Wahram war wieder in Terminator, noch bevor Swan von der Erde zurückkehrte. Die Stadt fuhr gerade durch die gewaltige Ebene des Beethoven-Kraters, und Wahram nahm all seinen Mut zusammen und fragte Swan, sobald sie wieder da war, ob sie mit ihm eine Anlage in der Westwand von Beethoven besuchen würde, um sich ein Konzert anzuhören und sich gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen. Er musste zugeben, dass er ziemlich nervös war, als er bei ihr anrief. Aufgrund ihres flatterhaften Temperaments wusste er nicht, was ihn erwartete. Er wusste noch nicht einmal, ob er im Zweifelsfall mit ihr oder mit Pauline nach Beethoven gehen würde. Andererseits mochte er Pauline, sodass das eine hoffentlich ebenso gut sein würde wie das andere. Und mit etwas Glück würde Swan nicht mehr so erpicht darauf sein, alles über Alex’ Pläne bezüglich der Qubes in Erfahrung zu bringen. Dieses Wissen, das hatte Inspektor Genette sehr deutlich gemacht, mussten sie ihr vorenthalten.
In jedem Fall war die Aussicht darauf, etwas von Beethoven zu hören, Antrieb genug für ihn. Er rief sie an, und Swan erklärte sich bereit, ihn zu begleiten.
Danach sah sich Wahram das Programm für die Vorstellung an, die sie besuchen wollten, und stellte erfreut fest, dass bei dem Konzert drei selten aufgeführte Transkriptionen gespielt werden würden: Zuerst würde ein Bläser-Ensemble eine Bearbeitung der Appassionata-Klaviersonate spielen. Dann gab es Beethovens Opus 134, seine eigene vierhändige Klavierfassung von Opus 133, der Großen Fuge, für Streichquartett. Schließlich sollte ein Streichquartett eine Bearbeitung der Hammerklaviersonate spielen.
Ein brillantes Programm, fand Wahram, und als er sich an der südlichen Luftschleuse mit Swan traf, überlagerte seine freudige Erwartung völlig sein Unbehagen, das die Begegnung mit ihr und ein Aufenthalt auf Merkurs Oberfläche mit sich brachten. Der Drang nach Westen war immerzu spürbar – vielleicht hatte er sogar etwas Allgemeingültiges, sagte er sich, und richtete seine Gedanken dann ganz auf das Konzert. Vielleicht gab es überhaupt keinen Grund zur Sorge. Die Vorstellung, dass seine Angst vor der Sonne irrational sein mochte, war interessant.
In dem kleinen Museum in der Westwand Beethovens stellte er zu seiner Überraschung fest, dass es außer ihnen fast kein Publikum gab, abgesehen von den Musikern, die gerade nicht spielten und zum Zuhören in den ersten Reihen saßen. Die Anlage verfügte über eine leere Haupthalle, in die ein paar Tausend Menschen gepasst hätten, aber glücklicherweise fand dieses Konzert in einem Nebensaal mit nur wenigen Hundert Plätzen statt, die wie bei einem griechischen Theater in einem Halbkreis um die kleine Bühne herum angeordnet waren. Die Akustik war hervorragend.
Das Bläserensemble, das etwas größer war als das Publikum, spielte das Finale der Appassionata derart ausgelassen, dass es eines der großartigsten Stücke für Holzbläser wurde, die Wahram je gehört hatte. Es sprudelte vor Tempo. Die Bearbeitung für Holzbläser verwandelte das Stück zu etwas völlig Neuem, etwa so wie Ravel Mussorgskis Bilder einer Ausstellung in etwas Neues verwandelt hatte.
Danach erhoben sich zwei Pianisten, setzten sich wie Katzen aneinandergeschmiegt an ein großes Klavier und begannen, Beethovens Opus 134 zu spielen, seine Bearbeitung der Großen Fuge. Sie mussten wie Percussion-Künstler in die Tasten greifen, regelrecht auf sie eindreschen. Deutlicher als je zuvor hörte Wahram das komplexe Geflecht der großen Fuge heraus, aber auch die irrsinnige Energie des Stücks, die manische Vision eines gewaltigen knirschenden Uhrwerks. Der harte Ansturm von Klaviertönen verlieh ihm eine Klarheit und Gewalt, die Streicher nicht erzielen konnten, egal, wie sehr sie sich mühten und wie technisch versiert sie waren. Wunderbar.
Im nächsten Beitrag hatte jemand den gleichen Weg in die andere Richtung beschritten und die Hammerklaviersonate für ein Streichquartett arrangiert. Obwohl nun vier Instrumente ein Stück spielten, das für eines geschrieben worden war, war es nach wie vor eine Herausforderung, die Eindringlichkeit der Hammerklaviersonate zu vermitteln. Auf zwei Violinen, eine Bratsche und ein Cello verteilt entfaltete sie sich wunderbar. Der majestätische Zorn des ersten Satzes; die schmerzhafte Schönheit des langsamen Satzes, eines von Beethovens besten; und dann das Finale, eine weitere große Fuge. In Wahrams Ohren klang das alles sehr nach den späten Quartetten – also sozusagen ein neues spätes Quartett, Himmel auch! Es war erschütternd anzuhören. Wahram blickte sich im Publikum um und sah die Flötenspieler und die Pianisten hinter ihren Stühlen stehen, wippen, sich wiegen, die Gesichter gehoben und die Augen geschlossen, als beteten sie; manchmal zuckten sie vor ihren Körpern mit den Händen, als dirigierten oder tanzten sie. Auch Swan tanzte weiter hinten. Die Musik schien sie an einen fernen Ort zu tragen. Wahram war hocherfreut, das zu sehen: Er selbst war weit draußen im Beethoven-Raum, der wahrhaftig gewaltige Ausmaße hatte. Es wäre schockierend gewesen, jemanden anzutreffen, der immun gegen diese Empfindung war; er hätte nicht mehr mit einer solchen Person mitfühlen, sich nicht in sie hineinversetzen können.
Als Zugabe kündigten die Musiker ein Experiment an. Sie teilten die beiden Klaviere, und das Streichquartett setzte sich in einem Kreis mit den Gesichtern nach innen zwischen sie. Dann spielten sie noch einmal die beiden großen Fugen, und zwar gleichzeitig. Die beiden auf den jeweils falschen Instrumenten gespielten Stücke überlagerten sich und erzeugten eine zunehmende kognitive Verwirrung; und die ruhigen Passagen in beiden Stücken kamen zur selben Zeit und bildeten ein treibendes Auge des Sturms, dass die strukturelle Verwandtschaft der beiden Ungetüme verriet. Als beide zu ihren Hauptfugen zurückkehrten, kratzten und hämmerten alle sechs Instrumente wieder in ihren eigenen Welten, teilten in rasendem Zickzack und mit messianischem Getöse sechs verschiedene Melodien aus. Irgendwie fanden sie alle gemeinsam zu einem Ende. Wahram war sich nicht sicher, welches der Stücke erweitert oder abgekürzt worden war, um das zu ermöglichen, aber jedenfalls endeten alle gemeinsam in einem großen Getöse, und alle Anwesenden, insbesondere die Stehenden, konnten nur noch klatschen und jubeln und pfeifen.
»Wundervoll«, sagte Wahram hinterher. »Wirklich.«
Swan schüttelte den Kopf. »Das Ende war zu abgefahren, aber gefallen hat es mir.«
Sie blieben noch, um die Musiker zu beglückwünschen und sich mit ihnen zu unterhalten. Die Musiker waren denkbar interessiert daran, wie das Ganze für Außenstehende geklungen hatte: Mehr als einer bemerkte, dass er sich nur auf seinen eigenen Teil hatte konzentrieren können. Jemand spielte eine Aufnahme ab, und sie hörten sie sich mit den anderen zusammen an, bis die Musiker anfingen, sie immer wieder anzuhalten und die Details zu erörtern.
»Zeit, nach Terminator zurückzukehren«, sagte Swan.
»Alles klar. Ich bin Ihnen so dankbar dafür, es war wirklich wunderbar.«
»War mir ein Vergnügen. Hören Sie, wollen wir über die Stadtgleise zurücklaufen? Nach so einem wilden Konzert wäre das nett. Hier gibt es Raumanzüge, die wir benutzen können. Bei einem Spaziergang kann man alles besser verarbeiten.«
»Aber reicht dafür die Zeit?«
»O ja. Wir werden ein gutes Stück vor der Stadt bei dem Bahnsteig sein. Das habe ich schon öfter gemacht.«
Ihr war wohl nicht aufgefallen, wie unbehaglich er sich draußen auf dem Merkur fühlte. Er konnte schlecht nein sagen. Obwohl alle anderen aus dem Publikum und auch die Musiker die Trambahn nahmen. In der sie zweifellos das interessante Gespräch über das Konzert, über Beethoven-Transpositionen und derlei mehr fortsetzten.
Aber nein. Ein Spaziergang auf einer verbrannten Welt. Nachdem sie die Integrität ihrer geliehenen Raumanzüge überprüft hatten, verließen sie den Saal durch die Luftschleuse und gingen nordwärts zu den Schienen Terminators.
Der Beethoven-Krater hatte die glatteste Oberfläche, die er auf dem Merkur bisher gesehen hatte. Der kleine Bello im Osten befand sich unterhalb des Horizonts. Nervös wanderte Wahram neben Swan her. Ihre Helmscheinwerfer erhellten lang gestreckte Ovale schwarzer Wüste. Feine Staubwolken stiegen von ihren Stiefelspitzen empor und sanken hinter ihnen wieder auf den ausgedörrten Boden ab. Ihre Stiefelabdrücke würden eine Milliarde Jahre Bestand haben, aber sie folgten ohnehin einem Pfad von Fußstapfen, sodass der Schaden an der Planetenoberfläche längst angerichtet war. Zu den Seiten des staubigen Pfads fing das knorrige, körnige Gestein den Schein ihrer Lampen ein und reflektierte ihn in Form winziger Diamantlichter, die wie Reif aussahen, obwohl es sich bei ihnen in Wirklichkeit um winzige Kristallflächen handeln musste. Sie kamen an einem Felsen vorbei, auf den ein Kokopelli gemalt war: Anstelle einer Flöte schien die Gestalt ein Teleskop zu haben, das sie gen Osten gerichtet hielt. Eine Weile pfiff Wahram halblaut und in halbem Tempo das Thema der Großen Fuge.
»Pfeifst du?«, fragte Swan anscheinend überrascht.
»Sieht ganz danach aus.«
»Ich auch!«
Wahram, der sich nicht als jemanden sah, der für andere pfiff, verstummte.
Sie erreichten eine kleine Anhöhe, und vor ihnen lagen die Schienen Terminators. Die Stadt war noch nicht in Sicht: Höchstwahrscheinlich befand sie sich noch immer jenseits des östlichen Horizonts. Der nächstgelegene Schienenstrang versperrte größtenteils die Sicht auf diejenigen, die daneben verliefen. Wahram hatte gehört, dass die Schienen aus einer ganz bestimmten Art von gehärtetem Stahl bestanden, und im Sternenlicht glänzten sie mattsilbern. Ihre Unterseite befand sich ein paar Meter über dem Boden und wurde im Abstand von etwa fünfzig Metern von dicken Pfeilern gehalten. Zu Wahrams Erleichterung sah er nordwestlich von ihnen neben der äußersten Schiene einen Bahnsteig. Die Tram vom Konzert war bereits eingetroffen.
Das erste Sonnenlicht fiel auf die höchste Stelle der Westwand von Beethoven. Die gesamte Landschaft wurde von dieser einen glatten Felsspitze erhellt. Die Morgendämmerung nahte heran, langsam, aber unaufhaltsam. Sobald sie über den östlichen Horizont wanderte, würde Terminator einen grandiosen Anblick bieten. Vielleicht war das bereits die Kuppelspitze, die dort als halbmondförmige Linie aus Licht zum Vorschein kam.
Dort, wo eben noch der Bahnsteig gewesen war, erstrahlten plötzlich die Schienen in einem blendenden Lichtblitz. Ein blutrotes Nachbild teilte Wahrams Sicht in zwei Hälften: Als es pulsierend zu einem weniger grellen vertikalen Fleck schrumpfte, begannen um sie herum Felsbrocken einzuschlagen. Staubwolken wirbelten auf wie verspritztes Wasser. Sie schrien beide auf, allerdings hatte Wahram keine Ahnung, was sie sagten. Dann brüllte Swan: »Runter, pass auf deinen Kopf auf!«, und zerrte an seinem Arm. Wahram kniete sich neben ihr hin und legte ihr einen Arm um die Schultern. Sie schien zu versuchen, ihm die Arme über den Helm zu legen, während sie den ihren an seine Brust drückte. Als er über sie hinwegblickte, sah er, dass die Schienen dort, wo sich der Bahnsteig befunden hatte, in einer großen Staubwolke verschwunden waren, die bis zum Sonnenlicht reichte. Der gelb angestrahlte Teil der Wolke erhellte die umliegende Landschaft wie ein Leuchtfeuer. Der Boden am Fuß der Wolke glühte aus sich heraus: Anscheinend handelte es sich um einen See rauchender Lava.
»Ein Meteor«, sagte er fassungslos.
Swan funkte über den offenen Kanal. Einige weitere Steine gingen um sie herum nieder, unsichtbar, bis eine Stauberuption sie verriet. Es sah aus, als würde die Landschaft um sie herum explodieren, als würden Minen hochgehen. Der eine oder andere herabfallende Stein war heiß und sah aus wie eine Sternschnuppe. Einige Funken flogen noch immer oben zwischen den Sternen. Entweder einer würde sie treffen oder eben nicht; es war ein scheußliches Gefühl. Er hatte nicht den Eindruck, dass es ihnen besonders viel helfen würde, sich die Arme über die Helme zu halten.
Staub blies über sie hinweg und legte sich in gemächlichen Bahnen und Schleiern. Gelb über Grau: Doch sobald das obere Ende der Staubwolke so weit herabgesunken war, dass die horizontalen Sonnenstrahlen sie nicht mehr erreichten, senkte sich einmal mehr die finstere Merkurnacht über sie, und nur die entfernte Kraterwand spendete ihnen Licht. In der Mitte von Wahrams Blickfeld pulsierten noch immer rote Balken. Alles kam ihm nun sehr viel dunkler vor.
»Direkt dort draußen ist eine Gruppe Sonnenläufer, oben, knapp unterhalb der Kraterwand«, sagte Swan grimmig. Sie fragte etwas auf dem offenen Kanal. »Einer von ihnen wurde getroffen, und sie brauchen Hilfe. Komm mit.«
Halb blind und verwirrt folgte er ihr von den Schienen weg. »War das ein Meteoreinschlag?«
»Sieht ganz danach aus. Obwohl die Schienen eigentlich ein Abwehrsystem haben. Ich weiß nicht, was passiert ist. Komm schon, wir müssen uns beeilen! Ich will zurück in die Stadt. Sie ist … ohhh …« Sie stöhnte, als ihr mit einem Mal klar zu werden schien, dass die Stadt zum Untergang verurteilt war. »Nein!«, rief sie, während sie ihn Richtung Süden mit sich zerrte. »Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein.« Immer und immer wieder, während sie weiterstolperten. Und dann: »Wie kann das sein.«
Er war sich nicht sicher, ob es eine rhetorische Frage gewesen war. »Keine Ahnung«, antwortete er. Sie zerrte an ihm, und er hielt den Blick zu Boden gerichtet, um nicht über einen Stein zu stolpern und hinzufallen. Überall lagen Felsbrocken herum. Er versuchte sich zu erinnern, was er gesehen hatte; war da ein Blitz gewesen? Von oben? War die Explosion nicht vom Boden aufgestiegen? Nein – sie hatte sich abwärtsbewegt. Er schloss die Augen, doch der rote Balken und die hellroten Wolken tanzten noch immer vor dem schwarzen Hintergrund seiner Lider umher. Er öffnete die Augen und blickte zu Swan. Später konnten sie vielleicht die visuellen Aufzeichnungen ihres Qubes studieren, vorausgesetzt, er fertigte welche an. Swan murmelte gerade etwas in dem verärgerten Tonfall, den sie normalerweise Pauline gegenüber anschlug.
Sie führte ihn um eine Kuppe, und als sie sie passiert hatten, machten sie eine Gruppe von drei Menschen in Raumanzügen aus, die erfreulicherweise alle gehen konnten. Einer hielt sich allerdings mit der Hand einen Arm, was ihn unbeholfen taumeln ließ. Die anderen beiden gingen an seinen Seiten und halfen ihm oder versuchten es zumindest.
»He!«, funkte Swan auf dem offenen Kanal, und die drei blickten auf und beobachteten, wie Swan und Wahram sich näherten. Einer winkte. Ein paar Minuten später waren Swan und Wahram bei ihnen.
»Wie geht es euch?«, fragte Swan.
»Wir sind froh, am Leben zu sein«, sagte der, der sich den Arm hielt. »Ich bin am Arm getroffen worden!«
»Das sehe ich. Gehen wir in die Stadt zurück.«
»Was ist passiert?«
»Sieht so aus, als wären die Schienen von einem Meteor getroffen worden.«
»Wie ist das möglich?«
»Ich weiß es nicht. Kommt schon!«
Ohne weitere Diskussion begannen die fünf zügig Richtung Schienen zu gehen. Sie sprangen im Mars-Laufschritt, mit dem sie die lokale Gravitation voll ausnutzten. Wegen seiner Zeit auf dem Titan, der etwa halb so viel Schwerkraft ausübte, damit aber nah genug dran war, beherrschte Wahram diese Laufweise ebenfalls recht gut. Zusammen liefen sie in großen Sätzen schräg nach Westen den sanften Hang hinab, auf dem schnellsten Weg Richtung Stadt. Wahram hatte ein seltsames Jaulen im Ohr, ein tierhaftes, qualvolles Stöhnen. Erst dachte er, dass es von dem verletzten Sonnenläufer käme, doch dann begriff er, dass Swan es von sich gab. Natürlich, es war ihre Stadt, ihr Zuhause.
Sie kamen über den Kamm einer Anhöhe, von der aus sie freie Sicht auf die obere Hälfte der Stadtkuppel hatten, die wie die blaue Blase eines Taschenuniversums über den Horizont lugte. Die Stadt war anscheinend immer noch in Bewegung. »Die Schienen voraus sind beschädigt«, sagte er.
