EPILOG Die Antwort verstehen

Rand glitt auf seinem Blut aus.

Er konnte nichts sehen. Er trug etwas. Etwas Schweres. Einen Körper. Er stolperte den Tunnel hinauf.

Er schließt sich, dachte er. Er schließt sich. Die Decke senkte sich wie ein zuschnappender Rachen, Stein knirschte auf Stein. Keuchend erreichte er die Freiheit, während der Felsen hinter ihm wie aufeinanderschlagende Zähne zusammenkrachte.

Rand stolperte. Der Körper auf seinen Armen war so schwer. Er brach zusammen.

Er konnte … etwas sehen, ganz schwach. Eine Gestalt kniete neben ihm nieder. »Ja«, flüsterte eine Frau. Er erkannte ihre Stimme nicht. »Ja, das ist gut. Genau das musst du tun.«

Er blinzelte, seine Sicht war so schrecklich verschwommen. War das Aiel-Kleidung? Eine alte Frau mit grauem Haar? Ihre Umrisse zogen sich zurück, und Rand streckte die Hand nach ihr aus, denn er wollte nicht allein sein. Wollte sich erklären. »Ich verstehe die Antwort jetzt«, flüsterte er. »Den Aelfinn stellte ich die falsche Frage. Es ist unser Schicksal, sich entscheiden zu können. Hat man keine Wahl, dann ist man kein Mensch mehr. Dann ist man bloß eine Marionette …«

Rufe.

Rand fühlte sich schwer. Er verlor das Bewusstsein.


Mat stand auf, als der Nebel Mashadar von ihm weggebrannt wurde und verschwand. Das Feld war übersät mit den Kadavern dieser unheimlichen Trollocs mit den Löchern im Gesicht. Er schaute nach oben durch die sich auflösenden Schwaden und entdeckte genau über sich die Sonne.

»Nun, du bist ja ein Anblick«, sagte er zu ihr. »Du solltest öfters rauskommen. Du hast ein hübsches Gesicht.« Er lächelte, dann schaute er auf den Toten zu seinen Füßen. Padan Fain sah wie ein Bündel Stöcke und Moos aus, das Fleisch rutschte von seinen Knochen. Die Finsternis des Dolches hatte sich über seine verfaulende Haut ausgebreitet. Es stank.

Beinahe hätte Mat nach diesem Dolch gegriffen. Dann spuckte er aus. »Das ist einmal ein Spiel, mit dem ich nichts zu tun haben will.« Er wandte ihm den Rücken zu und ging los. Drei Schritte weiter fand er seinen Hut. Er grinste, hob ihn auf und setzte ihn sich auf den Kopf, dann fing er an zu pfeifen, als er den Ashandarei schulterte und losspazierte. Die Würfel rollten nicht länger in seinem Kopf.

Hinter ihm schmolz der Dolch mit seinem Rubin und allem anderen, inmitten der Masse, die einst Padan Fain gewesen war.


Perrin kam erschöpft in das Lager, das man nach dem Ende der Kämpfe am Fuß des Shayol Ghul aufgeschlagen hatte. Er zog das Hemd aus. Die Luft fühlte sich gut auf seiner nackten Brust an. Er steckte Mah’alleinir an seinen Platz am Gürtel. Ein guter Schmied vernachlässigte niemals sein Werkzeug, auch wenn es sich manchmal anfühlte, als würde es ihn durch seine Last noch ins Grab bringen.

Er glaubte, hundert Tage durchschlafen zu können. Aber noch nicht. Noch nicht.

Faile.

Nein. Tief in seinem Inneren wusste er, dass er sich wegen ihr einer schrecklichen Wahrheit stellen musste. Aber noch nicht. Für den Augenblick stieß er diese Sorge – diesen Schrecken – zur Seite.

Die letzten Wolfsgeister verblichen zurück in den Wolfstraum.

Lebe wohl, Junger Bulle.

Finde, was du suchst, Junger Bulle.

Die Jagd endet, aber wir jagen wieder gemeinsam, Junger Bulle.

Mit schleppenden Schritten ging Perrin an den Reihen der Verwundeten und Aiel vorbei, die den Sieg über das Schattengezücht feierten. Einige Zelte waren nur mit Stöhnen gefüllt, andere mit Jubel. Alle möglichen Leute liefen durch das jetzt blühende Tal von Thakan’dar; einige suchten nach Verletzten, andere juchzten ihre Freude heraus, wenn sie auf Freunde stießen, die diese letzten, dunklen Augenblicke überlebt hatten.

Aiel riefen Perrin zu: »Ho, Schmied, geselle dich zu uns!« Aber er mied ihre Feier. Er suchte nach den Wächtern. Irgendjemand musste hier doch so vernünftig sein, um sich wegen einzelner Myrddraal oder Draghkar Sorgen zu machen, die die Gelegenheit nutzten, um Rache zu üben. Und tatsächlich fand er einen Kreis aus Verteidigern in der Lagermitte, die ein großes Zelt bewachten. Was war mit Rand?

Keine Farben wirbelten durch sein Blickfeld. Kein Bild von Rand. Er verspürte auch kein Ziehen mehr, das ihn in diese oder jene Richtung lockte.

Das schien ein schlechtes Zeichen zu sein.

Er drängte sich an den Wächtern vorbei und betrat das Zelt. Wo hatten sie auf diesem Schlachtfeld nur ein so großes Zelt gefunden? Alles war zertrampelt, weggeweht oder verbrannt worden.

Das Innere roch nach Kräutern und war mit aufgehängten Planen in mehrere Räume unterteilt worden.

