Es war während einem der berühmten titanischen Sonnenuntergänge, als Swan Wahram erblickte, der ihr und Genette auf der Empore entgegenkam, um sie zu begrüßen. Sie rannte auf ihn zu und schloss ihn in die Arme. Dann löste sie sich von ihm und sah ihn an, plötzlich befangen. Aber dann zeigte er sein kleines Lächeln, und sie wusste, alles war gut zwischen ihnen. Trennung ließ die Zuneigung wachsen – insbesondere, wenn man von ihr getrennt war, dachte Swan.
»Willkommen bei unserem laufenden Projekt«, sagte er. »Ihr seht ja, wie sehr das Vulkanoiden-Licht uns hilft.«
»Es ist wunderschön«, sagte sie. »Aber spendet es genug Wärme für euch? Könnt ihr damit Temperaturen erzeugen, die für Biosphären geeignet sind? Müsste es dazu nicht beinahe 200 Grad Kelvin wärmer sein?«
»Durch das Licht allein ist das nicht möglich. Aber wir haben einen unterirdischen Ozean mit einer Durchschnittstemperatur von etwa 280 Grad Kelvin, weshalb Wärme an und für sich kein Problem ist. Einen Teil dieser Wärme werden wir nach draußen an unsere Luft bringen. Zusammen mit dem zusätzlichen Licht ist das dann sogar mehr als genug. Wir werden Probleme mit der Gasmischung bekommen, aber die können wir lösen.«
»Das freut mich für euch.« Sie blickte zu den gewaltigen, orange-, lachs- und bronzefarben flackernden Wolkentürmen über dem Zelt empor. Darüber glitzerten strahlende Lichter in einem königsblauen Himmel, die größer und heller waren als Sterne: Sie vermutete, dass es sich um einige der lichtsammelnden Solettas handelte, die die Strahlen von den Vulkanoiden auf Titans Nachtseite lenkten. Die riesigen Wolkenmassen, die auf der einen Seite von der Sonne angestrahlt wurden und auf der anderen von Spiegeln, sahen aus wie Marmorskulpturen. Man hatte ihr gesagt, dass der Sonnenuntergang etwa zwei Tage dauern würde.
»Wunderschön«, sagte Swan.
»Danke«, antwortete Wahram. »Dies hier ist meine wirkliche Heimat, ob du es glaubst oder nicht. Jetzt lass uns einen Spaziergang mit Genette machen. Wir möchten vertraulich mit dir reden.«
»Sind alle anderen da?«, fragte Genette, als sie sich näherten.
Wahram nickte. »Kommt mit.«
Die drei zogen sich Raumanzüge an und verließen die Raumhafenstadt namens Shangri-La durch ein Tor an der Nordseite des Zelts. Ein paar Kilometer gingen sie auf einem breiten Weg Richtung Norden, der eine sacht ansteigende Eisebene emporführte und an einem Aussichtspunkt endete. Hier markierte ein weiter, gekachelter Bereich eine Art Versammlungsplatz unter freiem Himmel, von dem aus man einen Blick über einen Ethansee hatte. In dem metallisch glänzenden See spiegelten sich die Wolken und der Himmel, sodass er wie ein atemberaubend buntes Tableau vor ihnen lag, golden und rosa, kirsch- und bronzefarben, jeder Ton für sich wie in einem fauvistischen Gemälde. Die Natur scheute sich wahrhaftig nicht, die ganze Farbpalette auszunutzen. Dort, wo sich die neuen Spiegel selbst in der Oberfläche des Sees spiegelten, sah es aus, als schwämmen Silberbrocken in flüssigem Kupfer und Kobalt. Echtes Sonnenlicht und gespiegeltes Sonnenlicht überlagerten einander und erzeugten das Bild einer Landschaft, in der es keine Schatten oder nur ganz blasse Doppelschatten gab – in Swans Augen wirkte das sonderbar, irreal, wie ein Bühnenbild in einem Theater, das so riesig war, dass man die Wände nicht sehen konnte. Der pralle Saturn flog durch die Wolken, seine Ringe in der Seitenansicht ein weißer Riss im Himmel. Ein durchsichtiger, rechteckiger Pavillon stand an einer Ecke des Platzes. Darin befand sich ein kleineres Stoffzelt, das wie eine Jurte oder ein platter Fußball aussah. Wahram führte Swan und Genette durch die Luftschleuse des äußeren Zelts und dann in die Jurte im Innern. Dort trafen sie auf eine kleine Gruppe von Menschen, die in einem unregelmäßigen Kreis auf Kissen am Boden saßen.
