Titan

Titan ist größer als Pluto, größer als Merkur. Er hat eine Stickstoffatmosphäre, wie die der Erde, aber zehnmal so dicht. Die Oberflächentemperatur liegt bei neunzig Grad Kelvin, aber es gibt ein Meer aus flüssigem Wasser tief unter der Oberfläche, das als potenzielles Wärmereservoir dient. An der Oberfläche ist alles Wasser sehr fest gefroren, die ganze Landschaft besteht aus diesem Wassereis – Gletscher, die sich in alle Richtungen bis zum Horizont erstrecken und aus denen hier und da Felsen herausragen wie Warzen und Karbunkel. Methan und Ethan spielen hier die Rolle, die Wasser auf der Erde hat – in der Stickstoffatmosphäre verwandeln sie sich in schwebenden Dampf, in Wolken, die in Flüsse und Seen abregnen und über das Eis fließen.

Das Sonnenlicht, das auf die Atmosphäre trifft, wirbelt einen gelben Qualm aus komplexen organischen Molekülen auf. Der Wasserstoff in diesem Dunst entweicht leicht ins All, aber solange er sich in der Luft des Titan befindet, reduziert er alle größeren organischen Moleküle wieder auf kleinere Bausteine; deshalb gibt es hier nicht viele komplexe organische Formen und auch kein einheimisches Leben. Nicht einmal im Wassermeer unter der Oberfläche, als hätte die korrodierende Atmosphäre eine Art Quarantäne verhängt.

Die Gletscheroberfläche ist an den meisten Stellen zerklüftet und an einigen wenigen glatt. Wenn man auf ihr steht, kann man den Saturn sehen, der von der messerscharfen Krümmung des nur von der Seite sichtbaren Rings in zwei Hälften zerteilt wird. Auch die helleren Sterne lassen sich erkennen. Der Dunst der Titanluft ist so dicht, dass man zwar recht gut hinausschauen kann, von außen aber nur eine gelbe Wolke sieht.

Keine Aufschlagkrater. Wenn sich welche bilden, dann deckte das Eis sie im Lauf der Jahrhunderte wieder zu. Es gibt nichts als ein kompliziertes, strudelndes Chaos aus gesplittertem Eis und Felsvorsprüngen, die das flüssige Methan zu Wasserscheiden geformt hat. Senken sind mit flüssigem Methan gefüllt: Der Ontario-See des Titan hat einen Durchmesser von dreihundert Kilometern und ist wie sein Gegenstück auf der Erde geformt.

Das Wetter ändert sich jahreszeitlich, während der Saturn von seinem sonnennächsten zum sonnenfernsten Punkt wandert. In der Regenzeit regnet es Methan.

Ursprünglich sind die Menschen wegen des Stickstoffs auf den Titan gekommen. Die Marsianer, unglücklich über den nach wie vor rätselhaften Stickstoffmangel auf ihrem Planeten, flogen mit den ersten Schiffen hinaus, die schnell genug waren, um solche Entfernungen zu überwinden. Natürlich hatten sie Roboter vorausgeschickt. Sie richteten eine Station ein, bauten ein System, um Stickstoff zu sammeln und einzufrieren und es anschließend in großen, unverpackten Blöcken systemabwärts zu schießen. Die Leute beschwerten sich darüber, dass diese Ausbeutung von niemandem autorisiert worden wäre, doch die Marsianer wiesen darauf hin, dass der Titan in ferner Vergangenheit eine Atmosphäre gehabt hatte, die um ein Vielfaches dichter gewesen war als die derzeitige, und dass der Stickstoff einfach ins All entwiche und niemand etwas davon hätte, wenn man ihn nicht abernte – und Titanen gab es nicht auf dem Titan. Das letztgenannte Argument war ausschlaggebend. Als es dann schließlich Titanen gab und als der Titan und der Rest der Saturn-Liga die marsianischen Stickstoffsammler ihres Systems verwiesen hatten, war die Atmosphäre des Titan bereits um die Hälfte reduziert. Der Mars war entsprechend stickstoffreicher, wobei ein Teil in den marsianischen Boden gewandert war und ein Teil in die Atmosphäre; der Stickstoff war einer der Faktoren, die das Marsianische Wunder ermöglichten. Und die Marsianer behaupteten, dass sie niemandem geschadet hätten; dass sie die Zukunftsaussichten des Titan sogar verbessert hätten, indem sie die Druckverhältnisse menschenfreundlicher gestaltet hätten.

