44 Zwei Handwerker

Ein Rascheln weckte Perrin. Vorsichtig öffnete er die Augen einen Spaltbreit und fand sich in einem dunklen Raum wieder.

Berelains Palast, kam die Erinnerung. Die Wellen draußen waren weniger stürmisch, die Schreie der Möwen waren verstummt. Irgendwo in der Ferne grollte der Donner.

Wie spät war es? Es roch nach Morgen, aber draußen war es noch dunkel. Es fiel ihm schwer, die dunkle Silhouette zu erkennen, die sich durch den Raum auf ihn zubewegte. Er spannte sich an, bis er den Geruch erkannte.

»Chiad?«, fragte er und setzte sich auf.

Die Aiel zuckte nicht zusammen, obwohl er davon überzeugt war, sie überrascht zu haben, denn sie blieb abrupt stehen. »Ich sollte nicht hier sein«, flüsterte sie. »Ich treibe meine Ehre an den Rand dessen, was erlaubt sein sollte.«

»Es ist die Letzte Schlacht, Chiad«, erwiderte er. »Da dürft Ihr ein paar Grenzen dehnen … vorausgesetzt, wir haben noch nicht gewonnen.«

»Die Schlacht bei Merrilor ist gewonnen, aber die größere Schlacht – die bei Thakan’dar – wütet noch immer.«

»Ich muss mich wieder an die Arbeit machen«, sagte Perrin. Er trug lediglich seinen Lendenschurz. Aber davon ließ er sich nicht abhalten. Eine Aiel wie Chiad würde nicht erröten. Er schlug die Decke zur Seite.

Leider war die tief in seinen Knochen sitzende Müdigkeit kaum weniger geworden. »Befehlt Ihr mir nicht, im Bett zu bleiben?«, fragte er und suchte nach Hemd und Hose. Sie lagen zusammengefaltet mit seinem Hammer am Fuß des Bettes auf einem Abstelltisch. Als er darauf zuging, musste er sich auf der Matratze abstützen. »Seid Ihr nicht der Ansicht, dass ich nicht kämpfen soll, während ich so erschöpft bin? Jede Frau, der ich hier begegnete, scheint das für ihre dringendste Sorge zu halten.«

»Ich bin zu der Ansicht gelangt«, erwiderte Chiad trocken, »dass es Männer nur noch dümmer macht, wenn man sie auf ihre Dummheit hinweist. Außerdem bin ich Gai’shain. Es steht mir nicht zu.«

Er blickte sie an, und auch wenn er in der Dunkelheit ihr Erröten nicht sehen konnte, konnte er dennoch ihre Verlegenheit riechen. Sie verhielt sich nicht gerade wie eine Gai’shain. »Rand hätte euch alle einfach von euren Eiden befreien sollen.«

»Diese Art Macht hat er nicht«, sagte sie hitzig.

»Was nutzt denn die Ehre, wenn der Dunkle König die Letzte Schlacht gewinnt?«, fauchte Perrin und stieg in seine Hosen.

»Sie bedeutet alles«, erwiderte Chiad. »Sie ist den Tod wert, sie ist es wert, die Welt selbst aufs Spiel zu setzen. Wenn wir keine Ehre haben, dann wäre es besser, wenn wir verlieren.«

Nun, vermutlich gab es Dinge, über die er das Gleiche sagen würde. Natürlich würde er keine albernen weißen Gewänder tragen – aber er würde so manches nicht tun, was die Weißmäntel getan hatten, selbst wenn die Welt auf dem Spiel stand. Er bedrängte sie nicht weiter.

»Warum seid Ihr hier?«, fragte er und schlüpfte in das Hemd.

»Gaul«, sagte Chiad. »Ist er …«

»O beim Licht!«, sagte Perrin. »Ich hätte Euch das schon längst sagen müssen. In letzter Zeit habe ich Eisenschrott statt eines Verstands, Chiad. Als ich ihn verließ, ging es ihm gut. Er befindet sich noch immer im Traum, und dort, wo er ist, vergeht die Zeit viel langsamer. Vermutlich ist für ihn nur eine Stunde vergangen, aber ich muss zu ihm zurückkehren.«

»In Eurem Zustand?«, fragte sie und ignorierte die Tatsache, dass sie eben noch gesagt hatte, ihm das nicht vorzuhalten.

