Erde, Planet der Trauer

Wenn man sich den Planeten aus einer niedrigen Umlaufbahn anschaut, dann erscheint es offensichtlich, warum der Himalaja solch großen Einfluss auf das irdische Klima hat. Er erzeugt den größten nur denkbaren Regenschatten, wie er so quer zu den Passatwinden steht und jedes bisschen Niederschlag aus ihnen herauspresst, ehe sie nach Südwesten weiterfliegen. Auf diese Art versorgt der Himalaja acht der mächtigsten Flüsse der Erde mit Wasser, aber er dörrt im unmittelbaren Norden nicht nur die Wüste Gobi aus, sondern auch alles im Südwesten, einschließlich Pakistan, Iran, Mesopotamien, Saudi-Arabien und sogar Nordafrika und Südeuropa. Der Trockengürtel erstreckt sich über mehr als die Hälfte der eurasisch-afrikanischen Landmasse – eine verbrannte Felsenlandschaft und die Heimat jener feurigen Religionen, die sich ausgebreitet und den Rest der Welt in Brand gesteckt haben. Ein Zufall?

In Nordafrika wird das Muster inzwischen von den vielen großen, seichten Seen aufgebrochen, mit denen die Sahara und die Sahel-Zone übersät sind. Man hat das Wasser aus dem Mittelmeer gepumpt und es in Senken in der Wüste eingelagert, bei denen es sich in vielen Fällen um alte Seebecken handelt. Einige davon sind ebenso groß wie die großen Seen in Kanada und den USA, wenn auch sehr viel seichter. Es handelt sich um Süßwasserseen; man hat das Mittelmeerwasser auf dem Weg ins Inland nach und nach entsalzt, und die dabei gewonnenen Salze hat man mit Bindemitteln zu hervorragenden weißen Mauersteinen und Dachziegeln verarbeitet. Weiße Dachziegel, von einer durchsichtigen photovoltaischen Schicht überzogen, werden seit dem Accelerando bei allen neuen Gebäuden benutzt, und auch ältere Dächer werden nachträglich mit ihnen ausgestattet. Heutzutage sehen Städte aus dem Weltraum gesehen wie Schneeflecken aus.

Doch die saubere Technologie kam zu spät, um die Erde vor den Katastrophen des frühen Anthropozän zu retten. Eine der Ironien jener Zeit war, dass die Menschen dazu in der Lage waren, das Antlitz anderer Planeten radikal zu verändern, aber nicht das der Erde. Die Methoden, die man im All einsetzte, waren praktisch alle zu grob und brutal. Nur mit allergrößter Vorsicht konnte man sich an der Erde zu schaffen machen, weil alles dort so genau ausbalanciert und miteinander verwoben war. Alles, was man irgendwo tat, um die Lage zu verbessern, schadete normalerweise an anderer Stelle.

Diese Zurückhaltung beim Terraforming der Erde war das Ergebnis von vielen bitteren, zuweilen sogar militärisch ausgetragenen Streitigkeiten. Die politischen Auseinandersetzungen führten zu einer juristischen Blockade. Man unterstellte allen großen Geo-Engineering-Projekten ein Potenzial für Pannen, die mit der kleinen Eiszeit der 2140er vergleichbar wären, welche laut allgemeiner Einschätzung eine Milliarde Menschen das Leben gekostet hatte. Gegen diese Angst konnte man nicht ankommen.

Außerdem ließ sich gegen viele Probleme der Erde schlicht und einfach nichts ausrichten. Die Erwärmung und darauf folgende Ausdehnung des Meereswassers – und auch seine Übersäuerung –, es gab keine Terraformingtechnik, die dagegen geholfen hätte. Einen Teil des Wassers hatte man abgepumpt und in die Trockenbecken in Nordafrika und Zentralasien umgeleitet, doch dort ließ sich längst nicht der gesamte Überschuss unterbringen. Zu den größten Prioritäten gehörte der Erhalt der letzten noch gesunden Eiskappe, die der Menschheit geblieben war, hoch oben in der östlichen Antarktis, und deshalb war kaum jemand besonders wild darauf, Salzwasser dorthin zu pumpen, wie gelegentlich vorgeschlagen wurde, denn wenn dabei etwas schiefging und sie die gesamte Eiskappe verloren, würde das den Meeresspiegel um weitere fünfzig Meter ansteigen lassen und der Menschheit mehr oder weniger den Todesstoß versetzen. Es war also Vorsicht geboten, und letztlich musste man sich eingestehen, dass der neue Meeresspiegel sich nicht nennenswert senken ließ. Ähnliches galt für zahlreiche andere Probleme. Die vielen empfindlichen, physikalischen, biologischen und juristischen Komplexe waren so dicht ineinander verwoben, dass keine der kosmischen Ingenieurstechniken, die man anderswo im Sonnensystem zum Einsatz brachte, sich den Anforderungen der Erde anpassen ließ.

Trotzdem unternahm man Versuche. Der Menschheit standen inzwischen so viele neue Möglichkeiten offen, dass einige zu dem Schluss kamen, man könne Jevons’ Paradox – dass wir Menschen mit unserer Technologie desto mehr Schaden anrichten, je besser sie wird – endlich überwinden. Dieses schmerzhafte Paradox hatte sich in der menschlichen Geschichte immer wieder zuverlässig als wahr erwiesen, aber vielleicht war ja nun ein Wendepunkt erreicht – vielleicht zeigte Archimedes’ Hebel endlich Wirkung –, vielleicht war dies der Moment, in dem die Menschen mit ihrer fortgeschrittenen Macht mehr erreichen konnten als noch mehr Zerstörung.

Doch sicher war sich da niemand. Die Menschheit hing noch immer in der Schwebe zwischen Katastrophe und Paradies, sie drehte sich im All um sich selbst wie eine kitschige Telenovela. Die Muse der Erde war anscheinend Scheherazade: Die Geschichte fand kein Ende, nie wusste man, wie die Sache ausgehen würde, während man sich mit dem kleinen Finger an sein Leben und seinen Verstand klammerte; und so kehrten die Raumer immer wieder in die Heimat zurück, in die Heimat ihrer Albträume, die Eingeweide zu einem gordischen Knoten verkrampft.

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