Als Wahram wiederkam, war Genette bereits drauf und dran, nach Vinmara abzureisen, und wollte keine Zeit verschwenden. »Komm schon«, und damit rannte der Inspektor los, flink wie ein Terrier. Als Wahram eilig hinterherfuhr, drehte Genette sich um und fragte, ob mit Swan alles in Ordnung sei. Ja, antwortete Wahram, alles wäre in Ordnung. Obwohl er sich da nicht so sicher war. Aber nun galt es, sich auf den Plan zu konzentrieren.
Mithilfe des Qubes Passepartout redete Genette während ihres Flugs nach Vinmara mit einigen Kollegen. Wahram deutete fragend auf das Armband.
Mit einem Kopfschütteln sagte Genette: »Es gibt Qubes, die für uns arbeiten, wie Swan ganz richtig festgestellt hat, und wahrscheinlich gehört ihrer zu diesen Qubes. Aber ich hatte noch keine Gelegenheit, Erkundigungen über ihn einzuholen, und vermutlich hattest du recht damit, sie aus dieser Sache herauszuhalten. Ihr Verhalten lässt sich nur schwer vorhersagen. Aber Wangs Qube und Passepartout haben wir derweil beide überprüft, und sie unterstützen uns gemäß ihren Anweisungen. Ich glaube also an sie«, sagte Genette betont und mit einem Stirnrunzeln in Richtung des Armbandqubes.
Wahram sagte: »Glaubst du, dass die Qubes langsam anfangen, als eine Gesellschaft für sich zu funktionieren, mit Gruppen und sogar mit Organisationen und Uneinigkeit?«
Genette warf die Arme empor. »Wie sollen wir das wissen? Möglich, dass sie nur unterschiedliche Anweisungen von verschiedenen Menschen bekommen und sich darum unterschiedlich verhalten. Wir hoffen einfach, dass wir den Hersteller dieser Qube-Menschen in Vinmara festnehmen können, dann erfahren wir vielleicht mehr.«
»Was ist mit den Venusianern? Werden sie uns das, was du hier vorhast, erlauben?«
»Shukra und seine Gruppe stehen hinter uns. Die befinden sich hier in einem ganz schönen Gerangel, und es steht viel auf dem Spiel. Lakshmis Leute stellen diese Humanoiden entweder her oder ziehen einen Vorteil aus ihrer Existenz, eins von beiden, aber so oder so geht uns Shukras Gruppe nur zu gerne zur Hand. Ich glaube, die Arbeitsgruppe ist in sich so gespalten, dass wir alles Nötige erledigen und anschließend von diesem Planeten verschwinden können, bevor jemand reagieren kann.«
Wahram schienen diese Worte nichts Gutes zu verheißen. »Du willst also schnell mal durch einen Bürgerkrieg und am anderen Ende wieder heraus?«
Genette erwiderte mit einem knappen Schulterzucken: »Wir können nicht mehr zurück.«
Sie erreichten den Raumhafen, durchquerten ihn eilig und betraten über eine Rampe ein kleines Flugzeug. Als sie an Bord und in der Luft waren, schaute Genette aus dem Fenster und bemerkte: »Es ist hier ganz ähnlich wie in China. Genau genommen wird die Venus vielleicht immer noch von China aus regiert. Man kann sich da nur schwer sicher sein. Jedenfalls liegen alle Entscheidungen in den Händen einer ziemlich kleinen Gruppe. Und die ist nun über der Frage gespalten, was man wegen des Sonnenschilds unternehmen soll. Die Position zu diesem Thema ist zu einer Art Loyalitätstest für beide Seiten geworden. Ich dachte, die meisten Venusianer hätten sich inzwischen so an die Abhängigkeit gewöhnt, dass sie den Schild nur noch als ein Risiko unter vielen empfinden. Aber die Gegner des Schilds vertreten ihre Position nachdrücklicher. Für sie ist es eine Existenzfrage. Deshalb sind sie bereit, weiter zu gehen, um ihr Ziel zu erreichen.«
»Und was haben sie deiner Meinung nach getan?«
»Ich könnte mir vorstellen, dass einer ihrer Programmierer beschlossen hat, einige Qubes mit der Beseitigung des Sonnenschilds zu beauftragen. Vielleicht hat es sich um einen offenen Befehl gehandelt, im Sinne von: ›Findet eine Möglichkeit, das zu bewerkstelligen.‹ Das hat dann also zur Folge, dass irgendein Qube einen Algorithmus anwendet, der Verläufe ermittelt, bei denen ein solches Endergebnis wahrscheinlich ist. Und es kann sein, dass dieser Algorithmus schlecht eingegrenzt war. Dass dem Qube sozusagen jedes Mittel recht war. In dieser Beziehung hat das ein bisschen was von einem Menschen! Sehr originalgetreu. Also, was, wenn dieser Qube daraufhin vorschlägt, Qubes in menschliche Körper zu stecken, sodass sie Angriffe durchführen können, zu denen sie als unbewegliche Gehäuse nicht ohne fremde Hilfe in der Lage sind – Angriffe, die Menschen nicht durchführen könnten, oder zu denen sie sich nicht bereitfinden würden? Ich rede von Sabotageaktionen. Man könnte sie auch als lehrreiche Darbietung bezeichnen, als inszenierte Katastrophen. Wenn man die Mehrheit der Venusianer in den Glauben versetzen könnte, dass dem Sonnenschild ein Angriff droht – dass sie alle wie die Ameisen gebraten werden könnten –, dann würde die Allgemeinheit sicher ein weiteres Bombardement unterstützen, um die Venus in Rotation zu versetzen.«
»Man treibt die Zivilbevölkerung zu einer bestimmten politischen Entscheidung, indem man ihr Angst macht«, sagte Wahram.
