Die Waggons der siebenunddreißig Weltraumaufzüge der Erde waren ständig gut gefüllt, sowohl hoch als auch hinunter. Es setzten natürlich nach wie vor zahlreiche Raumfahrzeuge auf oder hoben ab, und Gleiter landeten, die anschließend in den Aufzügen wieder hochfuhren. Doch alles in allem erledigten die Aufzüge den Löwenanteil des Verkehrs zwischen Erde und Weltraum. Abwärts transportierten die Waggons Nahrungsmittel (die einen beträchtlichen Anteil am Gesamtbedarf der Erde ausmachten), Metalle, Waren, Gase und Menschen. Aufwärts fuhren Menschen und Industriegüter, außerdem Materialien und Dinge, die auf der Erde häufig und im All selten waren – davon gab es viele, darunter Tiere, Pflanzen und Mineralien, aber vor allem massenhaft Seltene Erdelemente, Holz, Öl und Humus. Die Gesamtmenge stellte einen beträchtlichen Massestrom dar, der fast ausschließlich von der Wechselwirkung zwischen Gravitation und Erdrotation angetrieben wurde, mit ein bisschen Sonnenenergie, um Reibungsverluste auszugleichen.
Die Ankerfelsen an den oberen Enden der Aufzugskabel ähnelten gigantischen Raumschiffen, da von ihren ursprünglichen Asteroidenoberflächen nicht mehr viel zu sehen war: Sie waren von Gebäuden, Generatoren, Ladebuchten und derlei mehr übersät. Im Endeffekt handelte es sich um riesige Häfen und Hotels und damit um Orte reger Geschäftigkeit. Swan kam über den Aufzug namens Bolivar an und war in einem der Hotelabteile untergebracht, ehe sie es auch nur bemerkte: Für sie hatte es sich einfach nur um eine komplizierte Folge von Türen, Schleusen und Gängen gehandelt, durch die sie eine Reihe weiterer Innenräume erreichte. Sie hatte sich bereits mit der langen Fahrt nach Quito hinunter abgefunden. Es war eine Ironie ihres Zeitalters, dass die Reise entlang des Aufzugskabels nach unten länger dauern würde als viele interplanetare Reisen, aber so war es nun einmal. Fünf Tage würde sie in dem Hotel festsitzen. Sie verbrachte die Zeit damit, Konzerte von Glass’ Satyagraha und Akhnaten sowie einen zermürbenden Tanzkurs zu besuchen, der darauf ausgelegt war, die Leute für die 1 g-Umgebung zu trainieren und der ihr ganz schön zusetzte. Während sie durch den durchsichtigen Boden hinabschaute, machte sie sich langsam wieder mit dem großen Tropfen Südamerika vertraut, der unter ihnen Gestalt annahm: die blauen Ozeane, die ihn umgaben; die Anden, die wie ein braunes Rückgrat aussahen; die kleinen, braunen, schneefreien Kegel, bei denen es sich um große Vulkane handelte.
Der Planet war inzwischen praktisch frei von Eis. Nur die Antarktis und Grönland hatten sich noch nennenswerte Mengen davon bewahrt, und Grönland schwand schnell dahin. Deshalb lag der Meeresspiegel mittlerweile elf Meter höher als vor dem Wandel. Die Überflutung der Küstenbereiche war einer der Hauptfaktoren der irdischen Katastrophe der Menschheit. Auf anderen Planeten gab es enorm leistungsstarke Terraforming-Technologien, die hier jedoch größtenteils nicht anwendbar waren. Man konnte beispielsweise keine Kometen auf die Erde pfeffern. Also wurde das Kielwasser der Schiffe mit Tensiden aufgeschäumt, um den Albedo-Effekt zu verstärken. Früher hatte man auch Schwefeldioxid in die Stratosphäre gepumpt, um Vulkanausbrüche zu simulieren; aber das hatte bereits einmal zu einer Katastrophe geführt, und nun konnte man sich nicht mehr einigen, wie viel Sonnenlicht man aussperren sollte. Viele Vorschläge und viele der kleineren Projekte, die bereits im Gange waren im Widerspruch zu anderen potenziellen oder bereits laufenden Projekten. Außerdem gab es nach wie vor mächtige Nationalstaaten, die zugleich Firmenkonglomerate waren – beides überlappte einander in keynesianischer Unordnung. Die nach wie vor einflussreichen Reste des kapitalistischen Systems herrschten über weite Teile des Planeten und bewahrten wiederum ihre feudalistischen Altlasten in sich, im ewigen Kampf gegen die Lohnsklaven begriffen und damit auch gegen die horizontalisierte Ökonomie, die sich mit dem Mondragon entwickelt hatte. Die Erde war ein einziger Schlamassel, ein trauriger Ort. Und trotzdem war sie nach wie vor das Herzstück der Geschichte. Man musste sich mit ihr auseinandersetzen, hatte Alex immer gesagt, denn ohne sie war nichts, was man im All tat, wirklich von Bedeutung.
In Quito angekommen fuhr Swan mit der Bahn zum Flughafen und ging an Bord einer Maschine nach New York. Die Karibik leuchtete kobalt-, türkis- und jadefarben; selbst die braunen Umrisse der versunkenen Halbinsel Florida unter der Meeresoberfläche schimmerten jaspisfarben. Der atemberaubende Glanz der Erde.
Ein eher stahlfarbener Ozean brandete weiß gegen Long Island, als sie zu einem ruckelnden Landeanflug ansetzten. Dann setzten sie auf einer Landebahn irgendwo auf dem Festland nördlich von Manhattan auf, und endlich war Swan raus aus all den Reisebehältnissen, den Innenräumen und Transportmitteln und Fluren und Korridoren und unter freiem Himmel.
Einfach nur draußen in der freien Luft zu sein, unter dem Himmel, im Wind – das war es, was sie an der Erde am meisten liebte. Heute ballten sich in etwa dreihundert Metern Höhe dicke Wolken über ihrem Kopf. Anscheinend wogte soeben eine marine Wetterlage heran. Sie rannte auf eine Art gepflasterten Parkplatz voller Laster und Busse und Anhänger hinaus, sprang umher, schrie zum Himmel empor, sank auf die Knie und küsste den Boden, stieß Wolfsgeheul aus und legte sich schließlich, nachdem sie ein wenig hyperventiliert hatte, mit dem Rücken auf den Boden. Auf einen Handstand verzichtete sie – vor langer Zeit schon hatte sie gelernt, dass es auf der Erde wirklich schwer war, einen Handstand hinzubekommen. Außerdem tat ihr noch die Rippe weh.
