Wahram und Swan

Als Wahram hörte, dass Swan vermisst wurde, verließ er Ottawa, wo er gerade in hitzige Verhandlungen mit der Regierung über das unautorisierte Eintreffen der Tiere verstrickt gewesen war, und flog Richtung Norden nach Churchill. Dort erwischte er gerade noch einen Nachtflug nach Yellowknife, dem Sammelpunkt für das Team, mit dem zusammen Swan an dem Habitatkorridor arbeitete.

Inzwischen war die kurze Sommernacht verstrichen, und die Sonne war schon längst aufgegangen, als ein Helikopter Wahram in die Gegend flog, in der Swan sich laut ihres Senders aufhielt. Als sie dort eintrafen, hatte ihr Team sie bereits gefunden. Trotzdem war es gut, dass sie nun einen Helikopter hatten, weil man nicht an das Loch in der Mitte des Pingos herankam, ohne auch dort unten bei Swan zu landen. Einer ihrer Retter hatte das bereits nachdrücklich unter Beweis gestellt, weshalb sie sich nun mit einer zweiten Person und anscheinend auch mit einem Wolf dort unten befand. Immerhin waren sie jetzt in der Überzahl, obwohl einige der Leute im Helikopter meinten, dass das umso schlimmer wäre. Jedenfalls konnten sie aus dem Helikopter eine Strickleiter mit einem Gurtgeschirr herablassen, und zwar von ziemlich weit oben, wenn auch nicht weit genug, um den Wolf nicht in Angst und Schrecken zu versetzen – das erkannte Wahram beim Runterschauen deutlich. Die zweite Person kam zuerst die Leiter hoch und wurde am Fuß des Pingos abgesetzt; dann folgte Swan. Ihre Augen waren gerötet, und sie sah völlig erledigt aus, aber sie winkte Wahram zu und bedeutete ihm, dass sie die Leiter noch einmal herunterlassen sollten. Wahram bezweifelte, dass der Wolf in der Lage sein würde, mit ihrer Hilfe aus dem Loch zu entkommen. Aber die Pilotin senkte sie trotzdem herab und flog, nachdem sie sich per Funk mit den Leuten am Boden beratschlagt hatte, ein Stück zur Seite, sodass die Leiter an der Wand auflag. Selbst das schien in Wahrams Augen nicht auszureichen, weshalb er erschreckt zusammenzuckte, als der Wolf tatsächlich einen Satz auf die Leiter machte und mit einem weiteren über die Kante sprang und den Hang hinabrannte.

Wahram sagte der Pilotin, dass sie ihn absetzen sollte. Sie landete auf dem Weizenfeld neben dem Pingo, wobei der Abwind der Rotoren einen Kornkreis erzeugte. Wahram stieg aus, während über ihm die Rotoren wirbelten, und rannte geduckt, bis er die Maschine ein gutes Stück hinter sich gelassen hatte. Gleich darauf erhob sie sich knatternd wieder in den Himmel.

Swan rannte auf ihn zu und nahm ihn in eine schlammverschmierte Umarmung. Nachdem er die Stöpsel aus seinen Ohren bekommen hatte, fragte er sie, wie es ihr ginge. Es ginge ihr gut, antwortete sie; es sei wunderbar gewesen, zusammen mit einem Wolf in diesem Loch zu sitzen, keiner von ihnen habe dadurch Schaden genommen, was man ja auch hätte voraussagen können, aber es sei doch schön, wenn die Theorie empirisch bestätigt wurde, in einem solchen Moment, in dem es hart auf hart ging und die Gefahr bestand, gefressen zu werden … er erkannte, dass sie ein bisschen überdreht war. Verdreckt, räumte sie ein, und hungrig, sie könne eine kleine Pause gebrauchen, bevor sie wieder an die Arbeit ginge. Wahram deutete auf den Helikopter, der nach wie vor über ihnen durch die Luft knatterte, und als sie zustimmte, bedeutete er der Pilotin, wieder herunterzukommen, sodass sie einsteigen konnten. In dem Helikopter war es zu laut zum Reden, und so warteten sie, bis sie wieder in Yellowknife waren. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und schlief trotz des Getöses lächelnd ein.

Es war zu erwarten gewesen, dass die Tiere, die ja an zehntausend verschiedenen Orten abgeworfen worden waren, hier und da auf Widerstand treffen würden; zumindest hatte man das angenommen, auch wenn es keine sicheren Vorhersagen gab. Jedenfalls arbeiteten sie, als hätten sie nur wenige Tage, an denen sie unbehelligt bleiben würden. Mit Helikoptern eilten sie von da nach dort und setzten sonnengetriebene Traktoren ab, welche Saatmaschinen hinter sich herzogen, die wie landwirtschaftliche Geräte von uralten Fotos aussahen. Einige davon pflanzten sechzig zwei Meter hohe Bäume pro Stunde, bis ihre Vorräte erschöpft waren. Insofern beinhaltete die Reanimation auch eine botanische Komponente, und die Traktoren ließen sich nur schwer aufhalten. Nur wenige Menschen unternahmen überhaupt den Versuch.