»Ich habe alles versucht«, flüsterte eine Stimme. Das war Damer Flinn. »Nichts wirkt. Er …«

Perrin betrat einen Raum, in dem Nynaeve und Flinn an einer Pritsche standen. Dort lag Rand gewaschen und angezogen mit geschlossenen Augen. Moiraine kniete neben ihm, die Hand auf seinem Gesicht, flüsterte so leise, dass allein Perrin es verstehen konnte. »Das hast du gut gemacht, Rand. Das hast du gut gemacht.«

»Lebt er?«, fragte Perrin und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Perrin!«, sagte Nynaeve. »O beim Licht! Du siehst schrecklich aus. Setz dich, du Ochse! Du wirst noch umkippen. Ich will mich nicht um zwei von euch kümmern müssen.« Ihre Augen waren gerötet.

»Er stirbt trotzdem, nicht wahr?«, fragte Perrin. »Ihr habt ihn dort lebend rausgeschafft, aber er wird trotzdem sterben.«

»Setz dich da hin«, befahl Nynaeve und zeigte auf einen Hocker.

»Hunde gehorchen diesem Befehl«, sagte Perrin zu ihr, »aber Wölfe nicht.« Er kniete sich hin und legte Rand eine Hand auf die Schulter.

Ich konnte deinen Lockruf nicht mehr fühlen und auch die Bilder nicht mehr sehen, dachte Perrin. Du bist kein Ta’veren mehr. Und ich vermutlich auch nicht. »Habt ihr nach den dreien geschickt?«, wollte er wissen. »Min, Elayne, Aviendha. Sie müssen ihn ein letztes Mal sehen.«

»Mehr fällt dir dazu nicht ein?«, fauchte Nynaeve.

Er blickte zu ihr hoch. Die Weise, wie sie die Arme verschränkt hatte, ließ sie aussehen, als würde sie sich selbst zusammenhalten. Die Arme fest zu verschränken hielt sie vom Weinen ab.

»Wer ist sonst noch gestorben?«, fragte Perrin und stählte sich. Es war ihrer Miene abzulesen. Sie hatte bereits jemanden verloren.

»Egwene.«

Perrin schloss die Augen und atmete tief aus. Egwene. Licht!

Kein Meisterwerk kommt ohne Preis, dachte er. Das bedeutet nicht, dass es nicht wert ist, geschmiedet zu werden. Trotzdem … Egwene?

»Es ist nicht deine Schuld, Nynaeve«, sagte er und öffnete die Augen wieder.

»Natürlich nicht. Das weiß ich, du hirnloser Narr.« Sie wandte sich ab.

Er stand auf, nahm sie in die Arme und klopfte ihr mit seinen Schmiedhänden sanft auf den Rücken. »Es tut mir leid.«

»Ich verließ das Dorf … um euch zu retten«, flüsterte Nynaeve. »Ich kam nur mit, um euch zu schützen.«

»Das hast du, Nynaeve. Du hast Rand beschützt, damit er das tun konnte, was er tun musste.«

Sie zitterte, und er ließ sie weinen. Beim Licht. Er vergoss selbst ein paar Tränen. Nach einem Augenblick riss sich Nynaeve von ihm los und stürmte aus dem Zelt.

»Ich habe es versucht«, sagte Flinn verzweifelt und sah Rand an. »Nynaeve ebenfalls. Wir haben es gemeinsam versucht, mit Moiraine Sedais Angreal. Nichts hat geholfen. Niemand weiß, wie man ihn retten kann.«

»Ihr habt getan, was ihr konntet.« Perrin spähte um die Trennwand in die nächste Nische. Dort lag noch ein Mann auf einer Pritsche. »Was macht er hier?«

»Wir fanden sie zusammen«, berichtete Flinn. »Rand muss ihn aus der Höhle getragen haben. Wir wissen nicht, warum der Lord Drache einen der Verlorenen retten sollte, aber das spielt auch keine Rolle. Ihn können wir ebenfalls nicht Heilen. Sie sterben. Beide.«

»Schickt nach Min, Elayne und Aviendha«, wiederholte Perrin. Er zögerte. »Haben sie überhaupt alle überlebt?«

»Das Aiel-Mädchen hat viel einstecken müssen«, berichtete Flinn. »Sie kam ins Lager gestolpert, wurde fast von einer schrecklich hässlichen Aes Sedai getragen, die für sie ein Wegetor gemacht hatte. Sie wird es überleben, aber ich kann nicht sagen, wie gut sie in den nächsten Jahren laufen wird.«

»Lasst es sie wissen. Sie alle.«

Flinn nickte, und Perrin folgte Nynaeve. Er fand, was er zu sehen gehofft hatte, den Grund, weshalb sie so schnell verschwunden war. Direkt vor dem Zelteingang hielt Lan sie fest umarmt. Der Mann war blutverschmiert und sah so müde aus, wie sich Perrin fühlte. Ihre Blicke trafen sich, und sie nickten einander zu.

»Mehrere Windsucherinnen haben ein Wegetor nach Merrilor geöffnet«, sagte Lan zu Perrin. »Der Dunkle König ist wieder weggesperrt. Das Verdorbene Land blüht, die Tore an diesen Ort lassen sich wieder öffnen.«

»Danke«, erwiderte Perrin und ging an ihnen vorbei. »Hat jemand … hat jemand etwas von Faile gehört?«

»Nein, Schmied. Der Hornbläser sah sie als Letzter, aber sie verließ ihn und ritt auf das Schlachtfeld, um die Trollocs von ihm abzulenken. Es tut mir leid.«

Perrin nickte. Er hatte bereits mit Mat und Olver gesprochen. Er wurde den Eindruck nicht los, dass er einfach nicht über das nachdenken wollte, was geschehen sein musste.