Durch die Lücken in der Wolkendecke konnte sie das feine, aber dunkle Blau des Erdenhimmels sehen, leicht und kräftig zugleich. Er wirkte wie eine blaue, in der Mitte abgeflachte Kuppel, die ein paar Kilometer über den Wolken schwebte – sie streckte die Hand danach aus –, obwohl sie wusste, dass seine Pracht einzig und allein von einer Art Regenbogeneffekt herrührte. Ein Regenbogen, der überall blau war und alles einhüllte. Das Blau selbst war eine komplexe Farbe, von geringer Bandbreite, aber innerhalb dieser Bandbreite unendlich vielfältig. Es war ein berauschender Anblick, den man regelrecht aufsaugen konnte – man tat das unweigerlich, man atmete ihn ein. Der Wind trieb ihn einem in die Lungen! Atmen und sich berauschen, o ja, von allen Fesseln befreit, kaum bekleidet auf der nackten Oberfläche eines Planeten liegen und seine Atmosphäre trinken wie ein Lebenselixier, in der Brust spüren, wie sie einen am Leben hielt! Kein Terraner, der ihr jemals begegnet war, wusste die Luft wirklich zu schätzen oder sah seinen Himmel in seiner ganzen Pracht. Tatsächlich schauten sie nur selten zu ihm empor.
Sie sammelte sich und ging zum Hafen. Eine große, brummende Wasserfähre nahm sie und zahlreiche andere an Bord, und nachdem sie sich ihren Weg durch einen überfüllten Kanal gebahnt hatte, waren sie schließlich auf dem Hudson River und fuhren Richtung Manhattan. Die Fähre machte einen Zwischenhalt bei den Washington Heights, aber Swan blieb an Bord, während sie sich weiter Richtung Innenstadt durch den Hudson River pflügte. Einige Teile Manhattans befanden sich noch über Wasser, aber der Großteil war überflutet. Die ehemaligen Straßen waren zu Kanälen geworden, und die Stadt hatte sich in ein langgestrecktes Venedig verwandelt, ein Wolkenkratzer-Venedig, ein Riesenvenedig – also in etwas sehr Schönes. Tatsächlich war es mittlerweile ein abgeschmacktes Klischee zu betonen, dass die Stadt durch die Überflutung aufgewertet worden sei. Die lange Reihe von Wolkenkratzern sah aus wie die Wirbelsäule eines Drachen. Die perspektivische Verkürzung ließ die Gebäude beim Näherkommen kleiner erscheinen, als sie es wirklich waren, aber trotzdem war ihre schiere Vertikalität beeindruckend. Ein Wald von Dolmen!
Am Pier an der 30th Street ging Swan von Bord und über den breiten Laufsteg zwischen den Gebäuden zum ausgebauten High-Line-Park mit seinen sich weit nach Norden und Süden erstreckenden Plätzen voller Menschen. Manhattan zu Fuß: Arbeiter schoben ihre kleinen Handkarren durch das Gedränge auf den Hochwegen zwischen den inselartigen Wohnvierteln, die in verschiedenen Höhen zwischen den Wolkenkratzern hingen. Die Dächer waren begrünt, aber in erster Linie bestand die Stadt aus Stahl, Beton und Glas – und Meer. Boote kräuselten das Wasser unter den Laufstegen und in den Straßen, die nun viel befahrene Kanäle waren. All die höher gelegenen Plätze und Laufstege waren voll dicht gedrängter Menschen. Manhattan war so überfüllt wie eh und je, hieß es. Swan wich den Menschen in der Menge aus, schlängelte sich zwischen den beiden Laufrichtungen hin und her und erfreute sich an den zahllosen Gesichtern. Sie waren ebenso vielfältig wie eine beliebige Ansammlung von Raumern, nur ihre Größe entsprach weit mehr dem Durchschnitt – der übrigens eher klein war –, und es waren nur wenige Kleine und Große zu sehen. Asiatische Gesichter, afrikanische, europäische – alles außer amerikanischen Ureinwohnern, wie es ihr in Manhattan immer wieder auffiel. Wenn das mal keine biologische Invasion war!
Ein Gebäude, an dem sie vorbeikam, hatte das alte Erdgeschoss leergepumpt und verwendete es nun als eine Art große Badewanne voll Luft. Sie hatte gehört, dass der Markt für unterseeische und Gezeitenbereichs-Grundstücke boomte. Man redete sogar davon, das U-Bahn-Netz leerzupumpen, das dort, wo es überirdisch verlief, immer noch funktionierte. Das Glucksen des Wassers unter ihr bildete eine allgegenwärtige Geräuschkulisse. Menschliche Stimmen und die Geräusche des Wassers, die Schreie der Möwen am Hafen und das Rauschen des Windes zwischen den Gebäudeschluchten; so klang die Stadt. Das Wasser unter ihr war von zahlreichen einander überschneidenden Kielwasserbahnen aufgewühlt. Hinter ihr, die Straße entlang Richtung Westen, tanzten kleine Flocken von Sonnenlicht über den großen Fluss. Das liebte sie an der Erde – sie war draußen, wirklich im Freien. Sie stand auf der Oberfläche eines Planeten. In der tollsten Stadt, die es gab.
Sie sprang ein paar Stufen hinunter und stieg in ein Vaporetto, das die 8th Avenue entlangtuckerte. Die Fähre war lang und lag tief im Wasser. An Bord gab es Sitzplätze für etwa fünfzig Personen und Stehplätze für weitere hundert. Alle paar Häuserblocks hielt sie. Swan beugte sich über die Reling und schaute auf den Kanal hinab: ein Fluss am Grunde einer Schlucht, links und rechts Gebäude statt Felswände. Sehr futuristisch. Dort, wo die 26th Street von einer langen Promenade überspannt wurde, die sich bis hinüber zum East River erstreckte, stieg sie aus. Ein Großteil der von Osten nach Westen verlaufenden Straßen hatten derartige Hochplattformen, sodass die geschäftigen Kanäle darunter fast den ganzen Tag über im Schatten lagen. Wenn das Sonnenlicht durch die Spalten dazwischen fiel, verlieh es den Dingen einen bronzefarbenen Glanz, und das blaue Wasser wurde metallisch weiß. Den Einwohnern New Yorks schien dieser Effekt nicht aufzufallen, aber andererseits lebten hier trotz der Wasser zwanzig Millionen Menschen, und Swan vermutete, dass die Schönheit dieses Orts dabei keine völlig unwesentliche Rolle spielte, auch wenn die Leute anscheinend lieber nicht darüber redeten. Der Gedanke daran, wie abgebrüht die Leute hier sich wahrscheinlich vorkamen, brachte sie zum Lachen. Swan war nicht abgebrüht, und sie stammte auch nicht aus New York, dieser Ort war einfach erstaunlich, und sie wusste, dass dessen Bewohnern das sehr wohl auch bewusst war. Wenn das mal keine Landschaftskunst war! »Die Geografie der Welt, allein durch menschliche Logik und Optik vereint«, sang sie, »durch kunstvollen Lichteinfall und Farbwahl, durch gefällige Anordnung, durch die Vorstellung vom Guten, Wahren und Schönen!« Man hätte Lowenthals ganzes Oratio auf den Laufstegen Manhattans singen können, ohne dass sich jemand darum geschert hätte.