Trotzdem gab es Zwischenfälle, und beim Essen in Yellowknife gingen sie die Geschichten durch, die von überall auf der Welt eintrafen. Es gab alles von Lobpreisungen bis zu schwerem Geschützfeuer; man bejubelte und verurteilte sie, und alles dazwischen gab es auch, aus jeder erdenklichen Richtung, einschließlich des UN-Sicherheitsrats, der zu einer Notfallsitzung zusammengetreten war und trotzdem zu keinem Ergebnis gekommen war. Überall in Südostasien gab es wieder Orang-Utans, in allen möglichen Mündungsgebieten Flussdelfine, in Indien und Sibirien und auf Java Tiger, und die Grizzlybären waren wieder in ihren alten Jagdgründen in Nordamerika anzutreffen … War das etwa nicht die Invasion von Außerirdischen, vor der man sich seit Jahrhunderten fürchtete? Niemand hatte es gestattet; es störte das öffentliche Leben; unter den Tieren gab es Fleischfresser, die Menschen umbringen konnten; das konnte doch unmöglich gut sein! In jedem Fall war es verwirrend. Und Macht war immer gefährlich, wenn sie in den Händen von verwirrten Menschen lag.

Aber zugleich nahmen die terranischen Nachrichtensendungen zur Kenntnis, dass die Tiere immer in ihren ursprünglichen Lebensräumen landeten, gegebenenfalls leicht verschoben, wo die Klimaveränderungen seit ihrem Verschwinden es nötig machten; und dass es sich bei ihnen zwar nicht um gentechnisch veränderte Organismen handelte, dass die Zuchtbemühungen in den Terrarien allerdings eine größere genetische Vielfalt an Tieren erzeugt hatte, als es bei den verbliebenen Erdpopulationen der Fall gewesen war. Der letztere Hinweis gehörte zu Wahrams Werbe-Informationspaket, weshalb er sich besonders darüber freute, dass die Medien ihn aufgriffen. Darüber hinaus wurde in den Berichten erwähnt, dass die Tiere größtenteils in Naturschutzgebieten niedergegangen waren, und in Hügel-, Wüsten- und Weideland und ähnlichen Bereichen, in denen die Menschheit geringe Spuren hinterlassen hatte – niemals in Städten, und in nur ein oder zwei Fällen in Dörfern. Ein kolumbianisches Dorf, das eine Luftinvasion von Faultieren und Jaguaren erlitten hatte, hatte sich bereits in Macondo umbenannt und würde die Sache ganz offensichtlich gut überstehen.

Swan schlief ein bisschen auf einem Sofa in ihrem improvisierten Konferenzzentrum. Wahram stellte fest, dass er sich nicht wohlfühlte, wenn er sie aus den Augen ließ. Sie verhielt sich ihm gegenüber nach wie vor ziemlich liebevoll. Ihre Nacht mit dem Wolf hatte sie in eine Art Verzückung versetzt. Sie schlief mit dem Kopf auf seinem Bein. Die Arme wirkte noch immer völlig ausgemergelt, ein bisschen wie in dem Tunnel.

»Ich will wieder raus«, sagte sie, als sie erwachte. »Komm mit mir. Ich möchte wieder den Karibus folgen, und sie brauchen Treiber. Vielleicht sehe ich ja auch meinen Wolf wieder.«

»In Ordnung.«

Er kümmerte sich um alles, und am nächsten Morgen gesellten sie sich zu den anderen, die an jenem Tag Richtung Norden unterwegs waren, und flogen in die frostdampfige Morgendämmerung. »Sieh«, sagte Swan, als die Sonne über den entfernten Horizont stieg, und beugte sich über ihn, um sie direkt anzusehen.

»Hier kann man sich auch die Augen verbrennen«, sagte er. »Du kannst dir selbst auf dem Saturn die Augen verbrennen.«

»Ich weiß, ich weiß. Ich schaue hin, ohne hinzuschauen.«

Das neue Licht des Tages zersplitterte auf den zahllosen Wasserpfützen, die über das Land verteilt waren. In der Nähe des Thelon River landeten sie und stiegen aus. Der Helikopter flog surrend davon, und mit einem Mal standen sie auf der weiten, windigen Tundra und gingen über abwechselnd knirschenden und matschigen Boden, der in mancher Hinsicht an den Eisboden des Titan erinnerte. Wahram stellte die Stützfunktion seines Leibhalters stärker ein und versuchte, sich an die Nachgiebigkeit des durchweichten Untergrunds zu gewöhnen. Für eine Weile kam er sich vor wie in einem Waldo, während er über den halbgefrorenen Karibupfad lief, und angesichts seines Leibhalters war der Vergleich auch durchaus zutreffend.

