Swan und Wang

Die Station auf Io, die Wangs Qube und sein Versorgungsteam beherbergte, lag weit oben in der Flanke von Ra Patera, einem der größten Berge des Sonnensystems. Während ihres Sinkflugs mit der Fähre kam ihnen dessen fächerförmiger Ausläufer beinahe wie eine horizontale Fläche vor. Die Fähre wurde von einem Loch in einer Betonlandefläche verschluckt, und anschließend schloss sich ein Dach über ihnen. Ab dann waren sie die meiste Zeit unter der Erde. Alles, was sie auf den zahlreichen Bildschirmen der Station und durch die Fenster im kleinen Kommandoturm von dem Mond sehen konnten, gehörte zum Ausläufer des Ra.

Auf der Brücke im Kommandoturm befanden sich mehrere Personen. Keine davon blickte zu Swan und Wahram auf, und auch nicht zu Wang, als er hereinkam.

Wang Wei erwies sich als rundliche Person mit tadellosen Manieren. Eine echte Größe in seinem Feld, wie Mqaret wohl gesagt hätte: einer der wichtigsten Experten für Qubes im ganzen Sonnensystem. Manchmal herrschten solche Menschen über sehr bemerkenswerte kleine Ruritanier. Swan fragte sich, ob Alex mit ihrem Gedanken recht gehabt hatte, dass die Balkanisierung des Sonnensystems eine gezielte, wenn auch unbewusste menschliche Reaktion auf die Qubes war, eine Art Widerstand gegen ihre zunehmende Macht.

Wang begrüßte Swan und Wahram und nahm mit einem kurzen »Ah, danke« den Umschlag von Alex entgegen, den Swan ihm hinhielt. Anscheinend wusste er bereits davon. Er las den Brief und steckte den Datenstreifen, der herausfiel, in die nächstbeste Konsole. Eine ganze Weile las er aufmerksam und ließ dabei den Zeigefinger über den Monitor wandern.

»Es ist wirklich ein Jammer, dass wir Alex verloren haben«, sagte er schließlich zu Swan. »Mein herzliches Beileid. Sie war die Achse unseres kleinen Rads, und jetzt werden wir in alle Richtungen fortgewirbelt wie zerbrochene Speichen.«

Überrascht antwortete Swan: »Sie hat mir in ihrer Nachricht mitgeteilt, dass ich zu Ihnen kommen soll. Die Briefe hat sie mir in ihrem Arbeitszimmer hinterlassen. Eine Art Notfallplan, schätze ich. Und der Umschlag für Sie war ein Teil davon.«

»Ja. Sie hat mir gesagt, dass sie vielleicht etwas Derartiges tun würde. Und Sie haben auch einen Datenstreifen in Ihren internen Qube geladen, zumindest legt Alex das in ihrem Brief hier nahe.«

»Das stimmt. Aber mein Qube will mir nichts darüber erzählen.«

»Das entspricht zweifellos Alex’ Anweisungen. Das Datenmaterial ist für Spezialisten. Was Sie haben, ist eine Art Sicherungskopie«, erklärte Wang wie zur Entschuldigung.

Swan bedachte erst Wang und dann Wahram mit einem finsteren Blick. Die beiden steckten unter einer Decke, wie Wahram und Genette auf Merkur. »Sagen Sie mir, was hier vorgeht«, verlangte sie. »Sie beide haben mit Alex an etwas gearbeitet.«

Die beiden zögerten einen Moment, ehe Wang sagte: »Ja. Seit vielen Jahren. Alex stand wie gesagt im Zentrum. Wir haben mit ihr zusammengearbeitet.«

»Aber sie hielt nichts davon, sich in der Cloud zu bewegen«, erwiderte Swan und breitete die Arme zu einer Geste aus, die die Station umfasste. »Sie hat die Dinge im Kopf behalten, nicht wahr? Sie aber arbeiten mit Qubes, das stimmt doch auch? Wangs Qube, Wangs Algorithmus?«

»Ja«, antwortete Wang.