Sie ging so viel wie möglich in der Sonne. Das waren die unmittelbaren Strahlen Sols, die auf ihre nackte Haut knallten. Es war erstaunlich, dass man im Licht der Sonne stehen konnte, ohne dabei umzukommen. Dies war der einzige Ort im Sonnensystems, wo das möglich war. Die Biohülle um einen Stern herum war dünn wie eine Seifenblase. Diese Blase des Lebens dicker zu machen – vielleicht war das das menschliche Projekt. Dass sie die Blase bis um den Mars herum ausgedehnt hatten, war bereits bemerkenswert. Wenn es ihnen gelang, sie nach innen bis zur Venus zu strecken, wäre das sogar noch bemerkenswerter. Doch die Erde würde immer der perfekte Ort bleiben. Kein Wunder, dass diese alte Welt so viele Geheimnisse bereithielt, dass all die Wechselfälle des Lebens so atemberaubend wirkten. Metamorphosen passten zur Erde, und sie ereigneten sich unablässig. Die große Flut war ein Sturz gewesen, der sich als Glücksfall erwiesen hatte, sie hatte zur Entfaltung auf einer höheren Ebene geführt. Die Welt war gegossen worden. Blüten sprossen aus dem Blätterzweig. Sie war zurück.
Das Merkur-Haus war unten beim Museum of Modern Art. Viele der Gemälde aus dem Museum befanden sich nun auf dem Merkur, und man hatte nur Kopien zurückgelassen. In einer ungewöhnlichen Geste hatte man hier einen Ausstellungsraum der Kunst vom Merkur gewidmet. Natürlich war die Gruppe der Neun prominent vertreten. Für Swans Geschmack war es ein bisschen zu viel Sonne und Felsgestein. Und sie hatte den Einsatz von Leinwand als Medium seit jeher seltsam gefunden. Es war ein bisschen, wie wenn man sich Elfenbeinschnitzereien oder andere antike Exotika ansah. Wenn man die Welt und seinen Leib als Leinwand hatte, warum sollte man sich dann mit Tapetenstückchen zufriedengeben? Das war wirklich eigenartig, aber im Endergebnis deshalb vielleicht ebenso interessant. Alex und Mqaret hatten einmal einen Empfang für die Neun abgehalten, und Swan hatte viele von ihnen kennengelernt und sich gerne mit ihnen unterhalten.
Oben auf der Dachterrasse des Merkur-Hauses, etwa dreißig Stockwerke über dem Wasserspiegel, traf sie eine Gruppe von Merkurianern an der Bar an. Die meisten trugen Exoskelette oder Leibhalter, was Swan selbst dort, wo sie durch Kleidung verdeckt waren, an der Art erkannte, wie ihre Träger standen, lässig und leicht zur Seite geneigt, wie im Wasser. Diejenigen ohne solche Stützen standen mehr oder weniger tapfer stramm und trugen die Last der Erde mit angestrengten Mienen. Swan selbst ging es ähnlich. Man konnte machen, was man wollte, die Belastung von 1 g machte einem erst einmal zu schaffen.
Das New Yorker Büro wurde von einem uralten Terraner namens Milan geleitet, der für jeden ein herzallerliebstes Lächeln übrig hatte. »Swan, mein Schatz, wie lieb von dir, dass du vorbeikommst.«
»Ach, es ist mir ein Vergnügen, ich liebe New York.«
»Gesegnete Unwissenheit, mein Kind. Ich bin froh, dass es dir gefällt. Und ich bin froh, dass du hier bist. Komm, ich will dich ein paar von meinen Neuen vorstellen.«
Und so lernte Swan einige Angehörige des örtlichen Teams kennen, ließ ihre Beileidsbekundungen wegen Alex über sich ergehen und gab einen kurzen, ungenauen Bericht über ihre Reise zum Jupiter ab. Die Leute hatten eine Idee nach der anderen zum Thema Mondragon, die sie ihr alle mitteilten.
Als sie fertig waren, sagte Swan zu Milan: »Ist Zasha noch hier?«
»Zasha wird diese Stadt niemals verlassen«, antwortete Milan. »Das wirst du doch wissen. Hast du nicht gesehen, was Z zuletzt ausgebrütet hat? Es ist auf einem der Hudson-Piers.«
Also nahm Swan die Fähre zurück zur 8th Avenue und stieg dort eine Treppe zu einem Laufsteg empor, der nach Westen führte.
Da all die alten Anlegestellen elf Meter unter Wasser lagen, hatte man neue bauen müssen. Teilweise handelte es sich um alte Piers, die man geborgen und auf Stelzen gestellt hatte; andere waren neu und nutzten die alten teilweise als Fundament. Kleinere Schwimmdocks füllten die Lücken und waren an Piers oder nahen Gebäuden befestigt, auf Höhe des ehemaligen vierten Stockwerks. Einige dieser Docks waren mobil und bewegten sich wie Kähne umher. Es war ein trügerisches Ufer.
Auf manchen der überfluteten Anlegestellen waren mittlerweile Aquakulturen angelegt worden, und Zasha betrieb anscheinend eine Pharm auf einem dieser Piers, stellte dort aus Fischen gewonnene Medikamente und Biokeramiken her und erledigte nebenher das eine oder andere für das Merkur-Haus – und für Alex.