»Ja, natürlich!«
»Gibt es eine Möglichkeit für sie, ein fehlendes Schienenstück zu umgehen?«
»Nein! Wie sollte das funktionieren?«
»Ich weiß nicht, ich … ich dachte nur. Normalerweise versucht man bei Lebenserhaltungssystemen, solche kritischen Punkte zu vermeiden.«
»Natürlich. Aber die Schienen sind geschützt, es gibt ein Anti-Meteor-System!«
»Dann hat es wohl nicht funktioniert?«
»Anscheinend nicht!« Erneut schrie sie auf. Selbst gedämpft durch die Gegensprechanlage in seinem Anzug war es ein durchdringender Laut.
Die Sonnenläufer besprachen sich untereinander, ganz offensichtlich auch voller Sorge.
»Was machen wir, wenn wir dort ankommen?«, fragte Wahram auf dem offenen Kanal.
Swan hörte auf zu stöhnen und erwiderte: »Wie meinst du das?«
»Gibt es Rettungsboote? Du weißt schon – Rover, mit denen man zum nächsten Raumhafen kommt?«
»Ja, natürlich.«
»Genug für alle?«
»Ja!«
»Und gibt es genug Raumschiffe im nächsten Raumhafen? Genug für die gesamte Bevölkerung von Terminator?«
»In allen Raumhäfen gibt es Notunterkünfte, die für einen Haufen Menschen reichen. Und Fahrzeuge, die sie westwärts zum nächsten bringen können. Und manche Hopper kommen auch auf der Sonnenseite zurecht.«
Während sie über die schwarze Geröllebene eilten, mühte sich Terminator langsam über den Horizont. Der obere Teil von der Innenseite der Dämmerungsmauer war nun zu erkennen. Sie sah sehr viel steiler aus, als sie es in Wirklichkeit war, und bestand ganz aus weiß verputzten Wänden und Bäumen. Ein breiter grüner Balken markierte die Baumkronen im Park. Vor den Bäumen erstreckten sich die Felder. Eine Schneekugel auf silbernen Schienen, die ihrem Verderben entgegenfuhr. In der Stadt waren keine Menschen zu sehen, obwohl sie mittlerweile weit über ihnen aufragte. Mit Sicherheit befand sich niemand mehr auf den Terrassen der Dämmerungsmauer. Sie sah verlassen aus.
Und es gab keine Möglichkeit, nach oben in die Stadt hineinzugelangen. Der Bahnsteig hatte sich in der Aufschlagzone befunden. Mit Sicherheit waren alle, die bei dem Konzert gewesen waren, ums Leben gekommen. Im Stadtinnern konnten sie drei Tiere sehen: einen Hirsch, ein Reh, ein Kitz. Swans Schreie wurden eine Oktave höher. »Nein. Nein!«
Es war seltsam, dort zu stehen und die mediterrane Ruhe der leeren Stadt vor Augen zu haben.
Swan rannte unter die Schienen nördlich der Stadt, und der Rest folgte. Von dieser Seite aus konnten sie einen kleinen Konvoi von Bodenfahrzeugen weit im Norden und Westen sehen, die sich durch die Bresche in Beethovens nordwestlicher Wand von ihnen entfernten. Die Fahrzeuge waren schnell und verschwanden schon bald hinterm Horizont.
»Sie sind fort«, stellte Wahram fest.
»Ja, ja. Pauline?«
»Wir können wohl auch zu Fuß zum Raumhafen gehen?«, fragte Wahram besorgt.
Doch Swan sprach gerade mit ihrem internen Qube, und Wahram konnte dem Wortwechsel nicht folgen. Ihr Tonfall war jedenfalls schneidend.
Sie brach den Streit ab und sagte zu ihm: »Die Wagen kommen nicht zurück. Die Stadt wird automatisch anhalten, sobald sie auf die Lücke in den Schienen stößt. Wir müssen hier weg. Jede zehnte Plattform hat Aufzüge, die in Schutzräume unter den Schienen herabführen. So eine müssen wir also erreichen.«
»Wie weit entfernt ist die nächste in Richtung Westen?«
»Etwa neunzig Kilometer. Richtung Osten ist die Stadt gerade erst an einer vorbeigekommen.«
»Neunzig Kilometer!«
»Ja. Wir werden nach Osten gehen müssen. Da sind es nur neun Kilometer. So lange kommen unsere Anzüge mit dem Licht zurecht.«
Wahram sagte: »Vielleicht können wir ja auch die neunzig gehen.«
»Nein, das können wir nicht, wie meinst du das?«
»Ich glaube, dass das möglich wäre. Andere Leute haben das auch schon geschafft.«
»Leistungssportler, die dafür trainiert haben, haben es geschafft. Ich laufe oft genug, um mich damit auszukennen, und vielleicht würde ich es schaffen, aber du nicht. Willenskraft allein genügt nicht. Und der Sonnenläufer hier ist verletzt. Nein, hör zu, wir können ohne Bedenken ins Sonnenlicht. Wir setzen uns nur der Korona aus, und höchstens für etwas über eine Stunde. Das habe ich schon oft gemacht.«
»Mir wäre es lieber, wenn es sich vermeiden ließe.«
»Du hast keine Wahl! Komm schon, je länger wir herumtrödeln, desto länger sind wir der Sonne ausgesetzt!«
Da hatte sie recht.
»Also gut«, sagte er und spürte, wie das Herz ihm in der Brust pochte.
Sie drehte sich um, streckte die Arme Richtung Stadt aus und jaulte wie ein Tier. »Oh, meine Stadt, meine Stadt, ohhhh … wir kommen wieder! Wir bauen dich wieder auf! Ohhhh …«
Hinter dem Glas des Helmvisiers war ihr Gesicht tränennass. Sie bemerkte, wie er sie beobachte, und ließ eine Hand nach hinten schnellen, als wollte sie ihn schlagen. »Komm schon, wir müssen gehen!« Sie deutete auf die drei Sonnenläufer. »Kommt!«
Während sie nach Osten losliefen, heulte Swan über den offenen Kanal, ein Geräusch wie eine Alarmsirene, die ihre Schuldigkeit zwar getan hatte, aber trotzdem in die Leere nach der Katastrophe hinausschrillte. Die Gestalt, die vor ihm herrannte, hätte eigentlich nicht in der Lage sein dürfen, einen derart grässlichen Laut zu erzeugen, der ihm wie Nadeln in den Ohren stach. In der Stadt waren zweifellos eine Menge Tiere zurückgelassen worden – ein ganzes kleines Terrarium von Pflanzen und Tieren. Swan hatte selbst Derartiges erschaffen und gestaltet. Und die Stadt war ihr Zuhause. Mit einem Mal machte ihr Heulen ihm klar, dass es nicht genügte, die Menschen Terminators zu retten. Sie ließen so viel zurück. Eine ganze Welt. Wenn eine Welt stirbt, spielen die Menschen darin keine Rolle mehr – das war es, was das Heulen auszusagen schien.
Die Dämmerung nahte, wie immer.
Es war wirklich eine interessante Frage: Konnte er seine Angst zügeln, sie in geordnete Bahnen lenken und als Antrieb für ein optimales Tempo nutzen, um so schnell wie möglich die Plattform im Osten zu erreichen, im nackten Licht der Morgendämmerung? Und konnte er so mit der mithalten, die vor ihm ging? Swan jammerte, schrie und fluchte noch immer, wehklagte im Rhythmus ihrer Schritte; jedes Mal, wenn sie mit einem Fuß auf den Boden auftraf, machte sie einen Satz nach vorne; wahrscheinlich konnte sie überhaupt nicht langsamer laufen, und Wahram kam nicht mit. Er musste zurückbleiben und sich an sein eigenes Tempo halten, in der Hoffnung, dass er zumindest in der Lage sein würde, dicht genug dranzubleiben, damit sie nicht hinterm Horizont verschwand. Obwohl ihre Spuren ihn natürlich direkt zu dem Bahnsteig führen würden, weshalb es also eigentlich nicht weiter schlimm sein sollte, wenn sie außer Sicht geriet. Trotzdem wollte er sie nicht aus dem Blick verlieren. Die drei Sonnenläufer waren ihr bereits ein gutes Stück voraus, selbst der mit dem verletzten Arm. Vermutlich verlangsamten sie die klagenden Geräusche, die sie von sich gab.
Das Gelände hier gab durch sein Gefälle den Blick viele Kilometer Richtung Norden frei, und das Hochland dort erstrahlte im Sonnenlicht. Der erleuchtete Teil der Landschaft warf Licht über das schattige Terrain, auf dem sie liefen, und Wahram sah die Faltenwürfe im Boden und das Geröll besser, als er je zuvor etwas in seinem Leben gesehen hatte, nicht bloß auf dem Merkur, sondern überhaupt. Alles sah aus, als wäre es von einer Schicht klumpigen Staubs bedeckt, zweifellos eine Folge des täglichen Wechsels von Ofenhitze und Eiseskälte.
Das Licht im Norden wurde so hell, dass er den Blick abwenden musste, um in den dunkleren Bereichen zu seinen Füßen und weiter voraus noch etwas sehen zu können. Vor ihm sprang die wehklagende Gestalt mit großen Sätzen vor den Sternen her. Er zwang sich, im Rhythmus seiner Schritte zu atmen, behielt den Untergrund, über den er rannte, im Blick und konzentrierte sich darauf, schnell und effizient zu laufen. Ein Wert von einem Drittel g konnte trügerisch sein. Er machte einen weder leicht noch schwer. Zwar ermöglichte es einen schnellen Laufschritt, aber ein Sturz war ein nicht zu unterschätzendes Risiko, besonders unter diesen Bedingungen. Swan war in ihrem Element und schien keinen Gedanken an ihn zu verschwenden.
Er rannte weiter. Normalerweise hätte er die Strecke, um die es ging, abhängig vom Terrain in etwa 45 Minuten zurücklegen können. Selbst ein trainierter Läufer musste sich auf diese Distanz zurückhalten, durfte nicht mit Höchsttempo laufen. Ging sie es zu schnell an? Er sah keinerlei Anzeichen dafür, dass sie langsamer wurde.
Andererseits vergrößerte ihr Vorsprung sich auch nicht. Und er hatte nun ein Tempo gefunden, das er länger aufrechterhalten konnte. Es war weder schnell noch langsam. Er ächzte und keuchte und behielt den Boden genauestens im Auge. Wenn er kurz aufblickte, sah er Swan jedes Mal knapp vor dem Horizont. Es würde alles klappen – doch dann stolperte er und musste sich verzweifelt mit den Armen rudernd fangen. Nach diesem Erlebnis hielt er den Kopf gesenkt und konzentrierte sich noch stärker als zuvor auf den Untergrund.
Es war einer jener Momente, in dem der Schock des Unerwarteten einen völlig aus der Wirklichkeit wirft. Er sah Swans Stiefelabdrücke auf einem Palimpsest aus älteren Abdrücken. Sie machte kürzere Schritte als er. Er flog über ihre Abdrücke hinweg, obwohl er hinter ihr zurückblieb. Die Sonnenläufer waren schon halb jenseits des Horizonts. Noch immer erfüllte Swans Klagen seine Ohren, aber er weigerte sich, die Lautstärke herunterzuregeln oder den Ton abzuschalten.
Dann blinzelte die Sonne über den Horizont, und einmal mehr spürte er, wie sein Herz pochte. Zuerst leckten orangefarbene Flammenzungen über den Himmel und verschwanden wieder. Die Korona war sehr viel heißer als die eigentliche Sonnenoberfläche, erinnerte er sich. Ausbrüche magnetischer Felder, durch die die charakteristischen Feuerbögen emporstiegen, sich majestätisch über den Horizont erhoben und dort einen Moment lang verharrten, ehe sie sich in die eine oder andere Richtung entluden. Es war das schiere Feuer der Sonne, das in unfassbaren Explosionen emporstieg, geleitet von den Magnetfeldern, die durch die Flammen wogten. Er rannte weiter, den Blick zu Boden gerichtet, aber als er das nächste Mal kurz aufblickte, war der Horizont orangefarben – es war die Sonne selbst, deren Orange von gelben Blasen und Bannern brodelte und zuckte. Um seine Augen zu schützen, musste sein Visier den Rest des Kosmos schwarz einfärben. Der Horizont war das Einzige, was sich deutlich erkennen ließ, eine Linie vor ihm, nicht besonders weit oben und nicht glatt, sondern von wabernden, verschwommenen Erhebungen und Senken durchzogen. Swan hob sich schwarz von dieser Kulisse ab, Urbild einer Läuferin. Das gleißende Licht ließ ihre Umrisse schmaler erscheinen. Der Boden unter seinen Füßen war nun ein undeutbares grau meliertes Muster, ein wildes Durcheinander von schmerzhaft hellem Weiß und Tiefschwarz, dessen weiße Anteile vor seinen Augen pulsierten und leuchteten. Er musste einfach darauf vertrauen, dass der Untergrund flach genug zum Laufen war, auch wenn es gar nicht danach aussah. Noch etwas später wurde der Boden weiß, mit schwarzen Sprenkeln, und sah glatt wie ein Bettlaken aus. Sie waren im vollen Tageslicht.
Er fing an zu schwitzen. Wahrscheinlich lag es bloß an seiner Angst und daran, dass er seinen Schritt unwillkürlich beschleunigte. Die Kühlung seines Anzugs begann hörbar zu brummen, ein leises, aber schreckenerregendes Geräusch. Der Schweiß würde ihm über Flanken und Beine strömen und sich bei der Versiegelung oberhalb der Stiefel sammeln. Es konnte sich wohl kaum so viel ansammeln, dass er darin ertrank, aber ganz sicher war er sich dessen nicht. Swan, ein schwarzes Flackern in der Sonne, war zu einer Art Brockengespenst geworden, das in einem hellen Pulsieren verschwand und wieder auftauchte. Er meinte zu sehen, wie sie sich über die Schulter nach ihm umblickte, aber er wagte es nicht, ihr zuzuwinken, aus Angst, die Balance zu verlieren und zu stürzen. Sie wirkte klein, und mit einem Mal erkannte er, dass sie nur von den Knien an aufwärts zu sehen war. Der Horizont war etwa genauso weit weg wie auf dem Titan. Das bedeutete, dass sie wahrscheinlich einen Vorsprung von fünf bis zehn Minuten hatte.
Dann erschien die Oberkante des Bahnsteigs unmittelbar links von ihr über dem Horizont, neben dem südlichsten Schienenstrang, und einmal mehr beschleunigte er seinen Schritt. Bei jeder körperlichen Anstrengung konnte man am Ende normalerweise noch einmal etwas zulegen.
Doch diesmal schien er wirklich an seinen Grenzen angelangt zu sein. Tatsächlich verwandelte sich das Ganze sehr schnell in den verzweifelten Versuch, seine Geschwindigkeit zumindest aufrechtzuerhalten. Er keuchte und musste sich dazu zwingen, im Rhythmus seiner schweren, dumpfen Sätze zu atmen, einmal nach Luft schnappen für zweimal Auftreten. Es war höchst beängstigend aufzublicken und festzustellen, dass die Korona nun beinahe über dem gesamten sichtbaren Horizont im Osten aufloderte; durch die leichte Krümmung wirkte es so, als würde sie früher oder später den gesamten Himmel ausfüllen, als wäre das, was vor ihnen aufging, eine Art universale Sonne. Der Merkur schien wie eine Bowlingkugel, die mitten in dieses Licht hineinrollte.
Sein Anzug war nun bis zu den Oberschenkeln mit Schweiß gefüllt, und einmal mehr fragte er sich, ob er darin ertrinken konnte. Andererseits konnte er sich vielleicht auch retten, indem er seinen Schweiß trank. Glücklicherweise blies ihm sein Luftvorrat nach wie vor kühl ins Gesicht.
Die Polarisierung seines Visiers veränderte sich, und durch das schwarze Glas spaltete sich die Struktur der Sonne in Tausende kleine Flammenzungen auf. Große Felder dieser Fäden bewegten sich im Gleichtakt, und ganze Bereiche wirbelten wie vom Wind aufgewühltes Wasser. Die Sonne sah aus wie ein lebendes Geschöpf, ein Tier aus Feuer.
Der Bahnsteig war eine schwarze Fläche in der Schwärze, Swan eine schwarze Bewegung daneben. Er kam bei ihr an, hielt inne, schnappte eine Weile nach Luft, mit auf die Knie gestützten Händen, der Sonne den Rücken zugekehrt. Ihr Wehklagen war verstummt, obwohl sie noch von Zeit zu Zeit leise stöhnte. Die Sonnenläufer waren anscheinend bereits mit dem Fahrstuhl nach unten gefahren; sie wartete, dass er wieder hochkam.
»Tut mir leid«, sagte er, als er wieder sprechen konnte. »Tut mir leid, dass ich so spät dran bin.«
Sie schaute zur Sonne, die nun vier fingerbreit über dem zerklüfteten schwarzen Horizont stand. »Lieber Himmel, schau dir das an«, sagte sie. »Schau dir das bloß mal an.«
Wahram versuchte es, doch es war zu hell, zu groß.
Dann flog ein Bogen der Korona sehr viel höher als alle bisherigen, als streckte die Sonne einen Arm aus, um sie mit ihrer Berührung zu versengen. »O nein!«, rief Swan und zog Wahram an sich und gegen die Tür, wobei sie sich von ihm aus gesehen an die Sonnenseite schob und ihn herunterdrückte, um ihn mit ihrem Leib abzuschirmen. Fluchend drückte sie über seine Schulter hinweg auf die Fahrstuhlknöpfe.
»Komm schon, mach hin!«, brüllte sie. »Oje, das ist eine große Eruption, das ist übel. Wenn man so eine sieht, hat sie einen bereits erwischt.«
Endlich glitt die Fahrstuhltür auf, und sie hasteten hinein. Die Türen schlossen sich. Sie spürten, wie die Aufzugskabine abwärtsfuhr.
Als Wahrams Visier und seine Augen sich an die normalen Lichtverhältnisse angepasst hatten, sah er, dass Swans Gesicht hinter dem Glas nass von Rotz und Wasser war.
