Die Erde übte eine verhängnisvolle Anziehungskraft aus, die weit über ihre starke Gravitation hinausging und mehr mit ihrem nahezu unermesslichen historischen Gewicht zu tun hatte, mit ihrer Pracht und ihrer Dekadenz und ihrem Schmutz. Man musste nicht nach Uttar Pradesh reisen und sich die schmelzenden Ruinen von Agra oder Benares ansehen, um das zu merken – es handelte sich um etwas Fraktales und Allgegenwärtiges, das sich in jedem Tal und in jedem Dorf ausdrückte: Altersschwäche, der Gestank grausamer Gesellschaftssysteme, kahle, erodierte Hänge, überflutete Küstenstreifen, die ständig weiter ins Meer absackten. Die Erde war ein zutiefst verstörender Ort. Was an ihr so seltsam war, ließ sich nicht immer erkennen oder greifen. Das menschliche Zeitempfinden wurde hier einfach aus der Bahn geworfen; alles war auseinandergeflogen, zerfiel und setzte sich neu zusammen, wodurch Gefühle ausgelöst wurden, die sich nicht zu einem Ganzen zusammenfügten. Alle Vorstellungen von einer Ordnung wurden unter uralten Geschichten begraben, verfingen sich in einem Netzwerk von Regeln und den Gesichtern auf der Straße.
Am besten konzentrierte man sich auf das, was gerade anstand, wie immer. Und so legte Swan in etwa fünfzigtausend Metern Höhe mit einem Gleiter von einem der mittelafrikanischen Aufzüge ab und setzte auf einem Landestreifen in der Sahelzone auf. Eigentlich hätte es sich hier um die öde Wüstenlandschaft der nach Süden vordringenden Sahara handeln müssen, eine Wüste ohne das kleinste Lebenszeichen, der Sonnenseite Merkurs nicht unähnlich – nur dass dort unter ihr strahlend weiße Häuserblöcke an den Rändern seichter grüner oder himmelblauer Seen standen, riesigen Seen unter dem Schutz ihrer eigenen Wolken, die sich in dem darunterliegenden Wasser spiegelten, sodass ihre Zwillinge hoch oben in einer kopfstehenden Welt schwebten. Hinab flog sie, hinab, und es fühlte sich belebend an, obwohl sie zur Erde zurückkehrte – und dann raus aus dem Gleiter, sie stand auf einer Landebahn in der Sahara, im Wind – es war unvergleichlich köstlich, überwältigend, eine Dosis Wirklichkeit. Über ihr nichts als der dunkle, klare Himmel, der westliche Wind, der in ihren Kleidern knatterte, die nackte Sonne auf ihrem ungeschützten Gesicht. O mein Gott. Das ist Heimat. Außen auf seinem Planeten umherzulaufen und einzuatmen, sich in den Raum, den man atmet, hineinzuwerfen …
Die Stadt am Fuße des Aufzugs war schmerzhaft weiß, mit farblich abgesetzten Türen und Fenstern, einer fröhlichen mediterranen Anmutung und einer muslimischen Note durch das Gedränge, die Stadtmauer und die Minarette. Ein bisschen wie im Nordwesten Marokkos. Oasenarchitektur, klassisch und befriedigend: Denn war nicht letztlich jede Stadt eine Oase? Topologisch unterschied diese Stadt sich nicht von Terminator.
Trotzdem waren die Leute dünn und schmal, gebeugt und dunkelhäutig. Von der Sonne verschrumpelt, ein bisschen gebraten – aber es war nicht nur das. Irgendjemand musste die Erntemaschinen in den Reis- und Zuckerrohrfeldern bedienen, die Bewässerungskanäle oder Roboter warten, etwas installieren, etwas reparieren. Menschen waren nach wie vor nicht nur die billigsten Roboter, sondern bei vielen Arbeiten auch die einzig qualifizierten. Sie kamen zur Arbeit und taten ihre Schuldigkeit, eine Generation nach der anderen; wenn man ihnen täglich dreitausend Kalorien und ein paar Annehmlichkeiten bot, ein bisschen Freizeit und eine ordentliche Portion Existenzangst, dann konnte man sie für praktisch alles einsetzen. Und wenn man ihnen Drogen gab, die es ihnen erleichterten, ihr Los zu tragen, bekam man eine Arbeiterklasse, die so verdinglicht war wie die Rädchen im Getriebe. Einmal mehr hatte sie es vor Augen: Eine große Minderheit der Erdbevölkerung verrichtete nach wie vor Roboterarbeit, ganz egal, ob in den politischen Theorien anderes behauptet wurde. Von den elf Milliarden Erdenmenschen fürchteten mindestens drei Milliarden Obdachlosigkeit und Hunger – trotz all der billigen Energie, die aus dem All zu ihnen herabfloss, trotz der Farmwelten, die einen Großteil ihrer Nahrungsmittel zur Erde schickten. Nein – draußen im Weltraum zimmerten sie neue Welten zusammen, während die Menschen auf der alten Erde nach wie vor Not litten. Es war jedes Mal wieder ein Schock, das zu sehen. Man hat nicht besonders viel Spaß am Spielen, wenn man weiß, dass gleichzeitig irgendwo Menschen verhungern. Aber wir bauen dort oben Nahrung für euch an, kann man zu seiner Verteidigung ausrufen, doch die Worte ändern nichts. Aus irgendwelchen Gründen kommen die Nahrungsmittel niemals an. Es gibt immer mehr Menschen, als das System versorgen kann. Es gibt also keine Antwort. Und es ist schwer, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, wenn so viele Menschen so schlecht dran sind.
Also muss man etwas unternehmen.
»Warum ist das so?«, fragte Swan Zasha, weil sonst niemand zur Verfügung stand. Z war gerade damit beschäftigt, oben in Grönland bei irgendeinem Projekt mitzuhelfen.