»Ja. Was in unseren Augen eine mögliche Definition von Terrorismus ist. Aber für einen Qube, der darauf programmiert ist, Ergebnisse zu liefern, ist das vielleicht weniger ersichtlich.«
»Also war der Angriff auf Terminator eine Art Demonstration?«
»Genau. Und hier auf der Venus ist eindeutig auch eine entsprechende Wirkung erzielt worden.«
»Aber diese neue Attacke auf den Sonnenschild war vielleicht mehr als bloße Panikmache«, sagte Wahram. »Wäre sie erfolgreich gewesen, dann hätte sie einer Menge Menschen das Leben gekostet.«
»Selbst das muss nicht unbedingt als negativ empfunden werden. Das hängt von dem Algorithmus ab, und das bedeutet, dass es vom Programmierer abhängt. Auf der Erde stehen genug Menschen zur Verfügung, um alle, die hier oben umgebracht werden, zu ersetzen. China allein könnte die Venus wieder aufstocken. Man könnte die gesamte Bevölkerung der Venus umbringen und durch Chinesen ersetzen, ohne dass es China überhaupt auffallen würde. Wer weiß also, was diese Leute sich denken? Die Programmierer haben ihren Qubes vielleicht einen Anstoß in eine neue Richtung gegeben und sie sogar mit neuen Algorithmen ausgestattet, aber sie haben ihnen dabei auf keinen Fall menschliche Gedankengänge eingegeben, selbst wenn sie sie so weit gebracht haben, dass sie einen Turing-Test bestehen.«
»Also gibt es diese Qubanoiden wirklich.«
»O ja. Deine Swan ist welchen von ihnen begegnet und ich auch. Das Ding auf Io war einer. Und zu meinem großen Interesse habe ich in Erfahrung gebracht, dass sich sehr viele von ihnen auf dem Mars aufhalten, wo sie als Menschen durchgehen und in der Regierung arbeiten. Die Probleme, die der Mars mit dem Mondragon und dem Saturn hat – die kommen mir langsam ein bisschen verdächtig vor.«
»Ah«, sagte Wahram und dachte darüber nach. »Und was willst du nun tun?«
»Wir nehmen alle auf einen Schlag fest«, antwortete Genette und warf einen kurzen Blick auf Passepartout. »Das habe ich soeben mit einer codierten Meldung veranlasst, und in diesem Moment geht es los. Mitternacht, westeuropäische Zeit, am 11. Oktober 2312. Wir müssen ein bisschen hinmachen.«
Sie landeten unmittelbar außerhalb von Vinmara, und schon bald war Wahram froh, dass er im Rollstuhl saß, denn Genette hetzte mit ungeheurer Geschwindigkeit von einem Treffen zum anderen; selbst auf Rädern konnte Wahram kaum mithalten.
Kiran kam ein paar Minuten später mit einem anderen Flug an und zeigte ihnen das Gebäude, in das man die Augäpfel gebracht hatte. Kurz darauf traf eine Gruppe Bewaffneter ein und umstellte das Gebäude ohne weitere Verzögerung. Sie sprengten die Tür auf und stürmten in voller Raumanzug-Montur und mit gezogenen Waffen hinein. Ein dicker, grauer Dunst schwappte heraus, kaum dass die Tür offen war.