Sie schniefte laut. »Verdammt, das war eine große Eruption«, sagte sie und wischte sich durchs Gesicht. Als der Fahrstuhl anhielt und sie ausstiegen, sagte sie zu den Sonnenläufern: »Hat jemand von euch ein Dosimeter dabei?«
Einer von ihnen antwortete, als zitierte er: »Wenn du das fragst, willst du die Antwort nicht wissen.«
Sie blickte zu Wahram, mit einer grimmigen Miene, wie er sie noch nie bei ihr gesehen hatte. »Pauline?«, sagte sie. »Finde das Dosimeter in diesem Anzug.« Eine Weile hörte sie zu, dann griff sie sich an die Brust und sank auf ein Knie herab. »O Scheiße«, sagte sie schwach. »Ich bin erledigt.«
»Wie viel hast du abbekommen?«, rief Wahram beunruhigt. Er schaute auf sein Armpad: Es zeigte eine Strahlungsspitze von 3,762 Sievert an. Zischend sog er den Atem ein. Sie würden bei ihrer nächsten Behandlung eine Menge DNA reparieren lassen müssen – wenn sie bis dahin überlebten. Er wiederholte seine Frage. »Wie viel hast du abbekommen?«
Ohne ihn anzuschauen, stand sie auf. »Ich möchte nicht darüber reden.«
»Das war ein ordentliches Stück Sonne«, sagte er.
»Daran liegt es nicht«, sagte sie. »Es war diese Eruption. Pech.«
Die Sonnenläufer nickten, und Wahram lief ein leichter Schauer über den Rücken.
Sie befanden sich in einer Luftschleuse. Die Fahrstuhltür ging hinter ihnen zu, und die Tür auf der anderen Seite der Schleuse öffnete sich; er spürte einen leichten Luftstrom. Sie betraten einen niedrigen Raum von beträchtlicher Größe, aus dem mehrere Türen und Durchgänge hinausführten.
»Ist das eine Zuflucht?«, fragte Wahram. »Müssen wir hierbleiben, während die Sonne über diese Seite des Planeten zieht? Können wir so lange hierbleiben?«
»Das hier ist Teil eines ganzen Systems«, erklärte Swan. »Es wurde angelegt, um den Bau der Schienen zu unterstützen. Jeder zehnte Bahnsteig hat eine Einheit wie diese darunter, und sie alle sind durch einen Wartungstunnel verbunden.« Die Sonnenläufer waren bereits dabei, die Schränke in einer Wand zu durchsuchen.
»Also könnten wir in diesem Tunnel unter der Erde laufen und versuchen, die Nachtseite einzuholen? Wo man uns helfen kann?«
»Ja. Aber ich frage mich, ob die Stelle unter dem Meteoreinschlag noch passierbar sein wird. Wir können wohl mal nachsehen gehen.«
»Ist er überall beheizt und mit Luft gefüllt?«
»Ja. Nachdem einige Leute gestorben sind, die hier unten Schutz gesucht haben, hat man die Stationen so eingerichtet, dass alles absolut Lebensnotwendige vorhanden ist. Allerdings glaube ich, dass man den Wartungstunnel auf dem Weg Abschnitt für Abschnitt unter Druck setzen muss. Wie wenn man das Licht anschaltet.«
Als einer der Sonnenläufer den Daumen hob, nahm Swan den Helm ab, und Wahram tat es ihr nach.
»Hat jemand von euch noch Helmfunk?«, fragte einer der beiden Sonnenläufer. »Unserer funktioniert nicht mehr. Vielleicht hat die Sonne ihn durchbrennen lassen. Und das Telefon hier funktioniert nicht. Wir können niemanden darüber benachrichtigen, dass wir hier unten sind.«
»Pauline, bist du in Ordnung?«, fragte Swan laut und verstummte.
»Wie geht es deinem Qube?«, fragte Wahram nach einer Weile.
»Mit ihr ist alles in Ordnung«, sagte Swan brüsk. »Sie sagt, dass mein Kopf sie gut isoliert hat.«
»Liebe Güte.«
Sie folgten den Sonnenläufern durch die Halle und stiegen eine Treppe zu einer Reihe großer Zimmer weiter unten hinunter.
Das größte Zimmer enthielt eine Ansammlung von Sofas und niedrigen Tischen sowie den langen Tresen einer Gemeinschaftsküche. Swan stellte sich und Wahram den drei Sonnenläufern vor, deren Alter und Geschlecht sich nicht bestimmen ließ. Sie nickten höflich, nannten aber selbst nicht ihre Namen. »Wie geht es deinem Arm?«, fragte Swan den Verletzten.
»Er ist gebrochen«, sagte die angesprochene Person schlicht und streckte ihn ein wenig aus. »Ein sauberer Treffer. Ich schätze, dass es ein kleiner Stein war, der bei dem Einschlag hochgeschleudert wurde und einfach nur herabgefallen ist.«
Wahram gewann nun doch den Eindruck eines sehr jungen Menschen. »Wir können versuchen, ihn zu richten, und ihn dann auf jeden Fall mit irgendetwas schienen, egal, wie gerade er ist.«
»Hat jemand von euch den Meteoreinschlag gesehen?«, fragte Swan.
Alle drei schüttelten den Kopf. Sie waren alle jung, dachte Wahram. Das war die Sorte Menschen, die kurz vor Sonnenaufgang auf dem Merkur herumlief und sich mit Sonnenvisionen das Hirn verbrannte. Doch anscheinend war auch Swan eine von ihnen. Also handelte es sich wohl eher um die im Geiste Jungen.
»Was machen wir jetzt?«, fragte er.
»Wir können dem Tunnel nach Westen folgen, bis wir zum nächsten Raumhafen auf der Nachtseite gelangen«, sagte einer von ihnen.
»Glaubst du, dass der Tunnel unter der Einschlagstelle noch passierbar ist?«, fragte Swan.
»Ach«, sagte der oder die eine. »Daran habe ich nicht gedacht.«
»Könnte schon sein«, sagte die Person mit dem gebrochenen Unterarm. Die dritte war damit beschäftigt, die Wandschränke durchzuschauen. »Man weiß nie.«
»Ich bezweifle es«, sagte Swan. »Aber wir können wohl mal nachsehen. Es ist nur etwa fünfzehn Klicks weit weg.«
Nur fünfzehn! Doch Wahram hielt den Mund. Sie standen da und schauten einander an.
»Tja, scheiß drauf«, sagte Swan. »Gehen wir nachsehen. Ich will hier nicht bloß rumsitzen.«
Wahram unterdrückte ein Seufzen. Schließlich hatten sie ja keine große Wahl. Und wenn sie nach Westen durchkamen und sich beeilten, konnten sie die Nacht einholen und hoffentlich auch den Raumhafen erreichen, zu dem die Leute aus Terminator gefahren waren.
Also gingen sie zu einer Tür am westlichen Ende des Zimmers, die auf einen Gang führte, der schwach von einer Reihe in die Decke eingelassener Lampen erleuchtet wurde. Die Wände des Tunnels bestanden aus unbearbeitetem Felsgestein, das hier und dort Risse aufwies. An anderen Stellen waren Bohrspuren zu sehen, die zu ihrer Linken schräg nach oben und zur Rechten nach unten wiesen. Sie wanderten mit einem ordentlichen Tempo westwärts. Der Sonnenläufer mit dem gebrochenen Arm war anscheinend der Schnellste von ihnen, obwohl einer der anderen beiden sich dicht bei der verletzten Person hielt. Niemand sprach ein Wort. Eine Stunde verging, und nach einer kurzen Ruhepause auf einigen würfelförmigen Steinklötzen setzten sie ihren Weg eine weitere Stunde lang fort. »Hat deine Pauline eine Aufnahme von dem Meteortreffer gemacht?«, fragte Wahram Swan, nachdem sie sich wieder in Bewegung gesetzt hatten. Der Tunnel war breit genug, damit drei bis vier Menschen nebeneinander gehen konnten, wie die Sonnenläufer vor ihnen es auch taten.
»Ich habe nachgesehen, aber es ist nur ein horizontaler Blitz. Nur ein paar Millisekunden schnell und heiß herabstürzenden Lichts vor der Explosion nach oben und zu den Seiten. Aber warum heiß? Es gibt keine Atmosphäre, um etwas aufzuheizen, das kann es also nicht sein. Es sieht ein bisschen aus, als wäre es von, ich weiß nicht, irgendwo anders gekommen. Aus irgendeinem anderen Universum.«
»Klingt so, als dürften wir noch mit einer anderen Erklärung rechnen.« Wahram konnte sich die Entgegnung nicht verkneifen.
»Tja, dann erklär du es«, sagte sie in demselben bissigen Tonfall, in dem sie normalerweise mit ihrem Qube sprach.
»Das kann ich nicht«, erwiderte Wahram ruhig.
Schweigend gingen sie weiter. Irgendwann liefen sie vermutlich auch unter der Stadt entlang. Über ihnen brannte zweifellos Terminator im Licht des helllichten Tages.
Dann schien der Tunnel vor ihnen zu Ende zu sein. Sie hatten alle ihre Helme wieder aufgesetzt, da sie sich so am bequemsten tragen ließen, und jetzt leuchteten sie mit ihren Helmlampen in die Dunkelheit. Der Tunnel vor ihnen war bis zur Decke mit Steinen und Geröll angefüllt. Es war kalt hier, und unvermittelt sagte Swan: »Wir sollten lieber unsere Helme dichtmachen.« Ihr Visier fuhr herab. Wahram tat es ihr nach.
Sie standen da und schauten die Barriere an.
»Also gut«, sagte Swan grimmig, »nach Westen können wir nicht. Dann müssen wir wohl nach Osten.«
»Aber wie lange wird das dauern?«, fragte Wahram.
Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn wir hier herumsitzen, dauert es achtundachtzig Tage bis zum Sonnenuntergang. Wenn wir gehen, geht es schneller.«
»Wir sollen einmal halb um den Merkur laufen?«
»Nein, nicht die ganze Strecke, weil der Planet sich weiterdreht, während wir unterwegs sind. Darum geht es ja. Ich meine, was sollen wir sonst machen? Ich sitze hier nicht drei Monate lang rum!« Er sah, dass ihr gleich die Tränen kommen würden.
»Wie weit ist das noch mal?«, fragte er und dachte dabei halb um den Titan. Sein Magen krampfte sich zusammen.
»Etwa zweitausend Kilometer. Aber wenn wir, sagen wir, täglich dreißig Kilometer nach Osten zurücklegen, dann verkürzt sich die Wartezeit auf um die vierzig Tage. Wir können sie also halbieren. Das scheint mir die Sache wert zu sein. Und wir müssen nicht ununterbrochen weitergehen. Ich meine, es ist nicht wie beim Sonnenlaufen. Wir laufen unser Tagessoll, essen, schlafen nachts und laufen dann wieder. Wir folgen einer täglichen Routine. Wenn wir von vierundzwanzig Stunden jeweils zwölf Stunden wandern, wäre das zwar eine Menge, aber damit würden wir sogar noch mehr Tage einsparen. Was ist, Pauline?«
»Kannst du Paulines Stimme wieder laut stellen?«, bat Wahram.
»Im Moment möchte ich das nicht. Sie sagt, dass wir die Zeit, die wir hier unten verbringen, um etwa 45 Tage verringern können, wenn wir zwölf Stunden am Tag laufen. Mir genügt das.«
»Tja«, sagte Wahram, »das ist ein gutes Stück Weg.«
»Ich weiß, aber was möchtest du denn machen? Doppelt so lange hier herumsitzen?«
»Nein«, antwortete er nachdenklich. »Wohl nicht.«
Obwohl es eigentlich keine so unglaublich lange Zeit war. Mal wieder Proust oder O’Brian durchlesen, oder ein paarmal den Ring-Zyklus; sein kleines Armpad war gut bestückt. Aber so, wie sie dastand und ihn ansah, wollte er solche Überlegungen lieber nicht aussprechen.
»Ich schalte Pauline laut«, sagte sie, als machte sie ihm als Gegenleistung für seine Zustimmung ein Zugeständnis.
»Solvitur ambulando«, sagte Pauline. »Latein für: ›Die Lösung ist ein Spaziergang‹. Diogenes von Sinope.«
»Auf diese Art beweist man, dass Bewegung etwas Reales ist«, mutmaßte Wahram.
»Ja.«
Wahram seufzte. »Das habe ich ohnehin nicht bezweifelt.«
Als sie wieder die Station erreichten, bei der sie aufgebrochen waren, machten sie eine Bestandsaufnahme. Die drei Sonnenläufer hatten absolut nichts dagegen, sechs oder sieben Wochen lang zu laufen; höchstwahrscheinlich war das ihre normale Lebensweise. Ihre Namen waren Tron, Tor und Nar. Ihr Geschlecht blieb für Wahram unbestimmbar, und sie kamen ihm sehr jung und einfältig vor. Sie lebten einzig und allein dafür, auf dem Merkur umherzuwandern; über andere Themen wussten sie anscheinend nichts zu sagen, oder vielleicht redeten sie nicht viel mit Fremden. Ihr Tun kam ihm kindisch vor, oder extrem provinziell. Natürlich gab es ganze Terrarien voll mit solchen Leuten, bislang hatte er die Merkurianer als höchst kultivierte Menschen kennengelernt, bestens bewandert in Geschichte, Kunst und Kulturgeschichte. Nun wurde ihm klar, dass das nicht uneingeschränkt zutraf. Irgendwie war er davon ausgegangen, dass es sich bei den Sonnenanbetern um Anhänger der verschiedenen frühen Sonnenreligionen des alten Ägypten, Persiens und der Inka handeln würde – aber nein. Sie mochten einfach nur die Sonne.
Es sah ganz danach aus, dass sie zwischen den Wegstationen die eine oder andere Nacht auf dem nackten Tunnelboden wurden verbringen müssen. »Jeden dritten Tag können wir Vorräte fassen«, sagte Swan. »Das ist ein gutes Ziel.«
»Vielleicht schaffen wir sogar noch mehr«, sagte Tron schüchtern.
Tron war der oder die mit dem gebrochenen Arm, also hielt Wahram sich zurück und sagte nicht, dass für ihn persönlich 33 Kilometer am Tag wahrscheinlich genug waren, wenn nicht gar zu viel. Die Vorstellung, dass er dem Rest der Gruppe möglicherweise ein Klotz am Bein sein würde, war entmutigend. In jedem Fall beaufsichtigte Swan das Packen der Rucksäcke, die sie in den Schränken mit den Notvorräten gefunden hatten: Hinein kamen ihre Raumhelme, ein Notvorrat Luft, Wasserflaschen, Essen, Luftmatratzen und ein kleiner Topf mit Kocher. Eine Rolle Aerogel-Decken, die nicht besonders warm aussahen, aber Swan erklärte, dass die Temperatur im Tunnel sich halten würde, und es war recht warm.
Also folgten sie dem Gang. Wahrscheinlich würde es wie eine ausgedehnte Höhlenexpedition werden. Ihre Rucksäcke enthielten auch kleine Stirnlampen, obwohl sie die im Moment nicht brauchen, da sich etwa alle zwanzig Meter ein Quadrat aus warmem, gelbem Licht an der Decke befand, das den harten Felsboden erleuchtete. Swan erklärte, dass sie sich etwa fünfzehn Meter unter der Oberfläche befanden. Der Tunnel war durch Regolithgestein gebohrt und heiß geglättet worden, sodass zahlreiche Wirbel und mineralische Farbeinsprengsel entstanden waren, die an die Schnittflächen mancher Meteoriten erinnerten. In einigen Abschnitten zogen sich Silberbögen über einen Zinnfarbton und dann über Pechschwarz. Man hatte den Boden so weit aufgeraut, dass er den Füßen guten Halt bot. Aufgrund der engen Krümmung des Merkur verschmolzen die weiter entfernten Deckenlichter zu einem einzigen Lichtbalken. Es war, als könnten sie eine Linie sehen, die rund um den Planeten lief, was Wahram irgendwie ermutigend fand. Die Vorstellung, dass sie vierzig Tage am Stück täglich 33 Kilometer laufen mussten, machte ihn fertig. Er musste sich daran erinnern, dass sie sich auf dem 45. südlichen Breitengrad befanden, der Weg also nicht so weit war, wie er am Äquator gewesen wäre. Er erinnerte sich, dass die Schienen Terminators an einigen Stellen sogar noch weiter nach Süden reichten. Es hätte schlimmer kommen können.
Also. Eine Stunde laufen, in einem Tunnel, der sich kaum und nur in wiederkehrenden Mustern veränderte. Anhalten, sich auf den Boden setzen, ein Weilchen ausruhen. Dann eine weitere Stunde laufen. Nach insgesamt drei Stunden anhalten und essen. Schon dieser Abschnitt kam ihm lang vor, wie eine Woche oder mehr in normaler menschlicher Zeit, in der Zeit im Kopf. Aber sie wiederholten den Vorgang dreimal, bevor sie für eine größere Mahlzeit haltmachten. Dann schliefen sie acht bis neun Stunden.
Stunde, Stunde, Stunde; Stunde, Stunde, Stunde; Stunde, Stunde, Stunde.
Wahrams Gefühl, dass die Zeit sich dehnte, nahm stetig zu. Es war schwer zu sagen, warum es ihm so lang vorkam; er hätte gedacht, dass die Wiederholung der täglichen Ereignisse dem Ablauf eine gewisse Stromlinienförmigkeit geben und die Stunden schneller verstreichen lassen würde; aber nein. Stattdessen zog sich alles deutlich in die Länge. Am Ende eines jeden Tages, wenn er sich fußwund und erschöpft zum Schlafen niederließ, konnte er sich auf seiner Luftmatratze ausstrecken und sagen: »Einer geschafft, bleiben noch siebenunddreißig«, oder sogar: »bleiben noch dreiunddreißig«, und dabei verspürte er einen kleinen Stich der Verzweiflung. Jede Stunde kam ihm wie eine Woche vor. Konnten sie das durchhalten?
Die Sonnenläufer gingen normalerweise ein Stück voraus, und wenn Wahram und Swan bei den Pausen zu ihnen aufschlossen, machten sie bereits Tee. Dann, eine ganze Weile, bevor Wahram bereit zum Aufstehen und Weitergehen war, machten die jungen Wilden sich mit einem beinahe verlegenen Nicken und Winken schon wieder davon. Also verbrachte er den Großteil seiner Zeit mit Swan.