»Es gab nie einen Plan«, antwortete Zasha in ihrem Ohr. Darüber hatten sie doch bereits geredet, schien Zs geduldiger Tonfall zum Ausdruck zu bringen. »Wir haben immer mit der jeweils aktuellen Krise zu tun. Und alte Gewohnheiten sterben schwer. Mindestens während der letzten fünf Jahrhunderte hätten alle Erdbewohner einen vernünftigen Lebensstandard haben können. Seitdem verfügen wir über Möglichkeiten und Ressourcen, die unseren Bedürfnissen entsprechen. Wir hätten es schaffen können. Aber darum ging es nie, also ist es auch nie passiert.«
»Aber warum nicht jetzt, wo uns so viele Möglichkeiten offenstehen?«
»Ich weiß es nicht. Es ist einfach nicht dazu gekommen. Die Leute haben wohl zu viel von dem alten Gift in ihren Köpfen. Außerdem ist Verelendung eine Taktik zur Erzeugung von Angst. Wenn eine Bevölkerung dezimiert wird, macht das die restlichen neunzig Prozent gefügig. Sie haben gesehen, wozu es kommen kann, und nehmen, was sie kriegen.«
»Aber stimmt das denn?«, rief Swan. »Ich glaube das nicht! Warum sollten die Menschen nicht entschlossener kämpfen, wenn sie das erst einmal erkannt haben?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht hätte es dazu kommen können, aber stattdessen haben der Anstieg des Meeresspiegels und die Klimakatastrophen alles viel schwerer gemacht. Es gibt immer irgendeine Krise.«
»Na schön, aber warum nicht jetzt?«
»Klar, aber wer soll es machen?«
»Die Menschen würden es um ihrer selbst willen machen, wenn sie könnten!«
»Sollte man meinen.«
»Ich meine das jedenfalls, weil es wahr ist! Wenn sie es nicht tun, dann hält man sie irgendwie davon ab. Irgendwer hält ihnen eine Pistole unter die Nase.«
Lange Zeit schwieg Zasha, gedanklich offenbar mit etwas anderem beschäftigt. Schließlich kam die Antwort: »Wenn Gesellschaften unter Druck sind, dann stellen sie sich ihren Problemen angeblich nicht, sondern schauen stattdessen weg, setzen sich Scheuklappen auf und verdrängen ihre Probleme. Die Leute tun so, als wäre das historisch Gewordene natürlich, und spalten sich in Stämme auf. Anschließend kämpfen sie angesichts vermeintlicher Engpässe um Ressourcen. Man sagt, dass die Menschen niemals die Hungerpaniken Ende des 21. Jahrhunderts verwunden haben, oder die während der Kleinen Eiszeit. Zweihundert Jahre sind seitdem vergangen, und trotzdem handelt es sich nach wie vor um ein tief sitzendes weltweites Trauma. Und tatsächlich gibt es hier nach wie vor keinen besonders großen Nahrungsmittelüberschuss, weshalb es sich in gewisser Weise um eine durchaus vernünftige Sorge handelt. Die Erdenmenschen balancieren auf der Spitze eines Konglomerats von Behelfsmitteln, die alle funktionieren müssen, damit der Laden läuft. Sie stehen auf einer Art Turm von Babel.«
»Aber das ist überall anders genauso!«
»Sicher, sicher. Aber hier gibt es so viele Menschen.«
»Das ist wahr.« Swan schaute auf die Menschenmassen, die sich durch die Medina drängten. Jenseits der Stadtmauer bückten sich Arbeiter in unregelmäßigen Reihen beim Erdbeerpflücken. »Es ist so heiß und schmutzig, und so verdammt schwer hier. Vielleicht ist es einfach der Planet, der sie niederdrückt, und nicht ihre Geschichte.«
»Kann sein. Es ist einfach so, Swan. Du bist doch nicht das erste Mal hier.«
»Ja, aber das erste Mal hier.«
»Warst du schon mal in China?«
»Natürlich.«
»Indien?«
»Ja.«
»Tja, dann hast du das doch alles gesehen. Und was Afrika betrifft, angeblich handelt es sich in Sachen Fortschritt um ein Fass ohne Boden. Hilfe von außen verschwindet einfach darin, ohne dass sich das Geringste verändert. Man sagt, dass die Sklavenhändler den Kontinent vor langer Zeit ruiniert haben. Er steckt voller Krankheiten und ist vom Temperaturanstieg ausgedörrt. Da kann man nichts machen. Die Sache ist nur die, dass inzwischen überall die gleichen Verhältnisse herrschen. Die industriellen Rostgürtel sind genauso schlimm dran. Man könnte behaupten, dass die ganze Erde inzwischen ein Fass ohne Boden ist. Man hat ihr das Mark ausgesaugt, und der Großteil der oberen Klassen ist längst auf den Mars ausgewandert.«
»Aber das muss doch nicht so sein!«
»Eigentlich nicht.«
»Warum helfen wir ihnen dann nicht?«
»Das versuchen wir, Swan. Wirklich. Aber der Merkur hat eine Bevölkerung von einer halben Million, während die Erde eine Bevölkerung von elf Milliarden hat. Außerdem ist es ihr Planet. Wir können nicht einfach hier runterkommen und ihnen sagen, was sie zu tun haben. Genau genommen können wir sie nur mit Mühe und Not davon abhalten, zu uns heraufzukommen und uns zu sagen, was wir zu tun haben! So einfach ist es eben nicht. Das weißt du doch.«
»Ja. Aber jetzt fange ich wohl langsam an darüber nachzudenken, was das bedeutet. Was es für uns bedeutet. Du weißt doch, dass Inspektor Genettes Leute dieses Schiff identifiziert haben, das wir im Saturn gefunden haben, und festgestellt, dass es einer Firma in Tschad gehört.«
»Tschad ist bloß eine Steueroase. Bist du deshalb hier runtergekommen?«
»Ich denke schon. Warum nicht?«
»Swan, bitte überlass den Teil Inspektor Genette und den anderen Ermittlern. Es ist an der Zeit, dass du bei der Beschaffung von Startkulturen und Saatgut und all dem anderen Zeug hilfst, das wir auf der Erde kaufen und nach Hause verschiffen müssen.«
»Na schön«, sagte Swan unzufrieden. »Aber ich möchte auch mit Genette in Kontakt bleiben. Die Interplan-Ermittler stellen gerade auch Nachforschungen auf der Erde an.«
»Sicher. Aber bei Angelegenheiten wie diesen gibt es einen Zeitpunkt, ab dem die Datenanalysten die Sache übernehmen. Du musst einfach Geduld haben und die weitere Entwicklung abwarten.«
»Was ist, wenn die weitere Entwicklung in einer erneuten Attacke auf Terminator besteht? Oder auf etwas anderes? Ich glaube nicht, dass wir es uns leisten können, geduldig zu sein.«
»Nun ja, bei manchen Sachen kann man helfen und bei anderen eben nicht. Ich sag dir was – komm mich besuchen, dann reden wir darüber. Ich bringe dich auf den neuesten Stand darüber, was dort wirklich läuft.«
»Alles klar, mache ich. Aber ich mache einen Umweg.«
Swan streifte auf der Erde umher. Sie flog nach China und verbrachte dort mehrere Tage, in denen sie mit der Bahn von einer Stadt zur nächsten fuhr. Die meisten Stadtviertel waren als Arbeitseinheiten organisiert, Fabriken, in denen die Menschen ihr ganzes Leben verbrachten, wie auf der Venus. Von Kindheit an hatten sie Buchsen in den Fingerspitzen, und ihre Unterarme waren mit allerlei Apps tätowiert. Ihr Speiseplan versorgte sie mit der gesetzlichen Mindestmenge an Nährstoffen und mit Drogen. Das war auf der Erde nicht unüblich, aber nirgendwo war es so verbreitet wie in China, obwohl es kaum jemand zur Kenntnis nahm oder darüber redete. Swan erfuhr davon, weil sie Kontakt zu einem von Mqarets Kollegen aufnahm, der in Hangzhou arbeitete. Mqaret wollte, dass sie diesen Leuten eine Blutprobe gab, und da sie sowieso spazieren war, ging sie zu Fuß bei ihnen vorbei.