Alle standen auf, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Es waren etwa zwölf bis fünfzehn Leute. Anscheinend kannten die meisten von ihnen Wahram und Genette bereits, und Swan wurde so vielen Leuten vorgestellt, dass sie sich die Namen nicht merken konnte.
Als sich alle miteinander bekannt gemacht hatten und wieder auf dem Boden saßen, wandte Wahram sich Swan zu. »Swan, wir würden uns gerne mit dir unterhalten, ohne dass Pauline dabei ist. Wir hoffen, dass du damit einverstanden bist, sie abzuschalten.«
Swan zögerte zunächst, aber etwas an Wahrams Miene – es war eine Art ersticktes, wortloses Flehen, so als versuchte die Kröte den Maulwurf und die Ratte zur Zusammenarbeit bei etwas zu überzeugen, was ihrer Meinung nach wahnsinnig wichtig war – ließ sie zustimmen: »Ja, natürlich. Schalte dich vollständig ab, Pauline.« Und nachdem sie das Klicken gehört hatte, mit dem Pauline bestätigte, dass sie in den Ruhezustand gewechselt war, drückte Swan vorsichtshalber noch den Knopf hinter ihrem Ohr.
»Sie ist abgeschaltet«, sagte Swan. Sie schaltete Pauline dauernd ab, aber konnte es nicht leiden, wenn andere sie darum baten.
Inspektor Genette sprang auf und stellte sich vor sie auf den Tisch, sodass sie beinahe auf Augenhöhe waren. »Wir würden uns gerne vergewissern, dass Pauline tatsächlich vollständig inaktiv ist. Manchmal kann sich der menschliche Wirt über so etwas nicht ganz sicher sein. Du hast zum Beispiel sicher bemerkt, dass ich Passepartout in der Stadt gelassen habe.«
»Er könnte aber auch aus der Entfernung aufnehmen, was du tust, oder?«, sagte sie.
Genette schien das zu bezweifeln. »Ich glaube kaum, aber wir halten uns ja gerade in dieser vertraulichen Umgebung auf, um derlei Lauschangriffen zu entgehen. Wir befinden uns in einer Black Box. Aber wir möchten sichergehen, dass hier drinnen alles sauber ist, indem wir bei dir einige Tests durchführen.«
»Alles klar«, sagte Swan ebenso eingeschnappt, wie Pauline es an ihrer Stelle gewesen wäre. »Überprüft sie, aber ich bin mir sicher, dass sie im Ruhezustand ist.«
»Auch Schlafende können hören. Wir wollen, dass sie abgeschaltet ist. Und darf ich dich auch auf die Vorteile hinweisen, die es hat, wenn man seinen Qube getrennt vom eigenen Körper hält?«
»Das haben mir schon einige unhöfliche Leute nahegelegt«, antwortete Swan.
Sie überprüften Paulines Zustand, indem sie Stäbe an Swans Hals hielten. Dann bat man sie, für einen Moment eine Kappe aus einem flexiblen Drahtgewebe aufzusetzen.
»Alles klar«, sagte Wahram, als einer seiner Kollegen ihm zustimmend zunickte. »Wir sind hier jetzt allein, und dieses Gespräch wird nicht aufgezeichnet. Wir alle müssen uns darin einig sein, das hier Gesagte geheim zu halten. Bist du einverstanden?«, sagte er zu Swan.
»Das bin ich«, antwortete sie.
