36 Dinge, die sich nicht ändern lassen

Mit Rand stimmte etwas nicht.

Nynaeve klammerte sich an den Stalagmiten tief im Krater des Verderbens, um nicht vom Wind in das Nichts vor ihr gezogen zu werden. Moiraine hatte diese seltsame Leere als die Essenz des Dunklen Königs bezeichnet, aber musste es sich dann nicht dabei um die Wahre Macht handeln? Und ihr kam ein noch schlimmerer Gedanke. Wenn sich seine Essenz in dieser Welt befand, bedeutete das denn nicht, dass er sich bereits befreit hatte? Was auch immer es war, es verkörperte das personifizierte Böse, und es erfüllte Nynaeve mit einem Entsetzen, wie sie es noch nie zuvor in ihrem Leben verspürt hatte.

Das schwarze Nichts zog mit großer Kraft und riss alles in seiner Nähe in sich hinein. Sollte Nynaeve den Stein loslassen, befürchtete sie, einfach hineingezogen zu werden. Es hatte bereits ihre Stola gestohlen und verschwinden lassen. Sollte sie dieses Nichts verschlingen, würde ihr Leben enden. Vielleicht sogar ihre Seele.

Rand!, dachte Nynaeve. Konnte sie ihm irgendwie helfen? Er stand vor Moridin, Schwert berührte Schwert. Erstarrt, als wäre er in einem Augenblick gefangen. Sein Gesicht war schweißüberströmt. Er sprach nicht. Er blinzelte nicht einmal.

Sein Fuß hatte die Dunkelheit berührt. In diesem Moment war er erstarrt und Moridin mit ihm. Sie waren wie Statuen. Um sie herum heulte der Wind, schien aber keinen Einfluss auf sie zu haben. Nicht wie auf Nynaeve. Seit gut fünfzehn Minuten standen sie so reglos da.

Seit ihre Gruppe die Höhle betreten hatte, um dem Dunklen König gegenüberzutreten, war noch keine Stunde vergangen.

Nynaeve sah zu, wie Steine über den Boden rollten und in diese Schwärze gezogen wurden. Ihre Kleidung flatterte wie von einem starken Wind erfasst, genau wie bei Moiraine, die sich in der Nähe ebenfalls an einem Stalagmiten festhielt. Glücklicherweise wurde der scheußliche Schwefelgestank, der die Höhle erfüllt hatte, ebenfalls in das schwarze Nichts gezogen.

Sie konnte die Eine Macht nicht benutzen. Rand zog alles davon in sich hinein, die ganze Menge, die sie aufzunehmen fähig war. Aber er schien nichts damit zu machen. Konnte sie Moridin erreichen? Er schien sich nicht bewegen zu können. Was, wenn sie ihm mit einem Stein gegen den Kopf schlug? Es würde besser sein, als hier herumzustehen und nichts zu tun.

Vorsichtig lockerte Nynaeve den Griff um den Stalagmiten, um zu ergründen, wie weit ihr Gewicht gegen die Anziehungskraft aus dem Nichts ankämpfen konnte. Augenblicklich rutschte sie nach vorn und klammerte sich sofort wieder fest.

Auf keinen Fall verbringe ich die Letzte Schlacht damit, mich an einen Stein zu klammern! Zumindest nicht an denselben. Sie musste es riskieren. Sich auf geradem Weg nach vorn zu bewegen erschien zu gefährlich, aber wenn sie eine seitliche Richtung einschlug … ja, rechts von ihr ragte ein weiterer Stalagmit in die Höhe. Nachdem sie den Stein losgelassen hatte, gelang es ihr, sich in einer Mischung aus Rutschen und Laufen zu dem anderen Stalagmiten vorzuarbeiten. Dort wählte sie den nächsten aus, ließ vorsichtig los und schlang die Arme um den neuen Halt.

Sie kam nur ganz langsam voran. Rand, du wollköpfiger Narr, dachte sie. Hätte er sie oder Moiraine den Zirkel führen lassen, dann hätten sie vielleicht etwas unternehmen können, während er kämpfte!

Sie erreichte den nächsten Stalagmiten und hielt inne, als sie rechts von sich etwas sah. Beinahe hätte sie aufgeschrien. Dort kauerte eine Frau an der Wand, vom Felsen vor dem Wind geschützt. Sie schien zu weinen.

Nynaeve warf einen Blick auf Rand, der noch immer mit Moridin erstarrt war, dann näherte sie sich der Frau. Hier befanden sich mehr Stalagmiten, was bedeutete, dass sie weniger gefährdet kriechen konnte, da der Stein den Sog des Nichts abschwächte.