Er straffte sich und blickte sich um. Vom Wasser reflektierte Sonnenlichtflocken tanzten durch seinen Kopf, sodass er die Polarisierung seiner Brillengläser anpassen musste. Swan nahm ihre Brille immer wieder ab, um sich mit bloßem Auge umzusehen; manchmal begann sie zu taumeln, und die Tränen gefroren ihr auf den gesprungenen roten Wangen, aber sie lachte oder stöhnte orgasmisch. Wahram probierte es nur ein einziges Mal.

»Du wirst blind werden«, sagte er zu ihr.

»Das hat man früher dauernd gemacht! Früher haben die Leute ohne Brillen gelebt!«

»Ich glaube, die Inuit haben ihre Augen geschützt«, maulte er. »Mit Lederstreifen oder so. Wie dem auch sei, damals musste man das eben einfach ertragen. Das Leben hier oben hat dem Menschen schwer zu schaffen gemacht. Ihr eigener, rauer Planet hat sie daran gehindert, ihr Menschsein voll auszuleben.«

Sie johlte und warf einen Schneeball auf ihn. »Was du für ein Lügner bist! Wir sind Blasen aus Erde! Blasen aus Erde!«

»Ja, ja«, erwiderte er. »Mit den Vögeln aufstehen in Candleford. Uns hat man das auch beigebracht. ›Wenn sie allein auf den Feldern waren und niemand sie sah, hüpften, tanzten und sprangen sie umher, wobei sie versuchten, so wenig wie möglich den Boden zu berühren und riefen: ‚Wir sind Blasen aus Erde! Blasen aus Erde! Blasen aus Erde!‘‹«

»Genau! Man hat dich als Unitarier großgezogen?«

»Hat man uns das nicht alle? Aber nein, ich habe es bei Crowley gelesen. Und ich kann bei dieser Schwerkraft nicht hüpfen, tanzen und springen. Ich würde stolpern und stürzen.«

»Ach komm schon, stell dich nicht so an.« Sie musterte ihn. »Du wiegst hier sicher eine Menge. Aber du bist schon lange hier, eigentlich solltest du dich inzwischen daran gewöhnt haben.«

»Ich muss zugeben, dass ich nicht besonders viel zu Fuß unterwegs war. Meine Arbeit war eher gemütlich.«

»Die Neuerschaffung von Florida war gemütlich? Dann ist es ja gut, dass wir dich hier draußen haben.«

Sie war glücklich. Auch Wahram stapfte halbwegs zufrieden einher; er hatte die Auswirkungen der Schwerkraft übertrieben, um sie zu ärgern. Die kalte Luft und das Sonnenlicht verliehen dem Tag etwas Kristallenes. »Es ist gut«, gab er zu.

Und so gingen sie am Südrand der Karibuspur Richtung Osten, wobei Swan Sender hinterließ, Spuren fotografierte und Boden- und Kotproben nahm. Am Abend versammelten sie sich mit den anderen Spurenlesern in einem großen Esszelt, das täglich an anderer Stelle neu aufgeschlagen wurde. In den kurzen Nächten lagen sie im selben Zelt auf ihren Feldbetten und schliefen ein paar Stunden, bevor sie frühstückten und sich erneut auf den Weg machten. Nach dem dritten Tag auf Wanderschaft mussten sie sich mit den per Helikopter eintreffenden kanadischen Mounties herumschlagen, die sie festnahmen und nach Ottawa flogen.

»Das geht doch nicht!«, schrie Swan, während sie zusah, wie das Land sich unter ihnen entfaltete. »Wir waren doch nicht mal in Kanada.«

»Genau genommen waren wir das schon.«

Die riesigen Weizenfelder sahen mittags ganz anders aus als am Morgen, als sie losgegangen waren. »Jetzt schau dir das an!«, rief Swan einmal und deutete verächtlich hinab. »Das sieht aus wie wuchernde Algen auf einem Teich.«

Als man sie in Ottawa aus dem Polizeigewahrsam entließ, ging Swan mit Wahram zum Merkur-Haus, damit sie sich waschen und mehr über die Vorgänge in Erfahrung bringen konnten. Nach wie vor wurde überall über die Reanimierung berichtet. Es gab viel zu viel zu erzählen, weil alle Menschen gleichzeitig ihre Geschichten zum Besten geben wollten; wie immer also, nur extremer. Swan und Wahram fiel es deshalb auch schwer, ihre eigene Geschichte aufzutreiben – und insbesondere herauszufinden, warum man sie festgenommen hatte. Die Mounties hatten sie, ohne Anklage zu erheben, laufen gelassen, und niemand in Ottawa schien die geringste Ahnung zu haben, warum man sie überhaupt festgenommen hatte.