All die großen alten Küstenstädte waren durch den Anstieg des Meeresspiegels mehr oder weniger überflutet worden, und obwohl die meisten es gut überstanden hatten, war es infolgedessen zu massiven Bauaktivitäten landeinwärts gekommen, in Gegenden, die auch dann noch über Wasser liegen würden, wenn selbst das letzte Eis der Erde schmolz. Diese neue Infrastruktur begünstigte Hangzhou gegenüber Schanghai, und obwohl ein Großteil der neuen Gebäude und Straßen landeinwärts der traditionsreichen Stadt lagen, stellte das alte Stadtgebiet selbst nach wie vor das kulturelle Herz der Region dar.
Nach wie vor herrschte in der trichterförmigen Mündung des Qiantang eine starke Flutbrandung, und nach wie vor befuhren die Leute den Fluss mit zahlreichen kleinen Wasserfahrzeugen. Anscheinend waren sie trotz allem Spaß am Leben. Die gute alte Erde, so groß und schmutzig, mit einem Himmel, der aussah wie von braunen Flechten befallen, mit schlammfarbenem Wasser, mit ihren weiten, ausgelaugten und industrialisierten Landstrichen – aber all das trotzte immer noch den Stürmen des Lebens, niedergedrückt von der Gravitation und doch hart und wirklich. Während Swan durch die dicht bevölkerten Gassen der Altstadt schlenderte, ließ sie sich von Pauline mit den chinesischen Dialekten helfen, die sie nicht verstand. Dadurch sprach sie langsamer, aber das machte nichts. Die Chinesen waren ganz mit sich selbst beschäftigt und blickten durch sie hindurch. Sicherlich gehörte das zu den Dingen, vor denen die Venusianer geflohen waren: Alle waren auf sich selbst oder das Leben in ihrem Arbeitstrupp fixiert, sodass alles andere völlig in den Hintergrund trat. Wahrscheinlich wäre keiner dieser Menschen je auf den Gedanken gekommen, einen Hass auf Raumer zu entwickeln: Angelegenheiten außerhalb von China lagen im Reich der Hungrigen Geister. Selbst das Leben außerhalb der eigenen Arbeitseinheit war geisterhaft. Den Eindruck gewann Swan zumindest, während sie in Absteigen saß, Nudeln schlürfte und mit erschöpften Männern plauderte, die deshalb einen Moment für sie erübrigten, weil eine große, Fragen stellende Raumerin etwas Ungewöhnliches war. Außerdem schienen die Leute in Nudelbars toleranter zu sein. Auf der Straße fing sie sich einige böse Blicke ein, und einmal rief man ihr auch Beleidigungen nach. Das letzte Stück Weg zu Mqarets Kollegen legte sie beinahe laufend zurück. Sobald sie dort war, ließ sie sich ein paar Ampullen Blut abnehmen und unterzog sich einigen Seh- und Gleichgewichtstests.
Als sie wieder draußen auf der Straße war, hatte sie den Eindruck, dass viele Augenpaare sich mindestens ebenso sehr für sie interessierten wie gerade eben noch Mqarets Ärztekollegen. Aber vielleicht lag es auch nur daran, dass sie langsam Angst bekam. Sie beschleunigte ihren Schritt durch die unausweichlichen Menschenmassen – in China waren immer und überall mindestens fünfhundert Personen auf einmal in Sichtweite. Zurück in ihrem Gästehaus konnte sie sich über ihre Angst vor der Menge nur wundern. Aber nachdem sie eingeschlafen war und wieder aufwachte, fand sie sich tatsächlich gefesselt in einem Zimmer wieder, das nur von medizinischen Monitoren erhellt war. Das Bett kümmerte sich um ihre körperlichen Bedürfnisse, und sie vermutete, dass man ihr über ihren Infusionsschlauch eine Droge verabreichte, die ihr Sprachzentrum anregte, denn sie redete die ganze Zeit, ohne es zu wollen. Eine körperlose Stimme hinter ihrem Kopf stellte ihr Fragen über Alex und alles andere, und sie plapperte alles aus, ohne etwas dagegen machen zu können. Pauline half ihr kein bisschen – anscheinend hatte man sie abgeschaltet. Swan konnte den Drang zu reden einfach nicht unterdrücken. Eigentlich fühlte sie sich fast wie sonst auch; tatsächlich war es in gewisser Weise eine Erleichterung, einfach ohne Punkt und Komma reden zu dürfen, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Jemand zwang sie dazu, also tat sie es.
Später kam sie im selben Bett wieder zu sich, diesmal nicht gefesselt. Ihre Kleider lagen auf einem Stuhl am Bett. Das Zimmer war kaum größer als das Bett. Ja, es war immer noch das gleiche Gästehauszimmer. Die KI am Einlass, ein grünes Gehäuse auf einem Tresen, erklärte, dass sie nichts Verdächtiges bemerkt hätte. Laut Zimmermonitor war mit ihren Lebenszeichen alles in bester Ordnung gewesen, niemand war in ihr Zimmer eingedrungen, nichts Ungewöhnliches war vorgefallen. Swan wandte sich an Pauline, die ihr auch nicht helfen konnte. Es war fast genau vierundzwanzig Stunden her, dass sie die Klinik von Mqarets Freunden verlassen hatte. Sie rief beim Merkur-Haus in Manhattan an und teilte den Leuten dort mit, was passiert war. Dann meldete sie sich bei Zasha.
Alle waren schockiert, besorgt, voller Mitgefühl, und drängten sie, sich sofort zum nächsten Merkur-Haus zu begeben und sich ärztlich versorgen zu lassen; aber letztlich sagte Zasha streng: »Du warst allein auf der Erde unterwegs. Ich habe dir gesagt, dass einem hier alle möglichen üblen Sachen zustoßen können. Es ist nicht mehr so wie früher, als du deine ersten Sabbatjahre genommen hast. Wir reisen hier normalerweise nur noch im Rudel. Du hast doch gesehen, was das letzte Mal passiert ist, als du bei mir zu Hause alleine losgegangen bist.«
»Aber das waren nur ein paar Kinder. Wer war es diesmal?«
»Ich weiß es nicht. Ruf sofort Jean Genette an. Interplan ist möglicherweise dazu in der Lage herauszufinden, wer dahintersteckt. Vielleicht können wir dann auch erahnen, was als Nächstes passiert. Wahrscheinlich haben sie einfach ein Schleppnetz durch dein Gehirn gezogen. In dem Fall wird das wahrscheinlich nicht wieder vorkommen, aber du solltest ab jetzt nur noch mit mehreren Begleitern unterwegs sein, vielleicht sogar mit einem Sicherheitsteam.«
»Nein.«
Zasha ließ sie eine Weile dem Nachhall ihrer Antwort lauschen.
