Wahram und Swan

Obwohl es sich bei ihnen zweifellos lediglich um die technische Lösung für ein technisches Problem handelte, waren die Startschleudern des Merkur auch in ästhetischer Hinsicht interessant. Der Tunnel einer Magnetschwebebahn war zu einem Kegel gekrümmt, der auf der Spitze stand und nach oben breiter wurde. Die Kegelspitze war an einer Plattform befestigt, die sich auf einer Kreisbahn bewegte, der Durchmesser des Kreises entsprach in etwa der größten Breite des Kegels. Diese Drehung verstärkte sehr effektiv die Beschleunigung der Magnetschwebe-Fähren, während sie in die Höhe geschleudert wurden. Also saßen sie seitlich zum Boden in ihrer Fähre, aber während sie herumwirbelte, wanderte der Boden des Gefährts spürbar nach unten, ehe sie mit schwindelerregender Geschwindigkeit ins All geschossen wurden, so schnell, dass sie im selben Moment, in dem sie den Tunnel verließen, zu Holzkohle verbrannt wären, hätte es draußen eine Atmosphäre gegeben. Wenn man den Vorgang vom Raumhafen aus beobachtete, erinnerte er an eine Art Achterbahnfahrt auf einem Jahrmarkt aus alter Zeit. Im Innern der Fähre erlebte man deutliche Beschleunigungskräfte, die beinahe das bei Passagierreisen zulässige Maximum von 3,5 g erreichten.

Swan Er Hong hatte sich, kurz bevor sie abhob, im Sitz neben Wahram angeschnallt, und entschuldigend das Gesicht verzogen, um sich für ihre unvermeidliche Verspätung zu entschuldigen. Jetzt beugte sie sich zu ihm hinüber, um aus dem kleinen Fenster auf die rasch zurückfallende Kraterlandschaft ihrer Heimatwelt zu schauen. Schnell verwandelte sich das Land von einer Ebene zu einer Kugel, die aus einer dünnen, in Sonnenlicht gebadeten Sichel und einer geschwollenen schwarzen Nachtseite bestand. Der Merkur war ein interessanter Ort, aber Wahram hatte nichts dagegen, ihn zu verlassen. Obwohl die Einheimischen sich alle Mühe gaben, sie mit Kunst etwas reizvoller zu gestalten, war seine Oberfläche eine verkohlte Schlackewüste. Und wenn er ehrlich war, hatte ihn während seines Aufenthalts in dieser erstaunlichen fahrenden Stadt das plötzliche Aufblitzen auf westlich gelegenen Erhebungen immer wieder an die Sonne erinnert, die sie unerbittlich verfolgte und ständig kurz davor stand, den Horizont zu zerfetzen und alles in Schutt und Asche zu legen.

Ihre Fähre war zum Terrarium Alfred Wegener unterwegs, das sich so schnell bewegte, dass sie eine weitere Beschleunigungsphase bei 3 g durchlaufen mussten, um es einzuholen. Währenddessen stellte Wahram seinen Sitz zum Bett um und ließ die Andruckkräfte über sich ergehen wie alle anderen auch. Gegenüber stöhnte Swan und krümmte sich auf ihrer Liege zusammen. Wahram zwang sich, nicht an die Studien über die Auswirkungen von G-Kräften auf das menschliche Gehirn nachzudenken – dieses empfindliche Organ, das ungepolstert in seinem harten Gefängnis lag. Dann fing das Wegener-Terrarium sie ein, zog sie an sich und gab ihnen noch einen weiteren Schub, als wollte es ihn an seine Sorgen erinnern.

Anschließend mussten Wahram und die anderen Passagiere sich in der plötzlichen Schwerelosigkeit zurechtfinden und sich von der Fähre ins Dock des Terrariums hangeln, schließlich ging es durch den Flaschenhals und eine breite, gepolsterte Treppe zum Zylinderboden hinunter.

Das Innere von Wegener hatte beträchtliche Ausmaße. Das Terrarium war etwa zwanzig Kilometer lang und hatte einen Durchmesser von fünf Kilometern, und durch die Drehung wurde ein G-Äquivalent erzeugt. Der Großteil des Innenraums war ein Naturpark, mit einigen kleinen Ortschaften dazwischen, die größtenteils in Bug- und Hecknähe lagen. Die Mischung aus Savanne und Pampa war sehr schön anzusehen, dachte Wahram, während sie sich dem ersten Dorf näherten und dabei zum Land über ihren Köpfen aufblickten. Präriegras und Waldstückchen wölbten sich über ihnen wie die Kuppel einer gigantischen Sixtinischen Kapelle, in die Michelangelo das Bild eines denkbaren Gartens Eden gemalt hatte – eine Savanne, die erste Lebenswelt des Menschen, die etwas Tiefliegendes ansprach. Allerdings erzeugte die Topologie der Terrarien bei Wahram immer das Gefühl, sich in der Röhre einer aufgerollten Landschaft zu befinden. Wenn man an dem Längengrad entlangschaute, auf dem man sich befand, sah das Land immer wie ein gestrecktes, u-förmiges Tal aus, wobei weiter entferntere, höhere Bäume die näheren überragten und sich in einer immer steiler werdenden Krümmung dem Talboden entgegenneigten, bis die Seitenwände schließlich vertikal standen wie in manchen großen Glazialtälern – doch die Wände ragten noch weiter empor, bogen sich einwärts und brachen die Vertikalität auf eine unverkennbare Art und Weise auf. Ab diesem Punkt befand sich die Landschaft über einem und stand schlicht und einfach auf dem Kopf. Wie zum Beispiel in diesem Moment, als er hinter einer Wolke einen Vogelschwarm von oben sehen konnte, der über einen direkt überkopfhängenden See hinwegflog.