Nynaeve erreichte die Frau. Sie war an die Wand gekettet. »Alanna?«, übertönte Nynaeve den Wind. »Beim Licht, was macht Ihr denn hier?«

Die Aes Sedai blinzelte mit geröteten Augen in Nynaeves Richtung. Ihre Augen starrten ausdruckslos, als wäre sie nicht bei Verstand. Dann fiel Nynaeve auf, dass Alannas ganze linke Seite von einer Messerwunde im Bauch blutgetränkt war. Licht! Das hätte ihr eigentlich bereits die totenblasse Haut der Frau verraten müssen.

Warum auf sie einstechen und sie dann hier zurücklassen? Aber dann wurde es Nynaeve schlagartig bewusst. Sie teilt mit Rand den Bund. O beim Licht! Es war eine Falle. Moridin hatte sie blutend zurückgelassen und sich dann Rand entgegengestellt. Wenn Alanna starb, würde Rand als ihr Behüter in blindwütigen Zorn verfallen, und Moridin würde ihn mühelos töten können.

Warum war ihm das denn nicht aufgefallen? Nynaeve suchte in ihren Gürteltaschen nach Kräutern, dann hielt sie inne. Konnten Kräuter in diesem Zustand überhaupt noch etwas ausrichten? Um eine solche Wunde Heilen zu können, brauchte sie die Eine Macht. Nynaeve riss die Kleidung der Frau auseinander, machte einen provisorischen Verband und versuchte Saidar in sich zu ziehen, um sie zu Heilen.

Rand hielt es fest und ließ auch nicht los. Hektisch versuchte sie ihn wegzustoßen, aber er hielt eisern fest. Dann noch fester, als sie sich gegen ihn stemmte. Irgendwie schien er doch die Macht zu lenken, aber sie konnte keine Gewebe sehen. Zwar fühlte sie irgendetwas, aber mit dem heulenden Wind und der seltsamen Natur des einst durch die Bohrung verursachten Kraters im Gefüge der Welt kam es ihr so vor, als stände sie mitten in einem Wirbelsturm. Die Macht war damit irgendwie verbunden.

Verflucht! Sie brauchte Saidar! Es war nicht Rands Fehler. Er konnte ihr nun einmal keine Macht überlassen, solange er den Zirkel leitete.

Nynaeve drückte die Hand gegen Alannas Wunde und kam sich völlig hilflos vor. Wagte sie es, Rand zuzurufen, sie aus dem Zirkel zu entlassen? Falls sie das tat, würde sich Moridin zweifellos gegen sie wenden und Alanna angreifen.

Was sollte sie nur tun? In dem Moment, in dem diese Frau starb, würde Rand die Kontrolle verlieren. Das bedeutete höchstwahrscheinlich sein Ende … und das der Letzten Schlacht.


Mat hackte mit der Axt auf ein Holzstück ein, um es anzuspitzen. »Seht ihr«, sagte er, »das muss nicht aufwendig sein. Spart euch eure Schnitzkünste, um die Tochter des Bürgermeisters zu beeindrucken.«

Die Männer und Frauen ringsum nickten mit grimmiger Entschlossenheit. Sie waren Bauern, Dörfler und Handwerker, genau wie die Menschen, die er in den Zwei Flüssen gekannt hatte. Tausende von ihnen standen unter seinem Befehl. Nie hätte er gedacht, dass so viele von ihnen da sein würden. Die guten Menschen dieses Landes waren gekommen, um zu kämpfen.

Mat hielt sie alle für verrückt. Hätte er entkommen können, dann hätte er sich irgendwo in einem Keller versteckt. Verflucht, er hätte es auf jeden Fall versucht.

In seinem Kopf ratterten diese Würfel, wie sie es seit dem Augenblick getan hatten, in dem Egwene ihm den Oberbefehl über die Heere des Lichts übergeben hatte. Ein verdammter Ta’veren zu sein war keine zwei Kupfermünzen wert.

Er hackte weiter und spitzte seinen Pfahl für die Palisaden zu. Ein Bursche sah ihm ganz besonders genau auf die Finger, ein alter Bauer mit so ledriger Haut, dass die Schwerter der Trollocs vermutlich einfach daran abprallen würden. Aus irgendeinem Grund kam er Mat bekannt vor.

Soll man diese Erinnerungen doch zu Asche verbrennen, dachte er. Zweifellos ähnelte der Bursche jemandem aus diesen uralten Erinnerungen, die man in seinen Kopf gepflanzt hatte. Ja, das musste es sein. Er konnte sich nur nicht ganz genau erinnern. Ein … Karren? Ein Blasser?