Schließlich sagte Swan: »Mir bleibt wohl nichts anderes übrig. Ich weiß nicht. Es kommt mir vor, als hätte ich einfach nur schlecht geträumt. Ich bin ein bisschen hungrig, aber ich glaube, sie haben mich intravenös ernährt. Sie hatten mich – ich meine, ich habe alles ausgeplaudert! Und viele ihrer Fragen gingen um Alex. Es kann gut sein, dass ich ihnen alles erzählt habe, was ich über sie weiß!«
»Hmm.« Ein ausgedehntes Schweigen schloss sich an. »Tja, dann weißt du jetzt, warum Alex so viel für sich behalten hat.«
»Und wer waren sie?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht gehören sie zur chinesischen Regierung. Die fasst einen manchmal grob an. Obwohl mir das hier dann doch zu unerhört erscheint. Vielleicht war es eine Warnung, aber ich bin mir nicht sicher, wovor. Insofern hätte es sich um keine besonders wirkungsvolle Warnung gehandelt. Oder vielleicht war es einfach nur ein Fischzug. Oder ein Hinweis darauf, dass wir uns nicht auf der Erde herumtreiben sollen.«
»Als ob wir das nicht selber wüssten.«
»Du scheinst es nicht zu wissen. Vielleicht wollen sie ja nicht, dass du dich hier unten herumtreibst.«
»Aber wer?«
»Ich weiß es nicht! Geh einfach davon aus, dass die Erdenmenschen dir etwas mitteilen wollten. Und ruf Genette an. Und komm bitte her, und rede mit mir, bevor du noch mehr Probleme kriegst.«
Also rief Swan bei Inspektor Genette an. Genette war entsetzt über ihr Erlebnis. »Vielleicht sollten Pauline und Passepartout ständig miteinander in Verbindung bleiben, solange wir auf der Erde sind. Dann würde ich immer mitbekommen, wo du dich gerade aufhältst.«
»Aber du sagst doch dauernd, dass wir sie abschalten sollen!«, erwiderte Swan.
»Nicht hier. In dieser Situation können sie uns helfen.«
»Na schön«, sagte Swan. »Besser, als mit Leibwächtern unterwegs zu sein.«
»Es bietet allerdings auch nicht annähernd so viel Schutz. Du solltest wenigstens nicht alleine reisen.«
»Ich besuche Zasha in Grönland, da müsste es sicher sein.«
»Gut. Du solltest aus China verschwinden.«
»Aber ich bin Chinesin!«
»Du bist eine Merkurianerin chinesischer Herkunft. Das ist etwas völlig anderes. Interplan hat kein Abkommen mit China, also kann ich dir rechtlich gesehen nicht helfen, solange du dich dort aufhältst. Geh nach Grönland.«
Stur, wie sie war, ging sie abends trotzdem zum Nudelessen aus. Die Leute bedachten sie mit seltsamen Blicken. Sie war eine Fremde in einem fremden Land. Von den Bildschirmen in den Nudelimbissen hörte sie mehrere feurige Reden, in denen verschiedene politische Verbrechen von Den Haag, Brüssel, den UN, dem Mars und von Raumern im Allgemeinen verurteilt wurden. Manche Sprecher gerieten so sehr in Rage, dass Swan ihr Bild von der chinesischen Gelassenheit revidieren musste; politisch gesehen waren sie nicht weniger leidenschaftlich als alle anderen auch, ganz egal, wie nach innen gekehrt sie auf der Straße wirkten. Wie jede Gruppe waren sie vom Zeitgeist geformt, und man hatte ihnen Feindbilder vorgesetzt, die ihre Unzufriedenheit von Peking ablenkte. Vielleicht eignete der Weltraum sich einfach besonders gut als rotes Tuch. Swan lauschte den Reden aufmerksam, ohne die Männer im Imbiss zu beachten, die wiederum sie beobachteten. Die Vorstellung, Raumer würden mehr noch als die alten Kolonialmächte ein Leben in Dekadenz und Luxus führen, war in China weit verbreitet, so begriff sie jetzt. Und ihr wurde klar, dass die Menschen in Hangzhou wie Ratten im Labyrinth lebten und sich Tag für Tag bei jeder Bewegung aneinanderrieben. Das Potenzial für extremistisches Gedankengut war offenkundig. Warum sollte man das Haus des reichen Jungen nicht mit Steinen bewerfen? Wer würde das nicht tun?
Während der Flüge, die sie zu Zasha brachten, sah Swan auf ihrem Monitor die Nachrichten. Erde Erde Erde. Der Weltraum war den meisten hier piepegal. Manche hingen religiösen Glaubensbekenntnissen an, die bereit im 12. Jahrhundert rückschrittlich gewesen waren. Die Viehhirten unter ihr in Zentralasien bewirtschafteten ihre Herden wie die Ökologieexperten, die sie sein mussten, um mit ihrer Produktion die Nachfrage zu erfüllen; jede Weide war gleichzeitig Molkerei, Schlachthof und Substratfabrik, und ihren Besitzern stand der Groll über die Dürreperioden, die von weit entfernten reichen Leuten ausgelöst wurden, bis zum Hals. Hier und dort sah sie die großen Ballungsgebiete, Barackenstädte, die entweder in Staubmulden lagen oder unter dem Ansturm tropischer Regenfälle und Schlammlawinen auseinanderfielen, und deren verkrüppelte Bewohner voll und ganz damit beschäftigt waren, am Leben zu bleiben. In Tschad hatte sie klare Anzeichen für schweren Parasitenbefall gesehen, zudem Hunger, Krankheiten und vorzeitigen Tod. Verschwendetes Leben in verödeten Biomen. Drei von elf Milliarden Planetenbewohnern, deren Grundbedürfnisse nicht erfüllt wurden. Drei Milliarden waren ohnehin schon eine Menge, aber dazu kamen noch weitere fünf oder sechs Milliarden am Rande des Abgrunds, kurz davor, ins selbe Loch abzurutschen, ohne einen einzigen sorgenfreien Tag. Das große Prekariat, gut genug vernetzt, um sich voll über seine Lage im Klaren zu sein.