Wahram fügte hinzu: »Alex hat sich von Qubes ferngehalten, damit man sie nicht zurückverfolgen konnte. Und dafür brauchte sie Unterstützung von einem Qube. So ist das heutzutage nun einmal, und das wusste sie.«

Wang nickte. »Also hat sie sich für mich entschieden. Ich habe keine Ahnung warum. Möglicherweise hat sie gedacht, ich hätte mehr Kontakte zu dem, was sie immer als Liga der blockfreien Welten bezeichnete, als es wirklich der Fall war. Ich habe zwar ein solches Netzwerk, aber es ist nicht besonders weitreichend. Niemand hat eine vernünftige Beschreibung dieses Systems in seiner jetzigen Form.«

»Ist es das, worauf Alex aus war?«, fragte Swan.

Wahram schüttelte den Kopf. »Sie kannte das System so gut wie nur möglich. Wang kennt die Blockfreien, aber meiner Meinung nach ist es noch wichtiger, dass sein Qube hier abgetrennt ist. Jeder seiner Kontakte zum Rest des Systems wird von Wang kontrolliert. Das hat Alex gefallen, weil sie versucht hat, all ihre Geschäfte auf direkte Kommunikation von Mensch zu Mensch umzustellen.«

»Aber sie hat uns diese Nachrichten hinterlassen«, sagte Swan. »Für den Fall, dass sie nicht mehr in der Lage sein würde zu reden. Also wollte sie, dass wir reden. Sie wollte, dass Sie beide mit mir reden.«

»Offensichtlich.«

»Dann sagen Sie mir, was Sie vorhaben!«

Die beiden Männer warfen einander einen Blick zu. Eine ganze Weile starrten sie zu Boden.

Dann schaute Wang ihr in die Augen, was Swan überraschte. Sein Blick war durchdringend. »Wir wissen alle nicht genau, wie wir mit dieser Situation umgehen sollen, weil es hier unter anderem um Qubes geht und Sie einen eingebetteten Qube haben. Deshalb würde Alex Ihnen nichts über diesen Teil des Ganzen erzählen, und ich habe das auch nicht vor. Jetzt, wo Alex’ Liste mit Kontakten sicher hier angekommen ist, können wir, die wir mit ihr zusammengearbeitet haben, versuchen, ihre Pläne weiter voranzutreiben.«

Swan sagte: »Also haben Sie Informationen von Alex, und mein Qube hat Informationen von Alex, aber ich kann keine Informationen von Alex bekommen.«

Wang schaute zu Wahram. Wahrams breites Gesicht sah aus, als würde er mit Nadeln gepiesackt. Seine Glupschaugen und Wangs durchdringender Basiliskenblick: So standen sie dort und schauten Swan an. Sie wussten nicht, was sie zu ihr sagen sollten. Erzählen würden sie ihr nichts.

Mit einem plötzlichen Schnauben winkte Swan ab und verließ das Zimmer.

In der kleinen Station gab es keinen Ort, an den man sich zurückziehen konnte, um seine Ruhe zu haben, was Swan erst nach ihrem Abgang bewusst wurde. Sie musste dringend irgendwo durch die Landschaft rennen, um ihre Wut abzureagieren, und hier saß sie in einem Qube-Kubus, einem Kasten mit Zimmern, von denen nur einige wenige überhaupt Fenster hatten. Klaustrophobie lag bei ihr immer dicht unter der Oberfläche, und jetzt, mit ihrer Wut auf die beiden Männer und ihrem Kummer über Alex (und ihrer Wut darüber, dass Alex ihr etwas vorenthalten hatte, nur wegen Pauline), wurde sie von dem Gefühl des Eingeschlossenseins übermannt. Sie stampfte fluchend umher und stieg dann schließlich in den Kommandoturm hoch, zu einem Zimmer mit Aussichtsfenster, wo sie endlich die Tür zuknallen und für eine Weile mit den Fäusten auf den Tisch hämmern konnte. Ihre Rippe tat ihr dabei ziemlich weh, aber das war jetzt nur noch ein Teil der Gesamtmischung, des Stechens all der in ihr tobenden Gefühle. Es tat weh!

Dann fiel ihr eine Bewegung draußen ins Auge. Sie unterbrach ihren Wutanfall und trat ans Fenster. Durch einen Tränenschleier sah sie eine verschwommene, dann und wann aufblitzende menschliche Gestalt, die über die gelbe Schlacke zur Station wanderte. Sie bewegte sich seltsam, zuckte wankend und taumelnd von hier nach dort.