Wahram quartierte sich in einem kleinen Saturn-Gästehaus ein, das sich im nächstgelegenen Ort mit Namen Plum Lake befand. Im Erdgeschoss gab es ein kleines Restaurant, also meldete er sich zum Küchendienst (er mochte diese einfachen Arbeiten), und nachdem er geduscht hatte, machte er einen Spaziergang durch den Ort. Es war ein hübsches Städtchen, am See gelegen und mit einer Anhöhe in der Nähe und einer Tramstation am östlichen Ortsrand. Von dort aus fuhren Bahnen durch das Parkgelände zu anderen Städten. Der Hauptplatz in der Mitte war voller Venusianer, die sich wahrscheinlich auf dem Heimweg befanden: hauptsächlich große, breitschultrige junge Chinesen mit durchdringenden Augen und breitem Lächeln. Bei ihrer gefährlichen Arbeit auf der Venus standen sie hüfttief im Trockeneis. Zu Hause auf dem Titan verrichtete Wahram eine ähnliche Art von Arbeit, aber der Titan hatte nur 0,14 g, was ihm bei kleinen Missgeschicken oft das Leben gerettet hatte. Venus mit seinen 0,9 g schien im Vergleich höchst gefährlich..

Am Stadtrand stieß er auf eine Baumreihe und einen Zaun. Er meldete sich bei einem kleinen Laden an und las auf einer Plakette, dass seine neue Bekanntschaft Swan Er Hong das hiesige Biom vor etwa siebzig Jahren gestaltet hatte. Das war eine Überraschung: Er hatte gehört, dass sie früher Biome entwickelt hatte, aber bei ihrer Ankunft hatte sie keinerlei Interesse an Wegener gezeigt.

Wahram holte eine von mehreren kleinen Betäubungspistolen aus einer Schachtel, steckte sie sich in die Manteltasche und ging durch das Tor in den Park. Er wanderte schräg die Bodenkrümmung hinauf. Das Erdreich bestand aus schwerem, schwarzem Löss, teils tansanischen und teils argentinischen Ursprungs, wie er bei dem Laden gelesen hatte. Ein Wäldchen breitkroniger Akazien wies Schäden von Elefanten auf, die ihre Stoßzähne an den Stämmen gerieben hatten. Die Baumspitzen, die sich direkt überkopf befanden, sahen aus wie runde Flechtengewächse. Hohe Grasbüschel versperrten ihm die Sicht auf seine unmittelbare Umgebung; dort, wo der Park sich hinter den nahen Baumwipfeln krümmte, war mehr zu erkennen. Links oben, oberhalb der Bäume, befand sich eine kleine Felsformation, die ihm ein guter Aussichtspunkt schien. Auf diesen Gedanken mochte allerdings auch ein Puma oder eine Hyäne kommen, also näherte er sich den Felsen wachsam. Die meisten Tiere nahmen sich vor Menschen in Acht, aber er wollte keines erschrecken. Man braucht keine Gefahr, um Aufregung zu erleben, hatte seine Mutter immer zu ihm gesagt. Das wäre dekadent, und Dekadenz kann ich nicht leiden! Seine restlichen Eltern waren weniger selbstgerecht gewesen. Vielleicht lag das daran, dass sie alle um den Saturn lebten und ihre Vorstellung von Gefahr deshalb eine gewisse Schieflage aufwies. Aber seine Mutter hatte sich klar ausgedrückt, und Wahram war nicht dekadent. Das Neue konnte ihn immer wieder aufrütteln, und auch jetzt pochte sein Herz ein wenig schneller.

Doch der Felsvorsprung war leer. Auf den Steinen wuchsen echte Flechten. Es sah aus, als seien sie mit einer Schicht Halbedelsteine bestreut, in Gelb und Rot und Blassgrün. Er kauerte sich in eine Spalte und schaute sich um.

Er sah eine Gepardin mit zwei Jungen zwischen den Grasbüscheln unter ihm. Die Aufmerksamkeit der Mutter war auf einige Kamphirsche gerichtet, die nicht weit von ihnen grasten. Wahram fragte sich, welchen Reim Kamphirsche sich auf Geparden machten – ob es in Südamerika wohl ein ähnlich schnelles Raubtier gab? Das erschien ihm unwahrscheinlich.

Er schätzte sich glücklich, einen wachen Geparden zu sehen, denn normalerweise schienen diese Tiere zu schlafen. Es sah aus, als versuchte diese Mutter, ihren Jungen das Jagen beizubringen. Sie drückte eines mit der Pfote herunter, damit es flach auf dem Boden lag. Der Chiralwind rauschte von links herab, sodass er auf der windabgewandten Seite der Raubkatzen saß; sie würden ihn nicht riechen. Zumindest machte es den Eindruck, obwohl die Sinne vieler Tiere genau genommen so scharf waren, dass Menschen im Vergleich taub und blind wirkten.