Es dauerte keine fünf Minuten, bis das Gebäude gesichert war. Sofort besprach sich Genette mit dem Zugriffsteam und anschließend mit Shukra, der mit einem weiteren Kontingent bewaffneter Gefolgsleute auftauchte, um dafür zu sorgen, dass sich kein Widerstand regte, während sie das Gebäude räumten.
Genette sprach ununterbrochen mit irgendjemandem, entweder persönlich oder übers Telefon, unaufgeregt, aber mit großer Bestimmtheit – offensichtlich erfahren in solchen Aktion. Sogar die Vorstellung, sich in einen Kampf zwischen verschiedenen venusianischen Fraktionen zu stürzen, was Wahram enorm gefährlich erschien, schien den Inspektor nicht zu schrecken.
Als Genette einmal einen Moment lang mit niemandem redete, sondern auf einer Tischkante saß, Kaffee trank und auf seinen Armbandqube schaute, sagte Wahram neugierig: »Diese Steinchenattacken – bei denen ging es darum, dass eine venusianische Fraktion die hiesige Bevölkerung beeinflussen wollte? Um ihren Willen gegen eine andere Fraktion durchzusetzen?«
»So ist es.«
»Aber … wenn die Attacke auf den Sonnenschild erfolgreich gewesen wäre, hätten die Terroristen sich dann nicht auch selbst umgebracht?«
Genette erwiderte: »Ich denke, es wäre genug Zeit für eine Evakuierung geblieben. Und die Verbrecher hätten inzwischen den Planeten verlassen. Außerdem, wenn die Qubes die Entscheidung getroffen haben, war es ihnen vielleicht gleichgültig. Wer auch immer sie ursprünglich programmiert hat, hatte vielleicht überhaupt keine Kontrolle mehr über ihre Entscheidungen. Vielleicht dachten sich die Qubes: Nun ja, schade drum, aber man kann sich ja jederzeit neue von denen holen. So hätten sie ihr Ziel erreicht, ob die Attacke nun gelungen oder fehlgeschlagen wäre.«
Wahram dachte darüber nach. »Was ist mit dem toten Terrarium draußen im Asteroidengürtel? Mit Yggdrasil?«
»Ich weiß nicht so recht. Vielleicht sollte es dafür sorgen, dass die Leute sich verwundbar fühlen. Vielleicht haben sie nur ihre Methode ausprobiert. Aber ich gebe zu, dass es seltsam ist. Das ist einer der Gründe, warum ich diese Qubanoiden sehen will, und wen auch immer man hier sonst noch festgenommen hat.«
Eine Gruppe von Menschen kam zum Haupteingang heraus, und Genette lief schnurstracks auf sie zu. Viele von ihnen waren Kleine; bei der Erstürmung des Gebäudes hatte man anscheinend eine Art Trojaner eingesetzt – mehrere von ihnen hatten sich durch die Luftschächte Zutritt verschafft und den Angriff mit Gasladungen eingeleitet.
»Alles klar, komm«, sagte Genette, wenig später wieder an Wahrams Seite zurückgekehrt. »Verschwinden wir von hier. Wir müssen diese Dinger so schnell wie möglich von dem Planeten hier fortschaffen.«
Eine Schlange von etwa zwei Dutzend Menschen, die meisten davon normalgroß, aber mit einem Kleinen und einer Großen darunter, kamen zur Tür heraus, an ihren Sicherheitswesten aneinandergekettet. Genette hielt einen nach dem anderen an und stellte ihnen sehr höflich einige Fragen, wobei er sie jeweils nur für ein paar Sekunden festhielt. Auch Wahram musterte die Personen, die an ihnen vorbeigingen, und ihm fielen ihre vielleicht etwas zu geschmeidigen Bewegungen auf und der durchdringende, glasige Blick, den einige hatten. Trotzdem hätte er nicht darauf gewettet, die Menschen von den künstlichen Personen unterscheiden zu können. Das war jedenfalls beunruhigend. Ein kleiner Tropfen des Entsetzens schien ihm durch die Kehle und bis herab in den Magen zu rinnen und sich dort auszubreiten.
Genette hielt die letzte Gestalt in der Reihe an. »Aha!«
»Wer ist das?«, fragte Wahram.
»Ich glaube, das ist Swans Bowls-Spieler.« Genette hielt Passepartout empor und machte ein Foto. Dann nickte er, als er die zusammenpassenden Fotos auf dem kleinen Monitor des Armbandqubes sah. »Und wie es scheint« – er strich der jungen Person mit einem Stab über den Kopf –, »handelt es sich letztlich doch um einen Menschen.«
Stumm erwiderte Genettes Gegenüber seinen Blick.