Die Nachrichten waren bereits gebündelt abrufbar, man konnte die Bilder alphabetisch nach Tierart oder Gebiet oder mehreren anderen Kategorien anordnen lassen – schlechteste Landung, schöne oder lustige Tierverhaltensweisen, menschliche Grausamkeiten gegen Tiere, Tieraggression gegen Menschen und so weiter. Beim Essen schauten sie auf die Monitore im Speisesaal und gingen anschließend die engen Straßen am schwärzlichen Fluss und am Kanalsystem entlang, wobei sie hier und da in einer Kneipe haltmachten, um etwas zu trinken und die neuesten Nachrichten zu sehen. Schon bald fing die betrunkene Swan Streitereien mit anderen Gästen an. Sie machte kein Geheimnis daraus, dass sie eine Raumerin war, was auch schwer gewesen wäre, angesichts ihres Aussehens und ihrer eleganten, aber gekünstelten Leibhalter-Bewegungen. Wahram hatte das Gefühl, dass die Leute mit einer Spur Angst im Blick zu ihr aufschauten. »Eine Runde auf das Merkur-Haus, da komme ich her«, verkündete sie, wenn die Leute kiebig wurden, was natürlich half, aber das Problem nicht vollständig löste.

»Ihr solltet froh sein, dass die Tiere zurück sind«, verkündete sie. »Ihr wart so lange von ihnen abgeschnitten, dass ihr vergessen habt, wie großartig sie sind. Sie sind unsere horizontalen Geschwister, zur Fleischerzeugung versklavt, und wenn ihnen so etwas zustoßen kann, dann kann es euch auch zustoßen, und das ist es auch. Ihr seid Fleisch! Stinkendes Fleisch!«

Worte, die mit Pfiffen und einem unschönen Brummen aufgenommen wurden.

»Irgendwann müsst ihr es mal kapieren!«, rief Swan dann laut, um die zahlreichen Einwände zu übertönen, die den Raum erfüllten. »Niemand kann glücklich sein, solange nicht alle sicher sind!«

»Glücklich«, sagte einer der Leute mit hohntriefender Stimme. »Was heißt hier glücklich? Wir brauchen Nahrung. Die Farmen im Norden versorgen uns mit Nahrung.«

»Ihr braucht Boden«, erwiderte Swan, wobei sie das letzte Wort dehnte. »Bo-den ist eure Nahrung. Die Gesamtmenge an Biomasse ist eure Nahrung! Die Tiere helfen bei der Erzeugung von Biomasse. Ohne sie kommt ihr nicht aus. Ihr kommt gerade so über die Runden, indem ihr Öl esst. Ihr esst euer Saatgetreide. Wenn kein Essen über die Aufzüge zu euch herunterkäme, dann würde die Hälfte von euch verhungern und die andere Hälfte einander gegenseitig umbringen. Das ist die Wahrheit, und das wisst ihr auch! Was braucht ihr also? Tiere.«

»Die können gerne meinen Pflug ziehen«, sagte einer missmutig. Die meisten dieser Leute sprachen untereinander Russisch, und Wahram versuchte angestrengt, englische Gespräche herauszuhören. Mit Swan redeten sie auf Englisch. Sie fing gerade wieder von den horizontalen Geschwistern an. Viele ihrer Zuhörer hatten schon so viel Wodka und andere Substanzen intus, dass ihre Augen glänzten und ihre Wangen rot leuchteten. Sie stritten gerne mit Swan; sie hatten Spaß an der verbalen Abreibung. Zweifellos hatten diese Leute um 1905 genauso ausgesehen, oder um 1789, oder um 1776. Dieser Raum hätte sich überall befinden können, zu jeder Zeit. Wahram erinnerte er an die Eckkneipe in seinem Viertel auf dem Wulst.

»Wir sind Teil einer Familie«, erklärte Swan derweil und wurde mit einem Mal rührselig. »Der Säugetierfamilie.«

»Säugetiere sind eine Ordnung«, wandte jemand ein.

»Säugetiere sind eine Klasse«, korrigierte ihn jemand anders.

»Wir sind die Klasse der Säugetiere«, rief Swan aus, »und für uns ist es in Ordnung, zu saugen und einander liebzuhaben!« Jubel ertönte. »Oder zu sterben. Unsere horizontalen Brüder und Schwestern. Wir brauchen sie, wir brauchen sie alle, wir sind ein Teil von ihnen, und sie sind ein Teil von uns! Ohne sie sind wir nichts als … als …«

»Ein armer gespaltener Rettich!«

»Gehirne und Fingerspitzen!«

»Würmer in Flaschen!«

»Ja!«, sagte Swan, »genau.«

»Wie Raumer in ihren Anzügen«, fügte jemand hinzu.

