Wahram auf der Venus

Wahram hielt sich in der Stadt Colette auf und versuchte, wenigstens einige Mitglieder der Venus-Arbeitsgruppe für den Plan zu gewinnen, sich auf der Erde einzumischen. Außerdem wollte er gewisse venusianische Freunde um Hilfe bei Genettes Plan bitten, gegen die seltsamen Qubes vorzugehen. Keines der beiden Projekte lief besonders gut, obwohl immerhin Shukra eine gewisse Bereitwilligkeit zeigte. Im Gegenzug dafür wollte er allerdings Unterstützung bei seinen lokalen Konflikten, was Wahram ihm beim besten Willen nicht zusichern konnte. Der Mondragon und der Saturn würden mehr aufbieten müssen, wenn sie den einen oder anderen Venusianer in die künftigen Bemühungen in Sachen Erde einbinden wollten.

Dann, in einer willkommenen Verhandlungspause, klopfte es an der Tür zum Konferenzzimmer, und Swan trat ein. Wahram war völlig verblüfft darüber, sie zu sehen, und umso verblüffter war er, als sie quer durch den Raum ging, sich auf ihn stürzte und ihm mit geballten Fäusten vor die Brust schlug. »Du Scheißkerl!«, rief sie alles andere als leise. »Du hast mich angelogen, du hast gelogen!«

Er wich mit erhobenen Händen zurück und blickte sich nach einem Ort um, an dem sie ihre Unterhaltung ungestörter fortsetzen konnten. »Das habe ich nicht! Was meinst du damit?«

»Du bist zu den Vulkanoiden gegangen und hast einen Handel mit ihnen abgeschlossen, ohne mir etwas davon zu erzählen!«

»Das hat nichts mit Lügen zu tun!«, erwiderte er, obwohl er dabei das Gefühl hatte, Haarspaltereien zu betreiben. Aber es stimmte, und außerdem gab seine Antwort ihm genug Zeit, sich in einen Durchgang zurückzuziehen und um eine Ecke zu gehen, wo er innehalten und sich verteidigen konnte. »Ich habe da unten meine Arbeit für die Saturn-Liga erledigt, das hatte nichts mit dir zu tun, und du musst zugeben, dass wir einander normalerweise nicht unsere Terminkalender vorlegen. Ich habe dich seit einem Jahr nicht gesehen.«

»Weil du auf der Erde warst und dort auch Deals gemacht hast. Von denen du mir ebenfalls nichts erzählt hast. Was hast du mir denn überhaupt erzählt? Nichts!«

Wahram hatte schon lange befürchtet, dass dieser Augenblick kommen würde, doch er hatte das Problem ignoriert und seine Arbeit gemacht; jetzt bekam er die Rechnung dafür präsentiert. »Ich war unterwegs«, sagte er lahm.

»Unterwegs – was heißt unterwegs?«, wollte sie wissen. »Hör mal, warst du in dem Tunnel oder nicht? Waren wir zusammen in dem Tunnel oder nicht?«

»Das waren wir«, antwortete er und hob abwehrend die Hände. »Ich war dort.« Ich war nicht derjenige, der behauptet hat, nicht dort zu sein, aber das sagte er nicht.

Jedenfalls verstummte sie und starrte ihn an. Eine ganze Weile sahen sie einander so an.

»Hör mal«, sagte Wahram. »Ich arbeite für den Saturn. Ich bin der Botschafter der Liga für die Inneren Welten, und ich mache hier meine Arbeit. Das ist nichts … das ist nichts, wovon ich einfach so erzählen kann. Es handelt sich um einen ganz eigenen Bereich.«

»Man hat uns gerade angegriffen, und von unserer Stadt ist nur das Skelett geblieben. Das wenige, was wir überhaupt noch zu geben haben, darauf sind wir dringend angewiesen. Und dazu gehört Licht.«

»Aber nicht in brauchbaren Mengen. Die Gesamtheit dessen, was ihr uns vom Merkur schicken konntet, stellt für den Saturn eine kaum nennenswerte Menge dar. Bei den Vulkanoiden liegen die Dinge anders. Sie können uns genug schicken, um wirklich etwas zu bewirken. Wir brauchen das Licht für den Titan. Und ich bin beauftragt, mich darum zu kümmern. Es ist, als ob man zukünftige Anteile ersteigert. Es tut mir leid, dass ich dir nicht selbst davon erzählt habe. Ich war wohl … ich hatte Angst. Ich wollte nicht, dass du auf mich sauer bist. Aber jetzt bist du es sowieso.«

