Und das war dann das Ende«, sagte Pevara. Sie saß an die Wand gelehnt.
Androl nahm ihre Gefühle wahr. Sie saßen in dem Hinterzimmer, in dem sie gegen Taims Männer gekämpft hatten, und warteten auf Emarin, der behauptet hatte, Dobser zum Reden bringen zu können. Androl war nicht gut in Verhören. Der Geruch nach Getreide hatte sich in einen ekligen Gestank verwandelt. Manchmal verdarb es von jetzt auf gleich.
Pevara war still geworden, innerlich wie auch äußerlich, als sie erzählt hatte, wie ihre Familie von langjährigen Freunden ermordet worden war.
»Ich hasse sie noch immer«, sagte sie dann. »An meine Familie kann ich denken, ohne dass es schmerzt, aber die Schattenfreunde … Ich hasse sie. Wenigstens kann ich mich rächen, denn der Dunkle König verteidigt sie mit Sicherheit nicht. Sie sind ihm ihr ganzes Leben lang gefolgt und hofften auf einen Platz in seiner neuen Welt, aber die Letzte Schlacht findet erst lange nach ihrem Tod statt. Ich schätze, dass es den jetzt lebenden Schattenfreunden nicht besser ergeht. Sobald wir die Letzte Schlacht gewonnen haben, wird er ihre Seelen bekommen. Ich hoffe, ihre Bestrafung dauert lange.«
»Seid Ihr so sicher, dass wir siegen?«
»Natürlich siegen wir. Das steht überhaupt nicht zur Debatte, Androl. Wir können es uns gar nicht leisten, es dazu zu machen.«
Er nickte. »Ihr habt recht. Fahrt fort.«
»Das war es. Schon seltsam, nach all den Jahren diese Geschichte zu erzählen. Ich konnte lange nicht darüber sprechen.«
Schweigen breitete sich im Raum aus. Dobser hing mit dem Gesicht zur Wand in seinen Fesseln, die Ohren mit Pevaras Geweben verstopft. Die anderen beiden waren noch immer bewusstlos. Androl hatte hart zugeschlagen, und er wollte dafür sorgen, dass sie auch nicht so schnell wieder zu sich kamen.
Pevara hatte sie abgeschirmt, aber sie konnte mit Sicherheit keine drei Männer gleichzeitig von der Quelle trennen, falls diese sich wehren sollten. Für gewöhnlich benutzten Aes Sedai mehr als nur eine Schwester, um einen Mann unter Kontrolle zu halten. Drei würden unmöglich für eine einzige Machtlenkerin sein, egal wie stark sie war. Natürlich hätte sie diese Abschirmungen verknoten können, aber Taim hatte seine Asha’man darin unterrichtet, wie man sich von einer verknoteten Abschirmung befreite.
Ja, es war besser, dafür zu sorgen, dass die anderen beiden nicht aufwachten. Am besten hätte man ihnen einfach die Kehle durchgeschnitten, aber dazu konnte er sich nicht überwinden. Stattdessen hatte er winzige Ströme Geist und Luft ausgeschickt, die ihre Lider berührten. Dazu hatte er ein einzelnes und schwaches Gewebe benutzen müssen, aber es war ihm gelungen, sämtliche Augen zu berühren. Würden sich die Lider auch nur ein winziges Stück bewegen, würde er es erfahren. Das musste reichen.
Pevara dachte immer noch an ihre Familie. Sie hatte die Wahrheit gesagt; sie hasste die Schattenfreunde. Sie alle. Dieser Hass war gezielt und keineswegs zügellos, aber selbst nach diesen vielen Jahren war er noch stark.
Das hätte er gar nicht bei dieser Frau vermutet, die so oft zu lächeln schien. Diese Wunde schmerzte noch immer, das fühlte er. Und dass sie sich seltsamerweise einsam fühlte.
»Mein Vater beging Selbstmord«, sagte er und stutzte. Wie kam er jetzt nur darauf?
Sie sah ihn an.
»Meine Mutter tat viele Jahre so, als wäre es ein Unfall gewesen«, fuhr Androl fort. »Er tat es in den Wäldern, sprang von einer Klippe. In der Nacht davor setzte er sich zu ihr und klärte sie über sein Vorhaben auf.«
»Und sie versuchte nicht, ihn daran zu hindern?«, fragte Pevara entsetzt.
»Nein. Ich bekam erst kurz bevor sie sich in die letzte Umarmung der Mutter begab ein paar Antworten aus ihr heraus. Sie hatte Angst vor ihm. Das erschreckte mich; er war immer so sanft gewesen. Was hatte sich nur in diesen letzten paar Jahren so verändert, dass sie sich vor ihm fürchtete?« Androl sah Pevara an. »Sie erzählte, dass er in den Schatten Dinge sah. Dass er angefangen hatte, den Verstand zu verlieren.«
»Ah …«
»Ihr habt mich gefragt, warum ich zur Schwarzen Burg kam. Ihr wolltet wissen, warum ich darum bat, geprüft zu werden. Nun, dieses Ding, das ich bin, es beantwortet mir eine Frage. Es verrät mir, wer mein Vater war, und warum er tat, was seiner Meinung nach nötig war.
Mittlerweile ist mir alles klar. Unser Geschäft ging zu gut. Vater konnte seltene Steine und Erzadern finden, wo es kein anderer vermochte. Man bezahlte ihn dafür, ertragreiche Erzvorkommen aufzuspüren. Er war der Beste. Ungewöhnlich gut. Ich konnte … am Ende konnte ich es in ihm sehen, Pevara. Ich war erst zehn, aber ich erinnere mich. Die Furcht in seinen Augen. Diese Furcht kenne ich jetzt.« Er zögerte. »Mein Vater sprang von dieser Klippe, um das Leben seiner Familie zu retten.«
»Es tut mir leid«, sagte Pevara.