Darüber lachten alle, auch Swan. »Das stimmt«, rief sie. »Aber hier sind wir! Im Moment bin ich auf der Erde.« Ihre Wangen glühten, und sie warf einen Blick in die Runde; dann stellte sie sich auf eine Bank und fuhr fort: »Wir sind auf der Erde! Ihr habt ja überhaupt keine Ahnung, was für ein Glück ihr habt! Ihr Scheißmaulwürfe! Ihr seid zu Hause! All die Raumerhabitate zusammengenommen sind trotzdem nicht mit dieser Welt vergleichbar! Das hier ist unser Zuhause.«

Jubeln. Allerdings fand Wahram, der Swan auffing, als sie von ihrer Bank Richtung Theke fiel, dass ihre Worte eigentlich nicht stimmten, nicht mehr – nicht mit dem Mars dort oben, und der Venus und dem Titan, die sich ihm hinzugesellten. Vielleicht stimmten sie schon seit der Diaspora nicht mehr. Also jubelten die Leute ihr dafür zu, dass sie unrecht hatte, dass sie ihnen schmeichelte, dass sie ihnen Drinks kaufte und sie in einem Moment der Begeisterung mitriss. Sie bejubelten diesen Augenblick, unabhängig von allem anderen. Ein Abend in einer Kneipe in Ottawa, mit Betrunkenen, die auf Russisch sangen. Diesen Augenblick des Sturms.

Sie besorgten sich Visa, für den Fall, dass die kanadische Polizei sie erneut festnahm, und schlossen sich wieder den Treibern an, die die wandernden Karibus verfolgten. In Yellowknife hielt sie niemand auf, und niemand, mit dem sie sprachen, wusste, was beim letzten Mal los gewesen war. Nach ein paar Tagen fanden sie wieder in ihre Feldroutine zurück, was Wahram glücklich machte. Er war das Laufen inzwischen gewohnt, hatte seinen Leibhalter darauf eingestellt und fand eine Menge Freude daran, Swan bei der Jagd zuzusehen. Sie lief immer voraus, aber sie sah auch von hinten gut aus. Diana auf der Jagd.

Abends im Essenszelt hörten sie immer öfter von weltweiten Berichten darüber, dass der Umgang mit den wiederaufgetauchten Tieren den Menschen Schwierigkeiten bereitete. Löwen und Tiger und Bären, liebe Güte! Die Leute waren nicht daran gewöhnt, potenzielle Beute für große Raubtiere zu sein, die direkt am Stadtrand lauerten. Es war Grund genug, die Reihen enger zu schließen. Wer sonst alleine draußen unterwegs war, suchte sich nun Gesellschaft. Einige von denen, die das nicht taten, wurden gefressen, und die Übrigen gruselten sich und jammerten und suchten sich Freunde oder Fremde, mit denen sie sich nicht nur für nächtliche Spaziergänge, sondern auch am helllichten Tag zusammentun konnten. In den Terrarien war das ohnehin üblich; allein rauszugehen war ein Luxus, eine Form von Dekadenz – oder ein Abenteuer, das man im Bewusstsein des bestehenden Risikos unternahm, wie Swan es tat. Für diejenigen, die damit aufgewachsen waren, verstand es sich von selbst, aber für alle anderen war es beklemmend: Draußen im Wald mussten die Menschen zusammenbleiben.

Schnell lernten auch die Tiere, wie gefährlich Menschen waren. Tatsächlich starben bei den neuartigen Begegnungen sehr viel mehr Tiere als Menschen, was niemanden überraschte. Aber die Saat war robust, und sie würde überleben.

Eines Morgens gingen sie zu zweit mit einer zusätzlichen Ausrüstungstasche los, weil Swan so weit wollte, dass sie es am Abend nicht zurück zum Essenszelt schaffen würden. Die Karibus hatten sich an den Ufern des Thelon River versammelt, an einer Furt, die sie noch nicht kannten, und Swan wollte sie umrunden und sich ihnen von Norden annähern, um die Tiere zu beobachten und sie davon abzuhalten, auf der Suche nach einem besseren Übergang durch die seichten Gewässer des Westufers nordwärts zu ziehen; sie waren bereits an der besten Stelle, die laut Aussage von Archäologen auch früher von Karibus benutzt worden war.