»Nein.« Perrin setzte sich aufs Bett. »Beim letzten Mal habe ich mir dabei beinahe den Hals gebrochen. Ich brauche eine Aes Sedai, die mich von meiner Erschöpfung kuriert.«

»Das ist gefährlich«, sagte Chiad.

»Gefährlicher, als Rand sterben zu lassen? Gefährlicher, als Gaul ohne Verbündete in der Welt der Träume zu lassen, wo er den Car’a’carn allein beschützt?«

»Der sticht sich doch eher mit dem eigenen Speer selbst in den Fuß, wenn er allein kämpfen muss«, sagte Chiad.

»Ich meinte nicht …«

»Schon gut, Perrin Aybara. Ich versuche es.« Sie ging mit raschelndem Gewand.

Perrin legte sich wieder hin und rieb sich mit den Handkanten die Augen. Bei dem letzten Kampf gegen den Schlächter war er viel selbstbewusster gewesen, und er war trotzdem gescheitert. Er knirschte mit den Zähnen und hoffte, dass Chiad bald zurückkehrte.

Etwas bewegte sich außerhalb seines Zimmers. Mühsam setzte er sich wieder auf.

Ein großer Schemen verdunkelte den Eingang, dann entfernte er die Klappe von einer Lampe. Meister Luhhan war wie ein Amboss gebaut, mit einem stämmigen und doch kraftvollen Oberkörper und gewaltigen Armen. In Perrins Vorstellung hatte der Mann nicht ein einziges graues Haar. Meister Luhhan war älter geworden, aber keineswegs hinfälliger. Perrin bezweifelte, dass das je passieren würde.

»Lord Goldauge?«, fragte er.

»Licht, bitte«, erwiderte Perrin. »Meister Luhhan, gerade Ihr von allen Leuten solltet Euch doch dazu überwinden können, mich einfach Perrin zu nennen. Oder gleich ›mein nichtsnutziger Lehrling‹.«

»Also Augenblick mal«, sagte Meister Luhhan und betrat den Raum. »Ich glaube nicht, dass ich Euch abgesehen von einer Gelegenheit je so nannte.«

»Als ich die neue Klinge für Meister al’Moors Sense zerbrach.« Perrin musste lächeln. »Ich war so sehr davon überzeugt, es richtig hinzubekommen.«

Meister Luhhan kicherte. Er blieb vor Perrins Hammer stehen, der sich noch immer auf dem Tisch am Fuß des Bettes befand, und legte die Finger darauf. »Ihr seid ein wahrer Meister des Handwerks geworden.« Luhhan setzte sich auf einen Hocker neben dem Bett. »Unter uns Handwerkern, ich bin beeindruckt. Ich glaube nicht, dass mir jemals etwas so Großartiges wie dieser Hammer gelungen wäre.«

»Ihr habt die Axt geschmiedet.«

»Das tat ich wohl. Es war kein Werkzeug der Schönheit. Es war ein Werkzeug zum Töten.«

»Manchmal muss man töten.«

»Ja, aber das ist niemals schön. Niemals.«

Perrin nickte. »Danke. Dafür, dass Ihr mich gefunden habt, mich hergebracht habt. Mich gerettet habt.«

»Das war reiner Eigennutz, mein Sohn«, sagte Meister Luhhan. »Falls wir das alles hier überstehen, dann nur wegen euch Jungs, hört Ihr.« Er schüttelte den Kopf, als könnte er es nicht glauben. Wenigstens ein Mann erinnerte sich noch daran, wie sie Jugendliche gewesen waren – drei Jugendliche, die zumindest in Mats Fall mehr als nur einmal Dummheiten gemacht hatten.