»Kommt schon, Renald«, sagte der Bursche zu einem seiner Gefährten – ebenfalls ein Bauer aus den Grenzlanden, so wie er aussah. »Gehen wir ein Stück die Reihe entlang und sehen, ob wir die anderen Jungs antreiben können.«

Die beiden gingen los, während Mat seinen Pfahl fertigstellte und sich dann die Stirn abwischte. Er griff nach dem nächsten Pfahl – besser, er gab diesen Schafhirten eine weitere Demonstration –, als eine in einen Cadin’sor gekleidete Gestalt die fast fertige Palisade entlanggelaufen kam.

Urien hatte hellrotes Haar, das bis auf einen Zopf im Nacken kurz geschnitten war. Er winkte Mat zu, als er vorbeilief. »Sie sind aufgeregt, Matrim Cauthon«, sagte er, ohne stehen zu bleiben. »Ich glaube, sie kommen in diese Richtung.«

»Danke«, rief Mat. »Ich schulde Euch etwas.«

Der Aiel drehte sich im Laufen um, trabte eine Sekunde lang zurück und sah Mat an. »Gewinnt einfach diese Schlacht! Ich habe einen Schlauch Oosquai auf Euren Erfolg gesetzt.«

Mat schnaubte. Das Einzige, das noch beunruhigender als ein stoischer Aiel war, war ein lächelnder. Eine Wette? Auf den Ausgang dieser Schlacht? Was für eine Wette sollte das denn sein? Wenn sie verloren, würde niemand lange genug leben, um sie einzulösen …

Mat runzelte die Stirn. Eigentlich war das sogar eine sehr schlaue Wette. »Wen habt Ihr für diese Wette gefunden?«, rief Mat. »Urien?« Aber der Mann war bereits zu weit weg, um es zu hören.

Mat murrte, aber dann drückte er die Axt einem der Umstehenden in die Hand. Es war eine schlanke tairenische Frau. »Führt die Arbeiten fort, Cynd.«

»Ja, Lord Cauthon.«

»Ich bin kein verfluchter Lord«, sagte Mat wie gewohnt, als er den Ashandarei nahm. Er ging ein Stück weg, dann drehte er sich um, um die im Bau befindliche Palisade zu betrachten, und erblickte eine Handvoll Totenwächter, die die Reihe der Arbeiter entlanggingen. Wie Wölfe unter Schafen. Er eilte weiter.

Seinen Heeren blieb nicht mehr viel Zeit zur Vorbereitung. Wegetore hatten ihnen einen Vorsprung vor den Trollocs verschafft, aber sie waren nicht entkommen. Licht, es gab kein Entkommen. Aber Mat hatte sich sein Schlachtfeld aussuchen können, und dieses Merrilor bot beste Voraussetzungen.

Als würde man sich seine eigene Grabstätte aussuchen, dachte er. Sicher, lieber würde ich so eine Wahl gar nicht erst treffen müssen.

Die Palisade erhob sich vor den Wäldern im Osten des Feldes. Es blieb nicht genug Zeit, das ganze Gebiet mit einer Palisade abzuteilen oder zu umgeben, davon abgesehen würde das sowieso nicht viel Sinn machen. Mit den sharanischen Machtlenkern konnte der Schatten Mauern zerfetzen wie ein Schwert ein Stück Seide. Aber eine Palisade mit Laufgängen würde den Bogenschützen eine erhöhte Stellung geben, um die Tiermenschen zu beschießen.

Hier hatte Mat zwei Flüsse zur Verfügung. Der Mora floss zwischen Dasharfels und Polov-Anhöhe nach Südwesten. Das Südufer befand sich in Shienar, das Nordufer in Arafel. Der Fluss mündete in den Erinin, der auf seinem Weg nach Westen am Südrand des Feldes von Merrilor vorbeiströmte.

Diese Flüsse würden besser als jede Mauer dienen, insbesondere jetzt, da Mat die nötigen Ressourcen hatte, um sie vernünftig verteidigen zu können. Nun, wenn man es als Ressourcen bezeichnen wollte. Die Hälfte seiner Soldaten war so frisch wie Frühlingsgras, und die andere Hälfte hatte sich kaum eine Woche zuvor so gut wie zu Tode gekämpft. Die Grenzländer hatten zwei von drei Männern verloren – Licht, zwei von dreien. Jede weniger entschlossene Truppe hätte sich aufgelöst.

Wenn er alle mit einrechnete, würde er bei der Ankunft dieser Trollocs vier zu eins unterlegen sein, jedenfalls wenn die Berichte der Fäuste des Himmels stimmten. Es würde eine hässliche Angelegenheit werden.

Mat zog den Hut tiefer in die Stirn, dann kratzte er sich neben der neuen Augenklappe, die Tuon ihm gegeben hatte. Rotes Leder. Sie gefiel ihm.

»Also so nicht«, sagte er, als er an ein paar neuen Rekruten der Burgwache vorbeikam. Sie übten mit Bauernspießen – Speerspitzen für ihre Enden wurden im Augenblick noch geschmiedet. Die Männer sahen aus, als würden sie eher sich selbst verletzen als den Feind.