Also gingen sie Richtung Norden. Nach einer Weile trafen sie auf die Spur der Karibus. Hier war der Boden zu einem Meer chaotischer brauner Furchen aufgewühlt; jeder einzelne Schritt wollte wohlüberlegt sein. Swan, die ohnehin schon schneller als Wahram war, ließ ihn hier noch weiter hinter sich, aber er war fest entschlossen, sich nicht hetzen zu lassen. Hier und da machte ein totes Karibu ihm klar, wie recht er damit hatte: Stürze konnten gefährlich sein. Wahram bekam es mit kniehohen Klumpen halbgefrorenen Schlamms zu tun, die ihn nervös machten. Er konnte kaum mit ansehen, wie Swan einfach über sie hinwegsetzte. Aber sie tat keinen einzigen Fehltritt; und er musste den Blick auf seine Füße gesenkt halten. Es kam nicht darauf an, wie groß ihr Vorsprung wurde.

Als sie den unbeschädigten Boden nördlich der Spur erreichten, führte Swan ihn weiter Richtung Osten. »Schau mal«, sagte sie mit ausgestrecktem Finger. »Wölfe. Sie warten ab, wie die Flussüberquerung läuft.«

Wahram hatte bereits bemerkt, dass Swan Wölfe liebte, weshalb er kein Wort über den blutdurstigen Charakter dieser Fleischfresser verlor. Essen mussten sie schließlich alle.

Die Karibus hatten sich am diesseitigen Ende der Furt versammelt, etwa einen halben Kilometer entfernt. Swan wollte, dass die Tiere sie sahen, weshalb sie auf einen kleinen Vorsprung stieg, von dem aus man das Flussbett überblicken konnte. Es handelte sich um ein breites, ausgewaschenes Kiesbecken, das von kleineren Strömen durchwoben war; ein Irrgarten aus rundgewaschenen Felsbrocken und gewundenen, ausgetrockneten schwarzen Nebenarmen. An vielen Stellen war dieser Untergrund für die Karibus nicht sicher, und Wahram verstand, warum Swan wollte, dass sie den Fluss an der Furt überquerten, wo fester Permafrostboden auf beiden Seiten eine ebene, braungrüne Straße bildete.

»Sieh nur, die Ersten versuchen es.«

Wahram trat an ihre Seite und blickte nach Süden. Hunderte von Karibus hatten sich am diesseitigen Flussufer versammelt, reckten die Geweihe empor und röhrten. Die großen Männchen ganz vorne wagten sich mit den Vorderbeinen ins Wasser, stippten die Hufe vorsichtig hinein, und dann lief eines der Tiere los, sogleich gefolgt von mehreren anderen. Erst ging ihnen das Wasser bis zu den Knien, und dann mit einem Mal bis zur Brust. Der Fluss vor ihnen schwappte und wogte.

»Oh-oh«, sagte Swan. »Dort ist es tief.«

Aber die Anführer liefen oder schwammen beharrlich weiter, und schon bald erhoben sie sich wieder aus knietiefem Wasser, das unter ihren Tritten aufschäumte. Am gegenüberliegenden Ufer drehten sie sich um und röhrten. Inzwischen waren bereits weitere Karibus im Wasser, und nun begann die gesamte Masse, sich langsam vorwärtszubewegen. Der Strom der Tiere verengte sich, als die an den Seiten versuchten, weiter in die Mitte zu gelangen. Wahram erkannte, dass sie dicht zusammenbleiben wollten. »Probleme wird es vor allem dort geben, wo es tief wird«, prophezeite Swan, und so kam es auch; als die Tiere den Boden unter den Füßen verloren, röhrten einige und versuchten umzukehren, doch sie wurden geschoben und mit den Geweihen gestoßen, bis sie schließlich weitergingen; aber dadurch musste die Masse im seichteren Wasser sich noch dichter zusammendrängen. Das allseitige Röhren übertönte das laute Tosen des Flusses, der durch sein endloses Felsbecken rauschte. Einige Tiere an der linken Flanke drehten ab und machten sich auf den Weg nach Norden, aber Swan sprang auf und ab und wedelte mit den Armen, und Wahram nahm eine kleine Tröte von ihr entgegen und drückte ein paarmal darauf. Der Ton, den er ihr entlockte, war hoch und warnend, aber Wahram vermutete, dass es Swans wilde Bewegungen waren, die die Tiere schließlich zum Umkehren veranlassten. Inzwischen hatten die ineinander verkeilten Tiere dort, wo das Wasser tiefer wurde, zu schwimmen begonnen. Bald war der Vorfall mit den Ausreißern vergessen, und die gesamte Herde überquerte in einem Tosen von weißen Wassern und dampfenden braunen Leibern kraftvoll den Strom. Das Ganze dauerte fast eine Stunde. Es gab ein paar Unfälle, ein paar gebrochene Gliedmaßen, und einige Tiere ertranken sogar, aber die Herde hielt nicht mehr ein einziges Mal inne.