Offenbar war sie nicht besonders glücklich mit dieser Wanderung, obwohl es ihre Idee gewesen war. Doch die Alternative war wohl in ihren Augen noch schlimmer, und man musste sie einfach in stummem oder beredtem Elend ertragen. An manchen Tagen ging sie vor, an anderen fiel sie zurück. »Irgendwann wird mir schlecht werden«, sagte sie einmal. Wahram wurde klar, dass ihr die Lage noch weniger gefiel als ihm – weit weniger als ihm, und das sagte sie ihm auch. Es war abscheulich hier unten, erklärte sie ihm; sie litt an Klaustrophobie; sie ertrug es nicht, sich in geschlossenen Räumen aufzuhalten; sie brauchte täglich große Mengen Sonnenlicht; und sie brauchte viel Abwechslung und neue Eindrücke bei ihren täglichen Verrichtungen. All das war für sie unabdingbar, und das sagte sie Wahram ziemlich deutlich. »Es ist alles so grauenhaft«, rief sie oft aus, wobei sie die drei Silben des letzten Worts jeweils einzeln betonte, um ihm Nachdruck zu verleihen. »Grauenhaft, grauenhaft, grauenhaft. Ich halte das einfach nicht aus.«
»Lass uns von etwas anderem reden«, schlug Wahram dann meistens vor.
»Wie denn bitte? Es ist grau-en-haft.«
Trotzdem war nur die jeweils erste Stunde ihrer einschließlich Pausen zwölfstündigen Tagesmärsche von Swans endloser Wiederholung dieser Feststellung angefüllt. Danach befand Wahram es normalerweise für angemessen, darauf hinzuweisen, dass sie über etwas anderes reden mussten, wenn sie unnötige Belastungen auf beiden Seiten vermeiden wollten.
»Bist du mich schon leid?«, schlussfolgerte Swan aus dieser Feststellung.
»Ganz und gar nicht. Ich fühle mich hervorragend unterhalten. Es ist interessant mit dir. Aber dieses Motiv einer ebenso unglückseligen wie unvermeidlichen Reise ist begrenzt. Es gibt nichts Neues mehr aus ihm herauszuholen. Ich will eine andere Geschichte hören.«
»Da hast du ja Glück, ich wollte nämlich gerade das Thema wechseln.«
»Das ist tatsächlich ein Glück.«
Sie trottete vor ihm her. Es gab keinen Grund, sich mit der Fortsetzung ihres Gesprächs zu beeilen: Sie hatten den ganzen Tag lang Zeit. Wahram beobachtete, wie sie vor ihm herging: Ihre Schritte waren elegant und ausgreifend, sie war in ihrer heimatlichen Schwerkraft und bewegte sich geschmeidig, effizient. Innerhalb kurzer Zeit konnte sie einen großen Vorsprung vor ihm gewinnen. Bislang wirkte sie nicht krank. Manchmal hörte er, wie sie sich mit ihrem Qube unterhielt. Aus irgendeinem Grund hatte sie Paulines Stimme so eingestellt, dass man sie auch von außen hören konnte; vielleicht wollte sie ihr kleines Versprechen ihm gegenüber halten. Die Unterhaltungen zwischen den beiden klangen fast immer nach Streit. Swans Tonfall war bestimmt und einschüchternd, aber Paulines durch Swans Haut leicht gedämpfte Alt-Stimme klang ebenfalls auf eine störrische Art streitlustig. Je nachdem, wie man sie programmierte, konnten Qubes zähe Diskussionsgegner sein, Wortklauber erster Güte. Einmal konnte Wahram eine Unterhaltung belauschen, die wohl schon seit einer Weile lief. Swan sagte gerade: »Arme Pauline, an deiner Stelle wäre ich wirklich traurig! Du tust mir ja so leid! Es muss sich schrecklich anfühlen, nur ein Paket von Algorithmen zu sein!«
Pauline sagte: »Das ist das rhetorische Mittel namens Anacoenosis, bei der man so tut, als wäre man anstelle seines Gegners.«
»Nein, überhaupt nicht«, versicherte ihr Swan. »Ich fühle wirklich mit dir. Nur aus so ein paar Qubits zu bestehen, nur aus einer Folge von Algorithmen. In Anbetracht dessen machst du dich eigentlich recht gut.«
Pauline sagte: »Das ist das rhetorische Mittel namens Synchoresis, bei dem man ein Zugeständnis macht, um dann gleich wieder zum Angriff überzugehen.«
»Vielleicht hast du recht. Ich weiß gar nicht, warum ich dich für dumm gehalten habe, obwohl du doch so machtvolle Argumente hast. Aber trotzdem …«
»Das ist eine Kombination von Sarkasmus und Aporie in dem negativen Sinne, den ich bereits zuvor erwähnte, ein Moment des Zweifels, oft vorgetäuscht, der einer erneuten Attacke vorausgeht.«
»Und diese Verteidigung bezeichnet man als Kasuistik, bei der man sich, wenn man nichts zu sagen hat, in eine Wolke von Geschwätz zurückzieht. Vielleicht hast du ja recht, vielleicht geht es einfach nur um schlaues Bewusstsein und um dummes Bewusstsein. Das würde so einiges erklären.«
Pauline schien sich davon nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. »Ich bin gerne dazu bereit, unsere Sprechakte einer Doppelblind-Studie zu unterwerfen, um festzustellen, ob sich zwischen deinen und meinen Aussagen überhaupt ein Unterschied feststellen lässt.«
»Wirklich?«, fragte Swan. »Willst du damit sagen, dass du einen Turing-Test bestehen würdest?«
»Das hängt davon ab, wer die Fragen stellt.«
Swan lachte höhnisch, aber Wahram konnte heraushören, dass sie ehrlich belustigt war. Immerhin dazu war der Qube gut.
Alle halbe Stunde wechselten sie sich mit dem Vorgehen ab, einfach nur, um die Zeit im Blick zu behalten und um die spärliche Aussicht etwas zu variieren. Oft sprachen sie längere Zeit nicht miteinander; sie hätten auch gar nicht ununterbrochen reden können, dachte sich Wahram. In jedem Fall wanderten sie oft mehrere Minuten am Stück schweigend einher. Die Tunnellichter über ihren Köpfen schienen sich aus eigener Kraft nach hinten zu bewegen, als liefen sie auf einem ungeheuren Riesenrad, mit dessen Drehgeschwindigkeit sie gerade so mithalten konnten. Nach einer Stunde taten Wahram die Füße weh, und er war froh, sich setzen zu können. Sie benutzten ihre Aerogel-Schlafmatratzen als Sitzkissen. Ihre Mahlzeiten kamen aus Folienpäckchen, die sich bei der Notfallausrüstung in den Stationen fanden, und waren größtenteils geschmacklos. Nach einer Weile tranken sie am liebsten Wasser, obwohl es Pülverchen gab, die man nach Wunsch hineinmischen konnte.
Normalerweise machten sie eine halbe Stunde Pause. Wenn er länger saß, wurden Wahrams Glieder steif und Swan wurde unruhig. Und die Sonnenläufer würden einen zu großen Vorsprung gewinnen. Also stemmte sich Wahram jedes Mal ächzend hoch und ging wieder los. »Meinst du, dass wir in einer dieser Stationen Gehstöcke finden?«
»Wohl kaum. Wir können bei der nächsten mal schauen. Vielleicht können wir etwas improvisieren.«
Wenn sie länger geschwiegen hatten, blaffte Swan manchmal unvermittelt: »Na schön, erzähl mir was! Erzähl mir von dir! Was ist das Erste, woran du dich erinnern kannst?«
»Ich weiß nicht«, sagte Wahram, während er in seinem Gedächtnis forschte.
»Meine erste Erinnerung«, sagte sie, »stammt aus der Zeit, als ich laut meiner Eltern drei war. Meine Eltern gehörten zu einer Hausgemeinschaft, die ans andere Ende der Stadt ziehen wollte. Ich glaube, wir haben von Norden nach Süden getauscht, um beim Vorbeiziehen einen Blick auf die andere Hälfte des Umlands zu haben. Oder vielleicht haben sie mir das auch bloß erzählt. Es gab also einen Haufen Wagen, und beide Häuser karrten ihr Zeug hin und her. Der gesamte Besitz meiner Familie passte auf einen Generatorkarren und zwei Handkarren. Als unser Zuhause ausgeräumt war, nahm meine Mutter mich noch mal mit rein, und es hat mir Angst gemacht. Ich glaube, deshalb erinnere ich mich noch daran. Mein Zimmer sah leer so viel kleiner aus, und das kam mir irgendwie verdreht vor, als wäre die Welt zusammengeschrumpft, und das machte mir Angst. Wir füllen Zimmer, um sie größer zu machen. Dann sind wir wieder rausgegangen, und das andere Bild, das zusammen mit dem von dem leeren Zimmer hängen geblieben ist, war all das Zeug auf dem Karren, und wie alle daneben am Wegesrand standen, unter einer Baumgruppe. Hinter den Bäumen sah ich hier und da die Dämmerungsmauer.«
Eine Weile wanderten sie schweigend weiter, und das leere Knurren in Wahrams Magen sagte ihm, dass es bald Zeit für die nächste Mahlzeit war.
»Das ist jetzt alles niedergebrannt«, sagte sie.
Ihre Stimme klang ungewöhnlich ruhig. Offenbar trauerte sie nun in anderer Weise.
»Sobald die Sonne so hoch stand, dass die Stadt nicht mehr im Schatten der Dämmerungsmauer lag«, fügte sie hinzu, »ist es sicher schnell gegangen.«
»Ich weiß, dass die Schienen auf der Sonnenseite nicht schmelzen«, sagte Wahram. »Sonst noch etwas?«
»Die Infrastruktur der Stadt dürfte erhalten geblieben sein«, gab sie zu. »Die Hülle. Einige Metalle, Keramiken, Mischungen von beidem. Glasartige Metalle. Und der ganz gewöhnliche, gehärtete rostfreie Stahl. Wir werden sehen. Es wird sicher interessant herauszufinden, wie sie aussieht, wenn die Nacht wieder hereinbricht. Dann ist wahrscheinlich alles bis auf ihr Gerippe verbrannt. Die Pflanzen sind wahrscheinlich gestorben, sobald sie der Sonne ausgesetzt waren. Alle Pflanzen und Tiere werden wohl inzwischen tot sein, selbst die Bakterien und so. Wir müssen es wieder aufbauen.«
»Vielleicht«, erwiderte er.
»Wie meinst du das?«
»Nun ja, man wird sicher erst herausfinden wollen, was mit den Schienen vorgefallen ist, und sichergehen, dass etwas Ähnliches nicht noch einmal passieren kann. Oder die Konstruktionsweise ändern. Man könnte die Stadt beispielsweise von den Schienen befreien und auf Rädern durch die Lande rollen lassen.«
»Dafür bräuchte man einen Antrieb«, bemerkte sie. »Bislang hat die Ausdehnung der Schienen die Stadt vorangetrieben.«
»Tja, dann wird es interessant zu sehen, wie die Sache weitergeht.« Wahram zögerte. »Es wäre sinnlos, die Stadt wieder aufzubauen, nur damit es erneut zu so einem Vorfall kommt.«
»Wenn es ein extrem unwahrscheinlicher Unfall war, würde er sich wohl kaum wiederholen.«
»So wie ich es verstanden habe, hatte man sich eigentlich schon gegen alle derartigen Unwägbarkeiten abgesichert.«
»So habe ich das auch verstanden. Willst du damit andeuten, dass es sich um eine Art Angriff gehandelt hätte?«
»Tja nun, ich habe zumindest über die Möglichkeit nachgedacht. Denk doch nur daran, was uns auf Io widerfahren ist.«
»Aber warum sollte jemand Terminator angreifen?«, wollte sie wissen. »Und warum die Stadt angreifen und sie dann um ein paar Kilometer verfehlen, sodass sie zwar vernichtet wird, die Bewohner aber überleben?«
»Ich weiß nicht«, sagte Wahram voll Unbehagen. »Es wird viel über den Konflikt zwischen Erde und Mars geredet und darüber, dass er zu einem Krieg führen könnte.«
»Ja«, sagte sie, »aber letztlich kommen die Leute immer zu dem Schluss, dass so etwas unmöglich wäre, weil alle viel zu verwundbar sind. Am Ende würde man sich nur gegenseitig auslöschen, wie immer.«
»Darüber habe ich auch schon die ganze Zeit nachgedacht«, räumte Wahram ein. »Wie wäre es mit einem Erstschlag, der nach einem Unfall aussieht und so gut gelingt, dass niemand den Angreifer erkennt, während das Opfer praktisch ausgelöscht wird? In einem derartigen Szenario könnte man meinen, dass es nicht mit Sicherheit zur gegenseitigen Auslöschung kommt.«
»Aber wer hätte ein Interesse daran?«, fragte Swan.
»Fast jede Macht auf der Erde könnte sich etwas davon versprechen. Die sind dort unten sicherer als irgendwer sonst. Und der Mars interessiert sich bekanntermaßen nur für sich selbst, und außerdem kann man ihm nicht mit einem einzigen Pfeil die Luft ablassen. Nein, meiner Meinung nach ist es durchaus denkbar, dass es da draußen Kräfte gibt, die sich für unverwundbar halten. Oder die so wütend sind, dass ihnen die Konsequenzen egal sind.«
»Aber was könnte der Grund dafür sein?«, fragte Swan. »Was löst eine derartige Wut aus?«
»Ich weiß nicht … sagen wir Nahrung, Wasser, Land … Macht … Prestige … Ideologie … materielle Vorteile … Wahnsinn. Das sind die üblichen Motive, nicht wahr?«
»Wahrscheinlich schon!« Sie klang entsetzt, dass er so eine Liste erstellen konnte, als wäre so etwas nicht Teil des Diskurses auf dem Merkur, obwohl es sich schlicht und einfach um Machiavelli handelte, oder um Aristoteles. Pauline kannte diese Liste sicher.
»Wie dem auch sei«, fuhr er fort, »ich bin sehr gespannt, wie die Leute darüber reden, wenn wir hier raus sind.«
»Wir haben nur noch dreißig Tage vor uns«, sagte sie grimmig.
»Einen Schritt nach dem andern«, sagte er mit einem gewissen sportlichen Ehrgeiz.
»Ach bitte! So betrachtet ist das ja eine Ewigkeit.«
»Ganz und gar nicht. Aber ich muss nicht davon reden.«
Nach einer Weile sagte er: »Es ist interessant, wie der Moment kommt, in dem man plötzlich hungrig ist. Eben war man es nicht, und plötzlich dann doch.«
»Das ist nicht interessant.«
»Mir tun die Füße weh.«
»Das ist auch nicht interessant.«
»Jeder Schritt ist ein kleiner Nadelstich, oder zumindest jeder zweite. Wahrscheinlich eine Plantar Fasciitis.«
»Möchtest du dich ausruhen?«
»Nein. Meine Füße sind nur wund, nicht verletzt. Und sie werden heiß. Und dann müde.«
»Ich hasse es.«
»Trotzdem sind wir hier.«
Die Stunde verstrich. Die Pause verstrich. Die nächste Stunde verstrich. Alles Weitere verstrich. Der Tunnel blieb sich immer gleich. Die Stationen jeden dritten Abend blieben sich gleich, wenn auch nicht absolut. Sie plünderten jede einzelne aus, auf der Suche nach etwas Neuem. Am oberen Ende der Fahrstuhlschächte lag die Oberfläche des Merkur in der vollen Sonne. Die Stellen, die direkt vom Licht getroffen wurden, wurden bis zu 700 Kelvin heiß; da es keine Luft gab, gab es auch keine Lufttemperatur. Inzwischen befanden sie sich unterhalb des Tolstoi-Kraters; Pauline war für die Navigation zuständig und musste sich allein auf ihre Berechnungen verlassen; hier unten bekam ihre kleine Funkeinheit keinen Kontakt. Keines der Telefone in den Stationen funktionierte. Swan vermutete, dass sie nur mit den Aufzügen verbunden waren – oder das gesamte System war bei dem Einschlag zerstört worden, und wegen der fortbestehenden Krisensituation der Einwohnerschaft Terminators und aufgrund des Umstands, dass der eingestürzte Teil des Tunnels nun der Sonne ausgesetzt war, stand niemand zur Verfügung, um es zu reparieren.
Stunde um Stunde gingen sie. Die Tage verschwammen zunehmend ineinander, zumal man sich ja bei Bedarf auf Pauline verlassen konnte. Das Pseudoiterativ war noch nie weniger pseudo gewesen. Das hier war das wahre Iterativ. Swan ging vor Wahram und ließ dabei die Schultern hängen, als wollte sie pantomimisch Niedergeschlagenheit darstellen. Die Minuten zogen sich hin, bis ihnen jede einzelne wie zehn vorkam; es war eine exponentielle Ausdehnung der Zeit, eine dickflüssige Verzögerung. Sie würden also zehnmal so lange leben. Er suchte nach etwas, das er sagen konnte, ohne Swan damit zu verärgern. Sie sprach gerade knurrend mit Pauline.
»Als Kind habe ich immer gepfiffen«, sagte er und versuchte es mit einem einzigen Ton. Seine Lippen fühlten sich dicker an als in seinen Kindertagen. Ach ja – die Zunge dichter an den Gaumen. Sehr schön. »Ich habe immer die Melodien der Symphonien, die ich mochte, gepfiffen.«
»Dann pfeife«, sagte Swan. »Ich pfeife auch.«
»Tatsächlich!«, sagte er.