»Sogar noch viel mehr«, versicherte sie ihm. Aber nun trug sie nur noch um der Dramatik willen so dick auf. Er ging darauf ein:

»Es war dumm von mir. Es tut mir leid. Ich bin ein mieser Kerl.«

Das brachte sie beinahe zum Lachen, Wahram sah es ihr an. »Ein verdammter Scheißkerl«, sagte sie stattdessen, um das Spiel weiterzuspielen. »Aber das, was du auf der Erde gemacht hast, ist ohnehin noch schlimmer. Du hast einen Handel mit den reichen Nationen Terras abgeschlossen, darauf läuft es im Endeffekt hinaus, und das weißt du auch. Es ist wirklich eine Schande. Da unten gibt es Menschen, die in Pappverschlägen leben. Du weißt, wie es ist. So war es schon immer, und es sieht ganz danach aus, als würde es auch ewig so weitergehen. Deshalb werden sie uns auch immer hassen, und einige greifen uns an und lassen unsere Habitate platzen wie Seifenblasen. Die einzige Lösung ist Gerechtigkeit für alle. Das ist das Einzige, was uns Sicherheit verschaffen kann. Solange wir das nicht erreicht haben, wird die eine oder andere Gruppe zu dem Schluss gelangen, dass die Raumer einem nur dann zuhören, wenn man ein paar von ihnen umbringt. Und das Traurige ist, dass sie damit vielleicht sogar recht haben.«

»Weil du jetzt zuhörst?«

Sie starrte ihn finster an. »Weil das dort unten schon zu lange so geht!«

Wahram legte den Kopf von einer Seite auf die andere und überlegte, wie er seine Gedanken am besten zum Ausdruck bringen sollte. Er ging mit ihr ein Stück weiter durch den Korridor, bis sie einen langen Tisch voller kleiner Kekse und großer Kaffeespender erreichten, und schenkte ihnen Kaffee ein. »Also … du meinst, um uns zu schützen, müssen wir eine Weltrevolution auf der Erde organisieren.«

»Ja.«

»Und wie? Immerhin versuchen die Leute das schon seit Jahrhunderten.«

»Das ist noch lange kein Grund, es aufzugeben! Ich meine, wir sind hier draußen auf der Venus, auf dem Titan, und tun alles Mögliche. Es gibt Sachen, die da unten funktionieren könnten. Man kann Informationen verbreiten, jeder ist im Prinzip erreichbar. Ihnen Anteile am Mondragon geben. Unterkünfte bauen oder das Land entwickeln. Eine von diesen gewaltfreien Revolutionen daraus machen. Wenn etwas schnell genug passiert, nennt man es eine Revolution, ob nun mit Kanonen geschossen wird oder nicht.«

»Aber es gibt nun mal die Kanonen.«

»Mag sein, aber was, wenn niemand es wagt, sie abzufeuern? Was, wenn unsere Handlungen immer ausreichend unverdächtig sind? Oder sogar unbemerkt bleiben?«

»Solche Handlungen bleiben nie unbemerkt. Nein – es würde Widerstand geben. Mach dir nichts vor.«

»Na schön, dann machen wir eben auch gegen Widerstände weiter und sehen, was passiert. Wir verfügen über reichhaltige Ressourcen, und wir bauen einen Großteil ihrer Nahrung an. Wir haben einen Hebel

Er dachte darüber nach. »Vielleicht haben wir den, aber dort unten spielen sie nach ihren eigenen Regeln.«

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Es gibt eine Kultur des Schenkens, die vor allen Regeln existierte, und die Menschen haben noch immer ein Gespür dafür. Wenn man eine solche Schenkökonomie einrichtet, dann machen die Leute von alleine mit. Und wir müssen etwas unternehmen. Wenn nicht, dann schießen sie uns ab. Sie werden uns töten und auffressen.«

Wahram nippte an seinem Kaffee und versuchte, sie zur Ruhe zu bringen. Wie immer übertrieb sie es. Er hätte gerne gehört, was Pauline von alldem hielt, aber jetzt in diesem Moment würde Swan ihn ganz sicher nicht mit ihr reden lassen. Swan hatte sich den Becher geschnappt, den er ihr eingeschenkt hatte, und stürzte ihn runter. Dann hielt sie ihm einen weiteren kleinen Vortrag, wobei sie ihre Argumente gestisch derart untermalte, dass er von Glück sagen konnte, dass sie ihn nicht mit ihrem Kaffee begoss.