Er ließ sich nieder, um zuzusehen. Die Jungen, deren Fell noch scheckig war, wirkten verwirrt, als begriffen sie nicht, dass man ihnen etwas beibringen wollte. Sie kämpften miteinander und wollten wahrscheinlich viel lieber spielen. Der Zeitraum, in dem das Gehirn am stärksten wuchs, war auch der Zeitraum der größten Verspieltheit.

Auch die Geparden befanden sich auf der windabgewandten Seite der Hirsche, die kein bisschen beunruhigt wirkten, sich ihnen sogar näherten. Die Geparden-Mutter kauerte sich ins Gras, und nun taten ihre Jungen es ihr mit nervös zuckenden Schwänzen nach.

Dann schnellte die Mutter in einem Wirbel von Grashalmen los, und die Jungen setzten ihr hinterher. Die Hirsche stoben in weiten, hohen Sätzen auseinander und ließen die Geparden in einer Staubwolke zurück; doch dann mussten die Hirsche ein Baumgrüppchen umrunden, und die Gepardin erwischte das letzte Tier der Gruppe und riss es zu Boden. Die beiden verwandelten sich in ein Fellknäuel, bei dem die Gepardin schließlich oben lag, die Zähne fest in die Wirbelsäule des Hirschs geschlagen. Der Hirsch bäumte sich noch einmal kurz auf, dann lag er still. Der Anblick des roten Bluts war wie immer ein leiser Schock. Die Jungen kamen nach, und Wahram fragte sich, ob sie bei der Lektion etwas gelernt hatten, außer dass sie erwachsen werden und schnell rennen mussten.

Er stellte fest, dass er aufgestanden war. Im nächsten Moment sah er links von sich eine Bewegung und erkannte, dass es sich um einen Menschen handelte: Swan. Überrascht winkte er ihr zu, und sie hob das Kinn, während sie der Gepardin weiter beim Töten zusah. Nun zeigte die Mutter ihren Kätzchen, wie man einen Hirsch frisst. Nicht, dass sie dafür viel Anleitung benötigt hätten. Wahram beobachtete die Szene. Der erleuchtete Bereich des Sonnenstreifens befand sich derzeit weit vorne im Bug des Terrariums, das Licht fiel schräg ein und hatte eine Sonnenuntergangsfärbung. Die Grasbüschel wiegten sich im Wind. Es kam ihm vor, als habe er an etwas Uraltem teil.

Swan kam zu ihm herüber und stieg auf die Felsformation. Es war ihm unangenehm, dass man ihn hier allein antraf, was nicht in allen Parks legal war und im Allgemeinen als unvernünftig galt. Andererseits war sie schließlich auch allein.

Er nickte ihr zur Begrüßung zu, förmlich, aber nicht unfreundlich. »Man hat nur selten das Glück, so etwas zu beobachten«, bemerkte er, als sie sich näherte.

»Ja«, sagte sie. »Sind Sie allein hier?«

»Das bin ich. Und Sie?«

»Ja, allein.« Sie beäugte ihn neugierig. »Ich muss gestehen, dass es mich überrascht, Sie hier anzutreffen. Ich wusste nicht, dass Ihnen so etwas gefällt.«

»Auf dem Merkur gab es kaum eine Gelegenheit, das herausfinden.«

Sie deutete auf die Raubkatzen. »Machen Sie sich keine Sorgen?«

»Meiner Erfahrung nach haben sie Angst vor Menschen.«

»Aber wenn sie Hunger haben?«

»Den haben sie nie, das ist es ja. Es gibt so viel leichte Beute.«

»Das ist wahr. Aber wenn sie noch nie zuvor einem Menschen begegnet sind, würden sie Sie einfach für eine Art Schimpansen halten. Sicherlich sehr schmackhaft. Eine Delikatesse. Man hört, dass so etwas vorkommt. Sie haben es nie erlebt, gejagt zu werden.«

»Mir ist bewusst, dass wir für sie zu Beute werden könnten«, sagte Wahram. »Für den Fall habe ich eine kleine Betäubungspistole dabei. Sie nicht?«

»Nein, ich nicht«, gab sie nach kurzem Zögern zu. »Ich meine, manchmal habe ich eine dabei, aber in erster Linie, um nicht die Nacht im Gefängnis zu verbringen.«

»Allerdings.«

Sie legte den Kopf schief, als lauschte sie einer Stimme in ihrem Ohr. Ihr Qube war implantiert. Alex hatte ihm davon erzählt, damals, als die Idee gerade in Mode war. »Wo wir gerade beim Thema Essen sind«, sagte sie, »wollen wir uns etwas holen?«

»Mit Vergnügen.«

Sie kehrten zum Außenzaun zurück. Bei dem Häuschen hatte sich inzwischen eine kleine Gruppe eingefunden. Als die Leute Swan sahen, drängten sie sich um sie und begrüßten sie fröhlich. »Wie finden Sie es?«, fragten sie. »Wie gefällt es Ihnen, nun, wo alles erwachsen geworden ist?«

»Es sieht gut aus«, sagte sie ermutigend. »Wir haben gesehen, wie ein Gepard einen Kamphirsch erlegt. Ich hatte ein bisschen den Eindruck, dass es zu viel Wild gibt, wie kommt das?«

Einer aus der Gruppe sagte, dass es so viel Wild gäbe, weil die Zahl der Raubkatzen noch sehr gering sei, und Swan stellte noch einige weitere Fragen darüber. Soweit Wahram es mitbekam, entwickelten die Raub- und Beutetierpopulationen sich in einem gemeinsamen Sinuskurvenmuster, wobei die Raubtierkurve etwa einen Viertelzyklus nach der Beutetierkurve anstieg; es gab noch weitere Faktoren, die die Sache verkomplizierten, doch Wahram konnte dem Gespräch nicht mehr folgen.