Swan hatte vorher angerufen, und Zasha nahm sie an dem Zaun in Empfang, der zwischen dem Schwimmdock und der Reihe öffentlicher Plätze westlich der Gansevoort Street am südlichen Ende der High Lane verlief. Nach einer kurzen Umarmung führte Z sie ans äußerste Ende des Docks, von wo aus sie mit einem kleinen, leise tuckernden Boot auf den Hudson River hinausfuhren.
Alles hier bewegte sich mit der Geschwindigkeit des fließenden Gewässers. Der Hudson River war an dieser Stelle breit; die ganze Stadt Terminator hätte in den Hafen von New York gepasst. Überall waren Brücken zu sehen, selbst weit entfernt am südlichen Horizont. Swan konnte kaum glauben, wie viel Wasser es hier gab; nicht einmal auf offener See schien es ihr so viel gewesen zu sein. Dabei handelte es sich nicht einmal um einen der ganz großen Flüsse des Planeten. Die Erde!
Mit zufriedener Miene betrachtete Zasha das Panorama. Fensterfronten oben an den höchsten Wolkenkratzern blitzten im Sonnenlicht auf, und die Gebäude schienen zu leuchten. Die Insel der Wolkenkratzer: Es war der klassische Manhattan-Look, unwahrscheinlich und erlesen.
»Wie läuft es bei dir?«, fragte Swan.
»Ich mag diesen Fluss«, sagte Zasha, als wäre damit ihre Frage beantwortet. »Ich fahre mit dem Motor bis an die Spitze der Insel oder sogar bis zu den Palisaden und lasse mich dann einfach treiben. Dabei werfe ich eine Angelschnur aus. Manchmal fischt man das verrückteste Zeug hier raus.«
»Und das Merkur-Haus?«
Zasha runzelte die Stirn. »Heutzutage gibt man den Raumern die Schuld an allem Möglichen. Die Leute hier unten sind feindselig. Je mehr wir helfen, desto feindseliger werden sie. Aber sie investieren trotzdem weiter in uns.«
»Wie immer«, sagte Swan.
»Tja, beständiges Wachstum. Aber nichts hält für die Ewigkeit. Selbst das Sonnensystem ist ebenso endlich wie die Erde.«
»Meinst du, es wird zu voll? Dass seine Kapazität ausgelastet ist?«
»Eher, dass wir uns dem Punkt nähern, an dem die Erträge nicht mehr weiter wachsen. Aber möglicherweise gibt das den Menschen das Gefühl, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Jedenfalls verhalten sie sich so.«
Zashas Boot trieb in der Ebbeströmung an der Battery vorbei, und der Ausblick auf die Küste von Brooklyn wurde weiter. Die Wolkenkratzer am Fuße Manhattans sahen aus wie eine Gruppe riesiger Schwimmer, die sich im knietiefen Wasser versammelt hatten, um gemeinsam in die kalte Tiefe hinauszulaufen. Zwischen den Gebäuden war das Wasser glasglatt, und die Kanäle waren voller kleiner Boote; auch in der Hafenbucht herrschte reger, wenn auch nicht ganz so dichter Betrieb. Ständig hatte man Hunderte von Wasserfahrzeugen im Blick. Sie konnten beide Flüsse entlangblicken, den Hudson und den East River, und zwischen ihnen verliefen die kleineren, geraderen Flüsse in den Straßenzügen. Über alldem breitete sich ein wolkenverhangener Himmel aus. Wie eine Vision Canalettos. Das glänzende Wasser der Bucht war weiß von den sich spiegelnden Wolken. Es war so schön, dass Swan sich wie in einem Traum fühlte, und in dem schwankenden Boot begann sie leicht zu taumeln.
»Setzt die Schwerkraft dir zu?«, fragte Zasha.
»Irgendwie schon.«
»Möchtest du bei mir zu Hause übernachten? Ich bekomme langsam Hunger.«
»Na klar. Danke.«
Zasha lenkte das Boot über den Fluss zu einem Wasserlauf auf der Jersey-Seite, der westwärts führte. Es war schwer zu sagen, ob es sich um einen Kanal oder einen natürlichen Zufluss handelte. Landeinwärts verbreiterte sich das Gewässer nach Norden, und Zasha bog in diese Richtung ab und legte an einem hölzernen Steg an, der in etwas hineinragte, das nun wie ein seichter See aussah. Ganze am Hang gelegene Stadtviertel verschwanden hier unter Wasser. Nordamerika hatte seit jeher eine Senkungsküste, jetzt mehr als je zuvor.
Sie machten einen Spaziergang im Licht eines wilden Sonnenuntergangs, der geschmacklos orange und rosa am Himmel vermischte. Bei solchen Gelegenheiten war es der östliche Himmel, an dem die eigentliche Show stattfand, subtiler, aber prachtvoller. Doch in diese Richtung schauten die Leute nie.
Zashas Zuhause war ein winziger Verschlag bei ein paar Bäumen, der so selbstgebastelt und heruntergekommen aussah wie die Hütten irgendeiner Favela.
»Was ist das hier?«
»Es gehört zu den Meadowlands.«
»Und du darfst dir hier einfach ein Zuhause hinbauen?«
»Schön wär’s! Genau genommen zahle ich eine horrende Miete, aber die Leute vom Merkur-Haus schießen mir etwas zu, damit ich hier draußen bleibe, weit weg von ihnen.«
»Schwer vorstellbar.«
»Wie dem auch sei, es ist in Ordnung so. Ich pendele gerne.«
Swan ließ sich dankbar in einen ramponierten Sessel nieder und schaute im Zwielicht Zasha beim Herumwerkeln zu. Es war schon lange her, dass sie verpartnert gewesen waren, sich zusammen im Sonnensystem herumgetrieben, Terrarien gebaut und Zephyr großgezogen hatten; sogar Zephyrs Tod war schon lange her. Und sie waren nie besonders gut miteinander ausgekommen. Kurz nachdem Zephyr gegangen war, hatten sie sich voneinander getrennt. Trotzdem war Swan die Art vertraut, auf die Zasha sich über den Herd beugte und darauf wartete, dass das Teewasser kochte, mit einem verstohlenen, wissenden Blick, den Swan ebenfalls wiedererkannte.