Doch obwohl sie es wie immer übertrieb, brachte sie eine Menge Gedanken zum Ausdruck, die Wahram bereits selbst gekommen waren. Genau genommen wiederholte sie nur einen Standpunkt, den Alex bereits seit Jahren vertreten hatte. Als sie schließlich Luft holen musste, ergriff er also die Gelegenheit und sagte: »Das Problem ist, dass seit Jahrhunderten klar ist, was getan werden muss, dass es aber niemand tut, weil es für die Umsetzung sehr viele Menschen braucht. Bauarbeiten, ökologische Wiederherstellung, vernünftige Landwirtschaft, für all das braucht man ungeheuer viele Menschen.«

»Aber es gibt ungeheuer viele Menschen! Wenn man die Arbeitslosen mobilisieren würde, hätte man mehr als genug. Die Revolution der Vollbeschäftigung. Der Planet ist im Eimer, sie braten in der Sonne, ihnen bleibt gar nichts anders übrig. Letztlich muss die Erde ebenso sehr terraformt werden wie Venus oder Titan! Genau genommen sogar umfassender, und wir machen das nicht.«

Wahram dachte darüber nach. »Meinst du, man könnte die Sache so verkaufen? Als eine Restauration? Um gleichzeitig an die Konservativen und an die Revolutionäre zu appellieren – oder um zumindest zu verschleiern, was wirklich geschieht?«

»Ich glaube nicht, dass wir irgendwas verschleiern müssen.«

»Wenn du deine Absichten offenlegst, Swan, wirst du ganz schnell Feinde haben. Sei nicht naiv. Jede Veränderung hat ihre Gegner. Ernsthafte Gegner. Ich rede von Gewalt.«

»Wenn sie eine Möglichkeit finden, welche anzuwenden. Aber wenn es niemanden gibt, den sie festnehmen können, wenn sie gegen niemanden zurückschlagen können, niemandem Angst einjagen …«

Er schüttelte den Kopf. Das überzeugte ihn nicht.

Swan umkreiste ihn wie ein Komet die Sonne. Wahram drehte sich mit, um sie im Blick zu behalten. Zweimal stürzte sie sich erneut auf ihn und schlug ihm mit der zur Faust geballten freien Hand vor die Brust. Ihre Stimmen verschmolzen zu einer Antiphonie, die für einen zufälligen Zuhörer wie ein gequaktes und gezwitschertes Duett geklungen hätte.

Schließlich ging Swan die Puste aus, und ihr dissonanter Wechselgesang kam zu einem Ende. Sie war offensichtlich gerade erst auf der Venus eingetroffen und begann trotz des Kaffees zu gähnen. Wahram seufzte erleichtert, schlug einen gelasseneren Tonfall an und wechselte das Thema. Sie schauten aus dem Fenster auf den herabrieselnden Schnee, der von einer steifen Brise zu verspielten kleinen Mustern angeordnet wurde. Diese Welt, so neu und nackt, noch im Entstehen begriffen, sagte es ihnen mit kräftigen Windböen: Die Dinge änderten sich.

Wahram dachte über die beiden unvollendeten Projekte von Alex nach: eine Lösung für die Erde zu finden; eine Lösung für die Sache mit den Qubes zu finden. Ein Schauer überlief ihn, als er mit einem Mal den Eindruck gewann, dass beide Projekte zum Teil eines großen Ganzen zu werden begannen. Na schön, aber es brauchte eine Menge Fingerspitzengefühl, um beides miteinander zu vereinen; und es brauchte schlaue Köpfe für die Umsetzung. Und Swan würde so lange immer wieder sauer auf ihn werden, bis er einen Beitrag zur Umsetzung dieses Projekts leistete. Immerhin war er dazu möglicherweise in der Lage.

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