Mat drückte einem Mann den Ashandarei in die Hand, dann nahm er einem anderen den Spieß ab, während der erste hastig salutierte. Die meisten dieser Männer waren nicht alt genug, um sich mehr als einmal im Monat rasieren zu müssen. Wenn der Junge, dessen Stab er genommen hatte, auch nur einen Tag älter als fünfzehn war, würde er seine Stiefel fressen. Er würde sie nicht einmal vorher kochen!

»Ihr dürft nicht jedes Mal zusammenzucken, wenn der Stab etwas trifft!«, sagte Mat. »Schließt auf dem Schlachtfeld die Augen, und ihr seid tot. Habt ihr denn beim letzten Mal nicht aufgepasst?«

Mat hielt den Spieß in die Höhe, zeigte ihnen, wo sie ihn anzufassen hatten, dann ging er mit ihnen die Abwehrhaltung durch, die ihm sein Vater gezeigt hatte, als er noch jung genug gewesen war, um zu glauben, dass kämpfen möglicherweise Spaß machen würde. Er arbeitete, bis er schwitzte, schlug nacheinander auf jeden der neuen Rekruten ein und zwang sie, seine Hiebe abzublocken.

»Ich will verflucht sein, aber ihr werdet das kapieren«, verkündete Mat laut. »Eigentlich sollte es mir egal sein, da ihr alle so viel Verstand wie ein Baumstumpf zu haben scheint, aber wenn ihr euch umbringen lasst, werden eure Mütter von mir erwarten, dass ich ihnen Nachricht gebe. Natürlich werde ich das nicht tun. Aber möglicherweise fühle ich mich dann zwischen zwei Würfelpartien etwas schuldig, und ich hasse es, mich schuldig zu fühlen, also passt gefälligst auf!«

»Lord Cauthon?«, sagte der Junge, der ihm seinen Stab überlassen hatte.

»Ich bin kein …« Er verstummte. »Also gut, was ist?«

»Können wir nicht einfach stattdessen Unterricht im Schwertkampf bekommen?«

»Beim Licht!«, sagte Mat. »Wie heißt Ihr?«

»Sigmont, Herr.«

»Nun, Sigmont, was glaubt Ihr, wie viel Zeit wir haben? Vielleicht könntet Ihr ja rüber zu den Schattenlords und dem Schattengezücht gehen und sie bitten, mir noch ein paar Monate Zeit zu geben, damit ich euch alle vernünftig ausbilden kann.«

Sigmont errötete, und Mat gab ihm seinen Stab zurück. Stadtjungen. Er seufzte. »Seht mal, ich will doch nur, dass ihr euch verteidigen könnt. Ich habe nicht die nötige Zeit, um euch zu großen Kriegern zu machen, aber ich kann euch beibringen, wie man zusammenarbeitet, eine Formation hält und nicht zurückweicht, wenn die Trollocs kommen. Das wird euch weiterbringen als jede affige Fechtkunst, vertraut mir.«

Die Jungen nickten zögernd.

»Übt weiter«, sagte Mat, wischte sich die Stirn ab und warf einen Blick über die Schulter. Verfluchte Asche! Die Totenwächter kamen in seine Richtung.

Er schnappte sich seinen Ashandarei und eilte los, dann flitzte er um ein Zelt herum, nur um beinahe in eine Gruppe Aes Sedai zu stolpern, die ihm auf dem Pfad entgegenkamen.

»Mat?«, fragte Egwene aus der Mitte der Gruppe. »Alles in Ordnung?«

»Sie verfolgen mich verdammt noch mal«, erwiderte er und warf einen Blick um die Zeltecke.

»Wer verfolgt dich?«

»Totenwächter. Ich sollte schon längst wieder in Tuons Zelt sein.«

Egwene machte eine Geste, was die anderen Frauen weitereilen ließ. Nur ihre Schatten – Gawyn und diese Seanchanerin – blieben an ihrer Seite. »Mat«, sagte Egwene in einem mühsam beherrschten Tonfall, »ich bin froh, dass du endlich Vernunft annimmst und das seanchanische Lager verlässt, aber hättest du nicht bis nach der Schlacht damit warten können?«

»Tut mir leid«, sagte er und hörte bloß mit einem Ohr zu. »Können wir zum Aes-Sedai-Quartier gehen? Dorthin werden sie mir nicht folgen.« Vielleicht nicht. Falls alle Totenwächter wie Karede waren, würden sie es vielleicht doch. Karede würde noch einem von einer Klippe stürzenden Mann hinterherspringen, um ihn doch noch zu erwischen.