»Das Wissen, was ich bin, was er war, das hilft.«
Der Regen hatte wieder eingesetzt, dicke Tropfen prasselten wie Kieselsteine gegen das Fenster. Die Außentür öffnete sich, und endlich kam Emarin. Sein Blick fiel auf den in der Luft schwebenden Dobser, und auf seiner Miene zeichnete sich Erleichterung ab. Dann sah er die anderen beiden und zuckte zusammen. »Was habt Ihr getan?«
»Was getan werden musste«, erwiderte Androl und stand auf. »Was hat Euch aufgehalten?«
»Beinahe hatte ich noch eine Konfrontation mit Coteren«, sagte Emarin und starrte die beiden gefangenen Asha’man noch immer an. »Ich glaube, uns bleibt nicht viel Zeit. Wir ließen nicht zu, dass sie uns herausforderten, aber Coteren erschien ärgerlich – viel mehr als sonst. Ich glaube nicht, dass sie uns noch lange tolerieren.«
»Nun, diese Gefangenen sorgen sowieso dafür, dass unsere Zeit begrenzt ist«, sagte Pevara und bewegte Dobser ein Stück zur Seite, um für Emarin Platz zu machen. »Glaubt Ihr wirklich, Ihr könnt diesen Mann zum Reden bringen? Schon früher habe ich versucht, Schattenfreunde der Befragung zu unterziehen. Sie können schwer zu brechen sein.«
»Ah, aber das ist kein Schattenfreund«, erwiderte Emarin. »Das ist Dobser.«
»Ich glaube nicht, dass er das wirklich ist«, sagte Androl und musterte den Mann, der gefesselt dort schwebte. »Ich kann einfach nicht akzeptieren, dass man jemanden dazu zwingen kann, dem Dunklen König zu dienen.«
Pevara war da völlig anderer Meinung, das spürte er deutlich. Sie glaubte wirklich, dass es auf diese Weise geschah. Sie hatte erklärt, dass jeder Machtlenker einfach Umgedreht werden konnte. So bezeichneten es die alten Aufzeichnungen.
Die Vorstellung verursachte Androl Übelkeit. Jemanden dazu zu zwingen, sich dem Bösen zuzuwenden? So etwas durfte nicht möglich sein. Das Schicksal bewegte die Menschen, brachte sie oft in eine schreckliche Lage, raubte ihnen das Leben, manchmal auch den Verstand. Aber die Entscheidung, dem Dunklen König zu dienen oder dem Licht … sicherlich war das die eine Entscheidung, die man einem Menschen nicht nehmen konnte.
Der Schatten, den er hinter Dobsers Augen erkennen konnte, reichte ihm als Beweis. Der Mann, den er gekannt hatte, war verschwunden. Man hatte ihn getötet, und etwas anderes – etwas Böses – war in seinen Körper gesteckt worden. Eine neue Seele. Das musste es sein.
»Was auch immer er ist«, sagte Pevara, »ich bin noch immer skeptisch, dass Ihr ihn zum Reden zwingen könnt.«
»Die beste Überredung«, sagte Emarin mit auf dem Rücken verschränkten Händen, »ist die, die nicht erzwungen wird. Pevara Sedai, wenn Ihr so freundlich wärt, die Gewebe auf seinen Ohren zu entfernen, damit er wieder hören kann – aber entfernt sie so unauffällig wie möglich, als wäre das Gewebe verknotet gewesen und würde sich nun auflösen. Ich will, dass er meine nächsten Worte belauscht.«
Sie tat es. Zumindest nahm Androl das an. Der Doppelbund bedeutete keineswegs, dass sie die Gewebe des anderen sehen konnten. Aber er spürte ihre Nervosität. Sie dachte an Schattenfreunde, die sie verhört hatte, und wünschte sich … irgendetwas? Ein Werkzeug, das sie gegen sie benutzen konnte?
»Ich glaube, wir können uns auf meinen Besitzungen verstecken«, sagte Emarin mit hochmütiger Stimme.
Androl blinzelte. Der Mann schien plötzlich an Haltung gewonnen zu haben, gab sich stolzer, viel … befehlsgewohnter. Seine Stimme wurde energischer, verächtlicher. Von jetzt auf gleich war er zum Adligen geworden.
»Niemand wird auf die Idee kommen, dort nach uns zu suchen«, fuhr Emarin fort. »Ich akzeptiere euch als meine Begleiter, und die Geringeren unter uns – wie zum Beispiel der junge Evin – können als Diener in meine Dienste treten. Wenn wir unsere Karten richtig ausspielen, können wir eine rivalisierende Schwarze Burg aufbauen.«
»Ich … weiß nicht, ob das so klug wäre«, sagte Androl und spielte mit.
»Schweigt«, befahl Emarin. »Ich frage Euch nach Eurer Meinung, wenn ich sie hören will. Aes Sedai, wir haben nur eine Möglichkeit, um zu Rivalen der Weißen und Schwarzen Burg zu werden, wir müssen einen Ort schaffen, an dem männliche und weibliche Machtlenker zusammenarbeiten. Eine … Graue Burg, wenn Ihr so wollt.«
»Das ist ein interessanter Vorschlag.«
»Das ist die einzige Sache, die Sinn macht«, erwiderte Emarin und wandte sich ihrem Gefangenen zu. »Er hörte nicht, was wir besprachen?«
»Nein«, sagte Pevara.
»Dann befreit ihn. Ich will mit ihm sprechen.«
Zögernd gehorchte die Aes Sedai. Dobser sackte zu Boden und wäre beinahe gestürzt. Er schwankte einen Moment lang, dann sah er sofort zur Tür.
Emarin zog etwas von seinem Gürtel und warf es zu Boden. Einen kleinen Beutel. Es klirrte, als er auftraf. »Meister Dobser«, sagte Emarin.
»Was ist das?«, fragte Dobser, ging misstrauisch in die Hocke und hob den Beutel auf. Er warf einen Blick hinein, und seine Augen weiteten sich.
»Die Bezahlung«, sagte Emarin.
Dobser runzelte die Stirn. »Um was zu tun?«
»Ihr versteht nicht, Meister Dobser«, sagte Emarin. »Ich bitte Euch nicht, etwas zu tun, ich bezahle Euch, um mich zu entschuldigen. Ich beauftragte Androl hier, um Eure Hilfe zu bitten, und er scheint seine Befehle … etwas zu enthusiastisch ausgeführt zu haben. Ich wollte bloß mit Euch sprechen. Ich wollte Euch nicht in Luft gewickelt und gequält sehen.«
Dobser blinzelte misstrauisch. »Wo habt Ihr so viel Geld her, Emarin? Wie kommt Ihr auf die Idee, Ihr könntet hier Befehle geben? Ihr habt bloß den Rang eines Soldaten …« Wieder warf er einen Blick auf den Inhalt des Beutels.