»Pauline, kann man hier auf der Mondoberfläche umherlaufen? Außerhalb der Station?«

»Dazu bräuchte man einen Anzug, der dieselbe Schutzwirkung wie diese Station hat«, antwortete Pauline. »Bitte – informiere den Sicherheitsdienst der Station sofort darüber, was du gesehen hast.«

»Sie werden es doch sicher selbst gesehen haben?«

»Dieser Anzug dort draußen kann in vielerlei Hinsicht abgeschirmt sein. Dein visueller Eindruck ist vielleicht der einzige Hinweis auf ihn, den es gibt. Bitte beeile dich. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um sich mit mir zu streiten.«

Mit einem Knurren verließ Swan das Zimmer. Nachdem sie eine Weile durch die Station gehetzt war und sich dabei verlaufen hatte, kam sie in den Raum, den sie und Wahram als Erstes betreten hatten.

»Jemand nähert sich eurer Station zu Fuß«, sagte sie zu den verblüfften Leuten, die sich dort aufhielten. Ein paar schauten sehr genau auf ihre Monitore. Swan konnte ihnen nicht sagen, in welche Richtung ihr Fenster gezeigt hatte und musste sie dorthin zurückführen (wobei sie sich nur mit Mühe und Not an den Weg erinnern konnte), um es ihnen zu zeigen. Mittlerweise sah man nichts mehr als die Schlackelandschaft, die sich von der Station aus hangabwärts erstreckte. Anscheinend sahen auch die Leute im Kontrollraum nichts.

»Pauline, sag es ihnen«, befahl Swan.

Pauline sagte: »Nordnordwest, 310 Meter hangabwärts. Die Fußabdrücke sollte man noch sehen könnten. Die Gestalt hat sich unregelmäßig bewegt …«

Wang kam ins Zimmer geeilt. Offenbar hatte ihm jemand Bescheid gegeben. »Abriegeln«, sagte er kurz angebunden zu seinen Leuten. Überall ertönten schmerzhaft hohe und laute Alarmsirenen. Schnell füllten sich die Gänge mit Menschen. Swan und Wahram wurden durch einen Korridor zu einem Schutzraum mitgezogen. Als sie dort ankamen, war er bereits überfüllt, und nachdem sie sich hineingedrängt hatten, wurde die Tür geschlossen. Anscheinend waren sie hier vollständig versammelt. Jetzt waren sie in der kleinsten Matruschka-Puppe von allen.

An den Wänden waren Bildschirme, und Pauline half der Stations-KI dabei, die Überwachungskameras einzustellen. Schon bald wurde auf einem der Bildschirme eine Ansicht des abfallenden Hangs herangezoomt. Dort, weit unten auf der zerknitterten und schrägen Schlackeebene, hopste eine winzige Gestalt bergab.

»Keine gute Idee«, sagte Wang. »Dort unten ist die Kruste dünn.«

Und dann versank die entfernte Gestalt in einem kurzen Aufflackern und war verschwunden.

»Haltet weiter um die Station herum Ausschau«, sagte Wang, nachdem eine Weile schockiertes Schweigen geherrscht hatte. »Schaut, ob dort draußen jemand ist. Und schickt eine Drohne hoch, um nach einem Hopper Ausschau zu halten.«

Es herrschte Grabesstille, während die Anwesenden auf die Bildschirme starrten. Falls der Faraday’sche Käfig ausfiel, würden sie sehr bald gekocht werden. Die Strahlung vom Jupiter würde jede einzelne Zelle ihrer Körper zum Platzen bringen.

Aber anscheinend war nichts weiter passiert. Die Energieversorgung der Station schien gesichert, und niemand sonst war in der Umgebung zu sehen.

Dann regte sich etwas am anderen Ende des Zimmers. »Ein Ruf von einem Schiff, das um Landeerlaubnis bittet«, sagte jemand.