Egwene schlug die entgegengesetzte Richtung ein und schien mit ihm sehr unzufrieden zu sein. Wie schafften es Aes Sedai nur, nicht das geringste Gefühl zu zeigen, aber einen Mann dabei wissen zu lassen, dass sie sein Verhalten missbilligten? Wenn er so darüber nachdachte, würde eine Aes Sedai dem Mann vermutlich ebenfalls von der Klippe folgen, nur um ihm – in allen Einzelheiten – zu erklären, was er alles falsch machte, wenn er sich auf diese Weise selbst umbrachte.

»Wir werden eine Möglichkeit finden müssen, Fortuona zu erklären, warum du geflohen bist«, sagte Egwene, als sie sich dem Aes-Sedai-Quartier näherten. Mat hatte es so weit wie möglich von dem der Seanchaner aufgeschlagen, wie es noch zu vertreten war. »Diese Ehe wird ein Problem werden. Ich schlage vor, dass du …«

»Moment, Egwene«, sagte er. »Wovon sprichst du da eigentlich?«

»Du bist auf der Flucht vor den seanchanischen Wächtern«, sagte Egwene. »Hast du nicht zugehört … Natürlich nicht. Es ist gut zu wissen, dass die Welt zwar untergeht, sich aber ein paar Dinge niemals ändern. Cuendillar und Mat Cauthon.«

»Ich laufe vor ihnen weg«, sagte Mat mit einem Blick über die Schulter, »weil Tuon will, dass ich zu Gericht sitze. Jedes Mal, wenn ein Soldat wegen einem Verbrechen die Gnade der Kaiserin anruft, bin ich derjenige, der sich seinen verfluchten Fall anhören soll!«

»Du sprichst ein Urteil?«, fragte Egwene.

»Ich weiß«, erwiderte Mat. »Viel zu viel Arbeit, wenn du mich fragst. Ich gehe schon den ganzen Tag Wächtern aus dem Weg, um mir etwas Zeit für mich selbst zu stehlen.«

»Ein kleines bisschen ehrliche Arbeit würde dich nicht umbringen, Mat.«

»Also wirklich, du weißt, dass das nicht stimmt. Soldat zu sein ist ehrliche Arbeit, und sie bringt verdammt noch mal dauernd Männer um.«

Gawyn Trakand übte sich anscheinend die ganze Zeit darin, irgendwann eine Aes Sedai zu werden, denn er warf Mat ständig Blicke zu, die Moiraine mit Stolz erfüllt hätten. Nun, wenn es ihm Spaß machte. Gawyn war ein Prinz. Er war dazu erzogen worden, Urteile zu verkünden und dergleichen mehr. Vermutlich schickte er jeden Tag in der Mittagspause ein paar Männer an den Galgen, bloß um in Übung zu bleiben.

Aber er … er würde niemanden zur Hinrichtung schicken, und dabei blieb es. Sie passierten eine Gruppe Aiel, die sich im Kampf übten. Hatte es Urien so eilig gehabt, um zu ihnen zu kommen? Sobald sie an ihnen vorbei waren – Mat drängte die anderen zur Eile, damit die Seanchaner sie nicht einholen würden –, trat er näher an Egwene heran.

»Hast du es schon gefunden?«, fragte er leise.

»Nein«, antwortete Egwene mit starr nach vorn gerichtetem Blick.

Unnötig zu erwähnen, was es war. »Wie konntest du das Ding bloß verlieren? Nach der ganzen verdammten Mühe, die wir hatten, um es zu finden?«

»Wir? So wie ich die Geschichte kenne, hatten Rand, Loial und die Grenzländer doch wohl eher die Mühe, es zu finden, als du.«

»Ich war da«, entgegnete Mat. »Ich bin durch den ganzen verdammten Kontinent geritten, oder etwa nicht? Soll man mich doch zu Asche verbrennen, erst Rand, jetzt du. Wird denn jeder wegen dieser Tage auf mir herumhacken? Gawyn, wollt Ihr auch?«

»Ja, bitte.« Er klang begierig.

»Haltet den Mund«, sagte Mat. »Anscheinend kann sich außer mir keiner mehr genau daran erinnern. Ich bin wie ein Verrückter hinter dem verdammten Horn hergejagt. Und ich war es, wenn ich das erwähnen darf, der in das Ding blies, damit ihr alle aus Falme entkommen konntet.«

»Ist das deine Erinnerung?«, wollte Egwene wissen.