Eigentlich bin ich mir ziemlich sicher, dass Mat immer noch Dummheiten macht, dachte Perrin. Wenigstens kämpfte er im Augenblick nicht, sondern unterhielt sich mit Seanchanern, wenn man den wirbelnden Farben glauben konnte, die sich zu einem Bild zusammensetzten.

»Chiad sagt, dass der Kampf in Merrilor vorbei ist?«

»Das ist er«, erwiderte Meister Luhhan. »Ein paar unserer Verwundeten habe ich mitgebracht. Ich sollte gleich nach Tam und Abell sehen, aber ich wollte Euch besuchen.«

Perrin nickte. Dieser Lockruf in ihm, dieses beständige Ziehen … jetzt war es stärker als je zuvor. Rand brauchte ihn. Der Krieg war noch nicht vorbei. Noch lange nicht.

»Meister Luhhan«, sagte er seufzend. »Ich habe einen Fehler gemacht.«

»Einen Fehler?«

»Ich habe mich verausgabt«, sagte Perrin, »mich zu sehr angetrieben.« Er machte eine Faust und schlug damit auf das Bett ein. »Ich hätte es besser wissen müssen, Meister Luhhan. Ich tue das immer wieder. Ich arbeite so schwer, dass ich am nächsten Tag zu nichts zu gebrauchen bin.«

»Perrin, mein Junge?« Meister Luhhan beugte sich vor. »Ehrlich gesagt mache ich mir heute mehr Sorgen, dass es kein Morgen mehr gibt.«

Perrin blickte ihn stirnrunzelnd an.

»Falls es je einen Augenblick gab, sich selbst zu verausgaben, dann ist das jetzt. Wir haben einen Kampf gewonnen, aber falls der Wiedergeborene Drache nicht siegt … Licht, ich glaube nicht, dass Ihr da einen Fehler begangen habt. Das ist unsere letzte Chance am Schmiedeofen. Das ist der Morgen, an dem das große Werkzeug fertig sein muss. Heute arbeitet man einfach weiter, bis man fertig ist.«

»Aber wenn ich zusammenbreche …«

»Dann habt Ihr alles gegeben.«

»Ich könnte scheitern, weil ich meine Kraft vorzeitig verschwendet habe.«

»Dann scheitert Ihr wenigstens nicht, weil Ihr Euch zurückgehalten habt. Ich weiß, das klingt schlimm, und vielleicht irre ich mich ja. Aber … nun, Ihr sprecht von einem guten Rat für einen gewöhnlichen Tag. Aber das ist kein gewöhnlicher Tag. Nein, beim Licht, das ist keiner.«

Meister Luhhan nahm Perrin beim Arm. »Ihr mögt Euch ja als jemanden betrachten, der zulässt, dass er immer zu weit geht, aber das ist nicht der Mann, den ich sehe. Perrin, wenn überhaupt, dann betrachtete ich Euch als jemanden, der gelernt hat, sich zurückzuhalten. Ich habe gesehen, wie Ihr mit allergrößter Vorsicht eine Teetasse hieltet, weil Ihr Angst hattet, sie mit Eurer Kraft zu zerbrechen. Ich habe gesehen, wie Ihr die Hand eines anderen Mannes ergriffen habt und sie so vorsichtig hieltet, nie zu fest zugedrückt habt. Ich habe gesehen, wie Ihr Euch mit wohlüberlegter Zurückhaltung bewegt habt, damit Ihr niemanden zur Seite stoßt oder etwas umwerft.

Das waren gute Lektionen, die Ihr da gelernt habt, mein Sohn. Ihr brauchtet die Kontrolle. Aber ich habe in Euch einen Jungen gesehen, der zu einem Mann heranwuchs, der nicht weiß, wie er diese Beschränkungen fallen lassen muss. Ich sehe einen Mann, der sich vor dem fürchtet, was geschieht, wenn er sich nicht im Griff hat. Mir ist schon klar, dass Ihr Euch so verhaltet, weil Ihr Angst habt, Menschen zu verletzen. Aber, Perrin … es ist Zeit, mit der Zurückhaltung aufzuhören.«