Denk nicht darüber nach, befahl er sich. Wage es ja nicht. Er riss sich zusammen, dann ging er los, um das Wegetor zu finden, das Lan erwähnt hatte.


»Entschuldigung«, fragte Loial die Töchter, die neben einem Zelt saßen. »Habt ihr Matrim Cauthon gesehen?«

»Oosquai?«, fragte eine von ihnen lachend und hielt einen Trinkschlauch hoch.

»Nein, nein«, sagte Loial. »Ich muss Matrim Cauthon finden und mir seinen Bericht über die Schlacht anhören, versteht Ihr? Solange sie noch frisch in seiner Erinnerung ist. Jeder muss mir sagen, was er gesehen und gehört hat, damit ich es niederschreiben kann. Es wird keinen besseren Augenblick geben.«

Und er wollte Mat und Perrin sehen, wie er zugeben musste. Sich vergewissern, dass sie wohlauf waren. Er wollte mit seinen Freunden sprechen und sich davon überzeugen, dass es ihnen gut ging. Bei allem, was mit Rand geschah …

Die Aiel-Frau lächelte ihn betrunken an. Loial seufzte, dann setzte er seinen Weg durch das Lager fort. Der Tag näherte sich seinem Ende. Der Tag der Letzten Schlacht! Jetzt schrieben sie das Vierte Zeitalter, oder nicht? Konnte ein Zeitalter überhaupt mitten an einem Tag beginnen? Für Kalender würde das sehr unpraktisch sein, nicht wahr? Aber alle vertraten die gleiche Meinung. Rand hatte die Bohrung zur Mittagszeit versiegelt.

Loial streifte weiter durch das Lager. Man hatte es nicht vom Fuß des Shayol Ghul verlegt. Nynaeve behauptete, Rand auf keinen Fall bewegen zu wollen. Loial suchte weiter, spähte in Zelte. Im nächsten fand er den ergrauten General Ituralde, der von vier Aes Sedai umgeben war.

»Seht doch«, sagte Ituralde. »Ich diente den Königen von Arad Doman mein ganzes Leben lang. Ich schwor Eide.«

»Alsalam ist tot«, sagte Saerin Sedai von ihrem Platz neben seinem Stuhl. »Jemand muss den Thron übernehmen.«

»In Saldaea herrscht Verwirrung«, fügte Elswell Sedai hinzu. »Die Thronfolge ist unübersichtlich, mit den ganzen Verbindungen, die der Thron jetzt zu Andor hat. Arad Doman kann es sich nicht leisten, ohne Anführer zu sein. Ihr müsst den Thron besteigen, Rodel Ituralde. Und zwar schnell.«

»Der Kaufmannsrat …«

»Alle tot oder verschollen«, sagte eine andere Aes Sedai.

»Ich schwor Eide …«

»Und was würde Euer König jetzt von Euch erwarten?«, fragte Yukiri Sedai. »Dass Ihr das Königreich auseinanderfallen lasst? Ihr müsst stark sein, Lord Ituralde. Jetzt ist nicht der geeignete Zeitpunkt, dass Arad Doman ohne Anführer auskommt.«

Loial verschwand und schüttelte den Kopf; der Mann tat ihm leid. Vier Aes Sedai. Ituralde würde gekrönt werden, bevor dieser Tag noch vorüber war.

Erneut besuchte er das größte Heilzelt, um noch einmal zu fragen, ob jemand Mat gesehen hatte. Er war auf diesem Schlachtfeld gewesen, und so mancher behauptete, dass er gelächelt hätte und gesund gewesen sei, aber … Nun, das war alles schön und gut, aber Loial wollte sich mit seinen eigenen Augen davon überzeugen. Wollte mit ihm sprechen.

In dem Zelt musste er den Kopf einziehen, damit er nicht gegen die Decke stieß. Ein großes Zelt für Menschen war für Ogier klein.

Er warf einen Blick auf Rand. Sein Freund sah schlimmer als zuvor aus. Lan stand an der Wand. Er trug eine Krone – eigentlich war es bloß ein schmaler Silberreif –, wo sonst der Hadori gewesen war. Das allein war nicht merkwürdig, aber dass Nynaeve ihr passendes Gegenstück trug, überraschte Loial dann doch.

»Das ist nicht gerecht«, flüsterte Nynaeve. »Warum sollte er sterben, wenn es dem anderen besser geht?«

Nynaeve erschien verstört. Sie hatte noch immer gerötete Augen, aber zuvor hatte sie jeden angefaucht, der es erwähnte, also sagte Loial nichts. Menschen schienen oft zu wollen, dass er nichts sagte, was schon seltsam für Leute war, die ihr Leben so schnell lebten.

Sie sah Loial an, und er neigte den Kopf.

»Loial«, sagte sie. »Was macht deine Suche?«

»Sie verläuft nicht gut.« Er verzog das Gesicht. »Perrin ignorierte mich, und Mat ist nicht zu finden.«

»Eure Geschichten können ein paar Tage warten, Baumeister«, sagte Lan.

Loial widersprach nicht. Schließlich war Lan nun ein König. Aber … nein, die Geschichten konnten eben nicht warten. Die Eindrücke mussten frisch sein, damit seine historische Abhandlung akkurat sein konnte.