»Sicher«, sagte Mat. »Ich meine, gut, da sind ein paar Lücken, aber das meiste habe ich mir zusammengereimt.«

»Und der Dolch?«

»Das alte Ding? Kaum der Aufmerksamkeit wert.« Er griff nach der Seite, wo er ihn einst getragen hatte, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Egwene sah ihn mit erhobener Braue an. »Aber darum geht es hier nicht. Wir brauchen das verfluchte Horn, Egwene. Wir brauchen es.«

»Wir suchen danach, obwohl wir nicht genau wissen, was geschehen ist. Es gab den Nachklang von Reisen, aber es ist einige Zeit vergangen, und … Beim Licht, Mat. Wir versuchen es. Ich verspreche es. Es ist nicht das Einzige, das uns der Schatten in letzter Zeit stahl …«

Er sah sie fragend an, aber sie sagte nicht mehr dazu. Verfluchte Aes Sedai. »Hat jemand Perrin gesehen?«, fragte er. »Ich will nicht derjenige sein, der ihm sagen muss, dass seine Frau verschwunden ist.«

»Keiner hat ihn gesehen«, sagte Egwene. »Ich nehme an, er ist damit beschäftigt, Rand zu helfen.«

»Pff«, machte Mat. »Kannst du mir ein Wegetor nach oben auf den Fels machen?«

»Ich dachte, du wolltest in mein Lager.«

»Das liegt auf dem Weg.« Nun, mehr oder weniger. »Und die Totenwächter werden nicht damit rechnen. Verflucht, Egwene, ich glaube, sie haben geahnt, wo wir hinwollen.«

Egwene dachte kurz nach, dann öffnete sie ein Tor zum Reisegelände oben auf dem Dasharfels. Sie traten hindurch.

Mehr als ein Hügel und weniger als ein Berg ragte der Dasharfels ungefähr in der Mitte des Schlachtfelds gut hundert Fuß in die Höhe. Die Felsformation war nicht zu erklimmen, und Wegetore waren die einzige Möglichkeit, auf die Oberseite zu kommen. Von dort würden Mat und seine Befehlshaber die ganze Schlacht verfolgen können.

»Ich habe noch keinen Menschen getroffen«, sagte Egwene zu ihm, »der so viel Mühe auf sich nimmt, um harter Arbeit aus dem Weg zu gehen, Matrim Cauthon.«

»Du hast nicht genug Zeit mit Soldaten verbracht.« Mat winkte den Männern zu, die ihm salutierten, als er das Reisegelände verließ.

Er blickte nach Norden zum Fluss Mora und darüber hinweg nach Arafel. Dann nach Nordosten, zu den Ruinen, die einst ein Fort oder Wachturm gewesen waren. Nach Osten, zu der sich erhebenden Palisade und dem Wald. Er drehte sich weiter, nach Süden, um auf den Erinin in der Ferne zu blicken und den seltsamen kleinen Hain riesiger Bäume, vor denen Loial so große Ehrfurcht hatte. Angeblich hatte Rand sie während der Versammlung wachsen lassen, auf der der Vertrag unterzeichnet worden war. Mat blickte weiter nach Südwesten auf die einzige gute Furt über den Mora, der die Einheimischen, die diese Gegend erschlossen hatten, den Namen Hawalfurt gegeben hatten; jenseits der Furt lag ein großes Moor.

Im Westen erhob sich auf der anderen Seite des Mora die Polov-Anhöhe – ein vierzig Fuß hohes Plateau mit einem Steilhang im Osten und sanft abfallenden Hängen auf den anderen drei Seiten. Zwischen dem Fuß des südwestlichen Hangs und dem Moor lag ein ungefähr zweihundert Schritte breiter Korridor, der von Reisenden ausgetreten war, die die Furt benutzten, um von Arafel nach Shienar zu gelangen. Mat konnte diese Besonderheiten des Geländes zu seinem Vorteil nutzen. Er konnte sie alle benutzen. Aber würde das reichen? Er konnte fühlen, wie in seinem Inneren etwas an ihm zog, ihn nach Norden lockte. Rand würde ihn bald brauchen.

Er drehte sich um und wollte sofort aufbrechen, als jemand auf ihn zukam, aber es war kein Totenwächter. Bloß der ledergesichtige Jur Grady.

»Ich habe Euch diese Soldaten geholt«, sagte Grady und zeigte in die Richtung. Mat konnte eine kleine Streitmacht durch ein Wegetor auf dem Reisegelände in der Nähe der Palisade kommen sehen. Hundert Männer der Bande, die von Delarn angeführt wurden und eine blutrote Flagge schwangen. Die Rotwaffen wurden von ungefähr fünfhundert Leuten in abgetragener Kleidung begleitet.

»Was sollte das eigentlich?«, fragte Grady. »Ihr habt diese hundert Soldaten in ein Dorf im Süden geschickt, um zu rekrutieren, nehme ich an?«

Das und mehr. Ich habe dein Leben gerettet, dachte Mat und versuchte Delarn in der Gruppe auszumachen. Und dann meldest du dich hierfür freiwillig. Verfluchter Narr. Delarn benahm sich, als wäre das sein Schicksal.