Das war das Leben auf der Erde. Zersplittert, fraktioniert, nach Kasten oder Klassen unterteilt. Die Reichsten lebten wie Raumer im Sabbatjahr, mobil und vielseitig interessiert, verwirklichten sich auf jede nur denkbare Art, verbesserten sich – genderten sich – differenzierten sich aus – schlugen mit ihren verlängerten Lebensspannen dem Tod ein Schnippchen. Tatsächlich schienen ganze Länder so zu leben, aber es waren kleine Länder – Norwegen, Finnland, Chile, Australien, Schottland, Kalifornien, die Schweiz; und noch ein paar Dutzend mehr. Dann gab es die Länder, die sich mit Mühe über Wasser hielten; und dann gab es die postnationalen Flickenteppiche, die notdürftigen Versuche, nicht völlig zusammenzubrechen, und diejenigen, bei denen das Totalversagen bereits eingetreten war.
Überall auf der Welt hatte man dem Anstieg des Meeresspiegels um elf Meter Rechnung getragen, indem man massenhaft in höher gelegenen Gebieten gebaut hatte, aber trotzdem hatte er großes menschliches Leid verursacht, und niemand wollte das Gleiche noch einmal durchmachen. Die Leute waren das Ansteigen des Meeresspiegels leid. Wie sehr sie die Generation des Schwankens verachteten, die so rücksichtslos den Klimawandel in Gang gesetzt hatten, der nicht nur bis heute anhielt, sondern noch Jahrhunderte fortdauern würde, in deren Verlauf Methanklathratausbrüche und Permafrostschmelze weitere Treibhausgase ausstoßen würden, die bislang dritte und wahrscheinlich größte Welle. Sie waren auf dem besten Weg, ein Dschungelplanet zu werden, und die Aussicht darauf war derart beunruhigend, dass man trotz der Katastrophe vor zweihundert Jahren ernsthaft darüber nachdachte, es erneut mit atmosphärischen Sonnenblockern zu versuchen. Immer mehr Leute waren der Meinung, dass man die Sache auf der Mikro- oder Makroebene mit Geo-Engineering angehen musste. Intensiv auf der Mikroebene, behutsam auf der Makroebene – darüber gab es ein ständiges Hin und Her, und viele Mikro- oder winzige Makro-Restaurationsprojekte hatten bereits begonnen.
Ein Versuch bestand darin, das Abtauen der Eisberge der grönländischen Eiskappe zu verlangsamen. Die Antarktis und Grönland waren die einzigen beiden nennenswerten Eisreservoirs, die der Erde geblieben waren, und die Modelle gaben Anlass zu der Hoffnung, dass zumindest die östliche Antarktis den Temperaturgipfel überstehen konnte, bevor Atmosphäre und Ozean schließlich wieder abkühlen würden. Wenn es ihnen gelang, den CO2-Anteil auf 320 Teile pro Million zu reduzieren und einen Teil des Methans einzufangen, was einen Temperaturabfall zur Folge haben würde, und wenn der Eismantel über der östlichen Antarktis hielt, dann würden der Meeresspiegel zwar noch jahrelang hoch und das Meerwasser warm bleiben – aber ein großer Erfolg wäre es trotzdem. Genau genommen lohnte es sich kaum noch, über weitere Schritte nachzudenken, falls es ihnen nicht gelang, das Eis der östlichen Antarktis zu bewahren. Sie mussten es also ganz einfach schaffen. Inzwischen vertraten viele die Ansicht, dass man sich die Erde in der gleichen Weise würde vornehmen müssen wie den Mars und die Venus, und wenn dabei etwas kaputtginge – Pech gehabt. Manche meinten, dass eine weitere kleine Eiszeit genau das Richtige wäre: Von den unvermeidlichen Opfern, deren Zahl man auf eine Milliarde schätzte, redete keiner, aber die unterschwellige Botschaft lautete, dass ein paar Menschen weniger auch nicht schaden konnten. Schocktherapie – Triage – Leute, die gerne den Harten markierten, um als Pragmatiker zu erscheinen, redeten ständig solches Zeug.
Grönland war zwar ein wesentlich kleinerer Eiskuchen als die östliche Antarktis, deshalb aber noch lange nicht unbedeutend. Falls Grönland abschmolz (immerhin handelte es sich eigentlich bloß um ein Überbleibsel der riesigen Eisdecke aus der letzten Eiszeit, das unter den gegenwärtigen Umweltbedingungen sehr weit südlich lag), würde der Meeresspiegel um weitere sieben Meter ansteigen. Das würde den Untergang für die Küstenzivilisation bedeuten, die sich gerade erst an die neuen Verhältnisse angepasst hatte, und deshalb kämpfte man heftig dagegen an.
Wie alle Eisdecken schmolz das Eis über Grönland nicht einfach; es rutschte in Form von Gletschern ins Meer, beschleunigt durch das Schmelzwasser, das wie Schmiermittel unter dem Eis entlangfloss und die Gletscher aus ihren steinernen Betten löste. In der Antarktis war es genauso, aber während das Eis der Antarktis rundherum zu allen Seiten abrutschte und man nichts dagegen unternehmen konnte, lagen die Dinge in Grönland anders. Das grönländische Eis war größtenteils in einer Hochwanne zwischen umliegenden Bergketten eingeschlossen und konnte nur durch einige schmale Breschen im Felsgestein abrutschen wie durch Risse in einer Badewanne. Durch diese Breschen schoben sich die Gletscher mit einer Geschwindigkeit von mehreren Metern pro Tag, durch U-Täler, die bereits über Jahrtausende hinweg geglättet worden waren, und wenn sie sich den steigenden Meeresfluten näherten, glitten ihre Schnauzen über die Abschlusslippen, die sich oft an Fjordmündungen bildeten, sodass sie ganz besonders schnell und reibungslos im Meer landeten.
Früh in der Geschichte der Glaziologie hatten Forscher entdeckt, dass ein schneller Gletscher in der westlichen Antarktis mit einem Mal deutlich langsamer geworden war. Bei Untersuchungen stellte man fest, dass das Wasser unter dem Eis, das als Gleitmittel fungiert hatte, in eine andere Richtung abgeflossen war, sodass das gewaltige Gewicht des Gletschers wieder ganz auf dem Fels lastete und ihn bremste. Das brachte die Leute auf Ideen, und sie versuchten, in Grönland auf künstliche Weise etwas Ähnliches herbeizuführen. An einem der schmalsten und schnellsten grönländischen Gletscher, dem Helheim, probierten sie mehrere Methoden aus.