Als Swan ihre Unterhaltung beendet hatte, ging sie mit ihm auf der Straße zurück Richtung Ortschaft.

»Die wussten also, dass Sie dieses Terrarium entwickelt haben«, sagte Wahram, während sie unterwegs waren.

»Ja. Es wundert mich, dass es noch jemand weiß. Ich erinnere mich selbst kaum daran.«

»Sie waren also Ökologin?«

»Ich war Designerin. Das ist lange her. Um ehrlich zu sein, viel von dem, was ich damals gemacht habe, mag ich nicht mehr besonders. Diese Ascensions sind einfach zu viel. Eigentlich müssten alle Terrarien dazu dienen, Arten von der Erde zu bewahren. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Aber den Leuten, die hier leben, würde ich das nicht sagen. Sie sind von der Sache überzeugt, und es ist ihr Zuhause.«

Sie wanderten mehrere Grade an der Zylinderkrümmung empor. Eine Wolke, die während des Sonnenuntergangs das Land über ihnen wie ein orangefarbener Schal umschmiegt hatte, war zu ihnen herübergezogen und umgab sie nun als diffuser Nebel. Im dunstigen Zwielicht verloren sich die Schatten, und das Land über ihren Köpfen geriet außer Sicht. Die wenigen Lichter, die von der anderen Seite herüberschienen, sahen aus wie verschwommene Sterne. Es war, als wäre die Welt eine andere geworden, eine Außen- statt einer Innenwelt.

Wahram erklärte, dass er sich zum Tellerspülen im Saturn-Restaurant gemeldet hatte, also kehrten sie zum Gästehaus in Plum Lake zurück und aßen dort. Swan hatte sich für keine Arbeit gemeldet. Das tat sie selten, erklärte sie. Während sie dort saßen, wurde Swan zunehmend schweigsam und gedankenverloren. Sie sah aus dem Fenster, ließ den Blick durch den Raum schweifen und bewegte sich dabei immer ein kleines bisschen, indem sie mit dem Fuß auf Boden klopfte oder die Fingerspitzen aneinanderrieb. Beim Essen sprach sie kein einziges Wort mehr. Zweifellos trauerte sie noch immer um Alex. Wahram, dem der Gedanke an ihren Verlust gelegentlich selbst einen Stich versetzte, blieb nichts anderes übrig, als schweigend mitzufühlen. Doch dann legte sie den Kopf auf die Seite und sagte: »Hör auf, mich vollzulabern, ich will nichts mehr von dir hören.«

»Wie bitte?«, fragte Wahram.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe mit meinem Qube geredet.«

»Kannst du ihn auch laut reden lassen?«

»Natürlich«, sagte Swan. »Pauline, du kannst laut reden.«

Eine Stimme aus Swans rechter Kopfhälfte sagte: »Ich bin Pauline, Swans treuer Quantencomputer.« Die Stimme klang wie die von Swan, allerdings war sie ein wenig gedämpft, da sie aus Lautsprechern unter ihrer Haut kam.

Swan zog eine Grimasse und fing an, sich Suppe in den Mund zu löffeln. Verblüfft konzentrierte auch Wahram sich aufs Essen. Dann blaffte Swan: »Dann rede halt mit ihm!«

Die Stimme aus ihrem Kopf sagte: »Ich habe gehört, dass Sie zum Jupiter-System unterwegs sind.«

»Ja«, antwortete Wahram misstrauisch. Er fühlte sich unbehaglich bei der Vorstellung, dass Swan ihre Qube beauftragt hatte, an ihrer Stelle mit ihm zu reden. Aber er war sich nicht sicher, ob es das war, was hier vorging.

»Was für eine Art von künstlicher Intelligenz bist du?«, fragte er.

»Ich bin ein Quantencomputer, Modell Ceres 2196a.«

»Ich verstehe.«

»Sie ist einer der ersten und schlechtesten Qubes«, erklärte Swan. »Ziemlich zurückgeblieben.«

Wahram grübelte darüber nach. Zu fragen Wie klug bist du? war wohl niemals besonders höflich. Außerdem war niemand besonders gut darin, sich selbst in dieser Beziehung einzuschätzen. »Worüber denkst du gerne nach?«, fragte er stattdessen.

Pauline sagte: »Ich bin auf informative Konversation ausgelegt, aber normalerweise bestehe ich keinen Turing-Test. Möchten Sie gerne Schach spielen?«

Er lachte. »Nein.«

Swan schaute aus dem Fenster. Wahram betrachtete sie einen Moment und konzentrierte sich dann wieder auf sein Essen. Er brauchte eine Menge Reis, um das scharfe Chili auf seinem Teller zu verdünnen.