»Ja. Habe ich dir doch erzählt. Aber du zuerst. Kannst du etwas von Beethoven, etwas, das wir auf dem Konzert gehört haben?«
»Ja, ein bisschen. Nur ein paar Melodien.«
»Dann mach das.«
In Wahrams Jugend hatte es eine Phase gegeben, in der jeder Morgen mit Beethovens Eroica hatte beginnen müssen, der Dritten Symphonie, mit der Beethoven seinen Durchbruch gehabt hatte und die ein neues musikalisches Zeitalter und tatsächlich sogar ein neues Zeitalter des menschlichen Geistes eingeläutet hatte. Beethoven hatte sie geschrieben, nachdem er erfahren hatte, dass er taub werden würde. Wahram pfiff also die unwiderstehlichen ersten beiden Noten des ersten Satzes und dann den Hauptteil in einem Tempo, das zu seinem Schritttempo passte. Das war irgendwie gar nicht so schwer. Während er vor sich hin pfiff, war er sich nie sicher, ob ihm die nächste Passage noch einfallen würde, doch immer, wenn er an den Punkt kam, an dem die Melodie sich veränderte, folgte eines unvermeidlich aus dem anderen und entströmte ihm in recht zufriedenstellender Weise. Irgendwo in ihm drin wurden diese Dinge bewahrt. Die Reihe langer, komplexer Melodien folgte in stetem Fluss der zwingenden Logik von Beethovens Geist. Und es war eine dichte, unausweichliche Abfolge aufwühlender Stücke. Die meisten Passagen erforderten eigentlich Kontrapunkte und vielstimmige Harmonien, und Wahram sprang von einer Instrumentalgruppe zur nächsten, je nachdem, welche in seinen Ohren gerade die Hauptmelodie zu spielen schien. Trotzdem wurde die Großartigkeit von Beethovens Musik selbst in diesen ungeübt gepfiffenen Einzeltönen hier in diesem Tunnel greifbar. Es schien, als ob die drei Sonnenläufer sich ihnen wieder näherten, um besser zu hören. Nach dem ersten Satz stellte Wahram fest, dass die anderen drei Sätze ihm ebenso vollständig wie der erste wieder einfielen, und als er fertig war, waren vierzig Minuten vergangen, genau so viel Zeit, wie ein Orchester gebraucht hätte, um die Symphonie vollständig zu spielen. Die großen Variationen des Finales waren so aufrüttelnd, dass er bei seiner Darbietung beinahe zu hyperventilieren begann.
»Wundervoll«, sagte Swan, als er fertig war. »Wirklich gut. Was für Melodien. Mein Gott. Mehr davon. Kannst du noch mehr?«
Wahram musste lachten. Er überlegte. »Tja, ich könnte wohl die Vierte, Fünfte, Sechste, Siebente und Neunte. Und ein paar Stücke aus den Quartetten und Sonaten vielleicht. Aber ich fürchte, bei vielen davon würde ich den Faden verlieren. Bei den späten Quartetten vielleicht nicht. Zu deren süßen Melodien habe ich gelebt. Ich müsste mal ausprobieren, wie es läuft.«
»Wie kannst du dir so viel davon merken?«
»Ich habe lange Zeit nichts anderes gehört.«
»Das ist verrückt. Na schön, dann versuch’s mal mit der Vierten. Du kannst sie einfach der Reihe nach machen.«
»Später bitte. Ich muss mich ausruhen. Meine Lippen sind schon völlig kaputt, sie fühlen sich doppelt so dick an. Im Moment sind sie wie dicke alte Dichtungsringe.«
Lachend ließ sie von ihm ab. Doch eine Stunde später brachte sie das Thema erneut auf und klang dabei, als würde sie zutiefst enttäuscht sein, wenn er ablehnte.
»Na schön, aber du musst mitmachen«, sagte er.
»Aber ich kenne die Melodien nicht. Ich erinnere mich einfach nicht an Sachen, die ich gehört habe.«
»Darauf kommt es nicht an«, erwiderte Wahram. »Pfeif einfach. Du hast gesagt, du würdest pfeifen.«
»Das mache ich auch, aber es klingt so.«
Sie pfiff ein bisschen: ein prächtiger musikalischer Wirbel, genau wie von einem Singvogel.
»Wow, du klingst ja wie ein Vogel«, sagte er. »Sehr gleitende Glissandi, und ich-weiß-nicht-was, aber genau wie ein Vogel.«
»Ja, stimmt. Ich habe ein paar Lerchen-Polypen in mir drin.«
»Du meinst … im Gehirn? Vogelgehirne, in deinem eigenen?«
»Ja. Alauda arvensis. Und auch ein bisschen Sylvia borin, die Gartengrasmücke. Aber wusstest du, dass Vogelgehirne völlig anders organisiert sind als Säugetiergehirne?«
»Nein.«
»Ich dachte, alle wüssten das. Ein Teil der Qube-Architektur basiert auf Vogelgehirnen, deshalb war das für eine Weile im Gespräch.«
»Ich wusste es nicht.«
»Tja, wir Säugetiere denken in Zellschichten, die über unserem Cortex verteilt sind, während Vögel in Zellhaufen denken, die wie Trauben angeordnet sind.«
»Das wusste ich auch nicht.«
»Man kann also seine eigenen Stammzellen nehmen und die DNA von Lerchengesangs-Hirnzentren einsetzen, und dann kann man sie durch die Nase ins Gehirn einführen, wo sie einen kleinen Zellhaufen im limbischen System bilden. Wenn man dann pfeift, verbindet dieser Haufen sich mit dem bereits bestehenden musikalischen Netzwerk. Das sind alles sehr alte Teile. Die sind ohnehin schon fast wie Vogel-Gehirnteile. Die neuen Bereiche werden also eingestöpselt, und los geht’s.«
»Das hast du gemacht?«
»Ja.«
»Wie hat es sich angefühlt?«
Zur Antwort pfiff sie. Ein weiches Glissando ging ins nächste über: helles Vogelgezwitscher, hier bei ihnen im Tunnel.
»Erstaunlich«, sagte Wahram, »ich wusste nicht, dass so etwas möglich ist. Eigentlich solltest du hier pfeifen und nicht ich.«
»Es stört dich nicht?«
»Im Gegenteil.«
Also pfiff sie, während sie weitergingen, und zwar manchmal die ganze Stunde zwischen ihren Pausen. Ihr fröhliches Gezwitscher wechselte zwischen allerlei Phasen und Phrasen, die Wahram so vielfältig vorkamen, dass es sich um den Gesang von mehr als zwei Vogelarten handeln musste. Aber er war sich nicht sicher, und ihm kam der Gedanke, dass sie durch ihren Körper stimmlich ebenso eingeschränkt war wie jeder Vogel auch. Vielleicht handelte es sich also bloß um Varianten der Lieder, die ein echter Singvogel sang. Prachtvolle Musik! Manchmal klang sie ein bisschen nach Debussy, und natürlich waren da auch Messiaens explizite Vogelimitationen. Doch Swans Pfeifen war ausgefallener, wiederholte sich stärker, mit unzähligen Variationen der Motive. Oft wiederholte sie eindringliche Ostinato-Triller, die ihn manchmal nicht mehr losließen und geradezu verrückt machten.
Nachdem sie aufgehört hatte, konnte er sich immer noch einige ihrer Melodien in Erinnerung rufen. Wale hatten natürlich auch Lieder, aber mit Sicherheit waren Vögel die ersten Musiker gewesen. Es sei denn, die Dinosaurier hatten auch schon musiziert. Er meinte sich zu erinnern, dass Hadrosaurier-Schädel tiefe Höhlungen hatten, die nur dem Zweck dienen konnten, Laute zu erzeugen. Es war interessant, sich vorzustellen, was für Geräusche sie wohl von sich gegeben haben mochten. Er summte sogar ein wenig, um auszuprobieren, wie es sich in seiner eigenen tiefen, fassförmigen Brust anfühlte.
»War das jetzt der Vogel oder du?«, fragte er, als sie eine Pause einlegte.
»Wir sind ein und dieselbe«, antwortete sie.
Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Mozarts Star in einem Käfig hat einmal eine Phrase abgewandelt, die Mozart geschrieben hat. Der Vogel hat sie gesungen, nachdem Mozart sie auf dem Klavier gespielt hatte, aber dabei alle Kreuze in Bs umgewandelt. Mozart hat das am Rande des Notenblatts beschrieben. ›Es war wunderschön!‹, schrieb er. Als der Vogel starb, sang er bei seiner Beerdigung und las ihm ein Gedicht vor. Und seine nächste Komposition, die der Verleger Ein musikalischer Spaß nannte, war im Star-Stil.«
»Hübsch«, sagte Wahram. »Es stimmt schon, dass Vögel seit jeher intelligent wirken.«
»Tauben nicht«, erwiderte sie. Doch dann fügte sie in düstererem Tonfall hinzu: »Man kann entweder über hochspezialisierte Intelligenz verfügen oder über eine hohe allgemeine Intelligenz, aber nicht über beides.«
Wahram wusste nicht, was er dazu sagen sollte; der Gedanke hatte sie mit einem Mal missmutig werden lassen. »Tja. Wir sollten zusammen pfeifen.«
»Damit wir beides haben?«
»Was?«
»Vergiss es. In Ordnung.«
Also fing er wieder mit der Eroica an, und diesmal pfiff sie mit und ergänzte seine Melodien mit ihrem Vogelgesang um einen Kontrapunkt oder um eine Oberstimme. Ihre Teile passten sich wie interne Kadenzen oder Jazzimprovisationen an seine an, und in Beethovens stärker heroischen Momenten, die ziemlich häufig vorkamen, steigerten ihre Beiträge sich zu rasend schnellen Improvisationen, als hätte Beethovens Kühnheit bei dem Vogel in ihrem Innern einen Anfall ausgelöst.
Gemeinsam pfiffen sie einige höchst aufwühlende Duette, womit sie die Zeit jedenfalls deutlich anders rumbrachten als bisher. Man brauchte das Geschenk der Zeit, dachte er, um derartige Freuden zu erkunden. Er konnte alle ihm bekannten Stücke Beethovens durchgehen; und danach alle vier Symphonien von Brahms, so edel und von Herzen; und die letzten drei Symphonien von Tschaikowsky. All die großartigen Momente von der Tonspur seiner ach so romantischen Jugend. Swan war derweil für alles zu haben, und mit ihren biologischen Erweiterungen fügte sie den Melodien eine wilde, verschnörkelte oder avantgardistische Note hinzu. Oft verblüfften ihre Beiträge ihn. Die durchdringenden Klänge trugen weit durch den Tunnel, und manchmal wurden die Sonnenläufer langsamer und gingen unmittelbar vor ihnen, wippten zur Musik und pfiffen sogar selbst, nicht besonders gekonnt, aber mit Hingabe. Das Finale von Beethovens Siebter kam bei ihnen als Wanderlied besonders gut an, und wenn sie sich nach einer Pause wieder aufmachten, baten die Sonnenläufer oft darum, den Stoß ins Horn zu hören, mit dem Tschaikowskys Vierte begann, und anschließend das erste Thema, das so erfüllt war von dem Gefühl eines dunklen und großen Schicksals, das all ihre Schritte lenkte.
Am Ende einer ihrer gemeinsamen Interpretationen von Beethovens Neunter schüttelten sie alle verwundert die Köpfe, und Nar drehte sich um und sagte: »Also wirklich, ihr beiden seid gute Pfeifer! Was für Melodien!«
»Tja«, sagte Wahram. »Die sind von Beethoven.«
»Ach so. Ich dachte, man nennt das Pfeifen.«
»Wir dachten, dass ihr euch das ausdenkt«, fügte Tron hinzu. »Wir waren echt beeindruckt.«
Später, als die drei Jugendlichen weiter vorne waren, fragte Wahram: »Sind alle Sonnenläufer so?«
»Nein!«, rief Swan verärgert. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich selbst Sonnenläuferin bin.«
Er wollte nicht, dass sie verärgert war. »Sag mal, hast du dir noch andere interessante Sachen ins Gehirn einsetzen lassen?«
»Allerdings.« Sie klang noch immer sauer. »Es gibt noch eine ältere KI, aus meiner Kinderzeit, die man mir in den Corpus Callosum eingesetzt hat, um mir gegen die Krampfanfälle zu helfen, die ich damals hatte. Und ein Stück von einem Geliebten – wir wollten einige unserer sexuellen Reaktionen gemeinsam erleben und sehen, wohin uns das führt. Wie sich herausstellte, hat es nirgendwohin geführt, aber dieses Stückchen von ihm ist wahrscheinlich immer noch da drin. Und dann gibt es auch noch Zeug, über das ich nicht reden möchte.«
»Liebe Güte. Ist das verwirrend?«
»Überhaupt nicht.« Ihr Tonfall wurde immer grimmiger. »Hast du etwa nichts in dir drin?«
»In gewisser Weise schon. Das hat wohl jeder«, beschwichtigte er sie, obwohl er nur selten von so vielen Gehirneingriffen an einer Person gehört hatte wie bei ihr. »Ich nehme etwas Vasopressin und etwas Oxytocin, wie empfohlen.«
»Die werden beide aus Vasotocin gewonnen«, stellte sie fest. »Die drei Stoffe unterscheiden sich nur in jeweils einer Aminosäure. Deshalb nehme ich Vasotocin. Es ist ein sehr alter Stoff, so alt, dass er sogar das Sexualverhalten von Fröschen steuert.«
»Liebe Güte.«
»Nein, es ist genau das, was du brauchst.«
»Ich weiß nicht. Mir geht es mit dem Oxytocin und dem Vasopressin bestens.«
»Oxytocin ist das soziale Gedächtnis«, sagte sie. »Ohne nimmt man andere Menschen überhaupt nicht wahr. Ich brauche mehr davon. Und wohl auch mehr Vasopressin.«
»Das Monogamie-Hormon«, sagte Wahram.
»Das Hormon für männliche Monogamie. Aber nur drei Prozent aller Säugetiere sind monogam. Ich glaube, sogar Vögel sind da besser.«
»Schwäne«, schlug Wahram vor.
»Ja. Aber monogam bin ich nicht.«
»Nicht?«
»Nein. Außer dass ich den Endorphinen die Treue halte.«
Stirnrunzelnd sagte er sich, dass das wohl ein Scherz sein sollte, und versuchte, ihn aufzugreifen. »Ist das nicht so ähnlich, wie wenn man einen Hund hat?«
»Ich mag Hunde. Hunde sind Wölfe.«
»Aber Wölfe sind nicht monogam.«
»Nein. Aber Endorphine sind es.«
Wahram seufzte. Er hatte das Gefühl, nicht mehr mitzukommen, aber vielleicht hatte auch sie den Faden verloren. »Es ist die Berührung von etwas Geliebtem, die die Endorphine anregt«, sagte er und beließ es dabei. Das Ende der Mondscheinsonate konnte man nicht pfeifen.
In jener Nacht, als sie auf ihren schmalen Aerogel-Matratzen unter ihren dünnen Decken im Tunnel schliefen, erwachte er und stellte fest, dass Swan umgezogen war und sich nun beim Schlafen mit ihrem Rücken an seinen drückte. Der daraus resultierende Oxytocin-Fluss tat seinen schmerzenden Hüften gut; das war eine Interpretationsmöglichkeit. Natürlich war der Drang, mit jemandem zusammen zu schlafen, die Freude daran, mit jemandem zusammen zu schlafen, nicht direkt mit Sex gleichzusetzen. Was ihn beruhigte. Ein Stück weiter hatten sich die drei jungen Wilden wie Kätzchen ineinandergekuschelt. Es war warm, oft zu warm im Tunnel, aber dicht am Boden wurde es kalt. Er hörte Swan ganz leise schnurren. Da waren wohl Katzengene im Spiel – davon hatte er schon gehört. Angeblich fühlte es sich gut an, ganz ähnlich wie Summen. Man empfand Vergnügen, schnurrte, fühlte sich besser; eine positive Feedback-Schleife, die erneut zu Vergnügen führte, das sich mit jedem Atemzug steigerte und klang wie das, was er bei ihr hörte. Eine andere Art von Musik. Gleichzeitig wusste er, dass kranke Katzen manchmal schnurrten, um sich für einen Moment Erleichterung zu verschaffen, oder sogar in der Hoffnung, zu gesunden, indem sie die Schleife in Gang setzten. Er hatte mit einer Katze zusammengewohnt, die gegen Ende ihres Lebens genau das getan hatte. Eine fünfzig Jahre alte Katze ist ein beeindruckendes Geschöpf. Der Verlust jenes uralten Eunuchen war eine von Wahrams ersten Verlusterfahrungen gewesen, weshalb er dessen Schnurren gegen Ende in besonders schmerzhafter Erinnerung hatte, der Klang eines Gefühls, das zu vielschichtig war, als dass er es in Worte hätte fassen können. Ein guter Freund von ihm war schnurrend gestorben, und nun ließ ihn Swans Schnurren besorgt erschauern.
Nach dem Schlafen ging es weiter den Tunnel entlang, verspannt und benommen. Die Morgenstunde. Er pfiff den langsamen Satz der Eroica, Beethovens Trauermarsch für sein Gehör, den er geschrieben hatte, während etwas in ihm gestorben war. »›Wir leben eine Stunde, und es ist immer die gleiche‹«, zitierte er. Dann folgte der langsame Satz des ersten der späten Quartette, Opus 127, Variationen eines Themas, so reichhaltig; ebenso majestätisch wie der Trauermarsch, aber hoffnungsvoller, verliebter in die Schönheit. Und dann folgte der dritte Satz, der so kraftvoll und fröhlich war, dass es auch ein vierter hätte sein können.
Swan bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Zum Teufel mit dir«, sagte sie. »Das macht dir doch Spaß.«
Sein basskrächzendes Gelächter fühlte sich gut in der Brust an, ein bisschen wie bei einem Hadrosaurier. »›Die Gefahr war wie Wein für ihn‹«, knurrte er.
»Woher kommt das?«
»Aus dem Oxford English Dictionary. Da habe ich es zumindest gesehen.«
»Du magst Zitate.«
»›Wir haben einen weiten Weg hinter uns und einen weiten Weg vor uns. Irgendwo dazwischen sind wir.‹«
»Na komm, woher ist das jetzt? Aus einem Glückskeks?«
»Ich glaube, es ist von Reinhold Messner.«
Er musste zugeben, dass es ihm wirklich irgendwie Spaß machte. Nur noch um die fünfundzwanzig Tage; das war keine so große Zahl. Das konnte er durchhalten. Es war das iterativste Pseudoiterativ, das er jemals erleben würde, und damit interessant, als eine Art Grenzfall dessen, was er sich zu wünschen meinte. Eine Übersteigerung ins Absurde. Und der Tunnel war eigentlich nicht so sehr ein Fall von Reizentzug als einer von Reizüberflutung, wenn auch nur in Form sehr weniger Elemente: die Tunnelwände, die Lichter, die vor und hinter ihnen an der Decke entlangliefen, so weit das Auge reichte.
Doch Swan machte das Ganze kein bisschen Spaß. Dieser spezielle Tag schien sogar der bislang schlimmste zu sein. Sie wurde langsamer, was er noch nie zuvor erlebt hatte, und zwar so sehr, dass er selbst seinen Schritt verlangsamen musste, damit er sie nicht abhängte.
»Geht es dir gut?«, fragte er, nachdem er gewartet hatte, bis sie ihn einholte.