»Wie ich sehe, verstehen wir uns«, sagte Emarin lächelnd. »Ihr werdet also meine Tarnung aufrechterhalten?«
»Ich …« Dobsers Blick fiel auf Welyn und Leems, die bewusstlos am Boden lagen.
»Ja«, sagte Emarin. »Das wird ein Problem sein, nicht wahr? Was meint Ihr, könnten wir Androl einfach an Taim ausliefern und ihn dafür verantwortlich machen?«
»Androl?« Dobser schnaubte. »Den Pagen? Der zwei Asha’man besiegt? Das würde keiner glauben. Keiner.«
»Das ist wohl wahr, Meister Dobser«, sagte Emarin betrübt.
»Gebt ihnen doch einfach die Aes Sedai«, sagte Dobser und zeigte mit dem Finger auf Pevara.
»Leider brauche ich sie noch. Das ist ein schrecklicher Schlamassel. Ganz schlimm.«
»Nun«, sagte Dobser, »vielleicht könnte ich mich ja für Euch beim M’Hael verwenden. Ihr wisst schon, die Dinge klären.«
»Das wüsste ich sehr zu schätzen«, sagte Emarin, holte einen der Hocker, die an der Wand standen, dann nahm er noch einen zweiten und baute ihn davor auf. Er setzte sich und bedeutete Dobser, ebenfalls Platz zu nehmen. »Androl, macht Euch nützlich. Holt mir und Meister Dobser etwas zu trinken. Tee. Mögt Ihr Zucker?«
»Nein«, sagte Dobser. »Tatsächlich hörte ich, dass es hier irgendwo Wein geben sollte.«
»Androl, Wein!« Emarin schnipste mit den Fingern.
Nun, dachte Androl, dann spiele ich wohl mal besser diese Rolle. Er verneigte sich, warf Dobser einen wohlkalkulierten finsteren Blick zu, dann verließ er den Raum, um ein paar Becher und Wein zu holen. Bei seiner Rückkehr plauderten Dobser und Emarin freundlich.
»Ich verstehe«, sagte Emarin. »Ich hatte ja solche Probleme, in der Schwarzen Burg vernünftige Helfer zu finden. Ihr müsst wissen, es ist unbedingt erforderlich, meine Identität zu wahren.«
»Das kann ich verstehen, mein Lord«, sagte Dobser. »Hätte jemand gewusst, dass ein Hochlord aus Tear in unseren Rängen ist, dann hätte es kein Ende mit der Stiefelleckerei genommen. Das kann ich Euch sagen! Und der M’Hael, nun, es würde ihm gar nicht gefallen, wenn jemand mit so viel Autorität hier wäre. Nein, ganz und gar nicht!«
»Ihr versteht, warum ich mich zurückhalten musste«, erklärte Emarin, streckte die Hand aus und akzeptierte einen Becher, den Androl dann mit Wein füllte.
Ein Hochlord aus Tear?, dachte Androl belustigt. Dobser schien sich daran zu berauschen wie an harten Getränken.
»Und wir alle glaubten, Ihr würdet Logain so schmeicheln, weil Ihr dumm seid!«, sagte Dobser.
»Ach ja, die Gruppe, zu der ich gehören musste. Taim würde mich sofort durchschauen, verbrächte ich zu viel Zeit in seiner Nähe. Also musste ich zu Logain gehen. Er und dieser Drache, beide sind offensichtlich Bauern und erkennen keinen Mann von edlem Geblüt.«
»Ich muss sagen, dass ich schon misstrauisch war, mein Lord.«
»Das dachte ich mir.« Emarin nahm einen Schluck Wein. »Um zu beweisen, dass er nicht vergiftet ist«, erklärte er, bevor er Dobser den Becher gab.
»Schon gut, mein Lord.« Dobser winkte ab. »Ich vertraue Euch.« Er stürzte den Wein hinunter. »Wenn man nicht einmal einem Hochlord trauen kann, wem dann, richtig?«
»Richtig«, sagte Emarin.
»Eines kann ich Euch sagen«, fuhr Dobser fort, hielt den Becher hin und wackelte damit, damit Androl nachschenkte. »Ihr müsst eine bessere Methode finden, Euch von Taim fernzuhalten. Logain zu folgen wird nicht mehr funktionieren.«
Emarin trank einen großen, nachdenklichen Schluck. »Taim hat ihn. Ich verstehe. Das habe ich kommen sehen. Welyn und die anderen, die auftauchten und diese Geschichte erzählten.«
»Ja«, sagte Dobser und ließ sich den Becher schon wieder füllen. »Aber Logain ist stark. Erfordert viel Arbeit, so einen Mann Umzudrehen. Willenskraft, versteht Ihr? Es wird einen oder zwei Tage dauern, ihn Umzudrehen. Aber egal, Ihr könnt jetzt genauso gut bei Taim vorsprechen und ihm Eure Pläne erklären. Er wird es verstehen, und er sagt ja immer, dass die Männer ihm nützlicher sind, wenn er sie nicht Umdrehen muss. Keine Ahnung, warum. Aber bei Logain gab es keine andere Wahl. Scheußlicher Prozess.« Dobser fröstelte.
»Dann gehe ich und spreche mit ihm, Meister Dobser. Übrigens, würdet Ihr für mich bürgen? Ich … würde auch dafür sorgen, dass man Euch für die Mühe entschädigt.«
»Sicher, sicher«, sagte Dobser. »Warum nicht?« Er leerte den Becher, kam unsicher auf die Füße. »Er wird nach Logain sehen. Tut er immer zu dieser Nachtzeit.«
»Wo ist das denn?«
»Die verborgenen Räume«, sagte Dobser. »In den Fundamenten, die wir bauen. Kennt Ihr den Ostflügel, wo der Einsturz all diese zusätzlichen Erdarbeiten erforderlich machte? Es gab gar keinen Einsturz, das war nur der Vorwand, um die zusätzliche Arbeit heimlich erledigen zu können. Und …« Dobser zögerte.