Verbittert murmelte Swan vor sich hin: »Immer musst du dich einmischen, immer musst du reden, immer musst du so tun, als wäre alles ganz normal.«

Die Qube-Stimme sagte: »Die Anapher ist eines der schwächsten rhetorischen Mittel, eigentlich handelt es sich um bloße Redundanz.«

»Du beschwerst dich bei mir über Redundanz? Wie oft hast du diesen Satz schon zergliedert, zehn Billionen Mal?«

»So viele Male waren nicht nötig.«

Stille. Keiner von beiden schien noch etwas zu sagen zu haben.

»Beschäftigst du dich mit Rhetorik?«, erkundigte sich Wahram.

Die Qube-Stimme sagte: »Ja, es handelt sich um ein nützliches Analysewerkzeug.«

»Gib mir doch bitte mal ein Beispiel.«

»Wenn man die Begriffe Exergasia, Synathroesmus und Incrementum aufzählt, dann liefert man meines Erachtens nach ein Beispiel für alle drei Techniken in diesem einen Satz.«

Swan schnaubte. »Und zwar, Sokrates?«

»Exergasia bezeichnet die Verwendung verschiedener Umschreibungen für denselben Gedanken, Synathroesmus bezeichnet Verstärkung durch Aufzählung und Incrementum bezeichnet die Anhäufung von Einzelargumenten für eine Aussage. Indem man sie also aufzählt, tut man alles drei, nicht wahr?«

»Und auf welche Aussage zielst du mit deiner Anhäufung von Einzelargumenten ab?«, fragte Swan.

»Auf die, dass ich dich mit der Vermutung, dass du mehrere verschiedene Techniken benutzt hättest, überschätzt habe und dir in Wirklichkeit nur die eine Methode zur Verfügung steht, da die Unterscheidungen zwischen diesen Techniken keine sind.«

»Haha«, sagte Swan sarkastisch.

Wahram konnte sich gerade noch das Lachen verkneifen.

Der Qube fuhr fort: »Man könnte außerdem behaupten, dass das klassische System der Rhetorik eine falsche Taxonomie darstellt, eine Art Fetischismus …«

»Es reicht!«

Eine gedehnte Stille folgte.

»Ich gehe in der Küche helfen«, sagte Wahram und stand auf.

Nach einer Weile kam sie ihm hinterher, räumte die Geschirrspülmaschinen neben dem Fenster aus und schaute in den Nebel hinaus. Dann goss sie sich ein Glas aus einer herumstehenden Flasche Wein ein. Das nasse Geklapper der Küchenarbeit war ihm seit jeher wie eine Art von Musik vorgekommen.

»Sag etwas!«, befahl sie schließlich.

»Ich denke gerade an diese Geparden«, sagte er aufgeschreckt. Er hoffte, dass sie ihn gemeint hatte, obwohl sich sonst niemand im Raum befand. »Hast du viel von ihnen mitbekommen?«

Keine Antwort. Sie gingen raus und wischten die Tische ab, was ein Weilchen dauerte. Swan brummte vor sich hin; es klang, als stritte sie sich erneut mit ihrem Qube. Einmal stieß sie mit Wahram zusammen und sagte: »Jetzt mach schon hin! Warum bist du so langsam?«

»Warum bist du so schnell?«

Natürlich handelte es sich bei dieser nervösen Hektik um eine berüchtigte Charaktereigenschaft der meisten Qube-Köpfe; aber das durfte man nicht laut sagen, und außerdem schien es bei ihr schlimmer zu sein als üblich. Vielleicht machte ihr ihr Kummer immer noch zu schaffen und sie brauchte eine Auszeit. Jedenfalls antwortete sie ihm nicht, sondern schmiss einfach ihre Schürze beiseite und ging in den Nebel hinaus. Er trat an die Tür und schaute ihr nach. Mit einem Mal bog sie in Richtung eines Feuers auf dem Marktplatz ab, um das Menschen herumtanzten. Als sie nur noch ein Schattenriss vor den Flammen war, konnte er beobachten, wie sie sich in den Tanz einreihte.

Gewohnheiten bilden sich schon ab der ersten Wiederholung. Mit ihr entsteht fast zwangsläufig ein Hang zur weiteren Wiederholung, weil es sich bei den Mustern, um die es geht, um Verteidigungsmechanismen handelt, Bollwerke gegen Zeit und Verzweiflung.

Wahram war sich dessen nur zu bewusst und hatte diesen Vorgang schon oft durchlebt; deshalb achtete er darauf, wie er sich auf Reisen verhielt, und suchte dabei nach jenen ersten Wiederholungen, die das Muster eines ganz bestimmten Lebensabschnitts hervorbringen würden. Allzu oft war das erste Mal, dass man etwas tat, von äußeren Umständen bestimmt, ein Versehen, das nicht unbedingt eine gute Grundlage für zukünftige Gewohnheiten darstellte. Man musste also die Augen offen halten und verschiedene Möglichkeiten antesten. Genau genommen handelte es sich um ein Interregnum, in dem man das Blätterkleid alter Gewohnheiten abwarf und nackt dastand, die Zeit, in der man ziellos umherstreifte und nach dem Zufallsprinzip handelte. Die Zeit ohne Haut, der Rohdaten, des In-der-Welt-Seins.