Der Verlust von Dione im selben Jahr war jedoch keiner, von dem sich behaupten ließ, dass den Saturnianern dadurch irgendwie geholfen gewesen wäre. Im Anschluss an den Vorfall erklärte die Saturn-Liga, dass die Marsianer keinen Zutritt mehr zu ihrem System hätten, ebenso wenig die Terraner (insbesondere die Chinesen) – dass genau genommen niemand außer den Saturnianern selbst hier willkommen sei. Es handelte sich um die erste post-marsianische Revolution, die sich gegen die großen Revolutionäre selbst richtete und der mit der Drohung eines Bombardements Nachdruck verliehen wurde. Einmal mehr änderte sich alles, aufgrund einiger weniger Menschen auf dem Titan.

Das neue Licht von den Vulkanoiden, das nun am Himmel des Titan funkelte, hatte bereits begonnen, die verbleibende Atmosphäre aufzuheizen, weshalb die Oberfläche schneller sublimierte als zuvor. Die Stadtzelte in den Hochlanden erlebten einige der heftigsten Stürme überhaupt. Aus dem Innern der Zelte schauten die Titanen dabei zu, wie die Wolken sich bis zu einer Höhe von fünf Kilometern auftürmten, wo schnelle Luftströmungen sie kappten. Zuvor hatte die Menge an Sonnenlicht, die den Titan erreichte, einem Hundertstel von dem auf der Erde entsprochen, wodurch der ganze Mond etwa so gut ausgeleuchtet war wie ein normales Wohnzimmer; jetzt, wo so viel reflektiertes und herübergesandtes Licht hinzukam, war der Titan fünfzigmal so hell wie zuvor, und die Lichtverhältnisse ähnelten anscheinend denen auf dem Mars, die nach Meinung der Marsianer ideal waren. Eigentlich konnte sich das menschliche Auge auf höchst unterschiedliche Lichtstärken einstellen, schon sehr wenig Licht genügte, um sehen zu können – wie es vor dem Eintreffen des gespiegelten Lichts auf dem Titan der Fall gewesen war. Doch jetzt schien die titanische Landschaft förmlich zu erstrahlen, und da sowohl die Umlaufbahn um den Saturn als auch die Eigenrotation des Titan eine Länge von sechzehn Tagen hatte, erfüllten die Sonnenuntergänge den Himmel manchmal für bis zu achtzehn Stunden und tränkten die Wolken in allen nur denkbaren Farben.

Sie konnten das Methan und Ethan einfangen und exportieren; aus geschäumtem Gestein Inseln auf dem Eis errichten; die Atmosphäre mithilfe der Wärme des Ozeans unter der Eisschicht erhitzen; Eis schmelzen und damit Seen auf ihren Inseln aus Stein und Erde etablieren; die Landschaft auf den Inseln gestalten, Bakterien, Pflanzen und Tiere einführen; die Luft so weit erwärmen, dass geschmolzene Seen auf den Gletscherflächen entstehen würden; die Atmosphäre in einer superdünnen Blase einfangen; und all das mit dem Sonnenlicht erhellen, das man ihnen von den Vulkanoiden schickte. Gespannt und voller Erwartungen spähten die Titanen in ihren Zelten nach draußen. Nicht übel, sagten sie. Wenn wir nur die Nerven behalten, dann können wir hier wirklich ein hübsches Plätzchen draus machen.

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