»Ich halte mich nicht zurück, Meister Luhhan«, protestierte Perrin. »Wirklich, das verspreche ich.«

»Ist das so? Nun, vielleicht habt Ihr ja recht.« Plötzlich roch Meister Luhhan nach Verlegenheit. »Seht mich an. Hier sitze ich und rede, als ginge mich das etwas an. Ich bin nicht Euer Vater, Perrin. Es tut mir leid.«

»Nein«, sagte Perrin, als Meister Luhhan aufstand, um zu gehen. »Ich habe keinen Vater mehr.«

Meister Luhhan warf ihm einen gequälten Blick zu. »Was diese Trollocs taten …«

»Meine Familie wurde nicht von den Trollocs ermordet«, sagte Perrin leise. »Es war Padan Fain.«

»Was? Seid Ihr sicher?«

»Einer der Weißmäntel sagte es mir«, erwiderte Perrin. »Er hat nicht gelogen.«

»Nun dann«, sagte Luhhan. »Fain … Er treibt sich noch immer irgendwo dort draußen herum, oder?«

»Ja. Er hasst Rand. Und da gibt es noch einen anderen Mann. Lord Luc. Erinnert Ihr Euch an ihn? Er hat den Befehl, Rand zu töten. Ich glaube … ich glaube, sie werden es beide noch versuchen, bevor das hier vorbei ist.«

»Dann werdet Ihr dafür sorgen müssen, dass sie es nicht schaffen, nicht wahr?«

Perrin lächelte, dann wandte er den Kopf, als draußen Schritte ertönten. Einen Augenblick später trat Chiad ein, und er konnte ihre Verärgerung riechen, dass er sie hatte kommen spüren. Bain folgte, noch eine Gestalt in Weiß. Und dann …

Masuri. Nicht die Aes Sedai, die er gewählt hätte. Unwillkürlich wurden seine Lippen schmal.

»Ihr mögt mich nicht«, sagte Masuri. »Das weiß ich.«

»Das habe ich nie gesagt«, erwiderte Perrin. »Ihr wart mir während unserer Reisen eine große Hilfe.«

»Und doch vertraut Ihr mir nicht, aber darum geht es nicht. Ihr wollt Eure Kraft wiederhergestellt bekommen, und ich bin vermutlich die Einzige, die bereit ist, das für Euch zu tun. Die Weisen Frauen und die Gelben würden Euch für Euren Wunsch, hier zu verschwinden, den Hintern versohlen.«

»Ich weiß«, sagte Perrin. Er zögerte. »Ich muss wissen, warum Ihr Euch hinter meinem Rücken mit Masema getroffen habt.«

»Ich bin gekommen, um eine Bitte zu erfüllen.« Masuri roch amüsiert. »Und Ihr sagt mir, dass Ihr mich Euch keinen Gefallen tun lasst, bevor ich mich Eurem Verhör unterwerfe?«

»Warum habt Ihr das getan, Masuri«, sagte Perrin. »Heraus damit.«

»Ich wollte ihn benutzen«, sagte die schlanke Aes Sedai.

»Ihn benutzen.«

»Einfluss auf jemanden zu haben, der sich selbst Prophet des Drachen nannte, hätte nützlich sein können.« Sie roch verlegen. »Es waren andere Zeiten, Lord Aybara. Bevor ich Euch kannte. Bevor überhaupt eine von uns Euch kannte.«

Perrin grunzte.

»Ich war dumm«, sagte Masuri. »Wolltet Ihr das hören? Ich war dumm, und ich habe seitdem dazugelernt.«

Perrin musterte sie, dann seufzte er und streckte ihr den Arm entgegen. Trotz allem war es eine typische Aes-Sedai-Antwort, aber immerhin geradliniger als andere, die er gehört hatte. »Tut es«, sagte er. »Und ich danke Euch.«

Sie nahm seinen Arm. Er fühlte, wie sie seine Erschöpfung auflöste – fühlte, wie sie zurückgedrängt wurde, als würde man eine alte Decke in einen kleinen Kasten stopfen. Er fühlte sich belebt, voller neuer Kraft. Er sprang förmlich auf die Beine.