Genette sagte: »Vielleicht ist das ja unser Programmierer, was? Das können wir auf dem Weg ermitteln. Ich will so schnell wie möglich von der Venus verschwinden.«
Das bedeutete, dass sie die Stadt ein weiteres Mal eilig durchqueren und anschließend den Weg durch die Schleusen zu ihrer improvisierten Helikopterlandefläche zurücklegen mussten. Mehr als einmal ließen Beamte, die eigentlich jeden Grund gehabt hätten, eine so große Gruppe zu befragen, sie einfach passieren. Einige von ihnen redeten dabei die ganze Zeit nervös mit ihren Headsets.
Als sie wieder in der Luft waren, warf Genette Wahram mit demonstrativ aufgerissenen Augen einen Blick zu und wischte sich über die Stirn. Ihr Helikopter flog nach Colette, und am dortigen Raumhafen eilten sie auf eine der Landeflächen und bestiegen ein Raumflugzeug, mit dem sie einen holprigen Flug in eine tiefe Umlaufbahn hinter sich brachten, um sich schließlich von einem Interplan-Kreuzer aufnehmen zu lassen.
Es handelte sich um die Schnelle Gerechtigkeit; als alle an Bord waren, setzten sie einen Kurs Richtung Pluto.
In den Wochen, in denen sie unterwegs waren, verhörten sie mehrfach den Bowls-Spieler, doch er sagte kein einziges Wort. Es handelte sich bei ihm eindeutig um einen Menschen, einen jungen Mann im Alter von 35. Es gelang ihnen, seinen Weg von Chateau Garden, wo Swan ihn kennengelernt hatte, zu einer der blockfreien Welten zurückzuverfolgen, die nicht bereit war, seinen Namen an Außenstehende weiterzugeben. In einem Akt zufälliger Hellsichtigkeit hatte Interplan diese Welt unter der Bezeichnung U-238 katalogisiert.
Während ihres Flugs Richtung Pluto und Charon gelang es Wangs Qube, noch einiges mehr über das kurze Leben des Bowls-Spielers herauszufinden. Es war eine traurige Geschichte, wenn auch nicht ungewöhnlich: ein kleines Terrarium, betrieben von einer Sekte, in diesem Fall von Ahura-Mazdˉa-Verehrern; strikte Geschlechtertrennung; patriarchal, polygam; besessen von körperlicher Züchtigung als Strafe für dämonische Missetaten. Er als instabiles Kind in dieser engen Welt. Berichte über Aggression ohne Reue. Ab seinem vierten Lebensjahr dort, bis er im Alter von vierundzwanzig abtrünnig geworden war. Lernte auf Vesta, wo ihn niemand kannte, programmieren; eine Weile an der Ceres-Akademie voll und ganz mit Qube-Design beschäftigt, ehe er die Bildungseinrichtung wieder verließ; blieb im gesellschaftlichen Leben an der Akademie ein Außenseiter. Letztlich von Ceres verbannt, weil er einmal zu oft die dortigen Sicherheitsvorschriften verletzt hatte; anschließend Rückkehr zu seinem heimatlichen Felsbrocken, wo er geblieben war, soweit bekannt. Doch in Wirklichkeit hatte sich schlicht und einfach niemand dafür interessiert, wohin es ihn anschließend verschlagen hatte. Wie er zu seiner Arbeit auf der Venus gekommen war, blieb unklar, dieser Lebensabschnitt lag in dem Dunkel, das die Venus-Arbeitsgruppe umgab – insbesondere Lakshmi hatte die geplante Sabotage des Sonnenschilds sehr erfolgreich im Verborgenen vorangetrieben. Dann kamen Vinmara und das Labor, in dem man Humanoiden angefertigt hatte, einschließlich derjenigen, die auf dem Mars die Regierung infiltriert hatten. Andere waren zur Erde und weiter in den Asteroidengürtel gereist und hatten dort die Steinchenschleuder gebaut und bedient. Dieser junge Mann hatte die Steinchenattacken also entweder erfunden oder Qubes entwickelt, die sie erfunden hatten; und er oder seine Schöpfungen hatten die Attacken durchgeführt.
»Yggdrasil?«, sagte Genette einmal zu dem Bowls-Spieler.
Die Messgeräte, an die der Körper und das Gehirn des Jugendlichen angeschlossen waren, zeigten eine deutliche Spitze.