»Es ist schrecklich«, sagte Flinn, der noch immer Rand anstarrte. »Aber, Nynaeve Sedai … Es ist so seltsam. Es scheint keine der drei Frauen zu berühren. Sollten sie sich nicht größere Sorgen machen …?«

Loial verließ sie, obwohl er in einem in unmittelbarer Nähe stehenden Zelt nach Aviendha sah. Sie saß da, während sich mehrere Frauen um ihre zerstörten, blutenden Füße kümmerten. Sie hatte mehrere Zehen verloren. Sie nickte Loial zu; anscheinend hatten ihr die Heilungen den Schmerz genommen, denn obwohl sie müde aussah, schien sie keine Qualen zu leiden.

»Mat?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Ich habe ihn nicht gesehen, Loial, Sohn von Arent, Sohn von Halan«, erwiderte Aviendha. »Zumindest nicht, seit Ihr das letzte Mal vor Kurzem nach ihm fragtet.«

Loial errötete, dann verließ er sie. Draußen kam er an Elayne und Min vorbei. Ihre Geschichten würde er noch erfahren – ein paar Fragen hatte er bereits gestellt –, aber die drei Ta’veren … Sie waren am wichtigsten! Warum mussten Menschen immer so ungeduldig sein, konnten nie still dasitzen? Hatten niemals Zeit, um nachzudenken. Das war ein wichtiger Tag.

Allerdings war es tatsächlich seltsam. Min und Elayne. Sollten sie nicht an Rands Seite sein? Elayne schien Berichte über Verluste und die Versorgung der Flüchtlinge entgegenzunehmen, und Min saß da und schaute gedankenverloren zum Shayol Ghul hinauf. Keine von ihnen ging hinein, um Rands Hand zu halten, während er sich dem Tod näherte.

Nun, dachte Loial, vielleicht ist Mat ja an mir vorbeigeschlichen und zurück nach Merrilor. Nie blieben sie an Ort und Stelle, diese Menschen. Immer so eilig …


Matrim Cauthon schlenderte in das seanchanische Lager auf der Südseite von Merrilor, abseits der aufgeschichteten Toten.

Überall keuchten seanchanische Männer und Frauen auf, schlugen die Hand vor den Mund. Er lüftete den Hut vor ihnen.

»Der Prinz der Raben!« In gedämpftem Tonfall eilte ihm das durch das Lager voraus, wanderte von einem Mund zum anderen wie die letzte Flasche Branntwein in einer kalten Nacht.

Er ging auf direktem Weg zu Tuon, die in der Lagermitte an einem großen Kartentisch stand und sich mit Selucia unterhielt. Karede hatte überlebt, wie Mat sah. Vermutlich plagte den Mann deshalb ein schlechtes Gewissen.

Tuon sah zu Mat hoch und runzelte die Stirn. »Wo habt Ihr gesteckt?«

Mat hob den Arm, und Tuon sah zum Himmel auf, wo aber nichts zu sehen war. Mat fuhr herum und streckte die Hand noch höher.

Hoch oben über dem Lager explodierten Nachtblumen.

Mat grinste. Es hatte eine gewisse Mühe gekostet, Aludra dazu zu überreden, obwohl … so schlimm war es nun auch wieder nicht gewesen. Sie ließ so schrecklich gern Dinge explodieren.

Eigentlich war die Abenddämmerung noch nicht richtig angebrochen, aber es war trotzdem ein großartiges Schauspiel. Aludra hatte die Hälfte der Drachenmänner in der Herstellung von Feuerwerk ausgebildet. Sie schien nicht mehr ganz so geheimniskrämerisch darin zu sein wie einst.

Der Lärm des Schauspiels schlug über ihnen zusammen.

»Feuerwerk?«, fragte Tuon.

»Das verdammt beste Feuerwerk in der Geschichte meines Landes. Oder Eures«, verkündete Mat.

Tuon runzelte die Stirn. Die Explosionen spiegelten sich in ihren dunklen Augen wider. »Ich bin schwanger«, sagte sie. »Die Unheilseherin hat es bestätigt.«

Mat verspürte einen Stich, als wäre das Feuerwerk in seinem Bauch losgegangen. Ein Erbe. Zweifellos ein Sohn! Wie standen die Chancen, dass es ein Sohn war? Er zwang sich zu einem Grinsen. »Nun, dann bin ich jetzt ja wohl vom Haken. Ihr habt einen Erben.«

»Ich habe einen Erben«, sagte Tuon, »aber ich bin hier diejenige, die von diesem ›Haken‹ ist. Jetzt kann ich Euch hinrichten lassen, wenn ich will.«

Mats Grinsen wurde breiter. »Nun, wir werden sehen, worauf wir uns einigen können. Verratet mir, würfelt Ihr?«


Perrin setzte sich zwischen die Toten und fing endlich an zu weinen.

Gai’shain in Weiß und Stadtfrauen suchten die Toten ab. Von Faile war keine Spur zu finden. Nicht die geringste.

Ich kann nicht mehr. Wie lange war es jetzt her, dass er geschlafen hatte? Diese eine Nacht in Mayene. Sein Körper protestierte, dass das bei Weitem nicht genug gewesen war. Lange davor hatte er sich ohne Unterlass angetrieben, hatte das Gegenstück zu Wochen im Wolfstraum verbracht.

Lord und Lady Bashere waren tot. Hätte Faile gelebt, wäre sie die Königin gewesen. Perrin zitterte am ganzen Leib, konnte sich aber zu keiner Bewegung überwinden. Auf diesem Schlachtfeld lagen hunderttausend Tote. Die anderen Sucher ignorierten einen Körper, wenn er kein Leben aufwies, markierten ihn und gingen weiter. Er hatte versucht, die Nachricht weiterzugeben, dass man nach Faile Ausschau halten solle, aber die Sucher mussten sich um die Überlebenden kümmern.