Masuri sackte zusammen, setzte sich schwer auf das Bett. Perrin ballte die Hand zur Faust, sah sie an. Er hatte das Gefühl, jeden herausfordern zu können, selbst den Dunklen König. »Das fühlt sich wunderbar an.«

»Man hat mir gesagt, dass ich mit diesem besonderen Gewebe ausgezeichnet bin«, sagte Masuri. »Aber seid vorsichtig, es …«

»Ja«, erwiderte Perrin. »Ich weiß. Der Körper ist noch immer erschöpft. Ich nehme es bloß nicht wahr.« Und als er darüber nachdachte, stimmte das Letztere nicht ganz. Er konnte seine Erschöpfung sehr wohl spüren, sie war wie eine Schlange tief in ihrem Loch, die dort lauerte und abwartete. Sie würde ihn erneut verschlingen.

Das bedeutete, dass er vorher seine Aufgabe zu Ende bringen musste. Er atmete tief ein, dann befahl er seinen Hammer zu sich. Das Werkzeug rührte sich kein Stück.

Stimmt ja, dachte er. Das ist die reale Welt und nicht der Wolfstraum. Er ging zu dem Tisch und schob den Hammer in die Schlaufen an seinem Gürtel, die neuen, die er für den größeren Hammer gemacht hatte. Er wandte sich Chiad zu, die an der Tür stand; Bain konnte er auch auf dem Korridor riechen, wohin sie sich zurückgezogen hatte. »Ich finde ihn«, sagte Perrin. »Falls er verwundet ist, bringe ich ihn her.«

»Tut das«, sagte Chiad, »aber Ihr werdet uns hier nicht finden.«

»Ihr geht nach Merrilor?«, fragte er überrascht.

»Einige von uns werden dazu gebraucht, die Verwundeten zu bringen, damit sie Geheilt werden können«, sagte Chiad. »Das ist etwas, das Gai’shain in der Vergangenheit nie taten, aber vielleicht können wir es dieses Mal tun.«

Perrin nickte, dann schloss er die Augen. Er stellte sich vor, wie er an der Schwelle zum Schlaf stand und dahintrieb. Die Zeit, die er im Wolfstraum verbracht hatte, hatte seinen Verstand gut ausgebildet. Mit Konzentration konnte er sich selbst täuschen. Das veränderte zwar die Welt hier nicht, aber es veränderte seine Wahrnehmung.

Ja … nahe an den Schlaf herantreiben … und da war der Weg. Er nahm die Abzweigung zum Wolfstraum im Fleisch und bekam noch gerade die Andeutung eines Keuchens von Masuri mit, als er zwischen den Welten versetzt wurde.

Er öffnete die Augen und fand sich von Windstößen getroffen. Er erschuf eine Blase ruhiger Luft, dann landete er mit starken Beinen auf dem Boden. Auf dieser Seite existierten von Berelains Palast nur noch ein paar schwankende Mauern. Eine davon löste sich in ihre Bestandteile auf, die Steine zerbrachen und wurden vom Wind in den Himmel gerissen. Die Stadt dahinter war so gut wie weg, hier und dort deuteten Trümmerhaufen auf die Gebäude hin, die sich einst dort erhoben hatten. Der Himmel stöhnte wie Metall, das man zurechtbog.

Perrin befahl den Hammer in seine Hand, dann begab er sich ein letztes Mal auf die Jagd.


Thom Merrilin saß auf einem großen, rußverschmierten Felsen, rauchte seine Pfeife und sah dem Ende der Welt zu.

Er verstand etwas davon, den besten Platz zu finden, um eine Vorstellung zu verfolgen. Seiner Einschätzung nach war das der prächtigste Sitz auf der ganzen Welt. Sein Felsen stand direkt neben dem Eingang in den Krater des Verderbens, nahe genug, dass er, wenn er sich zurücklehnte und die Augen zusammenkniff, hineinspähen und ein paar der dort flackernden Lichter und Schatten ausmachen konnte. Er warf wieder einen Blick hinein. Nichts hatte sich verändert.