Sie sagte: »Und, hast du mit Alex zusammengearbeitet?«
»Aber ja«, antwortete Zasha und warf ihr einen kurzen Blick zu. »Sie war meine Chefin. Du weißt doch, wie so was läuft.«
»Was meinst du damit?«
»Ich meine, dass sie einen geliebt und sich um einen gekümmert hat, und dafür hat man genau das getan, was sie von einem erwartete.«
Swan konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Tja, stimmt.« Sie dachte über Zashas Worte nach, ohne den Schmerz zu beachten. »Irgendwie hat sie sich an die Bedürfnisse anderer Menschen angepasst. Mit ihrer Hilfe hat man immer bekommen, was man brauchte.«
»M-hm. Ich weiß, was du meinst.«
»Aber jetzt ist sie tot, und sie hat mir eine Nachricht hinterlassen. Im Prinzip hat sie mich als Kurier nach Io eingesetzt, zu Wang, und bei Pauline hat sie auch etwas abgeladen. Alles für den Fall, dass ihr etwas passieren würde, meinte sie.«
»Was willst du damit sagen?«
Swan beschrieb, wie Alex’ Geist sie heimgesucht hatte – die Sache mit den Umschlägen –, und erzählte von ihrer Reise zum Jupiter und dem Eindringling auf Io.
»Davon habe ich gehört. Ich wusste nicht, dass du dort warst«, erwiderte Zasha und blickte stirnrunzelnd auf den Teekessel, das Gesicht in das blaue Licht der Herdflamme getaucht.
»Woran haben du und Alex gearbeitet?«, fragte Swan. »Und warum hat sie mir in diesen Nachrichten, die sie hinterlassen hat, nichts davon erzählt? Sie … es kommt mir vor, als wäre ich bloß der Botenjunge für sie, und Pauline eine Art Safe.«
Zasha antwortete nicht.
»Komm schon, erzähl es mir«, sagte Swan. »Du kannst es mir sagen. Wenn es von dir kommt, halte ich das schon aus. Ich bin es gewohnt, dass du mir erzählst, was für ein schlechter Mensch ich bin.«
Zasha atmete aus und goss zwei Tassen Tee ein. Dampf stieg im Halbdunkel auf und fing von irgendwo ein wenig Licht ein. Z reichte ihr eine Tasse und setzte sich ihr gegenüber auf einen Küchenstuhl. Swan wärmte sich die Hände an ihrer Tasse.
»Es gibt Sachen, über die ich nicht reden kann …«
»Ach komm schon!«
»… und Sachen, über die ich durchaus reden kann. Sie hat mich in eine Gruppe mit reingeholt, die auf der Jagd nach ein paar seltsamen Qubes war. Das war interessant. Aber es war auch etwas, das sie vertraulich behandeln wollte, ebenso wie einige andere Sachen, die sie am Laufen hatte. Möglicherweise war sie der Meinung, dass du nicht besonders verschwiegen bist.«
»Warum sollte sie so etwas denken?«
Doch selbst Zasha wusste zwei oder drei Beispiele für Situationen, in denen Swan sich indiskret verhalten hatte, und Swan selbst wusste noch einige mehr.
»Das waren Versehen«, fügte Swan schließlich hinzu. »Und nicht mal besonders schlimme.«
Zasha nippte vorsichtig an ihrem Tee. »Tja, aber vielleicht sah es ja so aus, als ob solche Versehen bei dir häufiger wurden. Du bist nicht mehr die, die du einmal warst, das musst du zugeben. Du hast dein Gehirn mit Erweiterungen vollgestopft …«
»Das habe ich nicht.«
»Na ja, mit vier oder fünf. Das hat mir von Anfang an nicht gefallen. Wenn man den religiösen Teil des Temporallappens vergrößert, kann einen das zu einem ganz anderen Menschen machen, ganz zu schweigen von dem Epilepsie-Risiko. Und das war nur der Anfang. Jetzt hast du dieses Tierzeug da drin, und du hast Pauline da drin, die alles aufnimmt, was du siehst – das ist keine Kleinigkeit. Es kann Schaden anrichten. Am Ende bist du irgend so ein posthumanes Etwas. Oder zumindest eine andere Person.«
»Ach komm, Z. Ich bin immer noch dieselbe wie eh und je. Und alles, was man tut, kann einem schaden. Das kann kein Hinderungsgrund sein. Alles, was ich mit mir gemacht habe, betrachte ich als Teil meiner Existenz als menschliches Wesen. Warum sollte man so etwas denn bitte nicht tun, wenn man die Möglichkeit dazu hat? Ich würde mich schämen, es nicht zu tun! Es geht nicht darum, posthuman zu sein, sondern darum, voll Mensch zu sein. Es wäre dumm, all die guten Dinge, zu denen man in der Lage ist, nicht zu tun, es wäre antimenschlich.«
»Tja«, sagte Zasha, »du hast all das getan und anschließend damit aufgehört, Terrarien zu entwickeln.«
»Ich war fertig damit! Wir hatten die Entwicklungsphase sowieso hinter uns. Es ging ihnen nur noch darum, mehr von den Dingern zu bauen. Und viel von dem, was wir gemacht haben, war ohnehin dumm. Wir hätten zu dem Zeitpunkt eigentlich überhaupt keine Ascensions machen sollen, sondern lieber die traditionellen Biome über die Auslöschung hinwegretten. Das müssen wir nach wie vor! Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was wir uns dabei gedacht haben.«
Das überraschte Zasha. »Ich mag die Ascensions. Sie unterstützen die genetische Dispersion.«
»Und zwar zu sehr. Aber darum geht es gar nicht. Es geht darum, dass ich etwas anderes ausprobieren wollte, und das habe ich auch getan.«
»Du bist Künstlerin geworden.«
»Ich war seit jeher Künstlerin. Ich habe nur das Medium gewechselt. Und eigentlich nicht mal das. Ich habe den Fokus verstärkt. Das war es, was ich wollte. Komm schon, Zasha. Ich lebe ein ganz normales menschliches Leben. Wenn du all diese Möglichkeiten zurückweist, macht dich das nicht menschlicher, sondern nur rückwärtsgewandter. Ich gehe nicht mal ansatzweise so weit wie manch andere Leute. Ich habe kein drittes Auge, und ich breche mir bei einem Orgasmus nicht die Rippen. Ich will bloß …«
»Bloß was?«
»Ich weiß nicht. Dinge ausprobieren, die gut klingen.«
»Und, wie läuft es so?«
Swan saß im Halbdunkel da, irgendwo in New Jersey. Draußen war die freie Luft der Erde. »Nicht so gut.« Sie machte eine lange Pause. »Genau genommen habe ich Schlimmeres getan als das, wovon du gehört hast, wenn du es wirklich wissen willst.«
Zasha starrte sie an. »Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Haha. Jetzt, wo ich es mir überlege, fällt mir ein, dass Alex auch darüber Bescheid wusste, weil ich nämlich Mqaret davon erzählt habe.«
»Das heißt noch lange nicht, dass er es ihr weitererzählt hat.«
»Ich habe ihn nicht darum gebeten, es zu unterlassen.«
»Tja«, sagte Zasha. »Also wusste sie vielleicht davon. Etwas Schlimmeres als Tiergehirne? Etwas Schlimmeres als ein Qube in deinem Schädel? Vergiss es, ich will es gar nicht wissen. Aber vielleicht hat Alex es gewusst, und vielleicht gab es Sachen, die sie …«
»Die sie mir nicht anvertraut hätte.«
»Die sie für sich behalten musste. Und jetzt bist du hier und ziemlich übel zugerichtet.«
»Ich bin nicht übel zugerichtet!« Allerdings schmerzte ihre angeknackste Rippe, weil sie sich vor Empörung verkrampfte. Außerdem erfüllte sie Trauer um Alex – und ein kleines bisschen wütend auf sie war Swan nun auch.