»Und das reicht«, sagte Pevara, fesselte den Mann wieder mit Luft und verstopfte seine Ohren. Sie sah Emarin mit verschränkten Armen an. »Ich bin beeindruckt.«
Bescheiden breitete Emarin die Hände aus. »Ich hatte schon immer das Talent, dass sich Männer in meiner Gegenwart entspannen. Ehrlich gesagt habe ich Dobser auch nicht vorgeschlagen, weil ich ihn für leicht zu bestechen hielt. Ich suchte ihn wegen seiner, nun … nennen wir es gut verborgenen geistigen Fähigkeiten.«
»Jemanden zum Schatten zu bekehren macht ihn nicht weniger dumm«, sagte Androl. »Aber wenn Ihr das tun konntet, warum mussten wir ihn dann überhaupt gefangen nehmen?«
»Es geht darum, die Situation zu kontrollieren, Androl«, erklärte Emarin. »Einen Mann wie Dobser darf man nicht in seinem Element konfrontieren, wo er von Freunden umgeben ist, die etwas scharfsinniger sind. Wir mussten ihm Angst einjagen, ihn sich winden lassen und ihm dann einen Ausweg bieten, sich wieder herauszuwinden.« Emarin zögerte, sah Dobser an. »Außerdem konnten wir wohl kaum das Risiko eingehen, dass er zu Taim rennt, was er möglicherweise getan hätte, hätte ich ohne die Androhung von Gewalt unter vier Augen mit ihm gesprochen.«
»Und jetzt?«, fragte Pevara.
»Jetzt verabreichen wir den dreien etwas, das sie bis Bel Tine schlafen lässt«, sagte Androl. »Wir holen Nalaam, Canler, Evin und Jonneth. Wir warten, bis Taim nach Logain gesehen hat, wir brechen ein, retten ihn und holen uns die Burg vom Schatten zurück.«
Einen Augenblick lang standen sie schweigend da. Der Raum wurde nur von einer einzelnen flackernden Lampe erhellt. Regen sprühte gegen das Fenster.
»Nun, solange Ihr kein Unternehmen vorschlagt, das wirklich schwer ist, Androl …«, sagte Pevara.
Im Traum öffnete Rand die Augen und war überrascht, dass er eingeschlafen war. Aviendha hatte ihn endlich dösen lassen. Vermutlich gestattete sie es sich ebenfalls zu dösen. Sie war so müde wie er erschienen. Vielleicht sogar noch mehr.
Er stand auf. Um ihn herum erstreckte sich eine Wiese aus totem Gras. Er hatte ihre Sorge spüren können, und nicht nur durch ihren Bund, sondern auch durch die Weise, wie sie ihn umarmte. Aviendha war eine Kämpferin, eine Kriegerin, aber selbst ein Krieger musste sich gelegentlich an etwas festhalten. Das Licht wusste, dass es ihm so ging.
Er sah sich um. Das hier fühlte sich gar nicht nach dem Tel’aran’rhiod an. Jedenfalls nicht richtig. Das tote Feld schien sich in alle Richtungen zu erstrecken, möglicherweise sogar in die Unendlichkeit. Das hier war nicht die wahre Welt der Träume; es war ein Traumsplitter, eine von einem mächtigen Wahrträumer oder Traumgänger erschaffene Welt.
Rand ging los. Er zertrat welkes Laub, dabei gab es ja gar keine Bäume. Vermutlich hätte er sich in seine eigenen Träume zurückversetzen können; obwohl er nie so gut wie die Verlorenen darin gewesen war, in den Träumen zu wandeln, war er dazu immerhin fähig. Neugier trieb ihn weiter.
Ich sollte nicht hier sein, dachte er. Ich habe Schutzgewebe erzeugt. Wie war er an diesen Ort gekommen, und wer hatte ihn erschaffen? Er hatte da einen Verdacht, erinnerte sich an jemanden, der oft Traumsplitter benutzt hatte.
In der Nähe fühlte er eine Präsenz. Er ging einfach weiter, ohne den Kopf zu drehen, aber er wusste, dass plötzlich jemand neben ihm ging.
»Elan«, sagte er.
»Lews Therin.« Elan trug noch immer seinen neuesten Körper, den hochgewachsenen, stattlichen Mann, der Rot und Schwarz trug. »Es stirbt, und bald herrscht der Staub. Der Staub … dann nichts.«
»Wie bist du an meinen Schutzgeweben vorbeigekommen?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Moridin. »Ich wusste, dass du dich zu mir gesellst, wenn ich diesen Ort erschaffe. Du kannst dich nicht von mir fernhalten. Das erlaubt das Muster nicht. Wir werden voneinander angezogen, du und ich. Immer wieder und wieder. Zwei Schiffe, die am selben Strand festgemacht sind, die bei jeder neuen Flut gegeneinanderstoßen.«
»Wie poetisch. Wie ich gesehen habe, hast du Mierin endlich von der Leine gelassen.«
Moridin blieb stehen, und Rand folgte seinem Beispiel und sah ihn an. Die Wut schien Hitzewellen gleich aus dem Verlorenen herauszuströmen.
»Sie kam zu dir?«, verlangte er zu wissen.
Rand schwieg.
»Tu bloß nicht so, als hättest du gewusst, dass sie noch lebt. Das hast du nicht, das konntest du unmöglich.«
Rand schwieg weiter. Seine Gefühle bezüglich Lanfear – oder wie auch immer sie sich jetzt nannte – waren kompliziert. Lews Therin hatte sie gehasst, aber Rand hatte sie hauptsächlich als Selene gekannt und sie gemocht – zumindest bis sie versucht hatte, Elayne und Aviendha zu töten.
Der Gedanke an sie ließ ihn auch an Moiraine denken und auf Dinge hoffen lassen, die er nicht hoffen sollte.
Wenn Lanfear noch immer lebt … könnte das dann nicht auch für Moiraine gelten?
Er betrachtete Moridin mit ruhigem Selbstvertrauen. »Sie jetzt loszulassen macht keinen Unterschied mehr«, sagte er. »Sie hat nicht länger Macht über mich.«
Moridin nickte. »Ja. Ich glaube dir. Aber sie sieht das anders, und ich vermute, sie hat noch immer etwas an der Frau auszusetzen, die du gewählt hast. Wie war noch einmal ihr Name? Die, die sich als Aiel bezeichnet, aber Waffen trägt?«
Rand ließ sich nicht provozieren.