Pass dort drinnen auf, dass dir nichts geschieht, Moiraine, dachte er. Bitte.

Er saß auch nahe genug am Rand des Pfades, von dem aus man das gesamte Tal überblicken konnte. Er paffte seine Pfeife und strich mit dem Knöchel über seinen Schnurrbart.

Jemand musste das aufzeichnen. Er konnte nicht die ganze Zeit damit verbringen, sich Sorgen zu machen. Also suchte er nach den richtigen Worten, um das zu beschreiben, was er dort sah. Worte wie »episch« und »bedeutsam« legte er zur Seite. Übertriebene Benutzung hatte sie so gut wie jeden Inhalts beraubt.

Ein starker Wind strich durch das Tal, riss am Cadin’sor der Aiel, die gegen rot verschleierte Gegner kämpften. Blitze prasselten auf die Drachenverschworenen nieder, deren Linie den Pfad hinauf zum Höhleneingang hielt. Die Einschläge schleuderten Männer in die Luft. Aber die nächsten hieben auf die Trollocs ein. Die Wolken rasten hin und her, die Windsucherinnen erkämpften sich die Kontrolle über das Wetter, der Schatten gewann sie zurück. Keine Seite hatte lange einen klaren Vorteil.

Riesige dunkle Bestien durchstreiften das Tal und töteten mühelos. Trotz gemeinsamer Anstrengungen Dutzender Kämpfer wollten die Schattenhunde einfach nicht sterben. Über der rechten Talseite hing dichter Nebel, den die Sturmwinde aus irgendeinem Grund nicht durcheinanderwirbeln konnten.

Höhepunkt?, dachte Thom und kaute auf dem Pfeifenstiel herum. Nein. Zu vorhersehbar. Nahm man die Worte, die das Publikum erwartete, langweilte es sich. Eine große Ballade musste überraschend sein.

Niemals das Erwartete tun. Wenn die Leute anfingen, einen für berechenbar zu halten – wenn sie anfingen, die Gesten vorherzusehen, nach dem Ball zu suchen, den man durch ein geschicktes Fingerspiel zu verbergen suchte, oder zu lächeln, bevor man die letzte Zeile seiner Geschichte erreicht hatte –, dann war der Augenblick gekommen, den Umhang einzupacken, sich ein letztes Mal aus Anstand zu verbeugen und zu gehen. Denn das erwarteten sie am wenigsten von einem, wenn alles gut lief.

Er lehnte sich wieder zurück, spähte in den Tunnel. Natürlich konnte er sie nicht sehen. Sie war zu weit drin. Aber dank des Behüterbundes konnte er sie in seinem Geist fühlen.

Mit Entschlossenheit und Mut starrte sie auf das Ende der Welt. Unwillkürlich musste er lächeln.

Unten mahlte die Schlacht wie ein Fleischwolf, riss Menschen und Trollocs in Fetzen toten Fleisches. Die Aiel kämpften am Rand des Kampfes mit ihren vom Schatten übernommenen Vettern. Beide Parteien schienen etwa gleich stark zu sein, oder zumindest war es vor der Ankunft der Schattenhunde so gewesen.

Allerdings waren diese Aiel unnachgiebig. Sie schienen überhaupt nicht müde zu werden, obwohl es nun schon … Thom vermochte einfach nicht genau zu bestimmen, wie viel Zeit verstrichen war. Seit ihrer Ankunft am Shayol Ghul hatte er vielleicht fünf- oder sechsmal geschlafen, aber er wusste nicht, ob das die Tage markierte. Er überprüfte den Himmel. Kein Zeichen von der Sonne zu sehen, obwohl das Machtlenken der Windsucherinnen – und die Schale der Winde – eine große Linie weißer Wolken herbeigeholt hatte, die sich in die schwarzen hineindrängten. Die Wolken schienen eine eigene Schlacht auszufechten, das umgedrehte Bild der Kämpfe am Boden. Schwarz gegen Weiß.