»Um wen handelt es sich?«

»Es ist ein interplanetares Schiff, die Schnelle Gerechtigkeit

»Vergewissert euch, dass sie wirklich die sind, als die sie sich ausgeben.«

Das Bild eines sich nähernden Raumschiffs wurde auf einen größeren Monitor verschoben, und alle beobachteten, wie ein kleineres Raumschiff flackernd in das Loch in der Landeplattform sank. Kurz darauf erschien ein behelmter Kopf unmittelbar vor einer der Überwachungskamera in der Landebucht, kam näher und füllte während des Netzhaut-Scans den ganzen Bildschirm aus. Dann winkte der Besucher und hielt kurz den Daumen hoch. Anscheinend handelte es sich um Freunde.

Man ließ sie herein, und dort in der Tür standen drei Menschen ohne Helme, einer von kleiner Statur. Verblüfft erkannte Swan, dass es sich um den Inspektor handelte, der sie in Mqarets Labor besucht hatte: Jean Genette.

»Ihr kommt spät«, sagte Wang.

»Tut mir leid«, antwortete Genette. »Wir wurden aufgehalten. Erzähl mir, was passiert ist.«

Wang gab einen kurzen Bericht und schloss mit: »Anscheinend war der Eindringling allein. Er hat sich genähert, ist dann den Hang hinabgegangen und durch die Kruste gebrochen. Wir haben noch keinen Hopper gefunden.«

Genette neigte den Kopf zur Seite. »Er ist einfach hangabwärts in den Tod gerannt?«

»Sieht so aus.«

Der Inspektor wandte sich zu den anderen Neuankömmlingen. »Wir müssen seine Überreste aus der Lava ziehen.« Dann, an Wang und die anderen gewandt: »Bin bald zurück. Vielleicht solltet ihr die Abriegelung noch eine Weile aufrechterhalten.«

Damit verschwanden die drei wieder durch die Luftschleuse der Station.

»Also gut«, sagte Swan ernst und bedachte dabei insbesondere Wahram mit einem durchdringenden Blick. »Erzählen Sie mir, was hier los ist.«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Wahram.

»Man hat uns gerade angegriffen!«

»Das nehme ich an.«

»Das nehmen Sie an?«

Wang sprach, ohne von den Monitoren aufzublicken. »Ein wenig wirkungsvoller Angriff, muss ich sagen.«

»Und wer würde Sie angreifen wollen?«, fragte Swan. »Und wie ist Genette so schnell hergekommen? Und hat all das etwas mit dem zu tun, was Sie zusammen mit Alex gemacht haben?«

Wahram sagte: »Das lässt sich an diesem Punkt nur schwer sagen«, und Swan unterbrach ihn, indem sie ihn gegen den Arm boxte.

»Schluss damit«, sagte sie böse. »Sagen Sie mir, was hier los ist!«

Sie schaute sich in dem vollgestopften Raum um: Zwölf bis fünfzehn Leute drängten sich darin, die sich jetzt jedoch alle demonstrativ mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigten und Wang und seine Besucher an einem kleinen Ecktisch allein ließen. »Sagen Sie es mir, sonst schreie ich los.«

Sie stieß ein kurzes Kreischen aus, um ihnen zu zeigen, was sie sich einhandeln würden, und die Leute im Raum zuckten zusammen und schauten entweder in ihre Richtung oder vermieden eben das angestrengt.

Wahram schaute zu Wang. »Lass mich es versuchen«, sagte er.

»Nur zu«, sagte Wang.

Wahram tippte auf den Tischmonitor und rief eine dreidimensionale Darstellung des Sonnensystems auf, die im Innern des Tisches zu schweben schien. Kugeln in bunten holografischen Farben bildeten etwas, das an altmodische mechanische Nachbildungen des Sonnensystems erinnerte, wobei Swan feststellte, dass diese Version sehr viel mehr bunte Kugeln und zahlreiche farbige Verbindungslinien zwischen ihnen enthielt. Darüber hinaus verhielten die Kugeln sich nicht maßstabsgetreu zu den wirklichen Planeten und Monden.