Genette nickte. »Bloß ein Test, was? Um zu zeigen, dass das Konzept funktioniert?«
Einmal mehr zeigten die Geräte einen deutlichen Anstieg seiner Vitalwerte. Von der Vorstellung, dass solche Spitzen eine verlässliche Möglichkeit darstellten, jemanden beim Lügen zu ertappen, hatte man sich längst verabschiedet, aber trotzdem ließen gesteigerte physiologische Aktivitäten gewisse Rückschlüsse zu.
Da der junge Mann weiterhin kein Wort von sich gab, erlangten sie keinerlei Gewissheit darüber, warum all das geschehen war. Aber ein Zusammenhang mit der Yggdrasil schien eindeutig zu bestehen.
Für Genette kam es einzig und allein darauf an. »Ich glaube, die Angriffe auf Terminator und Venus waren politisch motiviert«, sagte er zu Wahram, während der Junge sich nach wie vor im Zimmer befand und stumm an die Wand starrte. Die Krakellinien des Messgeräts sprachen an seiner statt, als eine Art lautloses Schreien. »Ich vermute, dass Lakshmi sie gutgeheißen hat. Aber zuerst haben sie die Yggdrasil geknackt, und wahrscheinlich war das die Idee von ihm hier. Vielleicht eine Demonstration für Lakshmi. Ein Beweis dafür, dass das Konzept funktioniert. Und so mussten dreitausend Menschen sterben.«
Genette starrte dem jungen Mann ins verkniffene Gesicht und sagte schließlich zu Wahram: »Komm, lass uns von hier verschwinden. Hier gibt es nichts mehr zu tun.«
In den drei Wochen, die sie für die Reise nach Pluto und Charon brauchten, verschlechterte sich der Zustand von Wahrams verletztem Bein, und nach eingehender Beratung beschloss das Ärzteteam an Bord, es unterhalb des Knies zu amputieren und ihm mithilfe pluripotenter Stammzellen ein neues linkes Bein wachsen zu lassen. Wahram ließ all das über sich ergehen und versuchte, möglichst wenig daran zu denken und das in ihm aufsteigende Entsetzen durch den Gedanken zu mildern, dass mit seinen 113 Jahren sein gesamter Körper ein medizinisches Artefakt war, und dass das Nachwachsenlassen eines verlorenen Glieds zu den einfachsten und ältesten Eingriffen in den menschlichen Körper gehörte. Dennoch war es gruselig, und dabei zuzuschauen erzeugte ein Phantomjucken. Er lenkte sich ab, indem er Genette regelmäßig darüber ausfragte, woran das Interplan-Team gerade arbeitete. Aber wie sehr er sich auch ablenkte, er konnte sich einfach nicht an das Gefühl gewöhnen, das sein neues Bein verursachte.
Raumschiffe aus dem ganzen Sonnensystem kamen auf Charon zusammen, denn hier sammelte die Gruppe der Alexandriner und die Interplan-Agenten, die mit ihnen zusammenarbeiteten, alle festgenommenen Qube-Humanoiden – und damit alle, die ihres Wissens hergestellt worden waren. Alle waren am selben Tag gefangen genommen worden, an dem sie die Anlage in Vinmara geschlossen hatten, die meisten sogar innerhalb derselben Stunde. Beinahe die Hälfte war auf dem Mars ergriffen worden. Die gesamte Operation war mittels persönlicher Kontakte geplant und koordiniert worden, und der genaue Moment der Durchführung war am Tag zuvor mitgeteilt worden, als Genette eine einzige Funkmeldung abgesetzt hatte, eine Aufführung des Jazz-Klassikers »Now’s the Time«. Der Plan war in allen Einzelheiten ohne nennenswerte Pannen durchgeführt worden, obwohl mehr als zweitausend Agenten an der Operation beteiligt gewesen waren und man 410 Humanoide gefangen genommen hatte. Nicht ein einziger hatte erkennen lassen, dass er oder sie etwas von der drohenden Verhaftung gewusst hatte.