Am dunkler werdenden Himmel explodierte Feuerwerk. Perrin begrub den Kopf in den Händen, dann rutschte er zur Seite und brach zwischen den Leichen zusammen.


Das Schauspiel am Himmel ließ Moghedien zusammenzucken. Jede Explosion ließ sie wieder das tödliche Feuer sehen, das die Sharaner zerfetzte. Das grell aufblitzende Licht, dieser Augenblick der Panik.

Und dann … und dann die Dunkelheit. Einige Zeit später war sie wieder aufgewacht; man hatte sie zwischen den Leichen der Sharaner für tot gehalten zurückgelassen. Als sie wieder zu sich gekommen war, war sie überall auf dem Schlachtfeld auf diese Narren gestoßen, die behaupteten, den Sieg davongetragen zu haben.

Behaupten?, dachte sie und zuckte erneut zusammen, als die nächsten Böller explodierten. Der Große Herr ist gefallen. Alles war verloren.

Nein. Nein. Sie ging weiter, zielbewusst, unverdächtig. Sie hatte eine Arbeiterin erwürgt und ihre Gestalt angenommen, hatte nur ein winziges bisschen Macht gelenkt und das Gewebe dann Umgedreht. Das sollte sie von diesem Ort entkommen lassen. Sie ging um Leichen herum, achtete nicht auf den Gestank in der Luft.

Nicht alles war verloren. Sie war noch am Leben. Und sie war eine der Auserwählten! Das bedeutete … das bedeutete, dass sie eine Kaiserin unter Niederen war. Der Große Herr war wieder eingekerkert, also konnte er sie nicht bestrafen. Und mit Sicherheit waren die meisten, wenn nicht sogar alle Auserwählten tot oder gefangen. Falls das stimmte, konnte niemand ihr Wissen übertrumpfen.

Das würde vielleicht sogar in die Tat umzusetzen sein. Das konnte ein Sieg sein. Neben einem umgestürzten Nachschubkarren blieb sie stehen, umklammerte ihr Cour’souvra – glücklicherweise war es heil geblieben. Sie lächelte breit, dann webte sie ein kleines Licht, um ihren Weg zu beleuchten.

Ja … Man musste den freien Himmel sehen, nicht die Gewitterwolken. Sie konnte das zu ihrem Vorteil nutzen. Mal sehen … in nur wenigen Jahren konnte sie die Welt beherrschen!

Etwas Kaltes schnappte um ihren Hals zu.

Entsetzt griff Moghedien danach, dann schrie sie auf. »Nein! Nicht noch einmal!« Ihre Verkleidung löste sich auf, und die Eine Macht floh sie.

Hinter ihr stand eine zufrieden aussehende Sul’dam. »Der Befehl lautete, dass wir keine von denen nehmen dürfen, die sich selbst Aes Sedai nennen. Aber du, du trägst keinen ihrer Ringe, und du schleichst hier wie jemand herum, der etwas Falsches getan hat. Ich glaube nicht, dass man dich vermissen wird.«

»Mach mich sofort los!«, rief Moghedien, kratzte an dem A’dam. »Mach mich los, du …«

Eine Woge des Schmerzes ließ sie zuckend zu Boden stürzen.

»Ich heiße Shanan«, sagte die Sul’dam, während eine andere Frau mit einer Damane im Schlepptau zu ihnen trat. »Aber du darfst mich Herrin nennen. Ich glaube, wir sollten schnell nach Ebou Dar zurückkehren.«

Ihre Gefährtin nickte, und die Damane öffnete ein Wegetor.

Sie mussten Moghedien hineinschleifen.


Nynaeve trat aus dem Heilzelt am Shayol Ghul. Die Sonne war schon fast am Horizont versunken.

»Er ist tot«, flüsterte sie der kleinen Menge zu, die dort draußen versammelt stand.

Diese Worte auszusprechen fühlte sich an, als würde sie sich einen Stein auf die Füße fallen lassen. Sie weinte nicht. Diese Tränen hatte sie bereits vergossen. Das bedeutete aber nicht, dass sie nicht am Boden zerstört war.

Lan verließ hinter ihr das Zelt, legte einen Arm um ihre Schulter. Sie hob die Hand und schob sie in die seine. In der Nähe blickten sich Min und Elayne an.

Gregorin flüsterte Darlin etwas zu – man hatte ihn halb tot in den Trümmern seines Zelts gefunden. Beide sahen die Frauen stirnrunzelnd an. Nynaeve bekam einen Teil von Gregorins Worten mit. »… erwartet, dass die Aiel-Wilde herzlos sein, vielleicht auch die Königin von Andor, aber die andere? Keine Tränen.«

»Sie sind wie betäubt«, erwiderte Darlin.

Nein!, dachte Nynaeve. Sie musterte Min und Elayne. Die drei wissen etwas, das ich nicht weiß. Ich werde es aus ihnen herausprügeln müssen.

»Entschuldige mich«, sagte Nynaeve und löste sich von Lan.

Er folgte ihr.

Sie sah ihn mit hochgezogener Braue an.