Für seinen Geschmack kamen diese Momente etwas zu oft. Die meisten Terrarien, die Passagierflüge durchs Sonnensystem anboten, waren extrem schnell, aber trotzdem dauerte eine Reise oft Wochen. Das war einfach eine zu lange Zeit, um sich bloß ziellos treiben zu lassen; wenn man das tat, konnte man leicht völlig teilnahmslos werden oder in eine andere Art von geistigem Winterschlaf verfallen. In den Siedlungen um den Saturn entwickelten die Leute aus so etwas sogar ganze Wissenschafts- und Kunstformen. Doch für Wahram war jede derartige hebephrene Schizophrenie gefährlich, wie er vor langer Zeit schmerzlich hatte erfahren müssen. Zu oft schon hatte bei ihm die Sinnlosigkeit an seiner Existenz genagt. Er brauchte Ordnung und ein Projekt; er brauchte Gewohnheiten. In der Nacktheit der abgeschüttelten Muster schwang in der Intensität des Erlebens auch ein leichtes Grauen mit – die Furcht, dass kein neuer Sinn anstelle des alten, nun verlorenen erblühen würde.

Natürlich wiederholte sich eigentlich nichts wirklich; das war schon seit den Vorsokratikern klar, seit Heraklit und seinem Fluss, in den man nicht zweimal steigen kann und so weiter. Gewohnheiten waren also nicht iterativ, sondern bloß pseudoiterativ. Mit anderen Worten, die Tagesabläufe mochten einander gleichen, aber die Einzelereignisse, die das Muster ausfüllten, waren jedes Mal ein wenig anders. Deshalb gab es sowohl Regelmäßigkeit als auch Überraschendes, und genauso wünschte Wahram es sich: Er wollte ein pseudoiteratives Leben. Aber es sollte auch ein gutes pseudoiteratives Leben sein, ein interessantes, und das Muster, nach dem es verlief, sollte wie ein kleines Kunstwerk sein. Ganz egal, wie kurz ein Ausflug und wie langweilig das Terrarium und seine Bewohner waren, kam es ihm darauf an, ein Muster und ein Projekt zu entwickeln und dieses mit all seiner Willens- und Vorstellungskraft zu verfolgen. Letztlich lief es darauf hinaus, dass alles Leben an Bord von Raumschiffen Stillstand war. Man musste jeden einzelnen Tag beim Schopf ergreifen.

Am nächsten Morgen verließ er nach dem Frühstück also das Saturn-Haus und ging erneut zum Park. Bei dem Häuschen schloss er sich einer Gruppe an, die einer kleinen Elefantenherde folgen würde. Nach einer Weile gesellte sich auch Swan zu ihnen. Sie war offenbar schon vorher weiter in den Park vorgedrungen und kehrte jetzt ein wenig erhitzt, als wäre sie gerannt, zu ihnen zurück. Die Gruppe hatte ein Gerät dabei, mit dem man die unterhalb der Hörschwelle liegenden Laute, die die Elefanten von sich gaben, in den für Menschen hörbaren Bereich verschieben konnte. Während Swan den Gesprächen oder Gesängen der Tiere lauschte, runzelte sie die Stirn, als würde sie ihre Sprache verstehen. Als die Elefanten schließlich verstummten, bat sie den Zoologen, der die Gruppe anführte, um eine Erklärung dafür, dass sich die Dämmerung am Abend zuvor so lange hingezogen hatte. Wahram begriff schnell, dass ein äquatoriales Biom wie dieses eigentlich eine sehr kurze Dämmerung hätte haben sollen, da die Sonne in den vergleichbaren Regionen der Erde unabhängig von der Jahreszeit beinahe lotrecht hinter dem Horizont versank. Überrascht, dass Swan das aufgefallen war, meinte der Zoologe offenbar, sich rechtfertigen zu müssen. Er erklärte, dass es sich um ein Experiment handelte – dass man das entsprechend dem 23. irdischen Breitengrad eingestellt hätte, da auf der nördlichen Erdhalbkugel große Bereiche um diesen Breitengrad mittlerweile so heiß waren wie die Äquatorzone vor der globalen Erwärmung. Wälder verwandelten sich in Grasland und weite Bereiche versteppten, weshalb die Bewegung für Migrationshilfe die Möglichkeit untersuchte, Populationen aus semiariden tropischen Regionen wie dieser auf solche Breitengrade zu verpflanzen. In der Hoffnung, der Bewegung erstes Datenmaterial verschaffen zu können, hatte man die Einstellung des Sonnenstreifens in Wegener entsprechend angepasst.

Swan schien nicht besonders zufrieden mit dieser Erklärung, und kurz darauf zog sie wieder alleine los, ohne die enttäuschte Miene des Zoologen und die Missbilligung einiger der anderen Besucher zu beachten. Später am selben Abend sah Wahram sie in seinem Restaurant; da auch sie viel reiste, praktizierte sie wahrscheinlich auch eine Form des Pseudoiterativs; das war ein ganz natürlicher menschlicher Drang. Wahram aß am Nachbartisch und ging anschließend Geschirrspülen, doch obwohl er ihr höflich zunickte, sprach sie kein Wort. Als er in der Küche fertig war und wieder rausging, um noch etwas zu trinken, war sie fort. Am anderen Ende der Straße brannte wieder das Freudenfeuer, und die Tänzer tanzten.