»Schafft sie flussaufwärts«, befahl er. »Die Karten zeigen dort die einzige gute Stelle, um den Mora zu blockieren, eine schmale Schlucht etliche Meilen nordöstlich von hier.«

»Also gut«, sagte Grady. »Es werden feindliche Machtlenker kommen.«

»Ihr werdet Euch um sie kümmern müssen«, sagte Mat. »Aber hauptsächlich will ich, dass Ihr diese sechshundert Männer und Frauen den Fluss verteidigen lasst. Geht keine zu großen Risiken ein. Lasst Delarn und seine Leute die Arbeit machen.«

»Verzeiht mir«, sagte Grady. »Aber das kommt mir nicht gerade wie eine große Streitmacht vor. Die meisten von ihnen sind keine ausgebildeten Soldaten.«

»Ich weiß, was ich tue«, erwiderte Mat. Ich hoffe es zumindest.

Grady nickte zögernd und ging.

Egwene sah Mat neugierig an.

»Von diesem Kampf können wir uns nicht zurückziehen«, sagte er leise. »Kein Rückzug. Es gibt keinen Ort, an den wir gehen könnten. Wir leisten hier Widerstand, oder wir verlieren alles.«

»Es gibt immer einen Rückzugsort«, sagte Egwene.

»Nein«, erwiderte Mat. »Nicht mehr.« Er legte den Ashandarei auf die Schulter und streckte die andere Hand mit nach oben abgewinkelter Handfläche aus. Er musterte die Landschaft, und Erinnerungen stiegen wie aus Licht und Staub in ihm auf. Rion am Berg Hune. Naath und der San d’ma Shadar. Der Fall von Pipkin. Hunderte und Aberhunderte von Schlachtfeldern, Hunderte Siege. Tausende Tote.

Überall auf dem Feld sah Mat Bruchstücke von Erinnerungsbildern aufblitzen. »Hast du mit den Nachschubmeistern gesprochen? Wir haben nichts mehr zu essen, Egwene. Wir können keinen langen Krieg führen, immer kämpfen und wieder zurückfallen. Wenn wir das tun, wird uns der Feind überwältigen. Genau wie Eyal in den Sümpfen von Maighande. So gebrochen wir auch sind, verfügen wir jetzt doch über unsere größte Stärke. Ziehen wir uns zurück, erleiden wir den Hungertod, während die Trollocs uns vernichten.«

»Rand«, sagte Egwene. »Wir müssen nur so lange durchhalten, bis er siegreich ist.«

»Das stimmt gewissermaßen«, sagte Mat und wandte sich der Polov-Anhöhe zu. In seiner Vorstellung sah er, was geschehen würde, die Möglichkeiten. Er stellte sich Reiter wie Schatten oben auf dem Plateau vor. Sollte er versuchen, diese Anhöhe zu halten, würde er verlieren, aber vielleicht … »Verliert Rand, spielt es keine Rolle. Das Rad ist dann verdammt noch mal zerbrochen, und wir alle lösen uns in nichts auf. Wenn wir Glück haben. Nun, mehr können wir nicht tun. Aber da gibt es einen Haken. Wenn er tut, was man von ihm erwartet, könnten wir trotzdem verlieren – und wir werden verlieren, wenn wir die Heere des Schattens nicht aufhalten.«

Er blinzelte, sah es vor sich, das ganze Schlachtfeld breitete sich vor ihm aus. Kämpfe an der Furt. Pfeile von der Palisade. »Wir können sie nicht einfach bloß schlagen, Egwene«, fuhr er fort. »Wir können nicht einfach hier stehen und durchhalten. Wir müssen sie vernichten, sie vertreiben und dann bis zum letzten Trolloc jagen. Bloß zu überleben reicht nicht … wir müssen siegen

»Wie sollen wir das schaffen?«, fragte Egwene. »Mat, deine Worte ergeben keinen Sinn. Hast du nicht erst gestern gesagt, wie sehr uns der Feind zahlenmäßig überlegen sein wird?«

Er blickte zum Moor und stellte sich Schatten vor, die versuchten, sich einen Weg hindurchzubahnen. Schatten aus Staub und Erinnerungen. »Ich muss das alles ändern«, sagte er. Er konnte unmöglich tun, was der Feind erwarten würde. Er konnte nicht tun, was Spione möglicherweise über seine Pläne berichtet hatten. »Blut und verdammte Asche … ein letzter Wurf der Würfel. Alles, was wir haben, auf einen Haufen aufgeschichtet …«

Eine Gruppe Männer in dunklen Rüstungen trat durch ein Wegetor auf den Felsen; sie keuchten, als hätten sie erst eine Damane auftreiben müssen, um hier heraufzukommen. Ihre Harnische waren dunkelrot lackiert, aber dieser Haufen brauchte keinen grandiosen Auftritt, um Angst verbreiten zu können. Sie sahen wütend genug aus, um Eier mit einem Blick zu Rührei schlagen zu können.