»Du wirst mich in den nächsten Wochen nicht los, Nynaeve«, sagte er, und Liebe strömte durch ihren Bund. »Selbst wenn du es willst.«

»Sturer Ochse«, knurrte sie. »Wenn ich mich richtig erinnere, warst du derjenige, der darauf bestand, mich zu verlassen, damit du deinem angeblichen Schicksal allein entgegenmarschieren konntest.«

»Und du hattest damit recht«, erwiderte Lan. »Wie so oft.« Er sagte es so ruhig, dass es schwerfiel, auf ihn böse zu sein.

Außerdem waren es die Frauen, auf die sich ihr Zorn richtete. Sie wählte zuerst Aviendha und schlich begleitet von Lan an ihre Seite.

… da Rhuarc tot ist«, sagte Aviendha zu Sorilea und Bair, »glaube ich, dass es möglich sein muss, das zu ändern, was ich dort auch immer sah. Diese Veränderung hat bereits angefangen.«

»Ich habe deine Visionen gesehen, Aviendha«, sagte Bair. »Oder etwas Vergleichbares, durch andere Augen. Ich halte es für eine Warnung vor etwas, das wir nicht zulassen dürfen.«

Die anderen beiden nickten, dann entdeckten sie Nynaeve und wurden so still wie Aes Sedai. Aviendha war genauso schlimm wie die anderen, wie sie da völlig ruhig und beherrscht mit ihren verbundenen Füßen auf ihrem Stuhl saß. Möglicherweise konnte sie eines Tages wieder gehen, aber sie würde nie wieder kämpfen können.

»Nynaeve al’Meara«, sagte Aviendha.

»Hast du nicht gehört, wie ich verkündete, dass Rand tot ist?«, verlangte Nynaeve zu wissen. »Er schlief einfach ein.«

»Der Verwundete ist aus dem Traum erwacht«, sagte Aviendha gleichmütig. »Das müssen wir alle irgendwann. Sein Tod geschah bei einer großen Tat, und er wird gebührend gefeiert werden.«

Nynaeve beugte sich vor. »Also gut«, sagte sie bedrohlich und umarmte die Quelle. »Heraus damit. Ich wählte dich, weil du nicht vor mir weglaufen kannst.«

Einen winzigen Augenblick lang zeigte Aviendha so etwas wie Furcht. Blitzartig war es wieder verschwunden. »Lasst uns seinen Scheiterhaufen vorbereiten.«


Perrin rannte durch den Wolfstraum. Allein.

Andere Wölfe heulten ihr Mitgefühl für seine Trauer heraus. Sie würden weiterfeiern, wenn er vorbei war, aber das machte ihre Empfindungen nicht weniger echt.

Er heulte nicht auf. Er schrie nicht. Er wurde zu Junger Bulle, und er lief.

Er wollte nicht hier sein. Er wollte den Schlaf, den richtigen Schlaf. Dort konnte er keinen Schmerz fühlen. Hier schon.

Ich hätte sie nicht alleinlassen dürfen.

Der Gedanke eines Menschen. Warum schlich er sich hier ein?

Aber was hätte ich tun können? Ich habe versprochen, sie nicht wie etwas Zerbrechliches zu behandeln.

Laufen. Schnell laufen. Laufen bis zur Erschöpfung!

Ich musste zu Rand. Ich musste. Aber damit ließ ich sie im Stich!

Wie ein Blitz zu den Zwei Flüssen. Wieder zurück, den Fluss entlang. Zur Wüste, dann zurück, ein langer Lauf nach Falme.

Wie konnte man von mir erwarten, sie beide zu halten und dann einen loszulassen?

Nach Tear. Dann zu den Zwei Flüssen. Ein knurrender Schemen, der sich so schnell bewegte, wie er nur konnte. Hier. An dieser Stelle hatte er sie geheiratet.

Hier stieß er ein Heulen aus.

Caemlyn, Cairhien, die Brunnen von Dumai.

Hier hatte er den einen gerettet.

Cairhien, Ghealdan, Malden.

Hier hatte er die andere gerettet.

Zwei Mächte in seinem Leben. Jede hatte ihn angezogen. Schließlich brach Junger Bulle irgendwo in Andor vor ein paar Hügeln zusammen. Ein vertrauter Ort.

Der Ort, an dem ich Elyas kennenlernte.

Er wurde wieder zu Perrin. Seine Gedanken waren keine Wolfsgedanken mehr, seine Sorgen keine Wolfssorgen. Er starrte zu einem Himmel hinauf, an dem jetzt, nach Rands Opfer, nicht eine Wolke mehr zu sehen war. Er hatte bei seinem Freund sein wollen, als er starb.

Dieses Mal würde er bei Faile sein, wo sie gestorben war.

Er wollte schreien, aber das würde nichts nützen. »Ich muss loslassen, nicht wahr?«, flüsterte er dem Himmel zu. »Licht! Ich will aber nicht. Ich habe gelernt. Ich habe von Malden gelernt. Ich tat es nicht noch einmal! Dieses Mal tat ich das, was man von mir erwartete.«

In der Nähe krächzte ein Vogel am Himmel. Wölfe heulten. Jagten.

»Ich lernte …«

Ein Vogelruf.

Er klang wie ein Falke.

Perrin sprang auf die Füße, fuhr herum. Da. Er verschwand und erschien sofort auf einem offenen Feld, das ihm unbekannt war. Nein, er kannte dieses Feld. Er kannte es! Das war Merrilor, bloß ohne Blut, ohne zu Schlamm zertretenes Gras, ohne das zerstörte und aufgewühlte Gelände.

Hier fand er einen winzigen Falken von der Größe seiner Hand, der leise mit einem gebrochenen Bein fiepte, das unter einem Stein festklemmte. Sein Herzschlag war schwach.