Gefahrvoll? Nein, das war nicht das richtige Wort. Er würde mit Sicherheit eine Ballade daraus machen. Rand verdiente es. Moiraine auch. Das würde genauso sehr ihr Sieg sein wie der seine. Er brauchte Worte. Die richtigen Worte.

Er suchte danach, während er hörte, wie die Aiel die Speere gegen die Schilde schlugen, als sie sich erneut in den Kampf stürzten. Während er den heulenden Wind im Tunnel hörte und sie an seinem Ende stehen fühlte.

Unten spannten die Domani-Armbrustmänner entschlossen ihre Waffen. Einst hatten Tausende von ihnen geschossen. Jetzt war nur noch ein Bruchteil von ihnen übrig.

Vielleicht … »Furcht einflößend«.

Das war ein richtiges Wort, aber nicht das richtige Wort. Es mochte nicht unerwartet sein, aber es traf es so genau. Er fühlte es bis auf die Knochen. Seine Gemahlin kämpfte um ihr Leben. Die Truppen des Lichts bis fast an den Rand des Todes gedrängt … Beim Licht, er hatte Angst. Um sie. Um sie alle.

Aber das Wort war so prosaisch. Er brauchte etwas Besseres, etwas Perfektes.

Unten stachen die Tairener mit ihren Stangenwaffen auf die Trollocs ein. Die Drachenverschworenen kämpften mit allen möglichen zusammengesuchten Waffen. In der Nähe lag ein letzter kaputter Dampfwagen, der Pfeile und Armbrustbolzen aus dem letzten Wegetor aus Baerlon gebracht hatte. Schon seit Stunden erhielten sie keinen Nachschub mehr. Die verzerrte Zeit und der Sturm stellten irgendetwas mit der Einen Macht an.

Thom warf einen besonders langen Blick auf den Wagen – er würde ihn auf eine Weise verwenden müssen, die das Wunder seiner Existenz bewahrte, die beschrieb, wie seine kalten Eisenseiten vor seinem Ende Pfeile abgewehrt hatten.

Da war Heldentum in jeder Linie, in jedem Spannen einer Bogensehne und jeder Hand, die eine Waffe hielt. Wie sollte man das vermitteln? Andererseits aber die Furcht, die Zerstörung, die ganze Surrealität von allem schildern? Am Vortag hatten beide Seiten in einer seltsamen Art von blutigem Waffenstillstand innegehalten, um die Toten aus dem Weg zu schaffen.

Er brauchte ein Wort, das das Chaos, den Tod, den schrecklichen Missklang, den schieren Mut beschrieb.

Unten machte sich eine erschöpfte Gruppe Aes Sedai auf den Weg zu der Stelle, an der Thom saß. Sie passierten Bogenschützen, die das Schlachtfeld mit scharfen Blicken nach Blassen absuchten.

Erlesen, dachte Thom. Das ist das Wort. Unerwartet, aber wahr. Unsagbar erlesen. Nein. Nicht unsagbar. Soll das Wort für sich selbst stehen. Wenn es das richtige Wort ist, funktioniert es auch ohne Hilfe. Ist es das falsche Wort, wird es ein zusätzliches Wort bloß verzweifelt aussehen lassen.

Genauso sollte das Ende eigentlich sein. Der Himmel zerriss, als Parteien um die Vorherrschaft über die Elemente selbst kämpften, Menschen verschiedener Nationen mit ihrer letzten Kraft standhielten. Siegte das Licht, würde es das nur mit einem hauchdünnen Vorsprung tun.

Das entsetzte ihn natürlich. Ein gutes Gefühl. Es würde in die Ballade einfließen müssen. Er zog an der Pfeife und wusste, dass er es tat, damit er nicht zitterte. In der Nähe explodierte die ganze Talseite und schleuderte Felsen auf alle, die darunter kämpften. Er wusste nicht, welcher Machtlenker dafür verantwortlich war. Auf dem Schlachtfeld streiften Verlorene umher. Thom versuchte, ihre Aufmerksamkeit nicht zu erregen.