Die Westküste Grönlands war beruhigend vereist, dachte Swan, in Anbetracht dessen, was man über die große Schmelze hörte. Unter ihrem Helikopter lag eine dünne Haut aus Winterseeeis, die in große, polygonale weiße Stücke auf einer schwarzen See zerbrach. Man sagte ihr, dass es an den Nordküsten Grönlands und der Ellesmere-Insel einen Polarbärenpark gab, wo Tafelberge auf der natürlichen Strömung trieben oder von Maschinen mit langen, biegsamen und von Solarpropellern betriebenen Auslegern zusammengeschoben wurden. Das Arktiseis war also nicht ganz verschwunden. Von oben war es wirklich wunderschön anzuschauen, und ebenso schön war der schwarze Ozean, der völlig anders aussah als das blaue Tropenmeer. Schwarzer Ozean, weißes Eis. Blautöne gab es nur am Himmel und in den Schmelzwasserbecken, die überall über die freiliegenden grönländischen Eisplatten verstreut waren, welche im Griff der zerklüfteten schwarzen Kämme drei Kilometer über dem Meeresspiegel lagen – die Küstenbergkette, der zernagte Rand der Badewanne, der das Inlandplateau festhielt. Die gesamte Situation war deutlich ersichtlich, wenn man in fünf Kilometern Höhe mit einem Helikopter flog.
»Ist das unser Gletscher?«, fragte Swan.
»Ja.«
Der Pilot hielt auf ein kleines rotes X auf einer flachen Felsplatte an einer Steilkante zu, von der aus man freie Sicht auf den Gletscher hatte, mehrere Kilometer stromaufwärts von der Stelle, an der er ins Meer kalbte. Als sie tiefer gingen, stellte sich heraus, dass die Platte etwa zwanzig Hektar groß war und dem gesamten Lager Platz bot; das rote X war riesenhaft. Während sie das letzte Stück hinabstiegen, lag die ganze fantastische Szenerie unter ihnen ausgebreitet: schwarze, knochige Kämme, weißes Eis und das schwarze Wasser im Fjord, auf das die Sonne herabknallte.
Außerhalb des Helikopters war es betäubend kalt. Swan schnappte nach Luft, und mit einem Mal durchfuhr sie die Angst: Wenn man im All eine derartige Kälte verspürte, bedeutete es einen Stromausfall und den unmittelbar bevorstehenden Tod. Doch hier grüßten die Leute sie und lachten über das Gesicht, das sie machte.
Überall auf dem Plateau reckten sich gesplitterte, flechtenbewachsene schwarze Felsspitzen in den Himmel. Die Abhänge des U-Tals unter ihnen waren vom Eis ausgehöhlt, sodass sie wie Muskelfleisch aussahen. Horizontale Rillen zogen sich dort hindurch, wo Felsbrocken sich in den Granit gebohrt hatten – es müssen gewaltige Kräfte geherrscht haben.
Der Gletscher selbst bestand größtenteils aus einer rissigen weißen Oberfläche mit blauen Flecken hier und da. Obwohl sie von zahlreichen Spalten durchzogen war, erstreckte die Eisfläche sich ziemlich eben bis zu dem schwarzen Kamm auf der gegenüberliegenden Seite. Swan nahm ihre Sonnenbrille ab, um die Aussicht zu studieren, und blinzelte und schniefte, als ein blendend weißer Blitz sie wie ein Schlag auf den Kopf traf. Sie stieß ein prustendes Lachen aus, als sie aus zusammengekniffenen Augen Zasha herankommen sah, und streckte die Arme aus. »Ich bin froh, dass ich gekommen bin! Es geht mir jetzt schon besser!«
»Ich wusste, dass es dir hier gefallen würde.«
Das Plateau, auf dem sich das Lager befand, stellte den idealen Standort für eine kleine, wild zusammengewürfelte Ortschaft dar. Zasha zeigte ihr die Kantine, ließ sie ihr Zeug im Schlafsaal verstauen und ging dann mit ihr zu der Felskante, von der aus man einen Blick über den Gletscher hatte. Direkt unterhalb des Lagers begann ein Riss im Eis, der sich bis zum gegenüberliegenden Ende des Gletschers zog. Anscheinend hatte man hier flüssigen Stickstoffs zwischen Eis und Felsboden eingebracht. Einen Teil des Eises hatte man fixiert, aber die Massen darüber hatten sich gelöst und setzten ihren Weg fort, zersplittert und langsamer, aber nach wie vor in Bewegung.
Stromabwärts von diesem Gewirr zog sich eine tiefe, halbmondförmige Spalte durchs Eis. »Das ist das neueste Experiment.« Zasha zeigte darauf. »Sie wollen einmal quer über den Gletscher einen Spalt schmelzen und auch das nachrückende Eis auftauen. Das Eis stromabwärts rutscht dann weg, und sobald Platz ist, bauen sie einen Damm in den Freiraum, sodass das herabfließende Eis sich dagegen auftürmt.«
»Wird es nicht einfach über den Rand des Damms quellen?«, fragte Swan.
»Das täte es, aber sie wollen den Damm so hoch bauen wie die Eiskappe im Inland. So fließt das Eis dann hierher, bis es so hoch steht wie der Rest von Grönland, und dann gibt es keine Abflussbewegung mehr.«
»Wow«, sagte Swan überrascht. »Also eine Art neuer Bergkamm, der die Lücke ausfüllt? Und der entsteht, während das Eis gegen ihn anstürmt?«
»Ganz genau.«
»Aber fließt die Eiskappe auf dem Plateau dann nicht einfach entlang anderer Gletscher ab?«
»Sicher, aber wenn die Sache hier funktioniert, dann wollen sie es überall um Grönland herum so machen, mit Ausnahme des Nordens, wo man ohnehin versucht, den Eispark auf See am Leben zu erhalten. Dort will man das abrutschende Eis einhegen und den Abfluss verlangsamen. Dadurch bleibt das grönländische Eis im Großen und Ganzen an Ort und Stelle, oder zumindest wird sein Abschmelzen ernsthaft verlangsamt. Dass alles so schnell geht, liegt nämlich vor allem daran, dass das Eis ins Meer abrutscht. Deshalb machen wir einfach jede Bresche auf der Insel zu! Kannst du dir das vorstellen?«
»Nein.« Swan lachte. »Das nenne ich Terraforming! Die Idee kommt ja wohl vom Ingenieurskorps der U.S. Army.«
»Klingt so, aber das hier sind Skandinavier. Und die Inuit aus der Gegend. Anscheinend gefällt ihnen die Idee. Sie sagen, dass sie es als Übergangslösung sehen.« Zasha lachte. »Die Inuit sind großartig. Sehr frohsinnige Leute. Sie würden dir gefallen.« Ein kurzer Blick. »Du könntest von ihnen lernen.«
»Halt bloß davon die Klappe. Ich möchte dort runter und mir das Felsfundament ansehen.«
»Das dachte ich mir.«
Sie kehrten in die Kantine zurück, und einige der Ingenieure aus dem Lager setzten sich bei großen Bechern heißer Schokolade zu ihnen und erklärten Swan ihre Arbeit. Der Damm würde aus einem Kohlenstoff-Nanofilamentgewebe errichtet werden, ein bisschen wie das Material, aus dem die Weltraumaufzüge bestanden. Es wurde bereits über Pfählen gesponnen, die man tief in den Fels gebohrt hatte. Der Damm würde vom Boden her emporwachsen, von Spinnenbots gewoben, die aneinander vorbei vor- und zurücksausten wie Schiffchen auf einem Webstuhl. Wenn er erst einmal fertig war, würde er dreißig Kilometer breit und zwei Kilometer hoch sein und an der stärksten Stelle trotzdem nur einen Meter dick. Die Struktur des Dammmaterials war ebenfalls biomimetisch. Die Kohlenstofffasern waren wie Spinnenfäden geformt, aber wie Muscheln gewoben.