»Wie dem auch sei, Mierin hasst dich jetzt«, fuhr Moridin fort. »Ich glaube, sie macht dich für das verantwortlich, was mit ihr passiert ist. Du solltest sie jetzt Cyndane nennen. Man hat ihr verboten, den Namen zu benutzen, den sie für sich wählte.«
»Cyndane …« Rand betonte das Wort langsam. »›Letzte Chance‹? Wie ich sehe, hat dein Meister an Humor dazugewonnen.«
»Das war nicht humorvoll gemeint.«
»Nein, ich schätze, das war es wohl nicht.« Rand betrachtete die endlose Landschaft aus totem Gras und Blättern. »Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass ich anfangs so viel Angst vor dir hatte. Bist du damals in meine Träume eingedrungen, oder hast du mich in einen dieser Traumsplitter geholt? Ich bin da nie auf eine vernünftige Erklärung gekommen.«
Moridin schwieg.
»Ich erinnere mich da an eine Gelegenheit …«, sagte Rand. »Ich saß da von Albträumen umgeben, die sich wie das Tel’aran’rhiod anfühlten. Du wirst nicht dazu fähig gewesen sein, jemanden mit seinem Körper in die Welt der Träume zu holen, aber ich bin kein Traumgänger, der sie aus eigener Kraft betreten kann.«
Wie viele der Verlorenen war auch Moridin für gewöhnlich nicht schlafend im Traum nach Tel’aran’rhiod gegangen, sondern hatte es körperlich betreten, was gefährlich war. Es wurde behauptet, dass es eine schlimme Sache war, es mit dem Körper zu betreten, dass man dadurch einen Teil seiner Menschlichkeit verlor. Andererseits steigerte es die Macht, die man hatte.
Moridin verriet nicht, was in jener Nacht tatsächlich geschehen war. Rand erinnerte sich nur undeutlich an diese Tage, als er in Richtung Tear gewandert war. Aber er konnte sich noch an Visionen dieser Nacht erinnern, Visionen seiner Freunde und Familie, die versuchen würden, ihn zu töten. Moridin … Ishamael … hatte ihn gegen seinen Willen in Träume gezogen, die sich mit Tel’aran’rhiod überschnitten.
»In jenen Tagen warst du wahnsinnig«, sagte Rand leise und sah Moridin in die Augen. Er vermochte förmlich die dort lodernden Flammen zu sehen. »Und du bist noch immer wahnsinnig, nicht wahr? Du hast es bloß unter Kontrolle. Niemand könnte ihm dienen, ohne nicht zumindest etwas verrückt zu sein.«
Moridin setzte sich wieder in Bewegung. »Spotte, so viel du willst, Lews Therin. Das Ende naht. Alles wird vom Schatten erstickt werden, es wird auseinandergezerrt, zerfetzt werden, erdrosselt.«
Rand setzte sich ebenfalls wieder in Bewegung und hielt mit Moridin Schritt. Sie hatten die gleiche Größe. »Du hasst dich selbst«, flüsterte Rand. »Ich kann es in dir fühlen, Elan. Einst dientest du ihm wegen der Macht; jetzt tust du es, weil sein Sieg und das Ende aller Dinge die einzige Erlösung sein wird, die du je erfahren wirst. Du würdest lieber nicht mehr existieren, als weiterhin du selbst zu sein. Du musst wissen, dass er dich niemals freigeben wird. Niemals. Dich nicht.«
Moridin grinste hämisch. »Er wird mich dich töten lassen, bevor das hier vorbei ist, Lews Therin. Dich und die Blonde, und die Aiel-Frau und die kleine Dunkelhaarige …«
»Du tust, als wäre das ein Wettstreit zwischen uns, Elan«, unterbrach Rand ihn.
Moridin lachte herzlich. »Aber natürlich ist es das! Hast du das denn noch immer nicht begriffen? Bei den Blutfällen, Lews Therin! Es geht nur um uns beide. Wie in den vergangenen Zeitaltern, wir kämpfen gegeneinander, immer wieder. Du und ich.«
»Nein«, erwiderte Rand. »Dieses Mal nicht. Ich bin fertig mit dir. Ich muss einen größeren Kampf ausfechten.«
»Versuch nicht …«
Sonnenlicht explodierte durch die Wolkendecke. In der Welt der Träume fehlte oft das Sonnenlicht, aber jetzt badete es das Stück Boden um Rand.
Moridin taumelte zurück. Er schaute zum Licht hinauf, dann sah er Rand an und kniff die Augen zusammen. »Glaube bloß nicht … glaube bloß nicht, dass ich deinen albernen Tricks glaube, Lews Therin. Weiramon war von dem erschüttert, was du mit ihm gemacht hast, aber es ist nicht so schwer, Saidin zu halten und zu lauschen, ob sich der Herzschlag beschleunigt.«
Rand strengte seinen Willen an. Die raschelnden toten Blätter zu seinen Füßen fingen an sich zu verwandeln, wurden wieder grün, dann schoben sich Grashalme durch die Blätterschicht. Das Grün breitete sich wie verschüttete Farbe vor ihm aus, und die Wolken wogten zur Seite.
Moridin riss die Augen weit auf. Er starrte den Himmel an, während sich die Wolken zurückzogen. Rand konnte seine schockierte Überraschung fühlen. Das war immerhin Moridins Traumsplitter.
Aber um jemand anders dort hineinzuziehen, hatte er ihn in unmittelbarer Nähe zum Tel’aran’rhiod platzieren müssen. Diese Regeln galten. Da war auch noch etwas anderes, etwas, das mit ihrer persönlichen Verbindung zu tun hatte …
Rand ging los und hob dabei die Arme. Gras spross wellenförmig, rote Blüten brachen aus dem Boden, als würde das Land erröten. Der Sturm erstarb, das Licht brannte die schwarzen Wolken fort.
»Richte es deinem Herrn aus!«, befahl Rand. »Sag ihm, dass dieser Kampf nicht wie die anderen sein wird. Sag ihm, dass ich der Gefolgsleute überdrüssig bin, dass ich mit den kleinlichen Zügen fertig bin, die er seine Marionetten ausführen lässt. Sag ihm, ich komme für IHN!«
»Das ist falsch«, sagte Moridin sichtlich erschüttert. »Das ist nicht …« Einen Moment lang betrachtete er Rand im Schein der sengenden Sonne, dann verschwand er.