Nun plante Genette, all diese Humanoiden ins Exil zu schicken, zusammen mit dem Bowls-Spieler und etwa dreißig anderen Personen, die mit den Qube-Attacken zu tun hatten. Man war übereingekommen, eines der Raumschiffe zu nehmen, die derzeit auf dem Plutomond Nix gebaut wurden. Bei dem Raumschiff handelte es sich genau genommen nur um ein spezialisiertes Terrarium – ein fast völlig in sich geschlossenes biologisches Lebenserhaltungssystem, außerordentlich gut bevorratet und mit extrem leistungsstarkem Antrieb. Es würde nicht etwa als eine Art Gefangenenschiff fungieren, ähnlich wie die, die im Asteroidengürtel kreisten, sondern aus dem Sonnensystem herausgeschossen werden. Das Innere des Terrariums würde man versiegeln und die navigierende KI außerhalb des Innenzylinders unterbringen. Und dann würde es losgehen: Vierhundert Qube-Humanoiden, der Bowls-Spieler und die Gruppe von Menschen, die man der Komplizenschaft bei einer der Attacken für schuldig befunden hatte. Es waren nicht besonders viele, da der Bowls-Spieler bei der Planung und Durchführung seiner Attacken offenbar kaum menschliche Verbündete gebraucht hatte. Also: ins Exil, fort vom Sonnensystem und vom Rest der Menschheit.
»Aber Lakshmi sollte doch wohl auch mit dort drin sein!«, wandte Wahram Genette gegenüber ein.
»Der Meinung bin ich auch, aber wir haben sie nicht zu fassen bekommen. Die Venusianer werden sich um sie kümmern müssen, oder vielleicht können wir ihr hier auf Ceres den Prozess machen und sehen, wie weit wir damit kommen.«
»Aber dieses Exilschiff«, sagte Wahram. »Was ist, wenn die Qubes zu den Kontrollen durchbrechen? Wenn sie umkehren und zu uns zurückkommen, voller Rachedurst und intelligenter denn je?«
»Die Geschwindigkeiten sind zu groß«, sagte Genette leichthin. »Der Treibstoff an Bord wird sich schnell verbrauchen und sie dabei auf eine enorme Geschwindigkeit beschleunigen. Bis sie das Problem des Wiederauftankens bewältigt haben, werden sie eine jahrhundertelange Reise vor sich haben, um zurück ins Sonnensystem zu gelangen. Bis dahin wird die Zivilisation wissen, wie man mit ihnen fertigwird.«
»Wie, meinst du, könnte das gelingen?«
»Ich habe keine Ahnung. Jedenfalls werden wir einen Weg finden müssen, mit den Qubes zurechtzukommen. Daran führt kein Weg vorbei, das Kind ist in den Brunnen gefallen. Ich vermute, dass die Qubes früher oder später einfach zum normalen Leben dazugehören werden, solange sie keine menschlichen Körper bewohnen und solange man verhindert, dass irgendwelche Programmierer sie in die Finger kriegen. Etwa so wie Passepartout jetzt.«
»Oder Swans Pauline?«
»Vielleicht ist es keine so gute Idee, einen Qube im Kopf mit sich herumzutragen«, räumte Genette ein. »Ich frage mich, ob Swan damit einverstanden wäre, ihren in ein Armband wie das von Passepartout zu verlegen.«
Das bezweifelte Wahram, obwohl er sich nicht sicher war, weshalb. Überhaupt wurde er sich immer unsicherer, was Swan betraf.
Wahram wandte sich einer weiteren Frage zu, die ihn beunruhigte. »Ist diese Bestrafung nicht sehr ungewöhnlich und grausam?«
»Ungewöhnlich ist es«, räumte Genette fröhlich ein. »Sogar einzigartig. Aber Grausamkeit ist in diesem Falle relativ.«
»Jemanden in Gesellschaft von Qubes fortzuschicken? Ist das nicht eine Art Isolationshaft, etwas Albtraumhaftes?«
»Das Exil ist nichts Grausames. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Der Verstand ist ein Ort für sich. Theoretisch können sie sich dort drinnen ein sehr hübsches Terrarium einrichten, sich anschließend irgendwo weit weg auf einer leeren Erde ansiedeln und einen ganz neuen Seitenarm der Menschheit ins Leben rufen. Niemand hält sie davon ab. Es ist bloß ein Exil, weiter nichts. Ich bin selbst ein Exilant, und es handelt sich um eine anerkannte Form schwerer, aber nichttödlicher Bestrafung. Immerhin hat dieser Mann dreitausend Menschen getötet, nur um eine Waffe zu testen. Und er hat Quantencomputer programmiert, die daraufhin nicht mehr Gut von Böse unterscheiden können. Er hat ihnen die Fähigkeit gegeben, eigene Absichten zu verfolgen, und das ohne eine vernünftige Einschränkung, und sie sind nun eine Bedrohung, gegen die wir derzeit keine brauchbare Verteidigung haben. Deshalb glaube ich, dass wir, indem wir sie wegschicken, etwas über unseren Umgang mit Qubes signalisieren. Wir schalten sie nicht einfach ab und nehmen sie auseinander, wie manche Leute fordern, sondern schicken die gefährlichen ins Exil, genau wie wir Menschen wegschicken. Für die zurückgelassenen Qubes muss das doch ein gutes Signal sein. Und dann sorgen wir dafür, dass sie in Gehäusen bleiben, wo wir sie unter Kontrolle haben – zumindest hoffe ich, dass wir sie dort unter Kontrolle haben. Vielleicht funktioniert es, vielleicht auch nicht. Aber vor allem hoffe ich, dass wir verhindern können, dass weitere Qubes welcher Art auch immer hergestellt werden, zumindest für eine Weile, und wir uns stattdessen etwas Zeit nehmen, uns genauer anzusehen, was klügere Qubes oder Qubes mit einem eigenen Willen oder Qubes in Menschenkörpern mit sich bringen könnten. Meiner Meinung nach haben wir der Gerechtigkeit Genüge getan und uns ein wenig Zeit erkauft. Deshalb bin ich froh, dass die Plutonier und der Mondragon und alle anderen wichtigen Parteien, einschließlich Shukras, unserer Meinung sind. Swan wird es hoffentlich genauso sehen, wenn sie davon hört, und alle anderen auch.«
»Vielleicht«, sagte Wahram.