»Dieses Bild wurde auf Grundlage von Alex’ Analysen erzeugt«, erklärte Wahram Swan. »Es ist der Versuch, Macht darzustellen, und das Potenzial für Macht. Eine Art Menard-Grafik. Die Größe der Kugeln wird durch eine Funktion bestimmt, in die alle Faktoren eingehen, die Alex für bedeutsam hielt.«

In der Nähe der Sonne entdeckte Swan den Merkur, klein und rot. Die Mondragon-Mitgliedswelten waren alle rot und bildeten eine Konstellation von durch das ganze System verteilten Punkten – alle klein, aber es waren viele. Die Erde war riesig und vielfarbig, eine Ansammlung von Kugeln wie ein Strauß Heliumballons, die eine Faust nach oben ziehen. Der Mars war eine einzige grüne Kugel und fast so groß wie die Erde. Die bunten Linien, die die Kugeln miteinander verbanden, bildeten im ganzen Sonnensystem bis zum Saturn dichte Netze, die weiter draußen ausdünnten.

»Was für Faktoren?«, fragte Swan, die versuchte, sich zu beruhigen. Sie war noch immer durcheinander, wenn auch mehr durch die Ankunft Genettes als durch die Attacke.

Wahram sagte: »Angesammeltes Kapital, Bevölkerung, Gesundheit der Bioinfrastruktur, ob eine Welt terraformt ist und wie stabil, Mineralien und flüchtige Ressourcen, Bündnisse, militärische Ausrüstung. Die heuristischen Einzelheiten können wir Ihnen später geben. Man sieht jedenfalls sofort, dass Mars und Erde als kollektives Ganzes betrachtet derzeit ungeheuer viel größer sind als irgendwelche anderen Mächte. Und China, die große rosafarbene Kugel, stellt einen sehr großen Teil der Erdmacht dar. Derweil hat die Venus so großes Potenzial, dass es sich nur schwer darstellen lässt, weil sie gegenwärtig nicht mal ansatzweise über die Macht verfügt, die sie bald haben wird. Venus und China sind beide rosa eingefärbt, weil sie beide gute Beziehungen zum Mondragon haben. Man sieht, dass der China-Venus-Mondragon-Knoten das Potenzial hat, die größte Macht überhaupt zu werden. Alex hat oft gesagt, dass die chinesische Vorherrschaft der Normalzustand sei, in den die Geschichte immer wieder zurückfällt, mit Ausnahme der kurzen Phase, in der China hinter Europa zurückstehen musste. Das ist vielleicht etwas übertrieben, aber bezüglich der gegenwärtigen Lage spricht das Bild für sich.

Man beachte auch, wie klein all die anderen Weltraumsiedlungen sind. Selbst zusammengenommen sind sie immer noch klein. Wie dem auch sei, wenn man ihr Terraforming-Potenzial hochrechnet, wie ich es jetzt mache – schauen Sie: Venus, Luna, die Galilei’schen Monde außer Io sowie Titan und Triton werden sehr viel größer. Sie repräsentieren die größten Chancen auf Machtzuwachs im All. Die Asteroiden sind größtenteils gefüllt. In der näheren Zukunft werden also Venus und die großen Monde die neuen Hauptmächte sein. Venus wird bald voll bewohnbar sein und einen Wachstumsschub erfahren, weshalb die Lage dort seltsam wird, was wiederum die Erde destabilisiert.«

»Und warum interessierte sich Alex für all das?«, fragte Swan. »Und was wollte sie deswegen unternehmen?«

Wahram holte tief Luft und stieß den Atem wieder aus. »Sie hat ein instabiles System gesehen, das auf einen Zusammenbruch zusteuert, falls niemand korrigierend eingreift. Sie wollte die Lage stabilisieren. Und sie war der Meinung, dass die Probleme im Grunde genommen von der Erde ausgehen.«

Er schaute eine Weile auf das Bild, das diesen Gedanken sehr wirkungsvoll vermittelte: Dort, inmitten all der Primärfarben, schien das Partyballongewirr, das die Erde darstellte, regelrecht zu vibrieren.