»Nach dem, was du erzählst, klingt das aber so«, bemerkte Z. »Im Laufe der Jahre hast du fünf- oder sechs- oder siebenmal an deinem Kopf herumgedoktert, du hast einen Qube im Kopf – genau genommen hast du alles, was zum entsprechenden Zeitpunkt gerade in Mode war.«
»Ja, ja.«
»Denk doch mal darüber nach!«
Swan stellte ihre Teetasse auf den Tisch. »Ich glaube, ich mache mal einen Spaziergang.«
»Gut. Verlauf dich nicht. Ich koche uns was, während du unterwegs bist, in sagen wir fünfundvierzig Minuten gibt’s Essen.«
Swan verließ die Hütte.
Draußen vor der Tür zog sie ihre Slipper aus, stopfte sie sich in die Tasche, grub die Zehen ins Erdreich und wackelte mit ihnen. Wie eine Tänzerin beugte sie sich aus der Hüfte vor und grub auch ihre Finger in die Erde, hob dann die Hände ans Gesicht und atmete ein. Schmutz, das ultimative Ambrosia. Schmeckte nach matschigen Pilzen.
Es war bereits nach Sonnenuntergang. Neben einem grüngelben Sumpf verlief eine Asphaltstraße. Der Wind peitschte das Schilf. Sie ging am Straßenrand über den Erdboden und ließ den Blick an Sumpf und Himmel entlangschweifen. Auf der anderen Straßenseite kauerten ein paar alte Gebäude unter einer Baumgruppe. Weiter hinten sah man Reihen von alten Wohnblocks. Froschquaken. Sie saß am Rande des Sumpfes und sah die schwarzen Punkte weiter unten, halb über und halb unter Wasser. Ein Chor von quakenden Fröschen. Eine Weile hörte sie zu und betrachtete den Sumpf im Wind, und dann hörte sie mit einem Mal, dass die Frösche einander antworteten. Wenn ein Frosch »Ribit« machte, wiederholten die anderen das Geräusch eine Weile überall entlang der Straße, so weit sie es hören konnte, bis in einer kurzen Pause einer »Robot« machte, worauf alle diesen Laut wiederholten. Dann wurde »Limit« daraus, und wieder legte der Rest los, als spräche eine Art griechischer Chor in Gestalt von Fröschen zu ihr. So viele Limits! So viele Roboter. Der Klops, der am nächsten bei ihr saß, trug nur gelegentlich etwas bei, plusterte kurz seinen Kehlsack auf und quakte. Ansonsten verharrte er vollkommen reglos, bewegte nur die Augen, die sie im Dämmerlicht sehen konnte, ein gleitendes Blinzeln, immer wachsam. »Romper!«, quakte er in einer Pause, und Swan rief: »Schön für dich!«, und quakte das Wort eine Weile mit.
Der Oktober auf der Nordhalbkugel der Erde, prall und glänzend. All die Schnittstellen zwischen ihrem Körper und dem Planeten brummten. Mit einem Mal kam ihr das Leben im All wie das nackte Grauen vor, ein Exil im Vakuum, wo jeder unter Reizentzug in seiner Zelle saß, für sich, virtuell, angepasst. Hier war die Wirklichkeit wirklich.
»Röbber!«
»Röbber röbber röbber röbber …«
Die Magie des Augenblicks, die man ihnen geraubt hatte. Hier war sie, zog durchs All. Ein Fetzen Gegenwart. Dämmerung in einem Sumpf in einem flüchtigen Universum, so fremdartig, so geheimnisvoll. Warum existierte etwas Derartiges überhaupt? Der Wind war kühl, die Wolken hatten noch ein wenig Zwielicht bewahrt. Es sah nach Regen aus. Die Blätter der dornigen Ranken am Boden waren rot wie Ahorn. Der Sumpf war wie ein Mensch, der dort draußen lag und atmete. Krähen flogen krächzend über sie hinweg, in Richtung Stadt mit ihren Hitzeinseln. Swan kannte ein paar Worte in der Krähensprache. »Kräh, kräh, kräh«, sagten sie gerade zueinander, reines Geplapper, bis dann irgendwann eine ein Wort rief, das so klar verständlich war, dass es in die englische Sprache Einzug gehalten hatte – »Hork!«, Hawk, und dann stoben sie in alle Richtungen davon. Natürlich stammte das Worte Krähe ebenfalls aus der Krähensprache. In Sanskrit hatte es kaaga geheißen. Importierte Worte aus fremden Sprachen.
Bei den Häusern in der Nähe der Baumgruppe standen ein paar Leute. Irgendwie wirkten sie klein. Niedergedrückt. War das möglich, so dicht bei dieser großartigen Stadt? Gehörte es vielleicht sogar zur Stadt dazu, zu den Dingen, die sie am Laufen hielten, nicht nur die Feuchtgebiete, sondern auch die Legionen Armer und Marginalisierter, die in den halb überschwemmten Ruinen lebten? Das Gewicht des Planeten begann, sie runterzuziehen. Die Leute dort drüben waren wie Gestalten von Bruegel, Menschen aus dem 16. Jahrhundert, von der Zeit gebeugt. Vielleicht standen diese Menschen für das wirkliche Leben, und was Swan draußen im All betrieb, waren bloß die Spielereien einer Gaga-Aristokratin. Vielleicht wäre es am besten für sie, hier zu leben und Dinge zu bauen, Häuser vielleicht, klein, aber funktional, eine andere Art von Goldsworthy. Unter freiem Himmel, im unverfälschten Licht der Sonne – der totale Luxus des Realen. Die einzige wirkliche Welt. Die Erde, Himmel und Hölle zugleich – der Himmel der Natur, die Hölle des Menschen. Wie hatten sie nur etwas Derartiges tun können, warum hatten sie sich nicht mehr angestrengt?
