war, was sie taten.

Eines Nachmittags, nachdem sie den ganzen Morgen in dem vergeblichen Versuch, ein paar Wölfe zu entdecken, durch die grasbewachsenen Hügel gewandert war, gelangte Swan zu einer Jurtensiedlung auf einer Hügelkuppe mit einer breiten, abfallenden Rasenfläche, einem großen niedrigen Becken, das dazu einlud, darin herumzuwaten, und mehreren dampfenden Bädern sowie einem Zelt-Aviarium, das Blumen in Hängekörben und zahlreiche unterschiedliche Arten von Kolibris, Papageien und kleinen bunten Finken enthielt. Der sich in Wellen dahinziehende Rasen war so sorgfältig gemäht, dass er wie ein grüner Teppich aussah. Swan erschien das übertrieben künstlich. Es stand nicht mit der wilden Hügellandschaft im Einklang, in der sie den Morgen verbracht hatte. Sie kam an zwei Frauen vorbei, die lachten, als fänden sie diesen Ort ebenfalls albern, und sagte im Vorbeigehen: »Das ist doch blöd, nicht wahr?«

Die beiden Frauen verstummten, und eine zeigte den Hügel empor: »Die drei dort oben in den Kleidern haben uns erzählt, dass sie Qubes in Androidenkörpern wären, und wollten wissen, ob sie unserer Meinung nach als Menschen durchgehen könnten. Wir haben ihnen gesagt, dass das wohl schon ginge, aber …« Die beiden Frauen schauten einander an und fingen wieder an zu lachen. »Aber dass sie es total versaut haben, indem sie uns gefragt haben!«

Swan sah die drei Gestalten, die in der Nähe des Watbeckens im Gras saßen. »Klingt interessant«, sagte sie und näherte sich ihnen.

»Pauline, hast du das gehört?«, fragte sie auf dem Weg nach oben.

»Ja.«

»Alles klar, dann sei jetzt bitte still, und pass gut auf.«

Seit Langem gab es die Hypothese, dass Menschen sich entweder dann mit intelligenten Robotern wohlfühlten, wenn sie in einer Art Gehäuse steckten oder aber sich schlicht und einfach nicht von Menschen unterschieden, was sie dann einfach zu einer neuen Sorte Mensch machen würde. Zwischen diesen beiden Extremen befand sich das, was man gemäß der Hypothese als »Uncanny Valley« bezeichnete – der Bereich, in dem die Dinge beinahe, aber nicht ganz gleich aussehen, sehr ähnlich, aber doch verschieden sind, und so bei Menschen eine instinktive Abneigung, Abscheu und Angst auslösen. Daher die einigermaßen plausible Hypothese. Aber da man noch keinen Roboter konstruiert hatte, der hinreichend menschlich wirkte, um das eine Ende des »Uncanny Valley« zu ermitteln, blieb sie eine abstrakte Idee. Vielleicht hatte Swan nun Gelegenheit, den menschlichen Rand des Tals zu erforschen.

Die geschmacklose Gestaltung des kleinen Ortes schien sich bis auf die Kleidung dieser drei Gäste zu erstrecken. Sie saßen beisammen, in langen Kleidern, die an viktorianische Reifröcke erinnerten. Sie waren einander so ähnlich, dass es sich gut und gerne um Geschwister handeln mochte oder auch tatsächlich um Androiden, die nach dem gleichen Modell geklont worden waren. Allerdings sah eine von den dreien etwas weiblicher aus als die beiden anderen.

Swan näherte sich ihnen und sagte: »Hallo, ich bin Swan vom Merkur, wo wir gerade mithilfe zahlreicher Qubes unsere verbrannte Stadt wiederaufbauen. Wenn ich es richtig verstehe, dann behauptet ihr drei, Qubes und biologisch nicht menschlich zu sein? Stimmt das?«

Die drei blieben sitzen und schauten Swan an. Die, deren Körperformen leicht weiblich aussah, lächelte und sagte: »Ja, das stimmt. Setz dich doch dazu, und trink einen Tee mit uns. Er ist gleich fertig.« Sie deutete auf einen kleinen, tragbaren Kocher auf dem Boden mit einer bauchigen roten Teekanne über der blauen Flamme. Auf einem rechteckigen blauen Tuch standen Tassen mit Löffeln daneben und kleine Töpfe.