Stromabwärts des Damms würde ein kurzes neues Gletschertal zum Vorschein kommen. Dort würde sich erneut Vegetation ansiedeln, wie es in den anderen grünen Bereichen Grönlands am Ende der Eiszeit geschehen war, zehntausend Jahre zuvor. Swan wusste genau, wie das U-Tal sich von nacktem Fels in ein Steinwüsten-Biom verwandeln würde. Sie selbst hatte solche Entwicklungen in vielen alpinen und polaren Terrarien angestoßen. Ohne Hilfe würde es etwa tausend Jahre dauern, aber mit ein bisschen Gartenpflege ließ sich dieser Zeitraum auf ein Hundertstel verkürzen: Man musste einfach erst Bakterien und anschließend Moose und Flechten, Gräser und Seggen hinzugeben, und anschließend Geröllblumen und bodennahe Sträucher. Das hatte sie bereits gemacht, und es hatte ihr wunderbar gefallen. Ab jetzt würde es hier jeden Sommer grünen und blühen, Samen würden ausgestreut, und jeden Winter würde sich all das behaglich unter eine Schneedecke kuscheln, um sich anschließend der eigentlichen Gefahr zu stellen, dem Frühlingstau. Diejenigen, die diese harte Zeit nicht überstanden, würden die nach ihnen kommenden mit Nahrung und einem Nährboden versorgen, und so würde es weitergehen. Die Inuit konnten diese Landschaft pflegen, wenn sie wollten, oder sie konnten sie einfach sich selbst überlassen. Vielleicht konnten sie in verschiedenen Fjords verschiedene Möglichkeiten ausprobieren. Wie gerne Swan dabei mitgemacht hätte. »Na schön, vielleicht muss ich eine Inuit werden«, brummte sie Zasha zu, während sie auf die Landkarte vor ihnen schaute. Sie erkannte, dass Grönland selbst eine eigene Welt war, und zwar die von ihr bevorzugte Art – eine leere Welt. Es gab hier niemand, der ihr feindselig gesinnt war.
Nach dem Abendessen ging Swan wieder hinaus und stand mit Zasha oberhalb der großen Lücke, unter der riesigen Himmelskuppel. Draußen im Wind, ach der Wind, der Wind … der breite Gletscher unter ihnen – stromaufwärts ein weißes Scherbenfeld, stromabwärts eine blaue Leere – und dann eine tiefer liegende und glattere weiße Fläche, die Richtung Meer abfiel. Auf der tieferen Dammseite konnte sie Maschinen ausmachen, die sowohl auf der Mauer als auch an ihren Seiten hin- und herflitzten. Sie sahen ein bisschen wie Spinnen aus, die ein so dichtes Netz webten, dass es massiv war. Die Bergkämme, an denen die beiden Enden des Damms verankert waren, würden eher abgetragen werden als der Damm selbst, hatte einer der Ingenieure erklärt. Falls es jemals eine neue Eiszeit gab und die Eiskappe Grönlands sich weiter gen Himmel auftürmte und über den Damm hinwegschwappte, würde er trotzdem noch da sein und in der nächsten Warmzeit wieder zum Vorschein kommen.
»Erstaunlich«, sagte Swan. »Also kann man die Erde sehr wohl terraformen!«
»Tja, aber Grönland ähnelt auch eher dem Mond Europa als dem Kontinent Europa, wenn du verstehst, was ich meine. Hier geht so etwas, weil nur einige wenige Menschen vor Ort leben, und denen gefällt die Idee. Wenn man etwas Derartiges irgendwo anders versuchen würde …« Zasha lachte bei dem Gedanken daran. »Als könnte man diese Technik einsetzen, um den New Yorker Hafen mit Deichen einzuhegen und die Bucht leerzupumpen, sodass Manhattan wieder wie früher über Wasser liegt. Man könnte den ganzen Bereich zu einer Art Koog machen. Das wäre nicht einmal so schwer, verglichen mit einigen anderen Ideen. Aber die New Yorker wollen nichts davon wissen. Ihnen gefällt es so, wie es ist.«
»Schön für sie.«
»Ich weiß, ich weiß. Die segensreiche Flut. Und ich liebe New York so, wie es ist. Aber du verstehst doch, was ich meine. Es gibt eine Menge guter Terraformingprojekte, die man niemals genehmigen wird.«
Swan nickte und verzog das Gesicht. »Ich weiß.«
Zasha umarmte sie kurz. »Es tut mir leid, was dir in China passiert ist. Es muss schrecklich gewesen sein.«
»Es war grauenhaft. Das, was ich auf dieser Reise sehe, gefällt mir ganz und gar nicht. Anscheinend haben wir die meisten Erdenbewohner auf die eine oder andere Art gegen uns aufgebracht.«
Zasha lachte. »Hast du je etwas anderes geglaubt?«
»Na schön«, erwiderte Swan, »ist schon klar. Aber die Sache ist die: Jetzt müssen wir in Erfahrung bringen, wer Terminator attackiert hat.«
»Interplan hat das, was einer Datenbank über alle Menschen am nächsten kommt, von daher werden sie die Täter hoffentlich finden können.«
»Und wenn das nicht funktioniert, was dann?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube, es wird früher oder später funktionieren.«
Swan seufzte. Sie war sich nicht sicher, ob Genettes Team es schaffen würde, und sie wusste, dass sie selbst es nicht schaffen konnte. Zasha warf ihr einen Blick zu. »Das Leben macht einfach keinen Spaß mehr«, erklärte sie.