»Gut. Alex hat diese Treffen als Erste einberufen, zusammen mit Jean. Sie sah Probleme auftauchen, die ihrer Meinung nach außerhalb des Hoheitsgebiets der künstlichen Intelligenzen im System diskutiert werden sollten. Eines dieser Probleme war eine neue Art von Qube, die auf der Bildfläche erschienen ist. Inspektor?«
Genette sagte zu Swan: »Erinnerst du dich an diese angeblichen Menschen an Bord der Inneren Mongolei? In gewisser Weise haben sie den Turing-Test bestanden, oder den Swan-Test, wie man es wohl auch nennen könnte, insofern du sie für Menschen gehalten hast, die dir etwas vorspielen. Menschen tun so etwas manchmal, und in vielerlei Hinsicht ist es eine wahrscheinlichere Erklärung als die Existenz eines vollständig verwirklichten Humanoiden.«
»Ich glaube immer noch, dass es sich um Menschen gehandelt hat«, erwiderte Swan. »Wisst ihr es genauer?«
»Ja. Das waren drei der humanoiden Qubes, die wir entdeckt haben. Es gibt etwa vierhundert von ihnen. Die meisten verhalten sich ziemlich genau wie Menschen und bleiben unauffällig. Einige wenige benehmen sich sehr seltsam. Die drei, denen du begegnet bist, gehören zu den Seltsamen. Ein anderer hat diesen Einbruchsversuch bei Wangs Station auf Io unternommen. Wir haben seine Überreste aus der Lava geborgen, und das Quantenpunktgitter ließ sich immer noch nachweisen.«
Swan schüttelte den Kopf. »Die drei, denen ich begegnet bin, kamen mir ein bisschen zu albern für Maschinen vor, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Vielleicht bist du bloß an Pauline gewöhnt«, vermutete Genette.
Swan sagte: »Aber sie ist dauernd albern. Das ist nichts Neues. Obwohl ich zugeben muss, dass sie mich oft überrascht. Mehr als die meisten Menschen.«
»Ihr gegenüber behauptest du immer das Gegenteil«, bemerkte Wahram mit einem neugierigen Blick.
»Ja. Ich ziehe sie gerne auf.«
Genette nickte. »Aber du hast Pauline darauf programmiert vorzupreschen – als gewandte Gesprächspartnerin, die unerwartete Antworten geben soll. Sie hat gewisse rekursive Programmelemente, die assoziativem und metaphorischem Denken ein stärkeres Gewicht gegenüber logischen Wenn-dann-Folgen verleihen.«
»Tja, aber darum geht es nur zum Teil. Deduktion ist angeblich logisch, und sie hat ein starkes Deduktionsprogramm. Aber letztlich erweist sich Deduktion als fast ebenso metaphorisch wie die freie Assoziation. Am Ende hat man nicht die geringste Ahnung, was sie sagen wird.«
An die gesamte Gruppe gewandt sagte Wahram: »Die Frage der Programmierung ist es, weshalb wir uns heute hier versammelt haben. Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass einige Qubes sich aktiv selbst programmieren, insbesondere die, die in die Herstellung der Qube-Humanoiden verwickelt sind. Unseres Wissen hat kein Mensch sie dazu aufgefordert, und uns ist nichts über ihre Motive dafür bekannt. Die erste Frage besteht also darin, um was es sich bei ihnen handelt und wer sie herstellt. Wir wissen, dass sie aufgrund der Dekohärenzprobleme nicht intern miteinander kommunizieren können. Mit anderen Worten handelt es sich also nicht um ein verschränktes Gruppenbewusstsein oder so. Aber sie können sich genau wie wir miteinander verständigen, indem sie miteinander reden, und sie können dabei alle Kommunikationskanäle verwenden, über die auch wir verfügen. Allerdings ist es unmöglich, ihre Codes zu knacken, wenn sie eine Quantenverschlüsselung benutzen. Robin …« – Dabei handelte es sich um die Person, die auf der anderen Seite von Wahram saß und Swan jetzt zunickte – »… hat die Aufzeichnung der Gespräche koordiniert, die die Qubes über Funk, in der Cloud und in einigen Fällen sogar persönlich geführt haben. Wir können zwar ihre Codes nicht knacken, aber wir können beobachten, wie sie miteinander reden.«