Ihm war nach wie vor nicht ganz wohl bei Genettes Lösung. Aber jede andere mögliche Strafe, die ihm einfiel, war entweder zu hart (der Tod für alle Beteiligten) oder zu milde (Wiedereingliederung in die Gesellschaft). Exil – das erste interstellare Schiff als Gefängnis. Tja, im Asteroidengürtel gab es Gefängnisterrarien, die von der Außenwelt abgeschottet waren und in denen Zustände herrschten, die von utopisch bis höllisch reichten. Die Gruppe des Bowls-Spielers und ihre Geschöpfe konnten also aus ihrer Welt machen, was sie wollten. Angeblich. Trotzdem kam es Wahram wie eine Art Hölle vor. Letztlich konnte Jean Genette ebenso unmenschlich sein wie der Bowls-Spieler; von unerschütterlicher Heiterkeit, und dabei undurchschaubar. Auch jetzt hatte Genette diesen typischen Blick, mit dem der Inspektor praktisch jeden bedachte – ob Heiliger, Krimineller, Fremder, Bruder oder Schwester. Es war der immer gleiche, vogelartige Blick, offen wertend, interessiert, bereit, sich überzeugen zu lassen.
Da Wahram weiterhin Bedenken hatte, las er die Akten aller Menschen und Humanoiden, die sich in ihrem Gewahrsam befanden und die beim gegenwärtigen Stand mehrere Tausend Seiten umfassten. Als er fertig war, kehrte er aufgebrachter denn je zu Genette zurück.
»Du hast da etwas übersehen«, sagte er harsch. »Lies die Interviews, dann siehst du, dass es in dem Labor auf Vinmara jemanden gab, der einige dieser Qubanoiden freigesetzt und zu anderen Leuten im Sonnensystem geschickt hat, die dabei geholfen haben, sie zu verstecken. Die, denen Swan in der Inneren Mongolei über den Weg gelaufen ist, und noch mindestens vier weitere – all ihre Berichte ähneln einander. Wer auch immer das getan hat, hat ihnen erzählt, dass sie defekt seien und dass sie sich davonmachen müssten, wenn sie nicht wollten, dass man sie zerlegt. Die Qubes wussten nicht, was sie davon halten sollten, und manche von ihnen verhielten sich seltsam, als sie auf freiem Fuß waren. Vielleicht waren sie defekt, ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln. Wie dem auch sei, diese Person in dem Labor hat sie Lakshmis Zugriff entzogen! Verdient sie also auch das Exil? Und verdienen die schadhaften Qubanoiden, die sich davongemacht haben, das Exil?«
Genette runzelte die Stirn und versprach, dass man sich der Sache annehmen würde.