Der zweite Tag beinhaltete also einige Elemente neuer Gewohnheiten; doch am Tag darauf flog Wegener dicht an der Venus vorbei und benutzte sie als Gravitationsanker, um sich schneller in Richtung Jupiter zu katapultieren. Wahram fuhr mit der Tram Richtung Bug und zog sich an Handsprossen durch einen Gang, in dem praktisch Schwerelosigkeit herrschte, in den Aussichtsraum, der wie eine Blase am vorderen Ende des Asteroiden hing. In diesem Raum konnte man jederzeit das halbkugelförmige Sternenpanorama betrachten, das sich über einem erstreckte – und dort, sichtlich größer werdend, hing die Venus vor ihnen. Wahram, der zu Hause eine Menge Zeit in Mikrogravitationen wie dieser verbrachte, hielt sich ohne Schwierigkeiten mit nur einer Hand in einer Halteschlaufe im Gleichgewicht. Er konnte es kaum erwarten zuzusehen, wie der zweite Planet unter ihnen vorbeiziehen würde. Kurz vor dem letzten Stück ihrer Annäherung kam Swan herein, wie immer spät und in Eile.

Die Atmosphäre der Venus war im Vergleich zum ursprünglichen Zustand so ausgedünnt, dass sie nun durchsichtig war, und obwohl der gesamte Planet im Schatten eines Sonnenschilds lag, weshalb auf ihm permanent Nacht herrschte, konnte man die blassweißen Trockeneismeere und den schwarzen Fels der beiden Kontinente sehen, die mit Maschinen und Gebläsen teilweise freigelegt worden waren. Wolkenmuster, wie man sie von der Erde oder vom Mars kannte, wirbelten über verschneiten Ebenen und den Trockeneisozeanen und erzeugten so eine Art Graumelierung, deren Anblick der Verstand nicht so recht verarbeiten konnte, sosehr man sich auch anstrengte. Der Aussichtsraum hallte von erstaunt und verwirrt klingenden Ausrufen wider. Das menschliche Auge kam einfach nicht besonders gut damit zurecht, wenn die hoch gelegenen Regionen schwarz und die tiefer liegenden weiß waren, und außerdem war die ganze Sache ohnehin noch komplizierter. Selbst aus unmittelbarer Nähe handelte es sich bei der Venus nach wie vor um ein einziges Wirrwarr aus Sprenkeln. Sie näherten sich in schrägem Winkel der Planetenoberfläche, und dann sauste Wegener direkt oberhalb der Atmosphäre an ihm vorbei, um den Schleudereffekt voll auszunutzen. Unter ihnen zog eine Ansammlung von Lichtern vorbei, von denen einige behaupteten, dass es sich um Port Elizabeth handelte. Ganz in der Nähe befand sich eine Stadt namens Billie Holliday, wo Wahram einmal in einem riesigen Waldo gearbeitet und das Trockeneis in den Tälern mit Steinschaum bedeckt hatte. Ähnliches wurde derzeit auf dem Titan gemacht. Venus und Titan waren die beiden besten verbleibenden Kandidaten, um sie dem Mars als vollständig terraformte Welten beizustellen – manche bezeichneten sie als Hemdsärmel-Welten, mit für Menschen atembaren Atmosphären an der Oberfläche. Am Beispiel Mars sah man, wohin das führen konnte: zu einer unabhängigen neuen Welt, frei von all den Sorgen der alten.

Swan tanzte für sich allein. »Ich will zurück«, sang sie niemandem im Besonderen, oder vielleicht ihrem Qube, zu. »Ich will den giftigen Wind spüren, der über die giftige See peitscht.«

Die Venusianer waren vor dem Schleudermanöver von Bord gegangen, weshalb es in Wegener nun nicht mehr so interessant war, was die Menschen anging. Keine Freudenfeuer mehr, keine durchtanzten Nächte. Wahram verbrachte die meisten Tage im Naturpark; das wurde zum Herzstück dieses Pseudoiterativs. Sie versuchten, die Vögel und Säugetiere zu zählen. Oft sahen sie dort draußen Swan, die für sich allein umherlief. Offenbar schlief sie auch dort, und eines Abends in der Küche erklärte sie, dass sie, wenn es sich vermeiden ließ, niemals drinnen schlief, obwohl in gewisser Weise natürlich das ganze Terrarium ein Innenraum war. Draußen im Park entdeckte er auch Hinweise darauf, dass sie versuchte, sich einen Teil ihres Essens selbst zu fangen. Einmal stießen sie auf ein Kaninchen, das in einer kleinen Schlinge am Ufer des Bachs gefangen war, der sich spiralförmig durch den Park schlängelte. So etwas war illegal, und wichtiger noch, es gehörte sich nicht. Ein paarmal sahen sie auch Asche von Feuerstellen, in denen kleine, nicht vollständig verbrannte Knochen lagen. Kaninchen oder Rehe über dem Feuer braten … dabei musste man sich vor Hyänen in Acht nehmen. Das hervorragende südindische Essen in seinem Restaurant war da mit Sicherheit vorzuziehen.

Dann trafen sie eines Morgens auf Swan, als sie noch an ihrem kleinen Feuer hockte. Ihr Gesicht war noch immer fett- und ihre Hände blutverschmiert, und zwischen ihren Füßen lag ein kleines Fellknäuel. Mit einem Raubtierblick, der sehr dem ähnelte, den man von einer Hyäne geerntet hätte, hätte man sie in einem vergleichbaren Moment ertappt, schaute sie zu ihnen auf. Eine ganze Weile lang wusste niemand etwas zu sagen. Wilderei war bei den Behörden kein bisschen beliebter geworden als früher, das erkannte Wahram mit einem schnellen Blick auf den Zoologen sofort, auch wenn man Swan sicher nicht gleich hängen würde. Tatsächlich scharrten die anwesenden Einheimischen, die allesamt höchstens halb so alt waren wie Swan, angesichts ihres Gründerstatus mit den Füßen und suchten anscheinend einen Weg aus der verzwickten Lage.