Swan sagte: »Noch mal zurück – wie können sie sich selbst programmieren? Ich habe gehört, dass rekursive Selbstprogrammierung lediglich Operationen beschleunigt, die sie bereits beherrschen.«
»Tja, aber wenn man sie angewiesen hat, beispielsweise etwas zu erzeugen, dann könnte das zu seltsamen Ergebnissen führen. Wenn sie sich bemüht haben, neue Wege zu finden, um etwas zum Funktionieren zu bringen, dann hat ihnen das vielleicht einen Anstoß zu neuen Ideen gegeben. Möglicherweise ist es nicht viel anders als ihre Art, Schach zu spielen. Die Aufgabe besteht darin zu gewinnen, und üblicherweise probieren sie alle denkbaren Möglichkeiten aus. Bei ihrer Suche nach einer möglichst effektiven Strategie stoßen sie womöglich auf unerwartet erfolgreiche Wege, um ans Ziel zu kommen. Dabei muss es sich noch nicht um einen höheren Denkvorgang handeln, aber das Ergebnis könnte im Prinzip ähnlich sein, zu neuen Algorithmen führen und den Anstoß dafür geben, noch mehr neue Dinge auszuprobieren. Irgendwann sind sie bei dem Versuch, sich effizienter selbst zu programmieren, vielleicht in eine Art Bewusstsein hineingestolpert, oder zumindest in etwas Ähnliches. Oder es handelt sich lediglich um einige neue, seltsame Verhaltensweisen, vielleicht sogar destruktive. Das ist zumindest die Theorie, die wir verfolgen.«
»Halten es denn die ursprünglichen Qube-Programmierer für denkbar, dass ein solcher Prozess sehr weit gehen könnte? Ich meine, würden die Qubes nicht trotzdem nach wie vor in ihren Algorithmen feststecken?«
»Wie wir wissen, haben die Konstrukteure die ersten Quantencomputer mit unterschiedlichen physischen Strukturen verwirklicht, und so unterscheiden sich die Qubes auch heute noch in ihrer inneren Architektur. Es gibt also eigentlich mehrere verschiedene Arten von Qubes, wobei jede Art über eigene Formen der Kognition verfügt – verschiedene Protokolle, Algorithmen, neurale Netzwerke. Sie imitieren jeweils verschiedene Aspekte von Gehirnen – etwas, das man als Selbstwahrnehmung bezeichnen könnte, sowie viele andere Merkmale von Bewusstsein. Es gibt nicht nur einfach einen Bauplan, und vielleicht haben sie begonnen, sich in neue Arten auszudifferenzieren, was ihre mentalen Vorgänge betrifft.«
Inspektor Genette übernahm: »Wir erkennen deutliche Anzeichen dafür, dass die Qubes sich selbst programmieren. Wohin das geführt hat, lässt sich nur schwer sagen. Aber wir machen uns Sorgen, denn die Qubes haben nicht unsere Gehirnarchitektur und -chemie, die uns auf unsere spezielle Art denken lässt. Wir denken sehr emotional. Unsere Emotionen sind entscheidend für unsere Entscheidungsprozesse, für unser langfristiges Denken, unsere Erinnerungen – für unsere gesamte Sinnstiftung. Ohne diese Eigenschaften wären wir keine Menschen. Wir könnten anders nicht als Individuen in Gruppen funktionieren. Aber die Qubes haben keine Gefühle, sie denken allerdings auf der Grundlage unterschiedlicher Architekturen, Protokolle und physikalischer Methoden. Somit haben sie Mentalitäten, die nicht einmal ansatzweise menschlich sind, selbst wenn sie in gewisser Weise über Bewusstsein verfügen. Und wir können uns nicht mal sicher sein, dass sie einander in der Art und Weise, in der sie in diesen neuen Zustand eingetreten sind, ähneln. Wir wissen nicht, ob sie in mathematischen oder logischen Begrifflichkeiten denken oder in einer Sprache wie Englisch oder Chinesisch. Oder ob verschiedene Qubes nicht auch in dieser Hinsicht verschieden sind.«