Perrin brüllte auf, als er erwachte, krallte sich seinen Weg aus dem Wolfstraum. Er stand auf dem Leichenfeld und schrie in den Nachthimmel. In der Nähe rannten Sucher von Entsetzen ergriffen auseinander.

Wo? Wie sollte er diese Stelle in der Dunkelheit finden? Er rannte los, stolperte über Leichen, durch von Drachen oder Machtlenkern verursachte Erdlöcher. Er hielt an, schaute in die eine Richtung, dann in die andere. Wo? Wo!

Blumige Seife. Ein Hauch von Parfüm in der Luft. Perrin rannte darauf zu, warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen den Kadaver eines gewaltigen Trollocs, der beinahe brusthoch auf anderen Kadavern lag. Darunter fand er ein totes Pferd. Ohne weiter darüber nachzudenken oder sich darüber im Klaren zu sein, welche Kraft dafür nötig war, zerrte er das Pferd zur Seite.

Darunter lag Faile blutüberströmt in einem kleinen Erdloch und atmete flach. Perrin schrie auf, fiel auf die Knie, nahm sie in die Arme, atmete ihren Duft ein.

Er brauchte nur zwei Herzschläge, um sich in den Wolfstraum zu versetzen, Faile zu Nynaeve weit im Norden zu bringen und wieder aus ihm herauszutreten. Sekunden später fühlte er, wie sie in seinen Armen Geheilt wurde, und er war nicht bereit, sie selbst dafür loszulassen.

Faile, sein Falkenweibchen, zitterte am ganzen Leib. Dann schlug sie die Augen auf und lächelte ihn an.


Die anderen Helden waren gegangen. Birgitte blieb, als der Abend hereinbrach. In der Nähe schichteten Soldaten Rand al’Thors Scheiterhaufen auf.

Birgitte konnte nicht mehr lange bleiben, aber im Augenblick … ja, das ging. Noch einen kurzen Augenblick. Das Muster würde es erlauben.

»Elayne?«, sagte sie. »Weißt du etwas? Über den Drachen?«

Im schwindenden Licht zuckte Elayne mit den Schultern. Die beiden standen hinten in der Menge, die sich versammelt hatte, um dabei zuzusehen, wie der Scheiterhaufen des Wiedergeborenen Drachen entzündet wurde.

»Ich weiß, was du vorhast«, sagte sie zu Elayne. »Mit dem Horn.«

»Und was habe ich vor?«

»Es zu behalten«, sagte Birgitte. »Und den Jungen. Es als andoranischen Schatz zu behalten, vielleicht als Waffe der Nation.«

»Vielleicht.«

Birgitte lächelte. »Dann ist es ja gut, dass ich ihn fortgeschickt habe.«

Elayne wandte sich ihr zu und ignorierte die Vorbereitungen an Rands Scheiterhaufen. »Du hast was?«

»Ich schickte Olver fort«, sagte Birgitte. »Mit Leibwächtern, denen ich vertraue. Ich habe Olver gesagt, er soll einen Ort finden, wo niemand suchen würde, einen Ort, den er wieder vergessen kann, und das Horn dort hineinwerfen. Vorzugsweise auf dem Ozean.«

Elayne atmete leise aus, dann wandte sie sich wieder dem Scheiterhaufen zu. »Unerträgliche Frau.« Sie zögerte. »Danke, dass du mir diese Entscheidung abgenommen hast.«

»Ich dachte mir, dass du es so siehst.« Tatsächlich hatte Birgitte angenommen, dass es lange Zeit dauern würde, bevor Elayne verstand. Aber Elayne war in den letzten Wochen gewachsen. »Davon abgesehen muss ich alles andere als unerträglich sein, da es dir in den vergangenen Monaten nicht schwergefallen ist, mich zu ertragen.«

Elayne wandte sich ihr wieder zu. »Das klingt wie ein Abschied.«

Birgitte lächelte. Manchmal konnte sie es fühlen, wenn es kam. »Das ist es.«

Elayne sah traurig aus. »Muss es sein?«

»Ich werde wiedergeboren, Elayne«, flüsterte Birgitte. »Jetzt. Irgendwo liegt eine Frau in den Wehen, und ich werde in diesen Körper schlüpfen. Es geschieht.«

»Ich will dich nicht verlieren.«

Birgitte kicherte. »Nun ja, vielleicht begegnen wir uns ja wieder. Aber jetzt freu dich für mich. Das bedeutet, dass der Zyklus fortgeführt wird. Ich werde wieder mit ihm vereint werden. Gaidal … Ich werde bloß ein paar Jahre jünger als er sein.«

Elayne umarmte sie mit Tränen in den Augen. »Liebe und Frieden, Birgitte. Ich danke dir.«

Birgitte lächelte, dann schloss sie die Augen und ließ sich davontreiben.


Als sich der Abend auf das Land legte, ließ Tam den Blick über den Ort schweifen, der einst der gefürchtetste Ort von allen gewesen war. Shayol Ghul. Das letzte Flackern des Tageslichts zeigte das hier wachsende Grün, blühende Blumen, Gras, das an herumliegenden Waffen vorbei und über Leichen spross.

Ist das dein Geschenk an uns, mein Sohn?, fragte er sich. Ein letztes Geschenk?

Tam entzündete seine Fackel an der kleinen, flackernden Flamme, die in der Nähe in einer Feuergrube prasselte. Er setzte sich in Bewegung, ging an den Reihen aus all jenen vorbei, die in der Nacht standen. Sie hatten nicht vielen von Rands Bestattungszeremonie erzählt. Jeder hätte kommen wollen. Vielleicht hätten es auch alle verdient. Die Aes Sedai planten eine aufwendige Gedenkfeier für Egwene. Tam zog für seinen Sohn ein stilles Gedenken vor.