Die anderen beiden begegneten ihrem Blick ebenfalls und nickten ihr zu. Eine deutete neben sich aufs Gras. »Setz dich, wenn du möchtest.«

»Danke«, sagte Swan und ließ sich auf den Hintern plumpsen. »Hier drin ist es ziemlich schwer. Wo kommt ihr drei denn her?«

»Ich wurde in Vinmara angefertigt«, sagte die Weiblichste.

»Und ihr?«, fragte Swan die anderen beiden.

»Ich bestehe keinen Turing-Test«, antwortete eine der beiden steif. »Möchtest du gerne Schach spielen?«

Und dann lachten die drei. Sie rissen die Münder dabei weit auf – Zähne, Zahnfleisch, Zunge, die Innenseiten der Wangen, vom Aussehen und von den Bewegungen her alles sehr menschlich.

»Nein danke«, sagte Swan. »Ich möchte einen Turing-Test ausprobieren. Oder wie wäre es, wenn ihr mich auf die Probe stellt?«

»Wie sollen wir das anstellen?«

»Wie wäre es mit zwanzig Fragen?«

»Heißt das Fragen, die man mit Ja oder Nein beantworten kann?«

»Genau.«

»Aber man könnte uns einfach fragen, ob die jeweils andere ein Simulacrum ist oder nicht, dafür bräuchte man nur eine Frage.«

»Stimmt. Wie wäre es, wenn wir nur indirekte Fragen erlauben?«

»Trotzdem wäre es ziemlich einfach. Wie wäre es, wenn du es ganz ohne Fragen schaffen musst?«

»Aber echte Menschen stellen einander dauernd Fragen.«

»Aber mindestens eine von uns ist nicht echt. Und du bist diejenige, die einen Test vorgeschlagen hat.«

»Das stimmt. Na schön, lass dich mal anschauen. Erzähl mir von der Inneren Mongolei

»Die liebe Innere Mongolei, ausgehöhlt im Jahre …«

»Geheiligt werde ihr Name«, warf eine der beiden Personen mit dem schwer bestimmbaren Geschlecht ein, und sie lachten.

»Etwa 25000 Einwohner«, sagte die weiblichere.

»Du musst ein Qube sein«, sagte Swan. »Menschen wissen so was nie.«

»Niemals?«

»Manche Leute vielleicht schon, aber es ist in jedem Fall seltsam. Aber ich muss sagen, dass du großartig aussiehst.«

»Danke, ich habe beschlossen, heute Grün zu tragen, gefällt es dir?« Sie präsentierte die Ärmel ihres Kleids.

»Sehr hübsch. Kann ich mir das mal genauer ansehen?«

»Mein Kleid oder meine Haut?«

»Deine Haut natürlich.«

Sie lachten alle.

Lachen, dachte Swan, während sie die Haut der Person begutachtete. Konnten Roboter lachen? Sie war sich nicht sicher. Die Haut ihres Gegenübers war mit Haarfollikeln übersät und an den Gelenken voll kleiner Falten; auf Handgelenk und Unterarm wuchsen beinahe durchsichtige Härchen, und auf der Innenseite des Handgelenks war ein Fleck von etwas längeren und dunkleren Haaren. Am Handansatz befanden sich vier tiefe Falten, dort wo die Haut dünner, aber dunkler wurde und zwei sich schlängelnde, hubbelige Adern hervortraten. Die Haut auf der Handinnenseite und am Daumenballen wies schwache Wirbelmuster auf, zum Beispiel Fingerabdrücke. Die Lebenslinie war tief, lang und gekrümmt. Die Hand sah wie eine beliebige Hand aus, die Haut hätte zu jedem beliebigen Menschen gehören können. Falls es künstliche Haut war, handelte es sich um erstaunlich gute Arbeit: Angeblich war es am schwersten, natürlich erscheinende Haut hinzubekommen. Und falls es sich um biologische Haut handelte, die man ähnlich wie in einem Labor über einem Gerüst hatte wachsen lassen, war das in anderer Hinsicht erstaunlich. Dem Anschein nach konnte die Haut dieser Menschen unmöglich künstlich sein, aber natürlich waren die Materialwissenschaften weit fortgeschritten, und vieles war möglich. Wenn man sich klare Ziele setzte und die Parameter kannte, war dann nicht praktisch alles denkbar?