Swan nickte nachdenklich. Wenn die albernen Mädchen tatsächlich Qubes gewesen waren – und die Person, mit der sie Bowls gespielt hatte, ebenfalls –, dann war das allein schon in Sachen Morphologie ziemlich erstaunlich. Was die Denkprozesse betraf, überraschte sie nichts von alledem besonders. »Mit Pauline rede ich ständig über diese Fragen«, erklärte sie den Versammelten. »Aber was für mich deutlich aus diesen Gesprächen hervorgeht, ist, wie sehr die mentalen Leerstellen, von denen du sprichst, die Qubes behindern. Vielleicht liegt es an dem Mangel an Gefühlen. Es gibt so viel, wozu sie nicht in der Lage sind.«
»Den Eindruck hatten wir bisher auch«, sagte Wahram nach kurzem Schweigen. »Aber jetzt sieht es so aus, als würden sie ihre eigenen Ziele entwickeln. Vielleicht sind da gewisse Pseudo-Emotionen am Werk; wir wissen es nicht. Wahrscheinlich sind sie trotzdem nicht besonders schlau – eher wie Grillen als wie Hunde. Aber denk doch mal nach – wir wissen nicht, wie unser eigener Verstand funktioniert, wenn es um die Erzeugung höherer Bewusstseinsfunktionen geht. Da wir nicht in die Qubes hineinschauen können, um herauszufinden, was dort abläuft, können wir uns bei ihnen noch weniger sicher sein als bei uns selbst. Das stellt also ein … Problem dar.«
»Habt ihr ein paar von ihnen auseinandergenommen, um nachzuschauen?«
»Ja. Aber die Ergebnisse sind uneindeutig. Sie erinnern auffällig an die Versuche, unsere eigenen Gehirne zu erforschen – man will den Moment des Denkens untersuchen, doch selbst wenn man herausfindet, wo im Denkapparat die Gedanken stattfinden, kann man sich nicht sicher sein, was genau die Gedanken verursacht oder wie sie von innen erlebt werden. In beiden Fällen geht es um Quanteneffekte, die nicht so leicht zu einer körperlichen Quelle oder Handlung zurückverfolgt werden können.«
»Außerdem besteht die Sorge, dass wir ein schlechtes Beispiel geben könnten, wenn wir es mit solchen Untersuchungen übertreiben«, fügte Genette hinzu. »Was, wenn sie auf die Idee kommen, dass es in Ordnung wäre, wenn sie uns in gleicher Weise erforschen?«
Swan nickte unglücklich, als sie sich an den Ausdruck in den Augen der Person erinnerte, mit der sie Bowls gespielt hatte – oder sogar an den Ausdruck in den Augen der albernen Mädchen, jetzt, wo sie sie in einem neuen Licht sah. In diesem Blick hatte etwas gelegen, so als ob sie nahezu alles Denkbare auch tun würden. Oder dass sie ihre eigenen Worte gar nicht verstanden.
Allerdings hatten Menschen andauernd diesen Blick.
»Du siehst also unser Problem«, sagte Wahram. »Und es nimmt an Dringlichkeit zu, weil es mittlerweile ernsthafte Hinweise darauf gibt, dass diese Qube-Humanoiden von anderen Qubes in Auftrag gegeben worden sind – Qubes, die wie üblich in Kästen, Robotern oder in Asteroidenhüllen beheimatet sind.«
»Welchen Grund sollten sie dafür haben?«, fragte Swan.
Wahram zuckte mit den Schultern.