»Nein. Mit geht es scheiße. Wahrscheinlich fängt es jetzt an. Spürst du etwas?«
Tatsächlich fühlten Wahrams Hüften, Knie und Füße sich wund an. Aber seinen Fußknöcheln ging es gut, und wenn er erst einmal unterwegs war, ließen die Beschwerden nach. »Ich habe Schmerzen«, gab er zu.
»Ich mache mir Sorgen wegen der letzten Sonneneruption, die wir gesehen haben. In dem Moment, in dem man die Dinger sieht, hat man schon Strahlung abbekommen, die früher ausgesandt wurde. Ich befürchte, dass wir gekocht worden sind. Mir geht’s dreckig.«
»Ich habe bloß Muskelkater. Aber du hast mir beim Aufzug auch Deckung gegeben.«
»Wahrscheinlich hat es uns verschieden stark erwischt. Ich hoffe es. Fragen wir die jungen Wilden, wie es ihnen geht.«
Das taten sie beim nächsten Halt. Ihren Mienen nach hatten die Sonnenläufer sich schon Sorgen gemacht, weil Swan und Wahram so lange gebraucht hatten. Tron fragte: »Wie läuft’s?«
»Ich fühle mich krank«, sagte Swan. »Wie geht es euch dreien?«
Sie warfen einander Blicke zu. »Bestens«, sagte Tron.
»Keine Übelkeit, kein Durchfall? Keine Kopf- oder Muskelschmerzen? Kein Haarausfall?«
Die drei Sonnenläufer schauten einander achselzuckend an. Sie waren früher mit dem Aufzug heruntergefahren.
»Ich habe keinen großen Appetit«, sagte Tron, »aber das Essen ist auch nicht besonders.«
»Mein Arm tut mir immer noch weh«, räumte Nar ein.
Swan warf ihnen wütende Blicke zu. Sie waren Sonnenläufer, jung und kräftig; sie taten, was sie sonst auch taten, sah man davon ab, dass sie diesmal unter der Erde waren und sich in entgegengesetzter Richtung bewegten. Dann blickte sie zu Wahram. »Was ist mit dir?«
Wahram sagte: »Ich habe Schmerzen. Ich kann nicht viel schneller gehen, als ich es ohnehin schon tue, und auch nicht viel länger, sonst geht bei mir was kaputt.«
Swan nickte. »Bei mir ist es genauso. Ich muss vielleicht sogar langsamer machen. Es geht mir schlecht. Deshalb habe ich überlegt, ob ihr drei nicht vorauseilen solltet, und wenn ihr die Abenddämmerung erreicht oder auf Menschen trefft, könnt ihr ihnen von uns erzählen.«
Die Sonnenläufer nickten. »Woher wissen wir, dass wir da sind?«, fragte Tron.
»Wenn ihr in zwei Wochen das nächste Mal eine Station erreicht, könnt ihr mit einem Aufzug hochfahren und nachsehen.«
»Alles klar.« Tron schaute zu Tor und Nar, und alle drei nickten. »Wir gehen Hilfe holen.«
»Genau. Aber geht nicht so schnell, dass ihr Schaden nehmt.«
Ab diesem Zeitpunkt waren Wahram und Swan nur noch zu zweit unterwegs. Eine Stunde laufen, eine halbe Stunde sitzen, neunmal hintereinander; dann eine ausgedehnte Mahlzeit und schlafen. Eine Stunde war eine lange Zeit. Neun davon kamen ihnen mit ihren Pausen zusammengenommen vor wie zwei Wochen. Dann und wann pfiffen sie, aber Swan ging es nicht besonders gut, und Wahram pfiff nicht gerne alleine, wenn sie ihn nicht darum bat. Manchmal ließ sie sich ein wenig zurückfallen, um sich zu erleichtern: »Ich hab Durchfall«, sagte sie einmal. »Ich muss meinen Anzug ausleeren.« Später sagte sie bloß noch: »Einen Moment mal«, und dann, nach fünf oder zehn Minuten, schloss sie wieder zu ihm auf, und es ging weiter. Sie wirkte ausgetrocknet. Außerdem wurde sie launisch und attackierte Pauline oft heftig, und manchmal auch Wahram. Sie war streitlustig, widerborstig, unleidig. Immer wieder war Wahram über ihr unfaires Verhalten, über die sinnlose Missstimmung, die sie aus nichtigen Anlässen verbreitete, verärgert. Dann wanderte er wortlos einher und pfiff halblaut düstere kleine Bruchstücke von Melodien. In diesen Momenten bemühte er sich, an eine Lektion zu denken, die er im Hort gelernt hatte, nämlich dass man sich bei Personen mit Stimmungsschwankungen die Tiefpunkte einfach wegdenken muss, um irgendwie zurechtzukommen. Sein Hort hatte aus sechs Personen bestanden, und eine davon hatte unter fast schon bipolaren Störungen gelitten. Letztlich war das Wahrams Meinung nach die Ursache dafür gewesen, dass die Gruppe sich mehr oder weniger aufgelöst hatte. Er selbst war besonders wenig in der Lage gewesen, jenen Menschen in seiner Gesamtamplitude wahrzunehmen. Zwischen sechs Leuten gab es insgesamt 30 Beziehungen, und die hexadezimalen Weisheiten besagten, dass alle diese Beziehungen bis auf höchstens ein oder zwei gut sein mussten, damit ein Hort bestehen konnte. Das war bei ihnen nicht einmal annähernd der Fall gewesen, aber später war Wahram klar geworden, dass die launische Person in ihren besseren Phasen diejenige war, die er am meisten vermisste. Daran musste er sich stets erinnern und daraus lernen.
Dann vergingen einmal zehn Minuten, in denen Swan weiter hinten im Tunnel verschwunden blieb, ohne wieder aufzutauchen; Wahram meinte, ein Stöhnen zu hören.
Also ging er zurück und fand sie lang hingestreckt auf dem Boden, kaum bei Bewusstsein, den Raumanzug bis zu den Fußknöcheln heruntergelassen. Offenbar war sie gerade dabei gewesen, sich zu entleeren. Und sie stöhnte tatsächlich.
»O nein!«, sagte er und kauerte sich neben ihr hin. Sie hatte immer noch ihr langärmeliges Hemd an, aber darunter war ihre Haut an der Seite, mit der sie auf dem Boden gelegen hatte, blau vor Kälte. »Swan, kannst du mich hören? Bist du verletzt?«
Er hielt ihren Kopf hoch. Ihre Augen waren leicht wässrig. »Verdammt«, sagte er. Er wollte ihren Raumanzug nicht über den Schlamassel zwischen ihren Beinen hochziehen. »Warte«, sagte er, »ich mache dich sauber.« Wie so ziemlich jeder hatte er genügend Windeln in seinem Leben gewechselt, sowohl bei Kindern als auch bei Alten, und er wusste, was er zu tun hatte. In einer Tasche seines Raumanzugs hatte er Toilettenpapier. Er selbst hatte sich in letzter Zeit einige Male schnellstens entleeren müssen, was ihm nun mit einem Mal größere Sorgen bereitete. Und außerdem hatte er Wasser und dank seines Anzugs sogar einige folienverpackte Feuchttücher. Die holte er also hervor, hob Swans Beine an und säuberte sie. Obwohl er den Blick abgewandt hielt, war nicht zu übersehen, dass sich inmitten ihres Schamhaars ein kleiner Penis mit Hodensack befand, etwa dort, wo sonst wohl ihre Klitoris gewesen wäre, vielleicht auch etwas höher. Ein Gynandromorph; das überraschte ihn nicht. Er säuberte sie möglichst schnell und sorgfältig, legte dann ihre Arme über seine Schultern, hob sie an – sie war schwerer, als er erwartet hatte – und zog ihren Raumanzug hoch. Sobald er die obere Hälfte über ihre Hüfte bekommen hatte, setzte er sie wieder ab. Er steckte ihre Arme in die Ärmel. Glücklicherweise halfen Raumanzug-KIs einem wie Butler dabei, sie anzulegen. Er musterte ihren kleinen, auf dem Boden liegenden Rucksack. Der musste mit. Er beschloss, ihn ihr wieder aufzusetzen. Nachdem er all das geschafft hatte, hob er sie hoch und trug sie vor sich auf den Armen. Da ihr Kopf weiter nach hinten runterbaumelte, als es ihm lieb war, hielt er an.
»Swan, hörst du mich?«
Sie stöhnte und blinzelte. Er bekam einen Arm in ihren Nacken und griff nach. »Was?«, sagte sie.
»Du hast das Bewusstsein verloren«, erklärte er. »Während du Durchfall hattest.«
»Oh«, sagte sie. Dann zog sie ihren Kopf hoch und legte die Arme um seinen Hals. Er ging wieder los. So schwer war sie nicht, jetzt, wo sie ihm dabei half, sie festzuhalten. »Ich habe schon gemerkt, dass ein Kreislaufkollaps im Anmarsch ist«, sagte sie. »Bekomme ich wieder meine Tage?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Fühlt sich so an, ich habe Krämpfe. Aber wahrscheinlich habe ich nicht genug Körperfett dafür.«
»Vielleicht nicht.«
Mit einem Mal zuckte sie in seinen Armen und löste sich von ihm, um ihm ins Gesicht zu schauen. »Liebe Güte. He, hör mal – manchen Leuten ist es unangenehm, mich anzufassen. Ich muss dir das sagen. Du weißt, dass manche Menschen etwas von Enceladus-Lebensformen einnehmen?«
»Einnehmen?«
»Ja. Ein Aufguss einer Bakterien-Suite. Sie essen gewisse Enceladaner, das soll gut für einen sein. Ich habe es auch gemacht. Vor langer Zeit. Manchen Leuten gefällt die Vorstellung halt nicht. Sie wollen nicht mal in Kontakt mit jemandem geraten, der das mal gemacht hat.«
Wahram schluckte beunruhigt und verspürte einen Anflug von Übelkeit. Kam das von den außerirdischen Mikroben oder nur von dem Gedanken daran? Es ließ sich nicht feststellen. Was geschehen war, war geschehen, er konnte es nicht ändern. »Wenn ich mich richtig erinnere«, sagte er, »dann gilt die enceladanische Suite als nicht besonders ansteckend?«
»Da hast du recht. Aber sie wird durch Körperflüssigkeiten übertragen. Man muss sie ins Blut bekommen, glaube ich. Obwohl ich meine Dosis getrunken habe. Vielleicht reicht es, wenn es in den Verdauungstrakt kommt. Stimmt. Deshalb zerbrechen sich die Leute so sehr den Kopf darüber. Also …«
»Ich werde schon damit fertig«, sagte Wahram. Er trug sie eine Weile, in dem Bewusstsein, dass sie seine Miene genau musterte. Wenn er danach ging, was er beim Rasieren im Spiegel sah, gab es dort wahrscheinlich nicht viel zu entdecken.
Ohne es zu wollen, sagte er: »Du hast einige seltsame Dinge mit dir veranstaltet.«
Sie verzog das Gesicht und schaute weg. »Andere Leute moralisch zu verurteilen ist eigentlich nie besonders höflich, findest du nicht?«
»Ja, da hast du natürlich recht. Wobei mir auffällt, dass wir genau das die ganze Zeit tun. Aber ich meinte auch nur, dass es seltsam ist. Das war gar nicht verurteilend gemeint.«
»Ja, klar. Es ist ja so gut, seltsam zu sein.«
»Ist es das nicht? Wir sind alle seltsam.«
Erneut drehte sie den Kopf, um ihn anzusehen. »Ich weiß, dass ich es bin. In vielerlei Hinsicht. Ich vermute, du hast gesehen, in welcher noch.« Sie warf einen Blick in ihren Schoß.
»Ja«, sagte Wahram. »Obwohl es nicht das ist, was dich seltsam macht.«
Sie lachte kraftlos.
»Hast du Kinder gezeugt?«, fragte er.
»Ja. Das hältst du wahrscheinlich auch für seltsam.«
»Ja«, antwortete er ernst. »Obwohl ich selbst androgyn bin und einmal ein Kind zur Welt gebracht habe. Das ist in meinen Augen eine sehr seltsame Erfahrung, egal, wie man dazu kommt.«
Sie legte den Kopf in den Nacken, um ihn besser betrachten zu können. Offenbar war sie erstaunt. »Das wusste ich nicht.«
»Es war ja auch nicht wirklich wichtig für den Augenblick«, sagte Wahram. »Du weißt schon, es gehört der Vergangenheit an. Wie dem auch sei, ich habe den Eindruck, dass die meisten Raumer ab einem gewissen Alter praktisch alles ausprobiert haben, findest du nicht auch?«
»Wahrscheinlich. Wie alt bist du?«
»Ich bin hundertundelf, danke. Und du?«
»Hundertfünfunddreißig.«
»Hübsch.«
Sie verlagerte ihr Gewicht in seinen Armen und bedrohte ihn spielerisch mit erhobener Faust. Er schlug zurück, indem er sagte: »Meinst du, du kannst jetzt wieder laufen?«
»Vielleicht. Ich versuche es mal.«
Er setzte sie mit den Füßen auf den Boden und richtete sie auf. Sie lehnte sich gegen ihn. Eine Weile hielt sie sich an seinem Arm fest und humpelte vorwärts, dann straffte sie sich und ging langsam alleine weiter.
»Wir müssen nicht laufen, weißt du«, sagte er. »Ich meine, wir können bis zur nächsten Station gehen und dort warten.«
»Warten wir ab, wie es mir geht. Das können wir entscheiden, wenn wir dort ankommen.«
Wahram sagte: »Meinst du, dass du von der Sonne krank bist? Weil ich nämlich sagen muss, dass mir die Gelenke dafür, dass wir uns hier in M-Schwerkraft aufhalten, ziemlich wehtun.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Wir haben eine Ladung abbekommen, die stark genug war, um unsere Funkgeräte zu grillen. Pauline sagt, dass es dafür zehn Sievert braucht.«
»Puh.« Der LD-50-Wert lag bei etwa dreißig, erinnerte er sich. »Mein Armpad hätte sich gemeldet, wenn ich so viel abbekommen hätte. Ich habe darauf geschaut und war nur bei drei. Aber du hast mich gedeckt, während wir auf den Aufzug gewartet haben.«
»Na ja, wir mussten ja nicht beide die volle Ladung abbekommen.«
»Das stimmt wohl. Aber wir hätten uns abwechseln können.«
»Du wusstest nichts über die Eruption. Wie hoch liegt dein bisheriger Gesamtwert?«
»Bei etwa zweihundert«, antwortete er. Angesichts der langen Aufenthalte im All waren sie alle von der DNA-Reparatur durch die Langlebigkeitsbehandlungen abhängig.
»Nicht übel«, sagte sie. »Ich bin bei fünf.« Sie seufzte. »Vielleicht war’s das. Oder vielleicht hat es nur die Bakterien in meinen Eingeweiden umgebracht. Ich glaube, das ist es, was passiert ist. Ich hoffe es. Obwohl ich auch Haarausfall habe.«
»Meine Gelenke tun mir wahrscheinlich nur von dem ganzen Gelaufe weh«, bemerkte Wahram.
»Kann sein. Was machst du als Training?«
»Ich gehe spazieren.«
»Das ist nicht gerade eine Herausforderung für dein Herz-Kreislaufsystem.«
»Ich spreche, ich laufe, ich pruste und schnaufe.« Er versuchte, sie vom Thema abzulenken.
»Schon wieder ein Zitat?«
»Ich glaube, das habe ich mir selbst ausgedacht. Eines meiner Mantras für die tägliche Routine.«
»Tägliche Routine.«
»Ich mag Routine.«
»Kein Wunder, dass es dir hier drin gefällt.«
»Ja, hier gibt es wirklich Routine.«
Sie trotteten eine ganze Weile schweigend weiter durch den Tunnel. Als sie die nächste Station erreichten, beschlossen sie, für heute Feierabend zu machen und ließen sich nieder, um ein paar Stunden länger zu rasten und um die ganze Nacht durchzuschlafen. Einmal ging Swan im Tunnel zurück, um etwas zu erledigen. Als sie zurückkehrte, schlief sie sofort wieder ein, und sie schien gut zu schlafen, ohne Schnurren. Am nächsten Morgen wollte sie weitergehen und erklärte, dass sie langsam und vorsichtig machen würde. Also setzten sie ihren Weg fort.
Die Lichter tauchten immer vor ihnen in der Ferne aus dem Boden auf, wanderten dann empor und in gestrecktem Bogen über sie hinweg. Es sah aus, als gingen sie ständig bergab. Wahram versuchte, ein bestimmtes Licht im Auge zu behalten, aber er war sich nicht sicher, ob es wirklich von dem Moment, in dem es aufgetaucht war, bis zu dem, in dem es sich über ihren Köpfen befand, dasselbe geblieben war. Es war eine Art Rechenübung: Der Blick zum Horizont; irgendwie vervielfacht, aber er war sich nicht sicher, wie oft. »Kannst du Pauline darum bitten, unsere Entfernung zum Horizont zu berechnen?«, fragte er einmal.
»Das weiß ich so«, sagte Swan knapp. »Es sind drei Kilometer.«
»Ich verstehe.«
Mit einem Mal kam ihm das nicht mehr so wichtig vor.
»Wollen wir pfeifen?«, fragte Wahram, nachdem sie eine halbe Stunde lang schweigend gelaufen waren.