Rand stieß die Luft aus. Um ihn herum verwelkte das Gras, die Wolkendecke schloss sich wieder, das Sonnenlicht verblasste. Obwohl Moridin gegangen war, war es schwierig gewesen, die Verwandlung der Landschaft aufrechtzuerhalten. Rand sackte keuchend auf die Knie und erholte sich von der Anstrengung.
Wollte man an diesem Ort etwas, wurde es zur Realität. Wären die Dinge in der realen Welt doch auch nur so einfach gewesen.
Er schloss die Augen und kehrte zurück, um noch eine kurze Weile richtig zu schlafen, bevor er aufstehen musste. Aufstehen, um die Welt zu retten. Falls er das noch konnte.
Pevara kauerte in der regnerischen Nacht neben Androl. Ihr Umhang war völlig durchnässt. Sie kannte ein paar Gewebe, die das hätten verhindern können, aber sie wagte es nicht, die Macht zu lenken. Sie und die anderen würden Umgedrehten Aes Sedai und Frauen der Schwarzen Ajah gegenübertreten. Die konnten spüren, ob jemand die Macht lenkte.
»Sie bewachen dieses Gebiet, da gibt es keinen Zweifel«, flüsterte Androl. Voraus verwandelte sich der Boden in eine große Fläche aus labyrinthartigen Ziegelmauern und Gräben. Das waren die Kellerräume im Fundament des Turms der Schwarzen Burg, der sich irgendwann hier erheben sollte. Falls Dobser nicht gelogen hatte, waren hier im Untergrund auch noch andere Räume gebaut worden – verborgene Gemächer, die bereits fertiggestellt waren und geheim bleiben würden, während der Turm selbst in die Höhe wuchs.
In der Nähe plauderten zwei von Taims Asha’man. Obwohl sie versuchten, sich unauffällig zu geben, zerstörte das Wetter diese Illusion. Wer würde in einer solchen Nacht schon freiwillig draußen herumstehen? Obwohl sie eine Kohlenpfanne wärmte und ein Gewebe aus Luft den Regen anderswo zu Boden strömen ließ, war ihre Anwesenheit verdächtig.
Wächter. Pevara versuchte den Gedanken direkt an Androl zu schicken.
Es funktionierte. Sie konnte seine Überraschung fühlen, als sich der fremde Gedanke in seinen Kopf einschlich.
Undeutlich kam etwas zurück. Wir sollten unseren Vorteil nutzen.
Ja, erwiderte sie. Der nächste Gedanke war allerdings zu komplex, also flüsterte sie ihn. »Ist Euch je zuvor aufgefallen, dass er das Fundament nachts bewachen lässt? Falls es wirklich geheime Räume gibt, dann müsste die Arbeit daran ebenfalls in der Nacht erledigt werden.«
»Taim hat eine Ausgangssperre verhängt«, flüsterte Androl ebenfalls. »Er lässt sie uns nur dann ignorieren, wenn es für ihn von Vorteil ist – so wie heute Welyns Rückkehr. Davon abgesehen ist dieses Gebiet mit seinen Gruben und Gräben gefährlich. Das wäre ein guter Grund, um Wächter aufzustellen, aber …«
»Aber Taim ist eigentlich nicht der Typ, der sich dafür interessiert, ob sich ein paar Kinder beim Herumstöbern den Hals brechen.«
Androl nickte.
Sie warteten im Regen und zählten ihre Atemzüge, bis drei Flammenzungen aus der Nacht schossen und die Wächter direkt am Kopf trafen. Die beiden Asha’man brachen augenblicklich zusammen. Nalaam, Emarin und Jonneth hatten perfekte Arbeit geleistet. Ganz kurzes Machtlenken; hoffentlich würde es keiner bemerken oder für das Werk der von Taim eingeteilten Wächter halten.
Beim Licht, dachte Pevara. Androl und die anderen sind wirklich Waffen. Ihr war nicht in den Sinn gekommen, dass Emarin und die anderen sofort töten würden. Das war ihrer Erfahrung als Aes Sedai völlig fremd. Aes Sedai töteten nicht einmal falsche Drachen, wenn sie es vermeiden konnten.
»Das Dämpfen tötet«, sagte Androl und starrte nach vorn. »Wenn auch nur langsam.«
Licht. Ja, ihr Bund hatte sicherlich seine Vorteile – aber er war auch ausgesprochen lästig. Sie würde üben müssen, ihre Gedanken abzuschirmen.
Emarin und die anderen liefen aus der Dunkelheit herbei und gesellten sich an der Kohlenpfanne zu Pevara und Androl. Canler blieb mit zwei weiteren Burschen aus den Zwei Flüssen zurück, dazu bereit, sie bei einem Fluchtversuch aus der Schwarzen Burg zu unterstützen, falls etwas schieflief. Trotz seiner Proteste war es vernünftig, ihn zurückzulassen. Er hatte Familie.
Sie schleiften die Leichen in die Dunkelheit, ließen die Kohlenpfanne aber brennen. Jemand, der zufällig nach den Wächtern Ausschau hielt, würde das Licht sehen, aber die Nacht war so neblig und regnerisch, dass man sich schon hinbegeben musste, um zu erkennen, dass die Männer verschwunden waren.
Obwohl er sich oft beklagt hatte, nicht zu wissen, warum ihm die anderen folgten, übernahm Androl auf der Stelle den Befehl über die Gruppe und schickte Nalaam und Jonneth los, um den Rand der Erdarbeiten zu überwachen. Jonneth trug seinen Bogen, dessen Sehne allerdings in der feuchten Nacht nicht gespannt war. Sie hofften, dass der Regen irgendwann nachließ und er ihn dann benutzen konnte, wenn sie kein Machtlenken riskieren konnten.
Androl, Emarin und Pevara rutschten einen der schlammigen Hänge in die Baugrube hinunter, die man für das Fundament ausgehoben hatte. Schlamm bespritzte Pevara, aber sie war ja bereits völlig durchnässt, und der Regen spülte den Dreck weg.
Das Fundament bestand aus Ziegelsteinen, die Mauern, Zwischenräume und Korridore bilden sollten; hier unten verwandelte sich alles in ein Labyrinth, in dem sich der fallende Regen sammelte. Am Morgen würden die Asha’man-Soldaten erst einmal alles trockenlegen müssen.
Wie finden wir den Eingang?, übersandte Pevara.