»Und was wollte sie also tun?«, fragte Swan, die mit einem Mal einen Stich der Sorge verspürte. »Wollen Sie damit sagen, dass sie die Verhältnisse auf der Erde verändern wollte?«

»Ja«, antwortete Wahram bestimmt. »Das wollte sie. Sie wusste natürlich, dass dieser Wunsch ein berühmter Raumer-Fehler ist. Ein unmögliches, zum Scheitern verurteiltes Projekt. Aber sie hoffte, dass wir inzwischen genug Einfluss hätten, um etwas zu bewirken. Sie hatte einen Plan. Viele von uns hatten das Gefühl, dass man das Pferd damit von hinten aufzäumen würde, wissen Sie. Aber Alex konnte uns überzeugen, dass wir nie sicher sein werden, solange die Erde nicht in einem besseren Zustand ist. Also haben wir bei ihrem Plan mitgemacht.«

»Was soll das heißen?«

»Wir haben in den Terrarien Nahrungsmittel und Tiere gehortet und in uns freundlich gesonnenen Ländern auf der Erde terranische Büros eröffnet. Es gab Vereinbarungen. Aber all das wird nun durch Alex’ Tod verkompliziert, weil sie so viel von alledem persönlich getan hat. Es handelte sich um verbale Abkommen.«

»Sie hat den Qubes nicht getraut, ich weiß.«

»Genau.«

»Warum nicht?«

»Tja, ich … vielleicht sollte ich das im Moment lieber nicht sagen.«

Nach einer unbehaglichen Pause sagte Swan: »Sagen Sie es mir.« Als er den Kopf hob, um ihrem Blick zu begegnen, schaute sie ihn auf die gleiche Art an, auf die auch Alex ihn angesehen hätte – sie spürte, dass es ihr im Blut lag. Alex war dazu fähig gewesen, Leute mit einem Blick zum Sprechen zu bringen.

Doch es war Wang, der ihr antwortete. »Es hat etwas mit seltsamen Gerüchten über Qubes zu tun«, erklärte er zurückhaltend. »Auf der Venus und im Asteroidengürtel. Es sind diese Zwischenfälle, die von Inspektor Genettes Team untersucht werden. Und deshalb …« – er deutete Richtung Tür – »… hängt das vielleicht auch damit zusammen. Bis sie also mehr herausfinden, sollten wir das Thema erst einmal außen vor lassen. Außerdem – ich nehme an, Ihr interner Qube nimmt all das auf? In dem Fall wäre es am besten, wenn Sie ihn dazu veranlassen könnten, die Aufnahme zu sperren.«

Wahram sagte zu Wang: »Zeig Swan die Darstellung des Systems unter Einbeziehung der Qube-Macht.«

Wang nickte und tippte auf das Bild auf dem Tisch. »In dieser Version wurde versucht, sowohl Qubes als auch klassische KIs zu berücksichtigen. Es soll einem ein Bild davon vermitteln, ein wie großer Teil unserer Zivilisation von künstlichen Intelligenzen gesteuert wird.«

»Qubes steuern überhaupt nichts«, wandte Swan ein. »Sie treffen keine Entscheidungen.«

Wang runzelte die Stirn. »Tatsächlich treffen sie sehr wohl gewisse Entscheidungen. Zum Beispiel, wann eine Fähre ablegen soll oder wie die Güter und Dienste im Mondragon zu verteilen sind – all solche Dinge. Eigentlich erledigen sie den Großteil der Infrastruktur des Systems.«

»Aber sie entscheiden sich nicht, sie zu erledigen«, wandte Swan ein.

»Ich weiß, was Sie meinen, aber schauen Sie sich mal die Darstellung an.«

In dieser Version, so erklärte er, stellte Rot die Macht von Menschen dar und Blau die Macht von Computern, wobei hellblau für klassische Computer stand und dunkelblau für Quantencomputer. Ein großer, dunkelblauer Ball war neben dem Jupiter zu sehen, und weitere blaue Punkte waren überall sonst verteilt. Die meisten davon waren zu einem Gesamtnetz verbunden. Menschen tauchten als rote Ballungen auf, doch sie waren weniger und kleiner als die blauen Punkte, und es verliefen sehr viel weniger rote Linien zwischen ihnen.

»Was ist das für ein blauer Ball um den Jupiter?«, fragte Swan. »Sind Sie das?«

»Ja«, sagte Wang.