»Nein«, antwortetet sie. »Ich bin leergepfiffen. Erzähl mir eine Geschichte. Erzähl mir deine Geschichte, ich möchte mehr über dich erfahren, etwas, das ich noch nicht weiß.«
»Das ist leicht.« Trotzdem fiel ihm mit einem Mal nicht ein, wo er anfangen sollte. »Tja, ich wurde vor einhundertelf Jahren auf dem Titan geboren. Meine Mutter war ein Gebärmann, der ursprünglich von Kallisto stammte, ein Jupiteraner der dritten Generation, und mein Vater war ein Androgyner vom Mars, der bei einem der dortigen politischen Konflikte ins Exil geschickt wurde. Ich bin hauptsächlich auf dem Titan aufgewachsen, aber dort war es damals sehr beengt, nur Stationen und einige wenige kleine Kuppeln. Ich bin dann ein paar Jahre lang auf Herschel zur Schule gegangen, und dann auch auf Phoebe, und auf einem der Polar-Orbiter und dann, erst vor Kurzem, auf Iapetus. Im Saturn-System ziehen fast alle umher, um ein Gefühl für das Ganze zu bekommen, insbesondere, wenn man im öffentlichen Dienst zu tun hat.«
»Ist das bei vielen Leuten der Fall?«
»Alle müssen die Grundausbildung absolvieren und, wie man es ausdrückt, dem Saturn einen gewissen Teil ihrer Zeit opfern. Außerdem kann es sein, dass man für eine Regierungsposition ausgelost und eingezogen wird. Manchen, die eingezogen werden, gefällt es nach einer Weile, sodass sie länger im Amt bleiben. Bei mir war das auch so. Eine meiner letzten Pflichtzeiten war auf Hyperion, ein sehr kleines Plätzchen, das ich mit der Zeit aber wirklich lieb gewonnen habe. Es war so seltsam dort.«
»Schon wieder dieses Wort.«
»Das Leben ist seltsam, so kommt mir das zumindest vor.« Er sang: »People are strange, when you’re a stranger …«, und brach dann ab. »Hyperion ist wirklich seltsam. Allem Anschein nach entstanden, als zwei andere, ähnlich große Monde kollidiert sind. Das Überbleibsel sieht aus wie eine Honigwabe, und die Ränder um die Löcher sind weiß, während das Pulver, mit dem sie etwa zur Hälfte gefüllt sind, schwarz ist. Wenn man also über die Grate läuft oder über der entsprechenden Mondseite schwebt, sieht es aus wie ein ausgesprochen kühnes Kunstwerk.«
»Ein großer alter Goldsworthy«, sagte sie.
»Sozusagen. Und man kann die Dinge dort mit seiner Anwesenheit leicht durcheinanderbringen. Es stand also zur Debatte, wie man dort eine Station einrichten sollte, oder ob man das überhaupt tun sollte, und wie sie zu betreiben wäre, wenn man sich auf Dauer dort einrichtete. Nachdem ich dabei geholfen habe, komme ich mir in gewisser Weise wie ein Kurator vor.«
»Interessant.«
»Das dachte ich mir auch. Ich bin dann nach Iapetus zurückgekehrt, was auch ein wunderbarer Ort zum Leben ist. Irgendwie ist es, als ob man schräg nach hinten zurücktritt, um das ganze System besser in den Blick zu bekommen und zu verstehen, warum es derartige Gefühle auslöst. Dort haben ich Terraforming-Management studiert, und die diplomatischen Künste, soweit es sie gibt …«
»Ein ehrlicher Mann, der von seinem Land ausgesandt wird, um in seinen Diensten zu lügen?«
»Ich hoffe, dass das keine zutreffende Beschreibung von Diplomaten ist. Meine Definition ist es jedenfalls nicht, und ich hoffe, dass es auch nicht deine ist.«
»Ich glaube nicht daran, dass wir uns aussuchen können, was Worte bedeuten.«
»Nein? Ich schon.«
»Nur in sehr engen Grenzen«, erwiderte sie. »Aber erzähl weiter.«
»Tja, danach bin ich zum Titan zurückgekehrt und habe dort beim Terraforming mitgearbeitet. In jenen Jahren bekam ich meine Kinder.«
»Mit Partnern?«
»Ja, in meinem Hort gab es sechs Eltern und acht Kinder. Von Zeit zu Zeit treffe ich mich noch mit allen. Es ist mir fast immer ein Vergnügen. Ich versuche, mir keine Sorgen um sie zu machen. Ich liebe die Kinder; ich erinnere mich an Teile ihres Lebens, an die sie sich selbst nicht erinnern. Für mich ist das wohl interessanter als für sie. Aber das ist schon in Ordnung. Seinen Erinnerungen entkommt man nicht. Man erinnert sich an die Zeiten, die einem gefallen haben, und will etwas Ähnliches. Aber man bekommt immer nur Neues. Also versuche ich, das zu wollen, was ich bekomme. Es ist nicht leicht zu verstehen, wie man das anstellt. Ich glaube, wenn man in sein zweites Lebensjahrhundert eintritt, wird es schwer.«
»Es war schon immer schwer«, sagte sie.
»Stimmt. Diese Welt ist mir ein großes Rätsel. Ich meine, ich verstehe, was man über das Universum sagt, aber ich weiß nicht, wie ich es anwenden soll. Für mich klingt das alles bedeutungslos. Deshalb stimme ich mit denen überein, die der Meinung sind, dass wir uns unseren eigenen Sinn erschaffen müssen. Das Konzept des Projekts erscheint mir dabei brauchbar. Etwas, das man in der Gegenwart tut, das man schon in der Vergangenheit getan hat und sich daran erinnern kann, und das man voraussichtlich auch in der Zukunft tun wird, um etwas zu erschaffen. Ein Kunstwerk, das nicht notwendigerweise an und für sich Kunst sein muss, aber etwas Menschliches, das es wert ist, getan zu werden.«
»Das ist doch Existenzialismus, oder?«
»Ja, ich glaube, das stimmt. Ich wüsste nicht, wie man es sonst angehen soll.«
»Hmm.« Sie dachte darüber nach. Das Licht glänzte in weißen Bahnen auf ihrem schwarzen Haar. »Erzähl mir von deinem Hort. Wie lief das?«
»Auf dem Titan gab es normalerweise Gruppen von Leuten im gleichen Alter, die zusammen unterrichtet wurden und zusammen arbeiteten. Innerhalb dieser Gruppen schlossen sich dann wiederum kleinere Gruppen zusammen, um Kinder großzuziehen. Normalerweise waren das Gruppen von etwa einem halben Dutzend Leuten, die ganz unterschiedliche Strukturen aufwiesen. Das hing von Kompatibilitäten ab. Damals war man allgemein der Meinung, dass Paarbindungen aus zu wenig Menschen bestanden, um auf Dauer zu funktionieren – dass sie in weniger als der Hälfte der Fälle von Erfolg gekrönt waren, und Kinder brauchten mehr als das. Also fand sich eine größere Zahl zusammen. Praktisch alle betrachteten das als eine Methode, Kinder großzuziehen, und nicht als lebenslange Einrichtung. Daher die Bezeichnung Hort. Letztlich waren eine Menge verletzter Gefühle im Spiel. Aber wenn man Glück hat, dann ist es eine Weile lang gut, und das muss man dann einfach mitnehmen und weiterziehen, wenn die Zeit dazu gekommen ist. Ich halte nach wie vor den Kontakt zu den anderen; wir sind sogar noch ein Hort. Aber die Kinder sind erwachsen, und wir sehen einander kaum noch.«
»Ich verstehe.«
Eine ganze Weile gingen sie schweigend weiter, und Wahram fühlte sich Swan sehr verbunden und verspürte kaum Schmerzen.
Dann sagte Swan heftig: »Ich halte es hier drin nicht aus. Nichts ändert sich hier. Es ist wie ein Gefängnis oder eine Schule.«
»Unser Leben unter der Oberfläche des Merkur«, sagte er ein kleines bisschen beleidigt, weil er sich eigentlich gerade recht wohlgefühlt hatte. Andererseits war sie krank. »Bald ist es zu Ende.«
»Nicht bald genug.« Sie schüttelte missmutig den Kopf.
Sie gingen weiter, Stunde um Stunde. Alles blieb gleich. Swan konnte besser laufen als unmittelbar nach ihrem Zusammenbruch, aber sie war nach wie vor langsamer als zuvor. Wahram störte sich nicht daran; tatsächlich gefiel ihm das langsamere Tempo. Morgens hatte er immer noch ziemlichen Muskelkater, aber es schien nicht schlimmer zu werden; und er verspürte auch keine Schwäche oder Übelkeit, obwohl er voller Sorge auf solche Symptome achtete. Oft war ihm ein bisschen schwummrig. Swan hatte sich alle Kopfhaare ausgerissen und dabei eine ganze Reihe verschorfter Stellen hinterlassen.
»Was ist mit dir?«, sagte er einmal. »Erzähl mir mehr von dir. Hast du wirklich Stunden am Stück nackt auf Eisblöcken gelegen? Hast du dir Darstellungen des Sonnensystems in die Haut geritzt und dir mit Blut Muster auf den Leib gezeichnet?«
Sie ging vor ihm, und jetzt zögerte sie, blieb dann stehen und überließ ihm die Führung. »Ich möchte dir nicht über die Schulter zurufen«, erklärte sie, als er an ihr vorbeiging.
»Und ja«, sagte sie, als es weiterging, »ich habe all das getan, und auch andere Abramovics. Ich bin der Meinung, dass der Körper ein gutes Rohmaterial für Kunst darstellt. Aber das war vor allen Dingen in meinen Fünfzigern.«
»Und davor?«
»Geboren wurde ich wie gesagt in Terminator. Damals hat man die Stadt gerade erst errichtet, und als ich ein Hofkind war, baute man noch das Bewässerungssystem ein. Es war eine große Sache, als die Erde eintraf. Sie kam aus großen Rohren, wie flüssiger Zement, nur schwarz. Ich habe mit meiner Mutter inmitten von alldem gespielt, während sie die ersten Ernten eingeholt haben und die Pflanzen im Park zu sprießen begannen. Als Kind war es da toll. Kaum vorzustellen, dass all das bereits tot ist, wenn wir wieder nach oben gelangen. Das muss ich sehen, damit ich es glaube. Jedenfalls bin ich dort aufgewachsen.«
»Die Vergangenheit ist immer verloren«, sagte Wahram. »Ob die Orte nun noch existieren oder nicht.«
»Für dich vielleicht, o Weiser«, sagte sie. »Ich habe das nie so gesehen. Wie dem auch sei, danach habe ich eine Weile auf der Venus gelebt und für Shukra gearbeitet. Und dann habe ich Terrarien entwickelt. Danach bin ich zu Kunstwerken übergegangen und habe mit Landschaften und Körpern gearbeitet. Goldsworthys und Abramovics, die mich beide immer noch sehr interessieren und mit denen ich meinen Lebensunterhalt verdiene. Ich gehe dorthin, wo ich gerade Aufträge bekomme. Aber ich habe ein ständiges Zimmer in Terminator. Meine Eltern sind beide gestorben, weshalb meine Großeltern Alex und Mqaret in gewisser Weise ihren Platz für mich eingenommen haben. Wenn man sich die beiden ansieht, kann man schwerlich etwas gegen Paarbindungen sagen. Der arme Mqaret.«
»Nein, ich weiß«, sagte er. »Ich habe ja auch vom Großziehen von Kindern gesprochen, dafür braucht man anscheinend mehr als zwei. Das musst du doch auch festgestellt haben?«
Sie warf ihm einen Blick zu. »Eines der beiden ist irgendwo dort draußen. Das Kind, das ich mit Zasha hatte, ist gestorben.«
»Tut mir leid.«
»Nun ja, sie war alt. Ich will im Moment nicht darüber reden.«
Tatsächlich wurde sie langsamer, und er hatte den Eindruck, dass sie leicht vornübergebeugt lief. »Geht es dir gut?«
»Ich fühle mich wieder schwächer.«
»Möchtest du eine Pause machen?«
»Nein.«
Also schleppten sie sich schweigend weiter.
Er half ihr für den Rest der Stunde und stützte sie beim Gehen, indem er ihr einen Arm um den Rücken legte und sie aufrecht hielt. Nach der Pause richtete sie sich unter Mühen auf und ging weiter, ohne irgendwelchen Widerspruch zu dulden. Als sie die nächste Station erreichten, schaute er in alle Schränke und Kammern, und in der letzten (aber man fand das, was man suchte, eben immer am letzten Ort, an dem man nachsah) fand er einen kleinen vierrädrigen Rollwagen mit einer Stange auf Brusthöhe an einer Seite. Der Rest bestand aus einer Ladefläche unmittelbar über den Rädern, die etwa ein mal zwei Meter groß war. Die beiden lenkbaren Räder befanden sich von der Stange aus gesehen am anderen Ende.
»Wie wär’s, wenn wir unsere Rucksäcke hier drauflegen und ich sie schiebe«, schlug er vor.
Sie schaute ihn an. »Du denkst, du könntest mich durch die Gegend schieben.«
»Es wäre leichter, als dich zu tragen, falls es so weit kommt.«
Sie warf ihren Rucksack auf den Wagen und ging am nächsten Morgen vor ihm los. Erst musste er sich beeilen, doch dann holte er sie ein, und dann wurde er gemeinsam mit ihr langsamer.
Stunde für Stunde. Manchmal setzte sie sich, ohne dass sie ein Wort darüber verloren, auf den Wagen. Über ihnen an der Oberfläche zogen die nach großen Künstlern der Erde benannten Krater und Steilhänge vorbei: Sie liefen unter Ts’ao Chen, Philoxenos, Rumi und Ives vorbei. Wahram pfiff Columbia, the Gem of the Oceans, eine Melodie, die Ives in so denkwürdiger Weise in eine seiner ungezügelteren Kompositionen eingebaut hatte. Er dachte an Rumis Ich starb als Stein und wünschte, dass er es sich besser gemerkt hätte. »Ich starb als Stein und sprosst’ als Pflanze auf. Ich starb als Pflanze und ward Tier darauf. Ich starb als Tier und bin zum Mensch geworden. Was grauet mir, hab’ durch den Tod ich je verloren?«
»Von wem ist das?«
»Rumi.«
Wieder Stille. Sie folgten der langen Krümmung des Tunnels. Die Wände waren hier rissig, und es sah aus, als hätte man sie ausgiebiger als den Rest erhitzt, um das Gestein undurchlässig zu machen. Eine splittrige Glasur, Schwarz auf Schwarz. Eine endlose Krakelüre.
Stöhnend erhob sich Swan von dem Rollwagen und ging zurück Richtung Westen. »Warte bitte, ich muss schon wieder.«
»Liebe Güte. Viel Glück.«
Nach einer Weile hörte er ein entferntes Ächzen, vielleicht sogar ein verlorenes »Hilfe.« Den Wagen hinter sich herziehend ging er im Tunnel zurück.
Sie war einmal mehr mit heruntergelassenem Anzug zusammengebrochen. Einmal mehr säuberte er sie. Diesmal war sie nicht völlig bewusstlos und wandte den Blick ab. Einmal versuchte sie sogar kraftlos, ihn beiseitezuschieben. Mittendrin schaute sie trübe und zornig zu ihm auf. »Das bin nicht wirklich ich«, sagte sie. »Eigentlich bin ich gar nicht hier.«
»Tja«, erwiderte er ein wenig beleidigt. »Ich auch nicht.«
Sie sackte wieder zusammen. Nach einer Weile sagte sie: »Also ist niemand hier.«
Als er fertig war und sie wieder angezogen hatte, bugsierte er sie auf den Wagen und schob sie weiter. Sie lag wortlos da.
Bei der nächsten Pause brachte er sie dazu, etwas Wasser mit darin gelösten Nährstoffen und Elektrolyten zu trinken. Der Rollwagen, bemerkte sie einmal, erinnerte langsam an ein Krankenhausbett. Dann und wann pfiff Wahram ein wenig, meistens Brahms. Brahms’ Melancholie lag eine gewisse stoische Entschlossenheit zugrunde, die sehr gut zu ihrer jetzigen Lage passte. Sie hatten noch zweiundzwanzig Tage vor sich.
An diesem Abend saßen sie schweigend da. Sie verfielen in ein leicht verwirrtes Instinktverhalten, wie Menschen es oft nach kleinen Krisen tun – wandten die Köpfe voneinander ab und trafen gedankenlos ihre Vorbereitungen für die Nacht; und dann sanken sie unter dumpfen Schmerzen in den Schlaf, diese unsichtbare Zuflucht. Bei solchen Gelegenheiten musste man sich zum Trost an das Pseudoiterativ klammern. Seine Wunden lecken. All das war schon einmal geschehen und würde erneut geschehen.
Eines Morgens stand sie auf und versuchte loszugehen, nur um sich nach zwanzig Minuten wieder auf den Wagen zu setzen. »Das ist besorgniserregend«, sagte sie kleinlaut. »Wenn so viele Zellen zerstört worden sind …«
Wahram sagte nichts. Er schob sie weiter. Mit einem Mal kam ihm der Gedanke, dass sie vielleicht hier in diesem Tunnel sterben würde und er nichts dagegen unternehmen konnte, und eine Woge der Übelkeit durchlief ihn und ließ ihm die Knie weich werden. Ein Krankenhausaufenthalt hätte so viel bewirken können.
Nach langem Schweigen sagte sie mit gedämpfter Stimme: »Ich schätze, es hat mir seit jeher Spaß gemacht, mein Leben aufs Spiel zu setzen. Ich habe den Schock der Angst genossen. Den Nervenkitzel, wenn man überlebt. Es war eine Art Dekadenz.«
»Das hat meine Mama auch immer gesagt«, bemerkte Wahram.
»Wie bei Gruselgeschichten, mit denen man sich schocken will, um wach zu werden. Aber das ist alles Unsinn. Angenommen, man erlebt, wie jemand stirbt, und hilft ihm dabei. All die Bilder, die man sieht, sind aus Horrorgeschichten. Es wird einem klar, dass diese Bilder aus dem eigenen Kopf stammen. Aber man bleibt trotzdem. Und nach einer Weile begreift man, dass die Welt nun mal so ist. Jeder endet so. Man hilft, aber eigentlich kann man nicht helfen, man sitzt einfach nur da. Und am Ende hält man die Hand von jemand Totem. Eigentlich sollte es ein Albtraum sein. Knochen, die aus der Erde emporfahren, um einen zu packen und so. Aber in Wirklichkeit ist es völlig natürlich. Es ist alles natürlich.«
»Ja?«, fragte Wahram, nachdem sie eine Weile innegehalten hatte.
Sie hörte ihn und sprach weiter. »Der Körper versucht, am Leben zu bleiben. Es ist gar nicht so … es ist natürlich. Vielleicht erkennst du es ja jetzt. Erst stirbt das Menschenhirn und dann das Tiergehirn, das Reptiliengehirn. Wie bei deinem Rumi, nur anders herum. Das Reptilienhirn versucht noch mit dem letzten bisschen Kraft, alles in Gang zu halten. Ich habe das schon gesehen. Es ist eine Art Verlangen. Eine ganz reale Kraft. Das Leben will leben. Aber früher oder später reißt ein Glied in der Kette. Die Kraft gelangt nicht mehr dorthin, wo sie hinmuss. Das letzte bisschen ATP wird aufgebraucht. Und dann stirbt man. Unsere Körper werden wieder zu Erde, zu Nährboden. Ein natürlicher Kreislauf. Was …« Sie blickte zu ihm auf. »Was soll’s also? Warum das Entsetzen? Was sind wir?«
Wahram zuckte mit den Schultern. »Philosophen-Tiere. Ein seltsamer Zufall. Eine Seltenheit.«
»Oder so normal wie nur was, aber …«
Sie sprach nicht weiter.