Es blieb die Frage, warum jemand so etwas tun sollte, aber andererseits machten die Leute ständig komische Sachen. Und einen künstlichen Menschen zu erschaffen war ein sehr alter Traum. Vielleicht war er unsinnig, aber er stand in einer langen Tradition. Und hier standen sie nun, und sie war sich nicht sicher, was sie vor sich hatte. Das war schon an sich interessant.

Wenn man Sex mit einer Maschine hatte, war das dann interessant oder bloß eine komplizierte Methode zur Selbstbefriedigung? Würden die eigenen Reaktionen in irgendeiner Weise bei dem Qube ankommen? Würde er auch Sex haben?

Wenn sie es herausfinden wollte, würde sie es ausprobieren müssen. Es handelt sich lediglich um eine neue Art, die Frage nach dem Bewusstsein von Qubes zu ergründen. Man durfte im Umgang mit ihnen niemals vergessen, dass da niemand zu Hause war, wie sehr es auch den gegenteiligen Anschein haben mochte: Da war kein Bewusstsein, kein Gegenüber, nur ein Mechanismus, der von seinen Schöpfern darauf programmiert worden war, auf bestimmte Stimuli in bestimmter Weise zu reagieren. Ganz egal, wie komplex die Algorithmen waren, sie fügten sich nicht zu einem Bewusstsein zusammen. Doch obwohl Swan diese Überzeugung vertrat, konnte selbst Pauline sie recht oft überraschen, weshalb es schwer war, nicht auf die Illusion hereinzufallen.

»Du hast wunderschöne Haut. Sie fühlt sich an wie mein eigen Fleisch und Blut.«

»Danke.«

»Denkst du, dass du denkst?«

»Ich denke ganz eindeutig«, antwortete die Weibliche.

»Du hast also eine Folge von Gedanken, die mehr oder weniger kontinuierlich ineinander übergehen, du assoziierst im Feld aller dir möglichen Gedanken frei von einem Thema zum nächsten?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich so ist. Ich glaube, es ist eher eine Frage von Stimulus und Reaktion, wobei meine Gedanken auf die Stimuli eintreffender Informationen reagieren. Derzeit denke ich zum Beispiel über dich und deine Fragen nach, über den Vergleich zwischen meinem grünen Kleid und dem grünen Gras, darüber, was ich zu Mittag essen werde, da ich etwas hungrig bin …«

»Ihr esst also?«

»Ja, wir essen. Genau genommen fällt es mir schwer, nicht zu viel zu essen!«

»Mir auch«, sagte Swan. »Und hast du jemals darüber nachgedacht, Sex mit mir zu haben?«

Die drei starrten sie an.

»Tja, aber wir sind uns doch gerade erst begegnet«, sagte die eine.

»Das ist oft der Moment, in dem die Leute an so etwas denken.«

»Tatsächlich? Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt.«

»Glaub mir, es stimmt.«

»Ich habe keinen guten Grund, dir zu glauben«, sagte die Zweite. »Dafür kenne ich dich nicht gut genug.«

»Kennt man sich dafür jemals gut genug?«, fragte die Dritte.

Sie lachten.

»Um jemand anderem zu glauben?«, sagte die Weibliche. »Wohl kaum!«

Sie lachten erneut. Vielleicht lachten sie ein bisschen zu viel.

»Seid ihr auf Drogen?«, fragte Swan.

»Ist Koffein eine Droge?«

Jetzt kicherten sie.