»Und jetzt hat also jemand diesen ziemlich gewaltigen blauen Ball angegriffen.«

»Ja.« Die Stirn tief in Falten gelegt starrte Wang auf den Tischmonitor. »Aber wir wissen nicht wer, und auch nicht warum.«

Nach kurzem Schweigen sagte Wahram: »Bilder wie dieses sind einer der Gründe dafür, dass Alex besorgt war. Sie hat gewisse Bemühungen angestoßen, die Lage in den Griff zu bekommen. Bitte, belassen wir es fürs Erste dabei. Ich hoffe, Sie verstehen.«

Sein flehender Appell an Swan ließ seine Froschaugen noch deutlicher hervortreten. Er schwitzte.

Swan starrte ihn einen Moment lang finster an und zuckte dann mit den Schultern. Sie wollte sich streiten, und einmal mehr wurde ihr klar, dass es sich gut anfühlte, etwas anderes als Alex’ Tod zu finden, worüber sie sich aufregen konnte. Dafür war ihr so ziemlich jeder Anlass recht. Aber letztlich würde ihr das nicht helfen.

Wahram versuchte, das Gespräch wieder auf das Thema Erde zu lenken. »Alex meinte, dass wir uns die Erde wie unsere Sonne vorstellen sollten. Wir drehen uns alle um sie, und sie übt eine gewaltige Anziehungskraft auf uns aus. Und weil jeder einzelne Raumer ab und an ein Sabbatjahr braucht, können wir nicht einfach so tun, als gäbe es sie nicht.«

»Eigentlich gibt es eine ganze Menge Gründe, warum wir das nicht können«, stellte Wang fest.

»Stimmt«, sagte Wahram. »Also. Wir sind fest entschlossen, Alex’ Projekte weiter voranzutreiben. Du kannst uns dabei helfen. Dein Qube hat jetzt ihre Liste mit Kontakten. Es wird nicht leicht sein, die ganze Gruppe an Bord zu halten. Wir könnten deine Hilfe gebrauchen.«

Swan, unbefriedigt von solch vagen Allgemeinplätzen, betrachtete einmal mehr das neue Bild in dem Tisch. Schließlich sagte sie: »Mit wem auf der Erde hat sie vor allem zusammengearbeitet?«

Wahram zuckte mit den Schultern. »Mit vielen Leuten. Aber ihre Hauptkontaktperson war Zasha.«

»Was?«, fragte Swan verblüfft. »Wirklich Zasha?«

»Was erstaunt Sie daran?«

»Nun ja, wir waren mal verpartnert.«

»Das wusste ich nicht. Tja, Alex hat sich jedenfalls ganz auf Zasha verlassen, um ein Bild von der Lage auf der Erde zu erhalten.«

Swan war sich vage bewusst gewesen, dass Zasha mit dem Merkur-Haus in Manhattan zu tun hatte, aber sie hatte niemals gehört, dass Alex von Zasha gesprochen hätte, oder umgekehrt. Schon wieder erfuhr sie etwas Neues über Alex, und mit einem Mal wurde Swan klar, dass es von nun an so weitergehen würde: Sie würde nicht mehr Neues von Alex erfahren, sondern Neues über sie. Das war die Art, auf die Alex weiterleben würde, und obwohl es nicht viel war, war es besser als nichts. Besser als die Leere. Und wenn Zasha mit ihr zusammengearbeitet hatte …

»Alles klar«, sagte Swan. »Sobald euer Inspektor uns hier rauslässt, fliege ich zur Erde.«

Wahram nickte zögerlich.

Swan fragte: »Was machen Sie?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich muss zum Saturn und Bericht erstatten.«

»Sehen wir uns wieder?«

»Ja, danke.« Trotz dieser Worte schien die Vorstellung ihm nicht ganz zu behagen. »Ich werde schon bald nach Terminator zurückkehren. Die Vulkanoiden haben sich mit dem Rat der Saturn-Liga in Verbindung gesetzt. Anscheinend haben sie auch irgendeine mündliche Abmachung mit Alex getroffen. Da sind vulkanoide Lichtübertragungen zum Saturn in Vorbereitung, und ich bin derzeit der Botschafter der Liga bei den inneren Planeten. Wir sehen uns also, wenn Sie zum Merkur zurückkehren.«

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