»Ist das schlimm?«, fragte Swan, während sie darüber nachdachte. »Ich meine, sie können sich nicht zu einer Art Schwarmbewusstsein zusammenschließen, wegen der Dekohärenz. Damit sind sie letztlich bloß Menschen mit Qube-Bewusstsein.«
»Menschen ohne Emotionen.«
»Solche Menschen gibt es seit jeher. Die kommen auch zurecht.«
Wahram kniff die Augen zusammen. »Genau genommen tun sie das nicht. Aber es kommt noch mehr.« Er warf einen Blick zu Genette, und der Inspektor fuhr an Swan gewandt fort: »In die Attacken, die wir untersucht haben, sowohl die auf Terminator als auch die auf Yggdrasil, waren Qubes verwickelt. Darüber hinaus habe ich das Foto von dem Bowls-Spieler, das du mir gegeben hast, per Kurier an Wang weitergeleitet, der daraufhin seine Daten über die Blockfreien durchgesehen hat, und obwohl er diese Person nicht identifizieren konnte, hatte er Fotos, die sie bei einem Treffen zeigen, das Lakshmi im Jahre 2302 in Kleopatra organisiert hat. Das ist deshalb auffällig, weil die Berichte über seltsame Verhaltensweisen überall im System in den Jahren unmittelbar drauf einsetzten. Wenn man alle Sichtungen zueinander in Bezug setzt und analysiert, dann laufen sie zeitlich und räumlich bei diesem Treffen auf der Venus zusammen. Außerdem lässt sich feststellen, dass die Organisation in Los Angeles, die das Schiff, von dem die Steinchen abgeschossen wurden, bestellt hat, allein aus Qubes besteht. Die einzigen Menschen sind Mitglieder in einer Art Aufsichtsrat. Darüber hinaus haben wir Qubes gefunden, die etwas mit der Konstruktion des Abschussmechanismus zu tun hatten, von dem wir nun vermuten, dass er in einer blockfreien Werft im Gefolge der Vesta-Gruppe hergestellt wurde. Wir haben die Druckanweisung gefunden. In diesen speziellen Werften arbeiten nur sehr wenige Menschen; sie sind fast vollkommen automatisiert. Von daher ist es zumindest möglich, dass all diese Taten von Qubes begangen wurden, ohne dass ein Mensch auch nur etwas mit ihnen zu tun hatte.«
»Kann sein«, sagte Swan. »Aber ich muss gleich sagen, dass dieser Bowls-Spieler Gefühle hatte. Er hat mich mit seinen Blicken durchbohrt! Er wollte mir irgendetwas mitteilen. Warum hätte er sonst überhaupt an mich herantreten sollen, warum hätte er diese unglaublichen Würfe machen sollen? Dieses Ding wollte, dass ich begriff, dass es dort war. Und etwas wollen ist eindeutig eine Emotion.«
Die anderen dachten darüber nach.
Swan fuhr fort. »Warum glaubt ihr, dass Gefühle unbedingt biochemisch sein müssen? Könnte man nicht auch ohne Hormone, Blut oder so etwas Gefühle haben? Irgendein neuartiges Affektsystem, das mit Elektrizität funktioniert oder quantenmechanisch?«
Genette gebot ihr mit erhobener Hand Einhalt. »Wir wissen es nicht. Wir können nur mit Sicherheit sagen, dass wir nicht wissen, welche Intentionen sie inzwischen haben, da diese in den Anfängen so begrenzt waren. Den Input lesen, ihn die Algorithmen durchlaufen lassen, einen Output liefern – bisher war das alles, was KIs wollten. Jetzt, wo sie allem Anschein nach eigene Absichten verfolgen, müssen wir auf der Hut sein. Nicht nur aus Prinzip, wie man bei jeder neuen Sache auf der Hut ist, sondern weil einige dieser Qubes sich bizarr verhalten und andere uns bereits angegriffen haben.«
Einer aus der Gruppe, ein Dr. Tracy, wenn Swan sich richtig erinnerte, sagte: »Vielleicht macht das Leben in menschlichen Körpern diese Qubes definitionsgemäß emotional. Sagen wir mal, ein Verstand in einem Körper sei emotional – und genau das sind sie jetzt.«
Eine Frau, die ebenso klein war wie Inspektor Genette, stellte sich auf ihren Stuhl und sagte: »Ich bin nach wie vor nicht davon überzeugt, dass die Qubes überhaupt auf einer höheren Ebene denken, dass sie Absichten oder Emotionen haben, deren Voraussetzung ein Bewusstsein wäre. Trotz ihrer unglaublichen Rechengeschwindigkeiten operieren sie nach wie vor nach den Algorithmen, die wir ihnen eingegeben haben, oder vielleicht nach ableitbaren Folgealgorithmen. Rekursive Programmierung kann diese Algorithmen lediglich verfeinern, und sie sind einfacher Natur. Das Bewusstsein ist ein so viel komplexeres Feld. Sie können nicht von ein paar Algorithmen aus zu Bewusstsein gelangen …«
»Bist du dir da sicher?«, warf Genette ein.