»Ihr drei seid alberne Mädchen«, sagte Swan.

»Das stimmt«, gab die Weibliche zu. Sie goss Tee aus der Kanne in vier kleine Tassen und reichte sie weiter. Die Zweite öffnete einen Korb und holte Kekse und Kuchen heraus, die sie auf kleinen weißen Stoffservietten austeilte. Alle stürzten sich gierig auf das Essen. Die drei aßen wie ganz normale Leute.

»Könnt ihr schwimmen?«, fragte Swan. »Oder nehmt ihr heiße Bäder?«

»Ich nehme heiße Bäder«, sagte die Dritte, was die anderen dazu veranlasste, gedämpft in ihre Servietten hineinzukichern.

»Können wir das machen?«, fragte Swan. »Badet ihr ohne Kleider? Dann könnte ich eure Körper nämlich im Ganzen sehen.«

»Und wir könnten deinen sehen!«

»Das ist in Ordnung.«

»Sieht aus, als wäre das mehr als nur in Ordnung«, murmelte die Weibliche, und die anderen warfen die Köpfe in den Nacken und lachten.

»Lasst uns das machen!«, rief die Zweite.

»Ich möchte erst meinen Tee austrinken«, sagte die Weibliche affektiert. »Er schmeckt gut.«

Als sie fertig waren, erhoben die drei sich mit tänzerischer Anmut und führten Swan an den Rand des Beckens, wo bereits ein paar Leute schwammen, manche bekleidet, andere nackt. In dem seichtesten Becken, in dem auch kleine Kinder spielten, sprudelte eine Fontäne über ein rundes Dach und erzeugte einen Baldachin aus Wasser. Die drei Gastgeber Swans legten ihre Picknickausrüstung ab, zogen sich die Kleider über die Köpfe und schritten ans Wasser. Die Weibliche war schmal und mädchenhaft gebaut, und die beiden anderen hatten die gertenschlanken Leiber von Gynandromorphen: etwas breitere Hüften, leicht gerundete Brustmuskeln, aber keine richtigen Frauenbrüste, ein mittleres Verhältnis zwischen Rumpf und Beinen sowie Hüfte und Taille, behaarte Genitalien, die anscheinend hauptsächlich weiblich waren, in denen sich aber kleine dunkle Gebilde befanden, bei denen es sich um kleine Penisse und Hoden wie die von Swan handeln mochte – ohne eine genauere Untersuchung ließ sich das nicht sagen. Letztlich würde das allerdings kaum etwas beweisen, da die ohnehin schon gummiartigen Genitalien leichter zu simulieren waren als Hände.

Also ab ins Wasser. Swan sah, dass die drei gut schwammen, beinahe durchs Wasser schwebten; sie schienen dasselbe spezifische Gewicht zu haben wie Menschen. Dann waren ihre Knochen wahrscheinlich nicht aus Stahl, und wahrscheinlich war ihr Innenleben auch nicht komplett maschinell und nur von einer dünnen Lage Fleisch und Haut bedeckt. Wenn sie tief Luft holten, dann konnten sie sich beinahe treiben lassen, genau wie Swan. Und ihre Augen – ihre Augen blinzelten und konnten einen fixieren oder einen schief anschauen, und sie waren feucht. Konnte man jedes einzelne Stück eines Menschen nachbilden und die Teile dann so zusammenfügen, dass das Ergebnis funktionierte? Sich ein Menschenpuzzle ausdrucken? Das kam ihr unwahrscheinlich vor. Selbst die Natur war nicht besonders gut darin, dachte sie, als sich ihr schmerzendes Knie bemerkbar machte. Ein Simulacrum zu erzeugen … nun, vielleicht konnte man sich allein auf die funktionellen Aspekte konzentrieren. Aber tat das Gehirn nicht das Gleiche?

»Ihr albernen Mädchen, irgendwie seid ihr erstaunlich«, sagte Swan. »Ich kann mir keinen Reim auf euch machen.«

Sie lachten.