»Verstreut?«, riet Wahram. »Zeitweilig?«
»Allein. Immer allein. Selbst wenn wir jemanden berühren.«
»Tja, wir können reden«, sagte er zögerlich. »Das ist auch ein Teil unseres Lebens. Nicht nur das Reptilienzeug. Manchmal strecken wir uns und überbrücken die Leere.«
Sie schüttelte traurig den Kopf. »Ich falle immer in die Leere hinein.«
»Hmm«, sagte er ratlos. »Das wäre schlecht. Aber ich verstehe nicht, wie das sein kann. Angesichts dessen, was du mir erzählt hast. Und dessen, was ich von dir gesehen habe.«
»Es kommt darauf an, wie man sich dabei fühlt.«
Darüber dachte er ein Weilchen nach. Die Lichter zogen über ihnen vorbei, während er den Wagen schob. Stimmte das? Ging es bei der Frage, ob etwas gut oder schlecht war, darum, wie man sich dabei fühlte, und nicht darum, was man eigentlich tat oder was andere darin sahen? Tja, man steckte in seinen Gedanken fest. Die zeitgenössische medizinische Definition des Begriffs »neurotisch« lautete schlicht: »Eine Neigung zu negativen Gedanken.« Wenn man diese Neigung hatte, dachte er, während er Swans kahlen, schuppigen Kopf betrachtete, wenn man neurotisch war, dann gab es praktisch unendlich viel Stoff, um die Neurose zu füttern. Was war schon die wahre Sicht der Dinge? Hier waren sie, eine Ansammlung von Atomen, und hatten tief im Inneren das Gefühl, dass es auf etwas ankam, selbst während sie zu den Sternen emporschauten, selbst wenn sie sich in einem Tunnel befanden, der sich ewig nach unten krümmte. Und dann verloren die Atome irgendwann die Verbindung untereinander, das Gebilde kollabierte. Was war von alldem zu halten?
Er pfiff den Beginn von Beethovens Neunter und stellte sich vor, wie er sie durch ihre finstere Stimmung hindurch und am anderen Ende wieder ans Licht zerrte, mithilfe der tiefsten Tragödie des alten Meisters, dem ersten Satz der Neunten. Er sprang zu der sich wiederholenden Phrase gegen Ende des ersten Satzes, diejenige, die Berlioz für einen Ausweis von Wahnsinn gehalten hatte. Er wiederholte sie. Es handelte sich um die einfache Melodie, die er sein ganzes Leben lang verwendet hatte, um bergauf zu gehen. Jetzt ging es bergab, am Rande eines großen Kreises, aber es passte perfekt zu seiner Stimmung. Er pfiff die acht Töne immer wieder. Sechs runter, zwei hoch. Einfach und klar.
Schließlich sprach Swan, die mit an die Stange gelehntem Rücken, den Blick nach vorne gerichtet, vor ihm auf dem Wagen lag, wieder. Ihr Tonfall war verwaschen, und sie klang, als redete sie mit Pauline. »Ich frage mich, ob die wissen, dass wir leben. Das weiß man nie. Damals war das das Wichtigste überhaupt, aber dann haben sich die Zeiten geändert, und man selbst hat sich verändert, und sie haben sich verändert. Und dann ist es vorbei. Sie hat mir nichts mehr zu sagen.«
Eine lange Pause trat ein. Dann sagte Wahram: »Wer war der Vater deines Kindes? Hattest du je eins auf beide Arten?«
»Ja. Ich weiß nicht, wer der Vater war. Ich bin zur Fastnacht schwanger geworden, wenn alle Masken tragen. Ein Mann, der mir gefiel. Sie weiß, wer es ist, sie hat ihn ausfindig gemacht.«
»Gefällt es dir, wenn jemand maskiert ist?«
»Damals schon. Und seine Haltung, sein ganzes Auftreten.«
»Ich verstehe.«
»Ich wollte es unkompliziert halten. Damals war das ganz normal. Heute würde ich es nicht mehr so machen. Aber das weiß man immer erst, wenn es zu spät ist. Für ein paar Jahre entwickelt man eine folie à deux, die sehr intensiv ist, aber eigentlich albern, und wenn man sie hinter sich hat, kann man nicht darauf zurückblicken, ohne das Gefühl zu haben … man fragt sich zwangsläufig, ob es gut war oder nicht. Es fehlt einem, aber man bereut es auch, es ist so dumm. Ich tue ständig alles Mögliche, aber ich weiß immer noch nicht, was ich tun sollte.«
»Leben und Kunst schaffen«, sagte er.
»Von wem ist das?«
»Von dir, dachte ich.«
»Daran kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht habe ich es gesagt. Aber was, wenn ich keine besonders gute Künstlerin bin?«
»Es ist ein Langzeitprojekt.«
»Und manche Leute blühen erst spät im Leben auf, willst du das sagen?«
»Ja, vermutlich. Etwas in der Art. Man erhält immer wieder neue Chancen.«
»Mag sein. Aber irgendwie wäre es gut, Fortschritte zu machen, weißt du. Nicht immer die gleichen Fehler zu wiederholen.«
»Spiralen«, schlug er vor. »Steig in einer Spirale auf, indem du die gleichen Sachen auf höherer Ebene wiederholst. Das ist die ganze Kunst, egal, was man macht.«
»Für dich vielleicht.«
»Aber es ist nichts Ungewöhnliches an mir.«
»Dem möchte ich widersprechen.«
»Nein, nichts Ungewöhnliches. Mittelmaß als Prinzip.«
»Befürwortest du dieses Prinzip?«
»Ich bin exemplarisch dafür. Der Mittelweg. Mitten im Kosmos. Aber nicht mehr als alle anderen auch. Ein seltsames Merkmal der Unendlichkeit. Wir sind alle irgendwie in der Mitte. Wie dem auch sei, ich finde diese Perspektive hilfreich. Ich benutze sie, um an Dingen zu arbeiten. Um sozusagen mein Projekt zu strukturieren. Als Teil einer Philosophie.«
»Philosophie.«
»Ja, schon.«
Dieser Gedanke ließ sie verstummen.
»Vielleicht sind wir daran vorbeigegangen«, sagte Swan eines Tages, während sie hinter ihm ging. »Vielleicht sind wir den ganzen Weg unter der Tagseite durchgelaufen und auch unter der Nachtseite, und jetzt sind wir wieder in der Sonne. Vielleicht haben wir die Zeit und die Entfernung aus dem Blick verloren. Vielleicht hast du uns mit deiner Unfähigkeit in die Scheiße geritten, genau wie Pauline.«
»Nein«, antwortete er.
Sie beachtete ihn nicht und brummte etwas davon, was während ihrer Zeit unter der Erde alles schiefgegangen sein konnte. Es wurde eine erstaunlich lange und schaurig einfallsreiche Liste: Vielleicht hatten sie die Orientierung verloren und gingen nun in Wirklichkeit nach Westen; vielleicht waren sie in einen anderen Tunnel geraten und Richtung Nordpol abgebogen; vielleicht hatte man den Merkur evakuiert und sie waren die einzigen lebenden Wesen auf dem Planeten; vielleicht waren sie in der Sonne gestorben und waren mit dem Aufzug in die Hölle herabgefahren. Wahram fragte sich, ob sie das im Ernst meinte, und hoffte, dass dem nicht so war. Es gab so vieles, was zu ihrem Unglück beitrug. Ihr Tagesrhythmus; möglicherweise lief sie, während sie eigentlich schlafen sollte. Vor vielen Jahren hatte er gelernt, dass man keinem Gedanken trauen durfte, den man zwischen zwei und fünf Uhr morgens fasste; in diesen dunklen Stunden fehlten dem Gehirn bestimmte Nährstoffe oder Funktionen, die es brauchte, um Denkprozesse korrekt abzuwickeln. Gedanken und Gefühle verdunkelten sich und wurden zuweilen schwarz wie Fugilin. Besser man schlief, und wenn man das nicht konnte, dann tat man besser schon im Vorhinein alle Gedanken und Stimmungen ab, die einen in diesen Stunden überkamen, und wartete, was der neue Tag an frischen Perspektiven mit sich brachte. Er fragte sich, ob er sie irgendwie danach fragen konnte, ohne ihr zu nahe zu treten. Wahrscheinlich nicht. Sie war ohnehin schon gereizt und fühlte sich offenbar elend.
»Wie geht es dir?«, fragte er dann und wann.
»Wir werden nie ankommen.«
»Stell dir einfach vor, dass wir auch schon nirgendwo angekommen sind, bevor wir hier waren. Ganz egal, wo man sich hinbewegt, man kommt nie irgendwo an.«
»Aber das ist völlig falsch. Himmel, ich hasse deine Philosophie. Natürlich sind wir irgendwo angekommen.«
»Wir kommen von weit her, und wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
»Ach bitte. Fick dich doch mit deinen Glückskeksen. Wir sind jetzt hier. Es dauert zu lange. Zu lange …«
»Stell es dir als Ostinato-Passage vor. Eine sture Wiederholung.«
Doch dann verstummte sie und begann zu stöhnen – es war beinahe ein Summen, ein Geräusch, das sie von sich gab, ohne es zu merken. Kleine, elende Schnaufer. Ein Weinen. »Ich will nicht reden«, sagte sie, als er erneut nachfragte. »Halt die Klappe, und lass mich in Ruhe. Du bist für mich zu nichts zu gebrauchen. Wenn es hart auf hart kommt, bist du zu nichts zu gebrauchen.«
In jener Nacht erreichten sie eine weitere Aufzugsstation. Sie stopfte Essen in sich hinein, wie man Batterien in eine Maschine steckt. Anschließend brummte sie wieder vor sich hin, ohne dass er ihren Worten hätte folgen können. Wahrscheinlich redete sie mit ihrer Pauline. Die ganze Zeit ging das so, ein Brummen in seinem Ohr. Weiter hinten im Tunnel führten sie ohne Zwischenfall ihre Waschungen durch, und dann legten sie sich auf ihre Matten und versuchten zu schlafen. Das Brummen ging weiter. Nach einer Weile schlief Swan schließlich wimmernd ein.
Am nächsten Morgen wollte sie nicht essen, nicht sprechen und sich nicht einmal bewegen. Sie lag katatonisch oder synkopisch oder vielleicht einfach paralysiert auf der Seite.
»Pauline, kannst du reden?«, fragte Wahram schließlich leise, weil Swan einfach nichts von sich geben wollte.
Die leicht gedämpfte Stimme aus Swans Hals sagte: »Ja.«
»Kannst du mir etwas über Swans Lebenszeichen sagen?«
»Nein«, sagte Swan völlig unvermittelt.
»Die Lebenszeichen, auf die ich Zugriff habe, sind normal, mit Ausnahme des Blutzuckerspiegels.«
»Du musst essen«, sagte Wahram zu Swan.
Sie antwortete nicht. Er löffelte ihr etwas Elektrolytenlösung in den Mund und wartete geduldig, bis sie schluckte. Als sie ein paar Deziliter aufgenommen hatte, ohne allzu viel davon wieder auszuspucken, sagte er: »Dort oben ist es Mittag. Über uns an der Oberfläche ist es Mittag. Wir haben die Tagseite zur Hälfte hinter uns. Ich glaube, wir müssen dich hochbringen, damit du die Sonne sehen kannst.«
Swan öffnete ein Lid einen Spaltbreit und blickte zu ihm auf.
»Wir müssen sie sehen«, erklärte er.
Sie stemmte ihren Oberkörper hoch. »Meinst du?«
»Ist das möglich?«, fragte Wahram zurück.
»Ja«, sagte sie nach kurzem Überlegen. »Das ist es. Wir können im Schatten der Schienen bleiben. Zu Mittag ist es nicht so schlimm wie morgens oder nachmittags, weil die Photonen direkt von oben kommen und nicht so viele auf den Anzug treffen. Allerdings sollten wir nicht so lange draußen bleiben.«
»Das geht in Ordnung. Du musst sie sehen, und jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Mittag auf dem Merkur. Komm mit.«
Er half ihr auf. Dann suchte er ihre Helme, brachte sie in die Aufzugskabine und kehrte zurück, um Swan hochzuheben und sie hinüberzutragen. Während sie hochfuhren, setzte er ihr ihren Helm auf, versiegelte ihn, überprüfte ihre Luftzufuhr und tat das Gleiche bei sich. Laut der Anzeigen war alles in bester Ordnung. Der Aufzug kam zum Stehen. Wahram spürte seinen Puls in den Fingerkuppen.
Die Fahrstuhltür öffnete sich zur Außenplattform, und die Welt wurde weiß. Ihre Visiere passten sich an, und vor ihnen erschien die Welt in einfachen, schwarz-weißen Umrissen. Ein wenig unten links von ihnen befanden sich die Schienen der Stadt, die weiß und hell leuchteten. Rechts von ihnen erstreckte sich die Mittagslandschaft des Merkur bis zum Horizont. Da es keine Atmosphäre gab, konnte nur die Planetenoberfläche selbst die volle Wucht der Sonnenstrahlen absorbieren; sie glühte weiß. Wahrams Visier hatte sich so stark eingedunkelt, dass die Sterne am Himmel nicht mehr zu erkennen waren. Sie hatten eine weiße Fläche unter einem schwarzen Halbkreis vor sich. Das Weiß pulsierte leicht.
Swan trat durch die Tür auf die Plattform. »He!«, sagte Wahram und folgte ihr. »Komm wieder rein!«
»Wie sollen wir da drin die Sonne sehen? Komm, für einen Moment ist das schon in Ordnung.«
»Die Plattform ist sicher siebenhundert Kelvin heiß, wie der ganze Rest auch.«
»Deine Stiefelsohlen sind absolut isoliert gegen solche Temperaturen.«
Erstaunt ließ Wahram sie los. Sie legte den Kopf in den Nacken, um in die Sonne zu schauen. Wahram folgte ihrem Blick unwillkürlich – ein atemberaubendes Feuer – und schaute dann ängstlich wieder zu Boden. Er konnte ganz in Ruhe das Nachbild betrachten: ein gleichzeitig weißer und roter Kreis, riesig und inmitten seines Blickfelds. Die Dhalgren-Sonne, schließlich Wirklichkeit geworden. Sein Visier war offensichtlich fast vollständig polarisiert und von einem nahezu undurchsichtigen Schwarz, und trotzdem sah das Land noch weiß aus, mit feinen schwarzen Gravurlinien. Swan schaute noch immer zum Himmel. Halb verdurstet tauchte sie in die Fluten ein. Obwohl ihm am ganzen Leib der Schweiß ausbrach, folgte er ihrem Beispiel und blickte erneut auf. Die Sonnenoberfläche war eine wogende Masse weißer Bänder. Sie hüpfte auf und ab, als tanzte sie auf ihren Hitzewellen; erst nach einer Weile begriff Wahram, dass es sein eigenes Herz war, das seinen Leib so heftig durchschüttelte, dass das Bild vor seinen Augen auf und ab sprang. Eine sich windende weiße Scheibe in einem sternenlosen, kohlefarbenen Himmel. Überall in dem Kreis glitten die weißen Banner übereinander hinweg, und die Bewegung ließ an eine gewaltige, lebende Intelligenz denken. Natürlich, ein Gott, warum nicht? Die Sonne sah aus wie ein Gott.
Wahram riss sich von dem Anblick los und nahm Swan beim Arm.
»Komm schon, Swan. Wir gehen wieder rein. Du hast deine Spritze gekriegt.«
»Nur eine Sekunde.«
»Swan, tu das nicht.«
»Nein, warte. Schau mal da unten bei der Schiene.« Sie deutete mit dem Finger. »Da kommt etwas.«
Und tatsächlich. Aus Richtung Osten, über den glatten Boden unmittelbar neben der äußersten Schiene, näherte sich ihnen ein kleines Fahrzeug. Es hielt am Fuß der Treppe zur Plattform, und an der Fahrzeugseite öffnete sich eine Tür. Eine Gestalt im Raumanzug kam zum Vorschein, blickte zu ihnen hoch und winkte sie zu sich hinunter.
»Kann es sein, dass unsere Sonnenläufer jemanden geschickt haben, um uns abzuholen?«, fragte Wahram.
»Ich weiß nicht«, sagte Swan. »War dafür genug Zeit?«
»Ich glaube nicht.«
Sie stiegen die Stufen hinab, wobei Wahram Swan am Arm festhielt. Sie schien ziemlich sicher auf den Beinen zu sein. Vielleicht hatte der Anblick der Mittagssonne ihr neue Kraft gegeben. Oder die Aussicht auf Rettung. Sie betraten die Luftschleuse des Fahrzeugs, und als sie sich hinter ihnen geschlossen hatte, ließ man sie ins geräumige Innere, wo sie die Helme abnehmen und reden konnten. Ihre Retter waren völlig verblüfft. Sie erzählten, dass sie gerade dabei waren, mit Höchstgeschwindigkeit die Tagseite zu überqueren, und sie hatten nicht im Entferntesten damit gerechnet, auf einer der Plattformen Menschen zu sehen. »Noch dazu welche, die direkt in die Sonne schauen! Wie zum Teufel seid ihr da hingekommen! Was treibt ihr hier?«
»Wir kommen aus Terminator«, erklärte Wahram. »Es sind noch drei von uns dort unten, ein bisschen weiter in Richtung Osten.«
»Aha! Aber wie seid ihr … Nun ja, fahren wir erst mal los. Den Rest könnt ihr uns auf dem Weg erzählen.«
»Natürlich.«
»Hier, setzt euch ans Fenster und schaut mal raus, es ist wunderschön.«
Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Sie passierten die Station, auf der sie gestanden hatte. Gerettet. Swan und Wahram starrten einander an.
»O nein!«, sagte Swan schwach – als wären sie in eine unerwartete Katastrophe gestolpert – als würde sie etwas verpassen, weil man sie um die zweite Hälfte ihrer Wanderung betrogen hatte. Das brachte ihn zum Lächeln.