Swan sah genau zu, zeigte auf eine Front von Wölfen, die am Ufer flussabwärts Stellung bezogen hatte, sich mit den Zähnen ertrunkene Karibukälber schnappte und sie gemeinsam aus dem Wasser zog. Ab dort war der Fluss von roten Schlieren durchzogen.

»Werden die Wölfe ihn auch überqueren?«, fragte Wahram.

»Ich weiß nicht. In den Terrarien haben sie das oft gemacht, aber dort sind die Flüsse nicht so groß. Du weißt schon – man sieht so etwas in einem Terrarium, und dort ist es toll, aber hier ist es anders. Ich frage mich, ob sie sich dasselbe denken. Ich meine, sie haben das schon oft gemacht, aber über sich haben sie dabei immer das Land gesehen. Sie waren noch nie unter freiem Himmel. Ich frage mich, was sie vom Himmel halten! Fragst du dich das nicht?«

»Hmm«, machte Wahram nachdenklich. Selbst für ihn war der Anblick des terranischen Himmels etwas zutiefst Befremdliches. »Es sieht sicher seltsam für sie aus. Zweifellos haben sie ein Gefühl für räumliche Verhältnisse, immerhin handelt es sich um Wandertiere. Sie wandern in den Terrarien. Also muss ihnen auffallen, dass es hier anders ist. Von der Innenseite eines Zylinders auf die Außenseite einer Kugel – nein, wenn sie das spüren …« Er schüttelte den Kopf.

»Ich finde, sie wirken panischer als sonst. Wilder.«

»Mag sein. Wie kommen wir selbst über den Fluss?«

»Wir schwimmen. Nein, natürlich nicht. Unsere Aerogele fungieren als Flöße, wir können uns also hinübertreiben lassen. Wenn wir Glück haben!«

Sie führte ihn zur Furt hinab, wo der Geruch der Karibus in der Luft hing und Fellfetzen im seichten Wasser dümpelten. Der Wind fuhr Wahram durch den Leib, und er spürte seine Lungen wie kalte Höhlungen in seinem Brustkorb, pulsierend und lebendig. »Komm«, sagte sie, »Wir müssen hier verschwinden, bevor die Wölfe auftauchen, um mit den armen toten Kinderchen aufzuräumen.«

»In Ordnung, wenn du mir zeigst, wie.«

»Deine Matratze dient dir als Floß. Wir haben jeder eine. Es handelt sich um eine Art Barke aus Aerogel, weshalb sie kaum sichtbar ist, aber man kann sich gut auf ihr treiben lassen. Falls du kenterst, musst du dich daran festhalten oder sehr schnell schwimmen.«

»Ich hoffe, dass ich nicht kentere.«

»Das kann ich mir vorstellen! Das Wasser hier ist eiskalt. Hier, mit dem Ast kannst du paddeln. Ich glaube, man muss so weit rausgehen, wie man sich traut, und dann einsteigen und sich stromabwärts treiben lassen und wenn möglich Richtung gegenüberliegendes Ufer paddeln. Wir müssen uns kein bisschen beeilen, weil die erste Flussbiegung stromabwärts uns ohnehin näher ans andere Ufer bringt. Folge mir einfach, du wirst schon sehen.«

Also tat er das; doch seine Barke hüpfte auf dem Wasser auf und ab, sein Floß kam ihm zu klein vor, und an der tiefsten Stelle trug ihn die Strömung an Swan vorbei, die ihn auslachte. Er paddelte angestrengt. Sie holte zu ihm auf, paddelte im Kreis und rief ihm zu: »Halt deinen Kopf unter Wasser!«

»Nein!«, rief er empört zurück, aber sie lachte und erwiderte: »Halte wenigstens ein Ohr unter Wasser, du musst das hören! Hör dir mal an, wie es unter Wasser klingt!«

Damit beugte sie sich aus ihrer Barke und tauchte für ein paar Sekunden den Kopf unter, ehe sie wieder auftauchte, laut prustend und lachend. »Probier es aus!«, befahl sie ihm. »Das musst du einfach hören!«

Also beugte er sich zögerlich vor, streckte das rechte Ohr ins wirbelnde Wasser und hielt den Atem an. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass er in ein lautes, elektrisches Knistern eingetaucht war, das ganz anders klang als alles, was er je zuvor in seinem Leben gehört hatte. Er zog sein Ohr wieder heraus, hörte das Rauschen der Welt und steckte dann seinen ganzen Kopf unter Wasser, hielt den Atem an und lauschte mit beiden Ohren dem elektrischen Knacken und Knistern. Es handelte sich wahrscheinlich um das Geräusch der Kiesel, die von der schnellen Strömung getrieben durchs Flussbett rollten.