Aber vielleicht hatten sie das. Vielleicht war ihr Aufbruch ins All ein Teil von ihren Bemühungen gewesen, eine Art verzweifelte Hoffnung. Wie eine Samenkapsel hatte man sie von der Erde fortgeschleudert, dorthin, wo sie mit Sicherheit erfrieren und verrotten und wieder zu Humus werden würden. Ein Klumpen Erde am Straßenrand. Sie lag im Dreck, achtete darauf, die dornigen Ranken nicht zu berühren; wand sich, als wollte sie sich eingraben. Eine Raumerin, die den Dreck fickte – das sahen die Leute hier wahrscheinlich dauernd, sodass es keinen Eindruck mehr auf sie machte. Diese armen Verirrten, dachten sie sich wahrscheinlich. So etwas gab es im All nämlich nicht, nicht wirklich. Nicht mit dem Wind und mit einem weiten Himmel, an dem es schon beinahe Nacht geworden war, und mit einer Feuchtigkeit in der Luft, die sich noch nicht ganz zu Wolken verdichtet hatte – wie sie das nur hatten zurücklassen können! Der Weltraum war ein Vakuum, ein Nichts. Sie konnten ihn nur bewohnen, indem sie ihn mit kleinen Schutzräumen übersäten, kleinen Blasen; die Stadt und die Sterne, ja doch, aber das genügte eben nicht! Man brauchte eine Welt dazwischen! Das war es, was die Stadtmenschen nicht bedacht hatten. Und tatsächlich vergaß man das im Weltraum auch besser, sonst drehte man durch. Hier konnte man sich daran erinnern und nicht gleich verrückt werden – nicht direkt zumindest.
Aber es war so jämmerlich. Schmuddelig, geschmacklos, niedergedrückt. Geradezu verstörend, sodass es einem einen Stich der Verzweiflung versetzte. Dass sie es so weit hatten kommen lassen. Dass sie all das wirklich mit sich gemacht hatte. Selbst Zasha war der Meinung, dass sie zu weit gegangen war, und Z war ein sehr toleranter Mensch. Vielleicht hätte ihre Beziehung sogar gehalten, wenn Swan nicht fortgegangen wäre. Und jetzt war sie nicht länger der Mensch, mit dem Zasha zusammen ein Kind großgezogen hatte, das spürte sie, obwohl sie nicht genau wusste, was sich verändert hatte. Es sei denn, es war dieses enceladanische Zeug in ihrem Körper … jedenfalls war sie eine seltsame Person. Eine Person, die am einzigen Ort, der sie wahrhaft glücklich machte, gleichzeitig in tiefste Trauer verfiel. Wie sollte sie das miteinander vereinen, was hatte es zu bedeuten?
Sie setzte sich auf. Saß dort auf dem Erdboden, spürte die Unebenheiten unter sich.
Aus dem Augenwinkel sah sie eine Bewegung. Sie versuchte aufzuspringen, vertat sich mit dem g-Wert und rasselte sofort wieder zu Boden. Swan spähte ins Zwielicht:
Ein Gesicht. Zwei Gesichter: Mutter und Tochter. Hier war das so klar erkennbar, dass es wie Parthenogenese aussah. In genau diesem Moment erschien der Mond über der schimmernden Stadt.
Die Jüngere näherte sich Swan. Sie sagte etwas in einer Sprache, die Swan nicht kannte.
»Was gibt es?«, fragte Swan. »Sprechen Sie kein Englisch?«
Die Frau schüttelte den Kopf und sagte noch etwas. Sie blickte sich um und rief leise etwas nach hinten. Zwei weitere Gestalten erschienen neben ihr, größer als sie und breiter. Zwei junge Männer. Sie beugten sich vor und sprachen murmelnd mit der Tochter.
»Haben Sie Antibiotika?«, sagte einer der beiden. »Mein Vetter ist krank.«
»Nein«, sagte Swan, »so was habe ich nicht dabei.« Obwohl in ihrem Gürtel vielleicht etwas war, sie war sich nicht mal sicher.
Sie kamen einen Schritt näher. »Wer sind Sie?«, fragte einer. »Was sind Sie?«
»Ich besuche Freunde«, erwiderte Swan. »Ich kann sie rufen.«
Die jungen Männer kamen kopfschüttelnd näher. »Sie sind eine Raumerin«, sagte der erste Sprecher, und der andere fügte hinzu: »Was machen Sie hier?«
»Ich muss los«, sagte Swan und wollte zur Straße gehen – doch die beiden packten sie bei den Armen. Sie packten so fest zu, dass Swan nicht einmal versuchte, sich loszureißen. »He!«, sagte sie laut.
Der, der zuerst gesprochen hatte, rief etwas in die Dunkelheit hinter den beiden Frauen: »Kiran! Kiran!«
Kurz darauf trat eine weitere Gestalt aus der Nacht hervor – noch ein junger Mann, der bislang größte, doch dieser war schlank. Der Griff der beiden, die Swan festhielten, fühlte sich an, als hätten sie so etwas schon einmal gemacht.
Der neue junge Mann erschrak, als er Swan sah, und sagte barsch etwas zu den beiden anderen, in einer Sprache, die sie nicht kannte. Zwischen ihnen fand eine kurze, hitzige Diskussion statt; dieser Kiran war nicht besonders erfreut.
Schließlich blickte er zu Swan. »Sie wollen dich behalten und Geld für dich fordern. Gib mir eine Sekunde.«
Ein weiterer hitziger Wortwechsel in der fremden Sprache. Anscheinend machte Kiran die anderen nervös. Sie wirkten in die Ecke gedrängt. Dann trat er an Swan heran, nahm sie beim Oberarm, drückte einmal fest zu, als wollte er ihr dadurch etwas mitteilen, und bedachte die beiden anderen mit einer knappen Kopfbewegung. Er gab ihnen Anweisungen. Die anderen beiden nickten schließlich, und derjenige, der als Erster mit ihr gesprochen hatte, sagte: »Sind bald zurück.« Dann verschwanden die beiden in der Nacht.