»Echte Menschen würden niemals den ganzen Tag damit verbringen, einer Fremden vorzumachen, dass sie Roboter wären«, beschwerte sich Swan. »Ihr müsstet Roboter sein.«

»Die seltsamste aller Möglichkeiten ist aller Wahrscheinlichkeit nach die zutreffende«, sagte die Zweite. »Das ist ein anerkannter Test bei der Bibel-Exegese. Man geht davon aus, dass Jesus aller Wahrscheinlichkeit nach einen Feigenbaum verflucht hat, denn warum sollte es diese Geschichte sonst geben?«

Erneutes Gelächter. Es waren wirklich alberne Mädchen. Vielleicht konnte man einen Roboter höchstens auf dem Niveau einer Zwölfjährigen zum Denken bringen.

Aber wie sie schwammen. Wie sie gingen. Das alles war schwer nachzuahmen; so kam es Swan zumindest vor.

»Das ist komisch«, sagte sie bei sich, eigentlich erfreut. Sie hatte erwartet, dass es leicht werden würde.

Als sie an eine Stelle watete, an der das Becken knietief war, musterten die anderen drei sie unverhohlen, so wie sie sie zuvor gemustert hatte.

»Oh, hübsche Beine«, sagte die Dritte. »Hübscher Körper

»Danke«, antwortete Swan, während die anderen beiden seufzten. Die Weibliche rief: »Nein, das darf man nicht sagen, manche Leute fühlen sich von Kommentaren über die ästhetische Wirkung ihrer Körper auf andere Personen unangenehm berührt!«

»Ich nicht«, sagte Swan hilfsbereit.

»Na schön, dann ist es ja gut«, sagte die Weibliche.

»Ich wollte nur höflich sein«, sagte die Dritte.

»Du warst direkt. Du hattest keine Ahnung, ob deine Worte auch höflich sein würden.«

»Es war bloß ein Kompliment. Es gibt keinen Anlass zu übertriebener Spitzfindigkeit. Wenn man Grenzen überschreitet, gehen die Leute einfach davon aus, dass man die Protokolle ihrer Kultur nicht kennt, es aber trotzdem gut meint.«

»Menschen tun das, aber woher weißt du, dass diese Person hier nicht ein Simulacrum ist, das man hergeschickt hat, um uns auf die Probe zu stellen?«

Und dann lachten sie, bis sie kaum noch Luft bekamen, und spritzten einander dabei nass. Swan spritzte ein Weilchen mit, setzte sich dann ins Wasser und schlängelte sich wie ein Otter zwischen den anderen hindurch. Dann zog sie das Dritte an sich und küsste es auf den Mund. Das geschlechtlich unbestimmte Wesen erwiderte den Kuss für eine Sekunde und zog sich dann zurück. »He, was soll das! Ich glaube nicht, dass ich dich gut genug für so etwas kenne!«

»Na und? Hat es dir etwa nicht gefallen?« Swan küsste es erneut, folgte ihm, wenn es sich wegdrehte, und spürte, wie überrascht seine Zunge von der Berührung mit einer anderen Zunge war.

Das Unbestimmte riss sich los und rief: »He! He! He! Aufhören!«

Die Weibliche war inzwischen aufgestanden und hatte sich ihnen genähert, als wollte sie eingreifen. Swan drehte sich um und schubste sie, sodass sie hart ins seichte Wasser klatschte. »Was machst du da!«, rief das Mädchen ängstlich, und Swan gab ihm mit der linken Faust eins auf den Mund. Der Kopf des Mädchens ruckte zurück, und es fing an, aus dem Mund zu bluten. Mit einem Aufschrei eilte es davon. Die beiden Unbestimmten traten spritzend zwischen Swan und das Mädchen, um es von ihr abzuschirmen, und schrien sie an, dass sie verschwinden sollte. Als Swan jedoch die Fäuste hob und wie ein Wolf heulend auf sie einprügelte, wichen sie verblüfft und entsetzt vor ihr zurück. Swan setzte ihnen nicht weiter nach, und als die drei aus dem Becken geklettert waren, kauerten sie sich aneinander und schauten zu ihr zurück. Das Verletzte hielt sich den Mund. Rotes Blut.