Die kleine Frau legte den Kopf in genau der Weise auf die Seite, die Swan bereits bei Genette beobachtet hatte. »Ich glaube schon. Ich wüsste nicht, wie jemals eine höhere Ordnung der Komplexität aus den Algorithmen, die ihnen zur Verfügung stehen, hervorgehen sollte. Sie können sich keine Metaphern ausdenken; sie können sie kaum verstehen. Sie können keine Gesichtsausdrücke interpretieren. In Bezug auf solche Fähigkeiten ist ihnen jeder Vierjährige weit voraus, und ein erwachsener Mensch spielt einfach in einer ganz anderen Liga.«
»So hat es geheißen, als wir noch jung waren«, erwiderte Genette. »Und wichtiger noch, als die Qubes noch jung waren.«
»Aber wir haben diese Fragen auch unser ganzes Leben lang erforscht, es mit unseren eigenen Augen gesehen«, antwortete die kleine Frau mit einer gewissen Schärfe im Tonfall. »Und programmiert.«
Trotz dieser Wahrheiten wirkte keiner der Anwesenden besonders beruhigt.
»Was ist mit der Anlage, wo diese Humanoiden hergestellt werden, oder dekantiert oder was auch immer?«, fragte Wahram Genette. »Können wir die nicht stilllegen?«
»Wenn wir sie finden«, erwiderte Genette mürrisch.
»Könnt ihr nicht alle identifizierten Humanoiden festnehmen?«
»Ich denke schon«, antwortete Genette. »Wir haben uns ein bisschen schwer damit getan, weil Alex in dieser Angelegenheit eine zentrale Rolle gespielt hat und wir das Netzwerk ziemlich auf den Kopf stellen mussten, um unser Team wieder zusammenzubringen. Aber es ist uns gelungen, und das Team hat sich um die von ihr hinterlassene Lücke herum zusammengefunden. Wir haben wie gesagt etwa vierhundert von diesen Dingern identifiziert und verfolgen ihre Bewegungen. Und wir haben das System sorgfältig genug abgesucht, um davon auszugehen, dass sich in den menschlichen Ansiedelungen, zu denen wir Zugang haben, keine weiteren verstecken. Bei den Blockfreien kann ich mir nicht sicher sein, aber wir suchen überall. Dabei achten wir darauf, den von uns überwachten Humanoiden nicht zu nahe zu kommen, und sie scheinen auch tatsächlich nicht zu wissen, dass wir sie im Auge behalten. Nur wenige von ihnen verhalten sich so sonderbar wie die drei in der Inneren Mongolei oder wie der, der auf Io verbrannt ist. Eher versuchen sie, in der Masse unterzutauchen. Ich weiß nicht, wie ich das interpretieren soll. Es ist, als würden sie auf etwas warten. Ich habe das Gefühl, dass wir nur einen Teil des Ganzen sehen, weshalb ich so bald wie möglich handeln möchte, anstatt noch länger zu warten. Trotzdem wäre es schön, wenn wir wüssten, dass wir die Gesamtsituation verstehen, bevor wir etwas unternehmen.«
Genette war beim Reden auf dem Tisch auf und ab gegangen und blieb nun vor Swan stehen, wie um insbesondere an sie zu appellieren. »Diese Organismen, diese Qube-Menschen, existieren. Und in mancherlei Hinsicht würde ich ihre bisherigen Verhaltensmuster nicht unbedingt als vernünftig bezeichnen. Einige von ihnen haben uns angegriffen, und wir wissen nicht, warum.«
Nach kurzem Schweigen fügte Wahram hinzu: »Wir müssen also handeln.«