Swan schaute Kiran in die Augen, worauf er das Gesicht verzog und ihren Arm losließ. »Das sind meine Vettern«, sagte er. »Es war keine gute Idee von ihnen.«
»Eine dumme Idee«, erwiderte Swan. »Sie hätten mich einfach um Hilfe bitten können. Was hast du ihnen gesagt?«
»Dass ich dich festhalten würde, während sie das Auto ihrer Mutter holen. Du solltest besser von hier verschwinden.«
»Bring mich zurück«, sagte Swan. »Ich möchte dich dabeihaben, für den Fall, dass sie zurückkommen.«
Er riss verblüfft die Augen auf und musterte sie genauer. Nach einer Weile sagte er: »Na schön.«
Schnellen Schritts folgten sie der Straße. »Wirst du dafür in Schwierigkeiten geraten?«, fragte Swan einmal.
»Ja«, antwortete er düster.
»Was werden sie tun?«
»Sie werden versuchen, mich zu verprügeln. Und es den Alten erzählen.«
Ihre Arme brannten immer noch, wo man sie gepackt hatte, und ihr Gesicht fühlte sich heiß an. Sie betrachtete den missmutigen jungen Mann, der neben ihr herging. Er sah gut aus. Und er hatte sie ohne einen Moment des Zögerns aus einer üblen Klemme befreit. Sie erinnerte sich an den barschen Ton seiner Stimme, als er mit seinen Vettern gesprochen hatte. »Willst du fort von hier?«
»Wie meinst du das?«
»Willst du in den Weltraum?«
Nach einer Pause sagte er: »Könntest du das bewerkstelligen?«
»Ja«, sagte sie.
Sie blieben vor Zashas Zuhause stehen, und Swan musterte ihn von oben bis unten. Sein Aussehen gefiel ihr. Er schaute sie mit neugieriger, fragender – mit eifriger Miene an. Ein Schauer überlief sie.
»Hier wohnt jemand, mit dem ich befreundet bin, jemand aus dem diplomatischen Dienst für den Merkur. Tja … wenn du willst, komm mit rein. Wir können dich nach dort oben bringen, wenn du möchtest.« Sie blickte kurz zum Himmel auf.
Er zögerte. »Du machst mir keine … keine Schwierigkeiten?«
»Natürlich mache ich dir Schwierigkeiten. Der Weltraum ist voller Schwierigkeiten.«
Sie ging auf Zashas Hütte zu, und einen Augenblick später folgte er ihr. Sie öffnete die Tür. »Zasha?«, sagte sie.
»Eine Sekunde«, rief Zasha aus der Küche.
Der Junge starrte sie an. Offensichtlich fragte er sich, ob man ihr trauen konnte.
Swan sagte: »Sie haben dich Kiran genannt?«
»Ja, Kiran.«
»Welche Sprache habt ihr gesprochen?«
»Telugu. Südindisch.«
»Was macht ihr hier?«
»Wir wohnen jetzt hier.«
Also war er bereits im Exil. Und auf der Erde gab es alle möglichen Bedingungen, damit man als Immigrant irgendwo leben durfte: Möglicherweise erfüllte er die nicht.
Zasha erschien mit einem Handtuch in der Hand in der Küchentür. »Oho. Wer ist das?«
»Das ist Kiran. Seine Freunde wollten mich entführen, und er hat mir zur Flucht verholfen. Im Gegenzug habe ich ihm versprochen, ihn von der Erde fortzubringen.«
»Das ist nicht dein Ernst!«
»Oh doch. Also … da wären wir. Und ich muss mein Versprechen halten.«
Zasha musterte Swan skeptisch. »Was soll das, hast du so schnell ein Stockholm-Syndrom entwickelt?« Z schaute zu dem Jungen, der den Blick fest auf Swan gerichtet hielt. »Oder haben wir es mit einem Lima-Syndrom zu tun?«
»Was soll das sein?«, fragte Kiran, ohne den Blick von Swan abzuwenden.
Zasha verzog das Gesicht. »Stockholm-Syndrom heißt es, wenn Geiseln Mitgefühl für ihre Entführer entwickeln und sich für sie einsetzen. Lima-Syndrom ist, wenn die Entführer ihre Opfer zu mögen beginnen und sie gehen lassen.«
»Gibt es keine dritte Möglichkeit?«, fragte Swan unwirsch. »Vielleicht ist er einfach nur froh, heil aus der Sache rauszukommen? Komm schon, Z. Ich habe dir doch gesagt, dass er mich gerettet hat. Was für ein Syndrom soll das sein? Ich möchte ihm einen Gefallen vergelten, und dafür brauche ich deine Hilfe. Hör auf, die Situation an dich zu reißen, das machst du dauernd.«
Zasha wandte sich mit verärgerter Miene ab. Dann, nach einem Moment des Überlegens und mit einem Achselzucken: »Wir können ihn von der Erde wegbringen, falls du das wirklich willst. Ich müsste das über einen Freund arrangieren, der mir bei solchen Sachen hilft. Er arbeitet im Trinidad-Tobago-Aufzug. Der ist als Hawala organisiert. Wir haben so eine Art Transportvereinbarung, allerdings bin ich ihm was schuldig, wenn wir das machen. Was bedeutet, dass du mir was schuldig bist.«
»Ich bin dir sowieso immer was schuldig. Wie kommen wir nach Trinidad?«
»Mit einer Diplomatentasche.«
»Einer was?«
»Einem Privatflugzeug. Und eine Wurmkiste müssen wir uns auch besorgen.«
»Eine was?«
»Wir haben ein System. Wir geben die Ladung immer als eine Kiste Humus oder eine Kiste Würmer aus, die gemäß unserer stillschweigenden Übereinkunft nicht inspiziert wird.«
»Würmer?«, fragte Kiran.
»Ganz genau«, antwortete Zasha mit einem grimmigen kleinen Lächeln. »Ich bringe dich von diesem Planeten weg, wegen Miss Stockholm hier, aber in Anbetracht der Umstände können wir das nicht offiziell machen. Deshalb müssen wir auf unser System zurückgreifen. Es kann also sein, dass du in einer großen Kiste voller Würmer reisen musst, alles klar? Kommst du damit zurecht?«
»Kein Problem«, sagte Kiran.