Androl kniete nieder, dann schwebte eine winzige Lichtkugel über seiner Hand. Regentropfen passierten das Licht; einen Augenblick lang sah es aus, als würden winzige Meteoriten aufblitzen und verschwinden. Er legte die Finger in das Wasser auf dem Boden.
Er schaute wieder auf, dann streckte er den Arm aus. »Es fließt in die Richtung«, flüsterte er. »Irgendwohin. Dort finden wir Taim.«
Emarin grunzte anerkennend. Androl hob die Hand und winkte Jonneth und Nalaam nach unten ins Fundament, dann ging er mit leisen Schritten voraus.
Ihr. Bewegt. Euch. Gut. Leise, übermittelte Pevara.
Bin als Kundschafter ausgebildet, sandte er zurück. Im Wald. In den Verschleierten Bergen.
Wie vielen Handwerken war er in seinem Leben eigentlich nachgegangen? Er hatte ihr einige Sorgen bereitet. Ein Leben, wie er es geführt hatte, konnte ein deutlicher Hinweis auf eine fundamentale Unzufriedenheit mit der Welt sein, eine Ungeduld. Aber wie er über die Schwarze Burg sprach … die Leidenschaft, mit der er kämpfen wollte … das besagte etwas anderes. Hier ging es nicht nur um Loyalität zu Logain. Ja, er und die anderen respektierten Logain, aber für sie repräsentierte er etwas viel Bedeutenderes. Einen Ort, an dem Männer wie sie geachtet wurden.
Ein Leben, wie Androl es geführt hatte, konnte auf einen Mann hinweisen, der sich niemals festlegte oder zufrieden war, aber es konnte auch auf etwas anderes hindeuten: einen Mann auf der Suche. Einen Mann, der genau wusste, dass das Leben, das er führen wollte, irgendwo dort draußen existierte. Er musste es bloß finden.
»Bringt man euch in der Weißen Burg eigentlich bei, Menschen auf diese Weise zu analysieren?«, flüsterte Androl ihr ins Ohr, als er neben einem Türdurchgang stehen blieb und seine Lichtkugel hineinhielt, um die anderen dann herbeizuwinken.
Nein, antwortete sie stumm, um diese Kommunikationsmethode zu üben, um ihre Gedanken besser fließen zu lassen. Das ist etwas, das eine Frau nach ihrem ersten Lebensjahrhundert erlernt.
Er reagierte mit angespannter Belustigung. Sie kamen zu einer Reihe im Bau befindlicher Räume, von denen keiner ein Dach aufwies, bevor sie schließlich zu einer Sektion unbearbeiteten Erdbodens kamen. Hier standen ein paar Fässer mit Pech, aber man hatte sie zur Seite geschoben, und die Bretter, auf denen sie normalerweise standen, waren entfernt worden. Dort klaffte ein Loch im Boden. Das Wasser floss über den Grubenrand und verschwand in der Dunkelheit. Androl kniete nieder und lauschte, dann nickte er den anderen zu, bevor er sich hinunterließ. Eine Sekunde später platschte es.
Pevara folgte ihm; es ging nur wenige Fuß in die Tiefe. Das Wasser fühlte sich kalt an ihren Füßen an, aber sie war ja bereits durchnässt. Androl stand geduckt da und schob sich dann unter einem irdenen Überhang hindurch, um sich auf der anderen Seite wieder aufzurichten. Seine winzige Lichtkugel enthüllte einen Tunnel. Hier hatte man einen Graben ausgehoben, in dem sich das Regenwasser sammelte. Pevara schätzte, dass sie jetzt genau unter der Stelle standen, an der sie die Wächter getötet hatten.
Dobser hat recht, übermittelte sie, während die anderen hinter ihr in die Tiefe sprangen. Taim errichtet Geheimtunnel und verborgene Räume.
Sie überquerten den Graben und gingen weiter. Nach einem kurzen Stück Tunnel erreichten sie eine Abzweigung, an der die Wände wie ein Minenschaft abgestützt waren. Sie versammelten sich und schauten erst in die eine Richtung, dann in die andere. Zwei Möglichkeiten.
»Der Weg führt schräg aufwärts«, flüsterte Emarin und zeigte nach links. »Vielleicht zu einem weiteren Eingang in diese Tunnel?«
»Wir sollten weiter nach unten gehen«, meinte Nalaam. »Findet Ihr nicht auch?«
»Ja«, erwiderte Androl, befeuchtete den Finger und überprüfte die Luft. »Der Luftzug zeigt nach rechts. Wir gehen zuerst in die Richtung. Seid vorsichtig. Es wird noch mehr Wächter geben.«
Die Gruppe schlich weiter durch den Tunnel. Wie lange hatte Taim an diesem Komplex gearbeitet? Er schien nicht gerade schrecklich groß zu sein – bis jetzt hatte es keine weiteren Abzweigungen gegeben –, trotzdem war er beeindruckend.
Plötzlich blieb Androl stehen, und die anderen folgten seinem Beispiel. Eine grollende Stimme hallte durch den Gang, zu leise, um die Worte verstehen zu können. Aber sie wurden von einem Lichtschein begleitet, der über die Wände flackerte. Pevara umarmte die Quelle und bereitete Gewebe vor. Falls sie die Macht lenkte, würde das jemandem im Fundament auffallen? Androl zögerte ebenfalls; an der Oberfläche die Macht zu lenken, um die Wächter zu töten, war schon verräterisch genug gewesen. Falls Taims Männer hier unten die Benutzung der Einen Macht spürten …
Eine Gestalt kam näher, das Licht beleuchtete einen Mann.
Neben Pevara ächzte etwas, als Jonneth seinen mittlerweile mit eingehakter Sehne versehenen Bogen von den Zwei Flüssen spannte. Der Tunnel war kaum hoch genug dafür. Jonneth ließ die Sehne los, etwas pfiff durch die Luft. Das Grummeln verstummte wie abgeschnitten, das Licht fiel zu Boden.