Das stellte Wahram nicht zufrieden. Zusammen mit Genette und Alex hatte er sich von Anfang an mit dem Problem der seltsamen Qubes befasst, und jetzt hatte er das Gefühl, an den Rand gedrängt zu werden. In seinem Rollstuhl fuhr er zu einem Treffen der Interplan-Ermittler mit anderen Gruppenangehörigen, bei dem die Lage besprochen wurde, und setzte sich erneut für die Unschuldigen ein, die man zusammen mit den anderen festgenommen hatte. Letztlich war die Entscheidung zwar nicht einstimmig, aber es fand sich eine klare Mehrheit dafür, alle Qubanoiden ins Exil zu schicken; den Laborassistenten, der die defekten Qubes freigesetzt hatte, würde man dagegen hierbehalten. Wie sich herausstellte, hatte er die Qubes nicht nur gehen lassen, sondern sie auch fachgerecht aus allen Laboraufzeichnungen gelöscht. Als Genette Wahram davon erzählte, klang es, als sei der Umstand, dass der Assistent die Sache so gewieft bewerkstelligt hatte, ausschlaggebend für die Begnadigung gewesen. Wahram, der nach wie vor ganz und gar nicht zufrieden war, ließ die Sache dennoch auf sich beruhen. Der Laborgehilfe von der Venus, der kaum älter war als der Bowls-Spieler, durfte gehen. Und die armen fehlerhaften Qubes waren unter ihresgleichen vielleicht besser dran.
Als es dann so weit war, saß Wahram im Aussichtszimmer des Interplan-Kreuzers und sah zusammen mit den anderen zu, wie ein Fusionsreaktor aufloderte und Erstes Viertel von Nix seine Reise zu den Sternen antrat. Es sah aus wie ein ganz normales Terrarium, höchstens ein wenig größer. Ein Großteil seiner Masse bestand aus Eis, und von außen ähnelte es einer Eisskulptur, die eine Art großen weißen Delfin darstellte, der vor einem Schwanz aus Licht daherflog.
»Was ist mit den Leuten, die es gebaut haben?«, fragte Wahram. »War das nicht ihr Raumschiff?«
»Wir müssen es ersetzen. Sie beabsichtigen, vier davon als eine Art Flotte loszuschicken, also machen wir ihnen ein weiteres aus Hydra. Wir können auch ein Stück von Charon nehmen, wenn nötig. Sodass sie nach wie vor ihre vier Schiffe haben.«
Wahram ließ nicht locker. »Ich weiß immer noch nicht, was ich davon halten soll.«
Genette schien das nicht weiter zu kümmern. »Etwas Besseres hätten wir nicht tun können, fürchte ich! Es war schwer, all das offline und bei völliger Geheimhaltung zu regeln. Wirklich eine raffinierte kleine Operation, wenn du mich fragst. Erstaunlich, was man mit Papier und synchronisierten Uhren alles hinbekommt. Jeder, der daran beteiligt war, musste absolute Geheimhaltung wahren und den Menschen, die er oder sie in unserem Netzwerk kannte, bedingungslos vertrauen, und zwar in allen Fällen zu Recht, damit die Sache funktionieren konnte. Wenn man darüber nachdenkt, ist das eine ganz schöne Leistung.«
»Stimmt«, sagte Wahram, »aber wird das genügen?«
»Nein. Das Problem bleibt bestehen. Das hier verschafft uns lediglich eine Atempause.«
»Und … du bist dir sicher, dass ihr alle erwischt habt?«
»Ganz und gar nicht. Aber es sieht danach aus, als wäre die Anlage auf der Venus die einzige gewesen, die Qubanoide hergestellt hat, zumindest geht Wangs Qube davon aus. Außerdem wissen wir genug über ihren Energieverbrauch und den Eingang von Rohmaterialien, um abzuschätzen, wie viele sie höchstens angefertigt haben können, und fast so viele haben wir auch. Vielleicht treiben sich dort draußen noch ein oder zwei herum, aber wir glauben, dass es zu wenige sind, um Schaden anzurichten. Vielleicht gibt es noch mehr von den Defekten, die dieser junge Laborgehilfe freigelassen hat. Wie dem auch sei, wir werden versuchen, sie einzufangen, falls sie dort draußen sind.«
Was bedeutet, dachte Wahram, dass es jetzt in diesem Moment irgendwo im Sonnensystem vielleicht Maschinen in Menschenform gab, die sich in den Schutz der Menge geflüchtet hatten und versuchten, sich ihre Freiheit zu bewahren, während ein Röntgenapparat oder ein anderes Überwachungsgerät genügte, um ihre wahre Natur zu enthüllen – im Verborgenen verfolgten sie vielleicht weiter die ihnen einprogrammierten Ziele, oder auch neue, die sie sich nach einem selbst erfundenen Überlebensalgorithmus gesetzt hatten. Fehlerhaft, gefährlich, abgeschnitten von jedem anderen Bewusstsein, einsam und verängstigt – mit anderen Worten, genau wie alle anderen auch.