Swan stemmte die Hände in die Hüften und schaute sie an. »Ziemlich interessant«, sagte sie, »aber ich lasse mich nicht gerne an der Nase herumführen.« Sie watete durchs Wasser zu ihren Kleidern.

Anschließend ging sie entlang der Zylinderwand zurück, schaute sich eine Wildpferdherde an und küsste ihre wunden Fingerknöchel, während sie über die ganze Sache nachdachte. Sie war sich nicht sicher, mit was für Wesen sie den Tag verbracht hatte. Das war seltsam.

Als sie zu den Jurten auf dem Hügel zurückkehrte, wartete sie, bis Genette und sie mal wieder als Letzte auf waren, und sagte dann: »Ich bin heute drei Leuten begegnet, die behaupteten, künstlich zu sein. Androiden mit Qube-Gehirnen.«

Genette starrte sie an. »Tatsächlich.«

»Ja.«

»Und, was hast du gemacht?«

»Ich habe sie windelweich geprügelt.«

»Das hast du getan?«

»Eine von ihnen, ja, ein bisschen. Aber sie hat es drauf angelegt.«

»Warum?«

»Weil sie mich an der Nase herumgeführt haben.«

»Ist das nicht so ähnlich wie das, was du mit deinen Abramovics machst?«

»Überhaupt nicht. Ich führe die Leute nie an der Nase herum, das wäre ja Theater. Eine Abramovic-Performance ist keine Theatervorstellung.«

»Tja, vielleicht waren sie ja auch keine Theatervorstellung«, sagte Genette stirnrunzelnd. »Das müssen wir uns ansehen. Es gibt Berichte über mehrere ähnliche Vorfälle auf der Venus und auf dem Mars. Gerüchte über humanoide Qubes, die sich manchmal sonderbar verhalten. Inzwischen halten wir die Augen nach so etwas offen. Manche dieser Leute sind markiert, und ihre Bewegungen werden verfolgt.«

»Also gibt es so etwas wirklich?«

»Ja, ich glaube schon. Einige haben wir gescannt, und dann sieht man es natürlich sofort. Aber bisher wissen wir noch nicht viel mehr.«

»Aber warum sollte jemand so etwas tun?«

»Keine Ahnung. Aber wenn es Qubes gibt, die sich aus eigener Kraft bewegen können, und zwar ohne dabei Aufsehen zu erregen, dann würde das eine ganze Menge von dem, was passiert ist, erklären. Ich sorge dafür, dass sich meine Leute mal die drei, denen du begegnet bist, ansehen.«

»Ich glaube, es waren Menschen«, sagte Swan. »Sie haben nur so getan.«

»Du glaubst, es waren echte Menschen, die sich als Simulacra ausgegeben haben? Als eine Art Theatervorstellung?«

»Ja.«

»Aber warum?«

»Ich weiß es nicht. Warum sollte ein Mensch sich in eine Kiste setzen und so tun, als wäre er ein Schachcomputer? Es ist ein alter Traum. Eine Art Theater.«

»Mag sein. Aber ich schaue mir die Sache trotzdem mal an, wegen der seltsamen Vorgänge.«

»Na schön«, sagte Swan. »Aber ich glaube, dass es Menschen waren. Wie dem auch sei, nehmen wir an, dass es keine Menschen waren. Wo liegt das Problem mit diesen Dingern, wenn es denn Dinger sind?«

»Das Problem besteht darin, dass dann Qubes frei herumlaufen und Dinge tun. Was tun sie? Was sollen sie tun? Wer veranlasst sie dazu? Und da es bei den Attacken, von denen wir wissen, eine Qube-Komponente gab, müssen wir uns fragen, ob diese Dinger etwas damit zu tun haben. Sind einige von ihnen vielleicht in die Sache verwickelt?«

»Hmm«, sagte Swan.

»Vielleicht läuft alles auf eine Frage hinaus«, sagte Genette. »Warum verändern sich die Qubes?«

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