Wahram zog den Kopf heraus und prustete wie ein Walross. Swan lachte ihm zu und schüttelte sich wie ein Hund. »Das nenne ich Musik!«, rief sie. Und dann schrammte Wahrams Barke über das seichte Ende am anderen Flussufer. Er sprang heraus, stolperte dabei jedoch und fiel hin. Mit Mühe und Not bekam er das kleine Floß zu fassen, kam planschend auf die Beine und watete an Land. Kein bisschen elegant, aber er lebte noch, und sein Ganzkörperanzug hielt ihn warm und trocken – das war Überlegenheit durch Technik. Damit waren sie am anderen Ufer.

Swan entdeckte eine Anhöhe beim Fluss, und sie schlugen ihr Zelt kurz vor Einbruch der Dunkelheit auf. Es handelte sich um eine einteilige, große durchsichtige Hülle, die elastisch über ebenfalls durchsichtige Zeltstangen gespannt war. Ihre Flöße dienten ihnen als Betten. Sie saßen draußen vor dem Zelteingang, und Swan kochte ihnen erst eine Suppe aus irgendeinem Pulver und anschließend Pasta mit Pesto und Gorgonzolasoße. Zum Nachtisch gab es dann noch Schokolade und eine kleine Flasche Cognac.

Als sie mit dem Essen fertig waren, herrschte noch immer Zwielicht, obwohl die Sonne bereits vor einer Stunde untergegangen war. Das Zelt flatterte im Wind, und das laute Rauschen und Glucksen des Flusses über den Kieseln stieg vom Boden empor und erfüllte die Luft. Sie waren seit achtzehn Stunden ohne Unterbrechung unterwegs, und als Swan sagte: »Schlafenszeit«, nickte Wahram und gähnte. Die Schlafsäcke, die sie aus ihren Rucksäcken zogen, waren ebenfalls aus Aerogel und ähnelten den Matratzenflößen und dem Material, aus dem ihr Zelt bestand, und genaugenommen auch den Blasen, in denen sie herabgesunken waren – alles Aerogelmaterialien, fast unsichtbar, nachgiebig, warm. »Trotzdem werden wir frieren, wenn wir nicht zusammen schlafen«, sagte Swan, kroch neben ihn in seinen Schlafsack und zog dann beide Schlafsäcke über sie.

»Ah ja«, sagte Wahram. »Da bin ich mir sicher.«

Im Halbdunkel konnte er sich ein Lächeln erlauben. Doch sie ertappte ihn dabei, indem sie ihn küsste.

»Was denn?«, fragte sie.

»Nichts.«

Sie wälzte sich auf ihn, und ihr gemeinsames Gewicht führte dazu, dass er mit dem Rücken den Boden unter der Matratze berührte. Es war eine kalte Berührung, die er nicht unerwähnt lassen konnte. »Vielleicht müssen wir nebeneinander liegen bleiben.«

»Nein, zum Teufel«, erwiderte Swan und kroch aus dem Schlafsack. »Da, steh mal kurz auf, ich lege meinen Schlafsack unter die Matratze. Das sollte genügen.«

So war es. Inzwischen waren sie durchgefroren. Sorgsam zog sie den Schlafsack über sie beide und stieg bibbernd auf ihn; und nach einer festen Umarmung verlagerte sie ihr Gewicht und begann erneut, ihn zu küssen. Ihr Mund war warm. Sie küsste gut, leidenschaftlich und verspielt. Ihr Penis, obwohl so viel kleiner als der seine, pikste ihn in den Bauch. Es fühlte sich ein bisschen an wie eine Gürtelschnalle, die sich verheddert hatte. Auch er war nun erregt und fühlte sich von Sekunde zu Sekunde glücklicher.

Es hieß zwar, dass ihre besondere Kombination von Geschlechtern die perfekte Paarung darstellte, eine komplexe Erfahrung, »zweimal Schloss und Schlüssel«, alle denkbaren Vergnügungen auf einmal; Wahram war sie allerdings immer recht kompliziert vorgekommen. Wie bei den meisten Gebärmännern lag seine kleine Vagina so weit unten in seinem Schamhaar, dass seine eigene Erektion den Zugang zu ihr versperrte; die beste Methode, dort anzudocken, wenn er erst einmal erregt war, bestand für die Person mit der großen Vagina darin, sich weitgehend über den großen Penis zu stülpen und sich dann gleichzeitig nach hinten und nach vorne zu beugen. Es handelte sich für beide Teilnehmer um ein etwas akrobatisches Kunststück. Mit etwas Glück ließ die kleine Verbindung sich so herstellen, dass zwei Schlüssel in zwei Schlössern steckten, worauf die üblichen Bewegungen wunderbar funktionierten, und auch einige ausgefallenere Wippmanöver.

Es stellte sich heraus, dass Swan ganz genau wusste, wie man die Verbindung herstellte, und nachdem es ihr gelungen war, lachte sie und küsste ihn erneut. Ihnen wurde ziemlich schnell warm.

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