»Ihr«, sagte der vorderste Totenwächter, ein Mann namens Gelen, und zeigte auf Mat, »werdet gebraucht …«

Mat hob die Hand, um ihm das Wort abzuschneiden.

»Ich lasse mich nicht wieder abwimmeln!«, beharrte Gelen. »Ich habe Befehle von der …«

Mat warf dem Mann einen finsteren Blick zu, und er verstummte. Mat wandte sich wieder nach Norden. Ein kühler, irgendwie vertrauter Wind erfasste ihn, ließ seinen langen Mantel flattern, strich über seinen Hut. Er kniff das Auge zusammen. Rand zog ihn an.

Die Würfel polterten noch immer in seinem Kopf.

»Sie sind da«, sagte er.

»Was hast du gesagt?«, fragte Egwene.

»Sie sind da.«

»Die Kundschafter …«

»Die Kundschafter haben unrecht.« Mat schaute nach oben und bemerkte zwei Raken, die zum Lager zurückeilten. Sie hatten es gesehen. Die Trollocs mussten die Nacht durchmarschiert sein.

Die Sharaner werden zuerst kommen, dachte Mat, um den Trollocs eine Atempause zu verschaffen. Sie werden durch Wegetore gekommen sein.

Mat zeigte auf die Totenwächter. »Schickt Läufer aus, damit Männer und Frauen auf ihre Posten gehen. Und warnt Elayne, dass ich den Schlachtplan ändern werde.«

»Was?«, rief Egwene.

»Sie sind da!«, sagte Mat und wandte sich den Wächtern zu. »Warum glaubt ihr mir nicht, verflucht! Geht, geht!« Am Himmel kreischten die Raken. Man musste Gelen zugutehalten, dass er salutierte und dann mit seinen Gefährten in diesen schweren Rüstungen losrannte.

»Das ist es, Egwene«, sagte Mat. »Hol tief Luft, nimm einen letzten Schluck aus der Branntweinflasche, oder rauche deine letzte Prise Tabak. Sieh dir den Boden zu deinen Füßen noch einmal gut an, denn bald ist er blutbesudelt. In einer Stunde stecken wir mitten im Getümmel. Möge das Licht über uns alle wachen!«


Perrin trieb in der Dunkelheit. Er war so müde.

Der Schlächter lebt noch, dachte ein Stück von ihm. Graendal korrumpiert die Großen Hauptmänner. Das Ende ist nah. Du kannst dich jetzt nicht einfach so davonschleichen. Halte durch.

Aber wie sollte das gehen? Er versuchte die Augen zu öffnen, aber er war so erschöpft. Er hätte … er hätte den Wolfstraum früher verlassen müssen. Sein ganzer Körper fühlte sich taub an, ausgenommen …

Ausgenommen seine Seite. Mit Fingern, die sich wie Ziegel anfühlten, berührte er die Wärme. Sein Hammer. Er war glühend heiß. Die Wärme schien seine Finger hinaufzukriechen, und Perrin holte tief Luft.

Er musste aufwachen. Er schwebte am Rand des Bewusstseins, so als wäre er dem Schlaf ganz nahe, aber noch immer teilweise wach. In diesem Zustand hatte er das Gefühl, an einem Scheideweg zu stehen. Ein Pfad führte tiefer in die Dunkelheit. Und einer führte … er konnte es nicht sehen, aber er wusste, was es bedeutete … es bedeutete aufzuwachen.

Wärme aus dem Hammer strahlte seinen Arm hinauf. Sein Verstand schärfte sich. Aufwachen.

Genau das hatte der Schlächter getan. Irgendwie war er … aufgewacht …

Perrins Leben verrann. Es war nicht mehr viel Zeit übrig. Zur Hälfte schon in der Umarmung des Todes, biss er die Zähne zusammen, holte tief Luft und zwang sich aufzuwachen.

Die Stille des Wolfstraums zerbrach.

Perrin landete auf weicher Erde und betrat einen Ort, an dem überall Rufe durch die Luft hallten. Etwas über eine Front, über Linien vorzubereiten …

In der Nähe schrie jemand auf. Und dann noch jemand. Andere stimmten ein.

»Perrin?« Diese Stimme kannte er. »Perrin, mein Junge!«

Meister Luhhan? Perrins Lider waren ja so schwer. Er konnte sie nicht öffnen. Arme legten sich um ihn.

»Haltet durch. Ich habe Euch, mein Junge. Ich habe Euch. Haltet durch.«

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