Die Gruppe eilte los und stieß auf Coteren. Mit gläsernem Blick starrte er zur Decke, aus seiner Brust ragte ein Pfeil. Seine Laterne brannte weiter auf dem Boden neben ihm. Jonneth holte seinen Pfeil zurück, dann wischte er ihn am Gewand des Toten sauber. »Darum trage ich noch immer einen Bogen, du verfluchter Sohn einer Ziege.«
»Da«, sagte Emarin und zeigte ein Stück voraus auf eine schwere Tür. »Coteren bewachte sie.«
»Haltet euch bereit«, flüsterte Androl, dann holte er tief Luft, eilte los und stieß die Holztür auf. Dahinter lag eine Reihe primitiver Zellen, die man in die Erde gegraben hatte – sie stellten kaum mehr als ein mit einer Türe verschlossenes Kämmerchen dar. Pevara spähte in eines hinein, aber es war leer. Es war nicht einmal groß genug, dass ein Mann dort aufrecht stehen konnte, und es war stockfinster. In diesen Zellen eingesperrt zu sein bedeutete, dass man in die Finsternis gesperrt war, in einen Raum gequetscht, der nicht größer als ein Grab war.
»Beim Licht!«, sagte Nalaam. »Androl! Er ist hier. Es ist Logain!«
Die anderen eilten zu ihm, und Androl knackte das Türschloss mit überraschend flinken Fingern. Sie zogen die Zellentür auf, und Logain rollte ihnen mit einem Aufstöhnen entgegen. Er sah schrecklich aus, war völlig verdreckt. Einst hatten ihn diese dunklen Locken und die stark ausgeprägten Züge durchaus attraktiv aussehen lassen. Er erschien so schwach wie ein Bettler.
Er hustete, dann richtete er sich mit Nalaams Hilfe auf die Knie auf. Androl kniete sich sofort hin, aber er tat es nicht aus Ehrerbietung. Er starrte Logain in die Augen, während Emarin dem Anführer der Asha’man seine Feldflasche reichte.
Er ist es, dachte Androl, und eine Welle der Erleichterung strömte durch den Bund. Er ist noch er selbst.
Hätten sie ihn Umgedreht, hätten sie ihn gehen lassen, erwiderte Pevara, die sich immer mehr an diese Gedankenübertragung gewöhnte.
Vielleicht. Es sei denn, das hier ist eine Falle. »Mein Lord Logain.«
»Androl.« Logains Stimme war heiser. »Jonneth. Nalaam. Und eine Aes Sedai?« Er musterte Pevara. Für einen Mann, der anscheinend Tage, wenn nicht sogar Wochen eingekerkert gewesen war, erschien er erstaunlich aufgeweckt. »Ich erinnere mich an Euch. Welcher Ajah gehört Ihr an, Frau?«
»Spielt das eine Rolle?«, erwiderte sie.
»Sogar eine große«, sagte Logain und versuchte zu stehen. Dazu war er aber zu schwach, und Nalaam musste ihn stützen. »Wie habt ihr mich gefunden?«
»Diese Geschichte kann warten, bis wir in Sicherheit sind, mein Lord«, sagte Androl. Er spähte durch den Türspalt. »Lasst uns gehen. Wir haben noch immer eine schwierige Nacht vor uns. Ich …«
Er erstarrte und schlug die Tür zu.
»Was ist?«, fragte Pevara.
»Die Macht wird gelenkt«, antwortete Jonneth. »Sehr stark.«
Im Gang draußen ertönten Rufe, gedämpft durch die Erdwände und die Tür.
»Man hat die Wächter gefunden«, sagte Emarin. »Mein Lord Logain, könnt Ihr kämpfen?«
Logain versuchte, aus eigener Kraft auf den Beinen zu stehen, sackte aber wieder zusammen. Seine Miene war entschlossen, aber Pevara fühlte Androls Enttäuschung. Man hatte Logain Spaltwurzel verabreicht; entweder das oder er war zu erschöpft, um die Macht lenken zu können. Das war nicht überraschend. Pevara hatte Frauen erlebt, die zu ausgelaugt waren, um die Quelle zu umarmen, und sie waren in einem viel besseren Zustand gewesen.
»Zurück!«, rief Androl und wich von der Tür fort – drückte sich gegen die Wand. Im nächsten Moment sprengte ein Gewebe aus Feuer und Zerstörung die Tür.
Pevara wartete nicht, bis die Trümmer zu Boden geregnet waren; sie webte Feuer und schleuderte eine Säule der Zerstörung in den Korridor. Sie wusste, dass sie Schattenfreunden oder Schlimmerem gegenüberstand. Die Drei Eide konnten sie hier nicht behindern.
Rufe ertönten, aber etwas wehrte das Feuer ab. Eine Abschirmung versuchte, sie von der Quelle zu trennen. Es gelang ihr gerade eben, den Angriff abzuwehren; schneller atmend duckte sie sich zur Seite.
»Wer auch immer das ist, sie sind stark«, sagte sie.
Eine Stimme hallte durch die Tunnel und gab offensichtlich Befehle, die in diesem Raum nicht deutlich zu verstehen waren.
Jonneth ging neben ihr auf die Knie, hielt den Bogen bereit. »Licht, das ist Taims Stimme!«
»Wir können uns hier nicht wehren«, sagte Logain. »Androl. Ein Wegetor.«
»Ich versuche es«, stieß Androl hervor. »Beim Licht, ich versuche es!«
»Bah.« Nalaam lehnte Logain gegen die Wand. »Ich habe schon schlimmer in der Klemme gesteckt!« Er gesellte sich zu den anderen an der Tür und schleuderte Gewebe in den Korridor. Explosionen erschütterten die Wände, Erde regnete von der Decke.
Pevara sprang zur Tür, warf ein Gewebe und ging neben Androl in die Knie. Er starrte ins Leere, das Gesicht eine Maske der Konzentration. Entschlossenheit und Frustration pulsierten durch den Bund. Sie nahm seine Hand.
»Ihr schafft das«, flüsterte sie.
Der Türrahmen explodierte, und Jonneth fiel mit verbranntem Arm zurück. Der Boden bebte; nun regnete auch immer mehr Erde von den Wänden.
Schweiß strömte über Androls Gesicht. Er biss die Zähne zusammen, wurde knallrot, riss die Augen auf. Rauch strömte in den Raum und ließ Emarin husten, während Nalaam Jonneth Heilte.
Androl schrie auf, und er näherte sich der Kante dieses Walls in seinem Verstand. Er war fast da! Er konnte …
Ein Gewebe traf den Raum, das ganze Erdreich wogte, und die in Mitleidenschaft gezogene Decke gab schließlich nach. Erdmassen stürzten auf sie herab, dann wurde alles um sie herum schwarz.