Genau das hast du dir eingebrockt, alter Mann, dachte Thom, weil du nicht gewusst hast, wann du besser die Finger davongelassen hättest. Er war froh, dass er nicht hatte entkommen können, dass seine Versuche, Rand, Mat und die anderen zurückzulassen, gescheitert waren. Hätte er wirklich irgendwo in einer ruhigen Schenke sitzen wollen, während die Letzte Schlacht geschlagen wurde? Während sie sich allein dort hineinwagte?

Er schüttelte den Kopf. Er war genauso ein Narr wie jeder andere Mann und jede Frau auch. Aber wenigstens verfügte er über genug Erfahrung, um das zu erkennen. Es dauerte ein paar Jahre, bis ein Mann so weit war.

Die näher kommende Gruppe Aes Sedai trennte sich; die Schwestern blieben ein Stück weiter unten stehen, eine Frau hinkte erschöpft auf die Höhle zu. Cadsuane. Es waren weniger Schwestern hier als zuvor; die meisten waren in dem Wissen hergekommen, dass sie der Tod erwartete. Dieser Kampf war der verzweifeltste von allen, und die Kämpfer hier hatten die geringste Chance zu überleben. Von zehn, die zum Shayol Ghul gekommen waren, stand nur noch einer. Thom wusste genau, dass der alte Rodel Ituralde einen Abschiedsbrief an seine Frau geschickt hatte, bevor er dieses Kommando angenommen hatte. Und das war auch gut so gewesen.

Cadsuane nickte Thom zu, dann ging sie weiter auf die Höhle zu, in der Rand um das Schicksal der Welt kämpfte. Sobald sie Thom den Rücken zukehrte, schleuderte er ein Messer – in der anderen Hand hielt er noch immer die Pfeife. Die Klinge traf die Aes Sedai genau im Rückgrat und durchtrennte es.

Wie ein Sack Kartoffeln stürzte sie zu Boden.

Ein wirklich ausgelutschter Begriff, dachte Thom und paffte seine Pfeife. Ein Sack Kartoffeln? Hier brauche ich ein anderes Bild. Davon abgesehen, wie oft stürzt ein Sack Kartoffeln zu Boden? Nicht oft. Sie stürzte wie … wie was? Gerste rieselte aus dem zerfetzten Ende eines Sacks und bildete auf dem Boden einen kleinen Berg. Ja, das klang besser.

Als die Aes Sedai auf dem Felsen aufprallte, löste sich ihr Gewebe auf und enthüllte ein anderes Gesicht hinter der Cadsuane-Maske, die sie benutzt hatte. Er erkannte die Frau, auch wenn er nicht viel über sie wusste. Eine Domani. Wie lautete noch einmal ihr Name? Jeaine Caide. Das war es. Sie war hübsch.

Thom schüttelte den Kopf. Der Gang war völlig falsch gewesen. Begriff eigentlich keiner von ihnen, dass der Gang einer Person genauso unverkennbar war wie die Nase im Gesicht? Jede Frau, die versuchte, an ihm vorbeizuschlüpfen, nahm an, dass es ausreichte, Gesicht und Kleid zu verändern, vielleicht auch die Stimme.

Er erhob sich von seinem Sitz und nahm die Leiche unter den Armen, dann stopfte er sie in der Nähe in eine Felsspalte – dort steckten mittlerweile fünf Leichen, es wurde etwas eng. Er zog an der Pfeife und nahm den Umhang ab, legte ihn so hin, dass er die tote Hand der Schwarzen Schwester versteckte, die dort herausragte.

Er warf noch einen Blick in den Tunnel – auch wenn er Moiraine nicht sehen konnte, spendete ihm der Blick doch Trost. Dann kehrte er zu seinem Aussichtsplatz zurück und zog ein Blatt Papier und seinen Stift hervor. Und er fing an, inmitten von Donner, Schreien, Explosionen und dem Heulen des Windes zu komponieren.

Загрузка...