»Arme Swan.«
»Du weißt schon, wie ich das meine.«
»Ich glaube schon. Aber hör mal, warum kümmerst du dich nicht einfach darum, die Startkulturen für Terminator zu besorgen? Mach deine Arbeit, und lass Genette und Interplan ihre erledigen.«
Damit war Swan auch nicht glücklich. »Ich kann nicht einfach abhauen. Hier geht etwas vor. Ich meine, man hat mich verdammt noch mal entführt und mir einen Haufen Fragen über Alex gestellt. Du meintest, dass sie mir im Prinzip nicht vertraut hätte, aber was, wenn ich etwas Wichtiges wusste, ohne zu wissen, dass es wichtig war?«
»Haben sie dich über die Lage auf der Venus ausgefragt?«
Swan überlegte. Zashas Worte hatten etwas in ihr angestoßen. »Vielleicht. Ich glaube schon.«
Zasha wirkte besorgt. »Auf der Venus gehen seltsame Dinge vor. Wenn sie das nächste Terraformingstadium durchlaufen, wird ein Großteil des Planeten für neue Siedlungen zur Verfügung stehen, und das führt zu Kämpfen. Letztlich wird dort ein Krieg um Landbesitz geführt. Und von diesen seltsamen Qubes, nach denen Alex uns auf die Suche geschickt hat, finden wir immer mehr. Sie scheinen von der Venus zu kommen, und oft tauchen sie in der Umgebung von New York auf. Wir sind uns noch nicht sicher, was das zu bedeuten hat. Wie dem auch sei, hilf du erst einmal, die Kulturen zu beschaffen. Das ist nicht mehr so leicht wie früher.«
»Sie müssen uns nur das ersetzen, was wir vorher hatten.«
»Unmöglich. Man darf keinen Humus von der Erde mitnehmen, nicht in solchen Mengen wie früher. Unser neuer Humus muss also eine Art Ascension sein, und für die bist du die Expertin.«
»Ich mag Ascensions überhaupt nicht mehr!«
»Wir sind jetzt auf sie angewiesen. Es ist keine Frage des Stils mehr.«
Swan seufzte schwer. Z schwieg und deutete dann auf die Szenerie. Es stimmte: Der Anblick des Gletschers war wirklich Balsam für die Seele. Die Welt war größer als ihre kleinen Melodramen, das ließ sich hier an diesem Ort nicht leugnen. Und es war ein Trost.
»Alles klar. Ich mache mich in Sachen Humus nützlich. Aber ich bleibe weiterhin mit Genette in Verbindung.«
Also – zurück ins abstruse und grandiose Manhattan, auch wenn es dort ohne Zasha nicht besonders lustig war. Aber lustig war das alles ohnehin nicht mehr.
Die Erschöpfung, die nach einem Tag auf der Erde einsetzte. Die schiere Schwere, die mit dem Leben auf diesem Planeten einherging. »Sie ist so … schwer!«, sang Swan bei sich selbst, wobei sie das letzte Wort dehnte und wiederholte, wie in dem alten Lied. »Schwer … schwer … schwer … schwer!«
Wenn sie Schmerzen litt von der Anstrengung, den ganzen Tag lang aufrecht zu stehen, stieg sie normalerweise in ihren Leibhalter und entspannte sich, indem sie sich von ihm spazieren führen ließ. Es war, als würde man massiert, nur dass man dabei hochgehoben und durch die Gegend getragen wurde. Man gab sich dem Tanz des Halters hin, verschmolz mit ihm. Ach, lieblicher Waldo. Egal wie man sich bewegte, er versteifte sich unter einem, und wenn er richtig angepasst und programmiert war, war es einfach traumhaft; schlecht für das Knochenwachstum, schlecht für die Anpassung an das Leben auf der Erde, aber ein Lebensretter, wenn man einen Durchhänger hatte. Im Weltall redeten die Leute sehnsuchtsvoll von ihrer Rückkehr zur Erde, traten dankbar ihr Sabbatjahr an, jauchzten bei der Aussicht darauf vor Freude – aber wenn der Kitzel der frischen Luft nachließ und die Gravitation blieb und einen im Laufe des restlichen Sabbatjahrs, bis man genug von Gaias rätselhaften Gaben getankt hatte, immer weiter zu Boden zog, stieg man schließlich aus der Atmosphäre wieder in die strahlende Klarheit des Raums empor und setzte sein dortiges Leben fort, erleichtert und glücklich. Weil die Erde einfach in jeder erdenklichen Weise zu schwer war. Es war, als hätte man einen Schwarzfilter zwischen sie und den Rest der Welt geschoben. Genette hatte behauptet, dass die Dinge gut liefen, aber anscheinend ohne damit zu rechnen, dass bald etwas passieren würde. Man schien einen ähnlichen Blick auf den Fall zu haben wie Swan auf das Gedeihen eines Sumpfes: Gewisse Abläufe würden in Gang gesetzt, gewisse Möglichkeiten herbeigeführt, und dann wandte man sich anderen Dingen zu. Wenn man zurückkehrte, würde sich etwas verändert haben. Aber das konnte Jahre dauern.
Also bemühte sie sich um Humus für Terminator, beriet die Händler vom Merkur beim Einkauf, und eines Tages konnte sie das Merkur-Haus in Manhattan betreten und verkünden: »Wir haben alles, was wir brauchen. Wir können nach Hause zurückkehren.«
Sie reiste nach Quito und fuhr mit dem Weltraumaufzug zu dem Felsbrocken empor, mit dem er am Himmel verankert war. Sie fühlte sich blockiert und geschlagen, missbraucht und weggeworfen. Brütend hörte sie sich mehrmals hintereinander eine Aufführung der Satyagraha-Oper an – die sich in ihren acht letzten Tönen emporschwang, schlicht und einfach die acht ansteigenden Töne einer Oktave, immer wieder von Neuem. Sie sang gemeinsam mit dem restlichen Publikum mit und fragte sich, wie Gandhi wohl darauf reagiert hätte, was er dazu gesagt hätte. »Das Beharren auf der Wahrheit hat mich gelehrt, die Schönheit des Kompromisses wertzuschätzen. Später in meinem Leben erkannte ich, dass dies ein essenzieller Teil der Satyagraha ist.« So wurde Gandhi im Programmheft zitiert. Satya, Wahrheit, Liebe; agraha, Entschlossenheit, Kraft. Das Wort hatte er sich ausgedacht. Tolstoi, Gandhi, der Mensch der Zukunft in der Oper – sie alle sangen von Hoffnung und Frieden, vom Weg zum Frieden, von Satyagraha selbst. Die Satyagrahi waren diejenigen, die Satyagraha übten. »Vergebung ist die Zier der Mutigen.«
Während die Erde sich unter ihr langsam entfernte und sich in jene vertraute blau-weiße Kugel verwandelte, die das All mit ihrer marmorierten Schönheit schmückte, lauschte sie den Sanskrit-Texten, die in ihrem Ohr erklangen. Sie bat Pauline, eine Stelle zu übersetzen, deren Melodie sie besonders anrührte. Pauline sagte: »Solange es keinen Frieden gibt, werden wir nicht in Sicherheit sein.«