»Ich schätze, das nennt man auf frischer Tat ertappt«, sagte Wahram so jovial wie möglich. »Aber bitte, ich möchte die Gelegenheit, die Elefanten zu sehen, nicht verpassen, und sie entfernen sich schnell von uns. Ich bin mir sicher, dass die Lage hier sich bald wieder normalisieren wird.« Damit ging er auf eine Art und Weise fort, die seine Führer mit ihm zog.

Besser, er setzte die Erforschung des Parks in einer anderen Richtung fort. Vielleicht konnte er sich auch auf die Suche nach der kleinen Gepardenfamilie machen. Einmal beobachtete er Swan eben dabei, doch er näherte sich ihr nicht. Inzwischen war deutlich geworden, dass ihr nach Einsamkeit zumute war. Wenn sie in der Stadt in sein Restaurant kam, aß sie allein. Das enttäuschte Wahram ein wenig.

Im Pseudoiterativ achtet man während des rituellen Tagesablaufs sowohl auf die Freuden des Vertrauten als auch auf den Schauer des Zufälligen. Es war wichtig, im Morgengrauen draußen zu sein. Der helle Bereich des Sonnenstreifens warf Schatten durch den Zylinder, und über seinem Kopf flogen Vogelschwärme von einem See zum nächsten. Die Zugvögel taten so, als zögen sie um die Welt, sagte man ihm; sie flogen im Morgengrauen los und waren den Großteil des Tages unterwegs, ehe sie wieder dort ankamen, wo sie losgeflogen waren. Vielleicht unterschieden sich all seine Bewegungen im Prinzip nicht von ihren.

Er begab sich einmal mehr in die Aussichtsblase, als Wegener den berühmten Asteroiden Programmfehler passierte. Hier hatte eine der Abbaumaschinen einen Befehl missverstanden. Manche vermuteten, die Fehlfunktion der KI sei durch einen unglückseligen Treffer kosmischer Strahlung verursacht worden, sodass die Maschine, nachdem sie den großen Eisen-Nickel-Asteroiden entkernt hatte und seinen Innenraum mit Stahl ausgekleidet hatte, umgekehrt war und den verbliebenen Fels des Asteroiden entlang der Röhre um die erste Höhlung aufzufressen begonnen hatte; jedes Mal, wenn sie die Oberfläche des Asteroiden durchbrochen hatte, war sie erneut umgekehrt und hatte so ein Netzwerk von Tunneln hinterlassen. Nach ein paar Jahren, als der ganze, sehr viel kleiner gewordene Asteroid bereits aussah wie ein geflochtenes und zu einem Knoten gebundenes Stahlseil, war klar geworden, dass sie niemals von alleine damit aufhören würde. Manche waren dafür, die Sache einfach weiterlaufen zu lassen, um zu sehen, was dabei herauskommen würde, aber dagegen hatte wohl irgendjemand Einwände gehabt, denn eine Explosion mit einem starken elektromagnetischen Impuls zerstörte die KI und ließ sie mitten in der Drehung innehalten, sodass ihre Grabschnauze aus der Oberfläche herausragte wie ein Schlangenkopf. Tatsächlich hatte der Asteroid sich inzwischen in eine Art Medusenhaupt verwandelt, eine Brezelskulptur, die manche für wunderschön und andere für grauenvoll hielten, ein Sinnbild der Dummheit von KIs oder der Eitelkeit menschlichen Strebens.

Das Wegener-Terrarium rauschte so schnell an dem Asteroiden vorbei, dass die Menschen in der Aussichtsblase kaum Gelegenheit zum Blinzeln hatten, wenn sie ihn nicht verpassen sollten: In der Zeit, die man brauchte, um einmal Atem zu holen, wuchs er von einem Punkt zu einem Basketball und wurde wieder zu einem Punkt. Die Leute schnappten nach Luft und begannen zu jubeln. Es handelte sich in der Tat um ein sehr gelungenes Zufallskunstwerk, fand Wahram, so voller Windungen, dass es regelrecht zu zappeln schien, als verfolgte der Kopf des Ouroboros einen unwilligen Schwanz – die Formulierung kam ihm in den Sinn, als er, wieder zurück in der Küche, den Anblick beschrieb. Wie ein Gewirr von Klein’schen Flaschen.

Am nächsten Tag sausten sie an einer weiteren berühmten Fehlleistung vorbei, und dieses Mal fanden sich mehr Zuschauer ein als bei Programmfehler, was Wahram deprimierend fand. Dieses Terrarium, Yggdrasil, hatte einen katastrophalen Hüllenbruch erlitten; ein unbemerkt gebliebener, eisgefüllter Spalt war aufgeplatzt. Das Resultat war weniger ein Leck, sondern eher eine Explosion gewesen. Nur einige wenige Bewohner hatten überlebt, etwa fünfzig von dreitausend. Das konnte jedem passieren, der nicht auf der Erde oder dem Mars lebte. Wahram wollte es sich nicht ansehen.

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