Rand konnte endlich ruhen.

Er ging an Leuten vorbei, die dort mit gesenkten Köpfen standen. Niemand außer Tam hielt ein Licht. Die anderen warteten in der Dunkelheit, eine kleine Menge von vielleicht zweihundert Leuten, die den Scheiterhaufen umringten. Tams Fackel warf flackerndes rotes Licht in ernste Gesichter.

Am Abend fiel es selbst mit seiner Fackel schwer, Aiel von Aes Sedai und Männer aus den Zwei Flüssen vom König von Tear zu unterscheiden. Sie alle waren Umrisse in der Dunkelheit, die dem toten Wiedergeborenen Drachen salutierten.

Tam erreichte den Scheiterhaufen und stellte sich vor Thom und Moiraine, die sich mit ernsten Gesichtern bei den Händen hielten. Moiraine drückte sanft Tams Arm. Tam sah den Leichnam an, blickte im Licht des Feuers in das Gesicht seines Sohnes. Er wischte sich die Tränen nicht ab.

Das hast du gut gemacht. Mein Junge … das hast du so gut gemacht.

Mit andächtiger Hand entzündete er den Scheiterhaufen.


Min stand vorn in der Menge. Sie sah zu, wie Tam mit gebeugten Schultern sein Haupt vor den Flammen senkte. Schließlich trat der Mann zurück und gesellte sich zu den Leuten aus den Zwei Flüssen. Abell Cauthon umarmte ihn und flüsterte seinem Freund leise etwas zu.

Köpfe wandten sich Min, Aviendha und Elayne zu, Schatten in der Nacht. Sie erwarteten etwas von ihnen. Irgendein Schauspiel.

Ernst trat Min zusammen mit den beiden anderen vor; Aviendha benötigte beim Gehen die Hilfe von zwei Töchtern, vermochte aber allein zu stehen, solange sie sich auf Elayne stützte. Die Töchter zogen sich zurück, um die drei Frauen vor dem Scheiterhaufen allein zu lassen. Elayne und Min standen an Aviendhas Seite und sahen zu, wie die tosenden Flammen Rands Leichnam verschlangen.

»Ich sah das in einer Vision«, sagte Min. »Als ich ihm das erste Mal begegnete, wusste ich, dass dieser Tag kommt. Wir drei, hier, zusammen.«

Elayne nickte. »Und nun?«

»Nun …«, sagte Aviendha. »Nun sorgen wir dafür, dass jeder ohne auch nur den Hauch eines Zweifels glaubt, dass er tot ist.«

Min nickte und fühlte den Bund im Hinterkopf pulsieren. Jeden Augenblick gewann er an Kraft.


Rand al’Thor – jetzt nur noch Rand al’Thor – erwachte in einem beinahe dunklen Zelt. Jemand hatte eine brennende Kerze neben seiner Pritsche zurückgelassen.

Er atmete tief ein und streckte sich. Er fühlte sich, als hätte er lange und tief geschlafen. Hätte er nicht Schmerzen haben müssen? Steif sein müssen? Nichts davon war zu spüren.

Er griff nach der Seite und fühlte dort keine Wunden. Keine Wunden. Zum ersten Mal seit Jahren fehlten die Schmerzen. Im ersten Moment wusste er nicht einmal, was er davon halten sollte.

Dann schaute er nach unten und sah, dass die Hand, die seine Seite abtastete, seine linke Hand war. Er lachte und hielt sie vors Gesicht. Ein Spiegel, dachte er. Ich brauche einen Spiegel.

Hinter der Zeltplane, die den Raum teilte, fand er einen. Offensichtlich hatte man ihn völlig allein gelassen. Die Kerze in die Höhe haltend, schaute er in den kleinen Spiegel. Moridins Gesicht blickte ihm entgegen.

Rand betastete sein Gesicht. In seinem rechten Auge hing ein einzelnes schwarzes Saa in Form eines Drachenzahns. Es bewegte sich nicht.

Rand holte tief Luft und eilte zurück in den kleinen Raum, in dem er erwacht war. Auf einem ordentlich zusammengefalteten Stapel aus verschiedenen Kleidungsstücken lag Lamans Schwert. Anscheinend hatte Alivia nicht gewusst, welche Kleidung er bevorzugte. Natürlich war sie es gewesen, die diese Sachen besorgt hatte, zusammen mit einem Beutel voller Münzen aus allen möglichen Nationen. Sie hatte sich nie sehr für Kleidung oder Geld interessiert, aber sie hatte gewusst, dass er beides brauchte.

Sie wird dir helfen zu sterben. Rand schüttelte den Kopf, zog sich an, nahm Münzen und Schwert und schlüpfte aus dem Zelt. Nicht weit entfernt hatte jemand ein gutes Pferd angebunden, einen gescheckten Wallach. Der kam genau richtig. Vom Wiedergeborenen Drachen zum Pferdedieb. Er musste leise kichern. Es würde ohne Sattel gehen müssen.

Dann zögerte er. In der Nähe sangen Menschen in der Dunkelheit. Das hier war der Shayol Ghul, aber er war ganz anders, als er ihn in Erinnerung hatte. Ein blühender Shayol Ghul voller Leben.

Das Lied, das gesungen wurde, war ein Begräbnislied aus den Grenzlanden. Rand führte das Pferd durch die Nacht ein Stück näher heran. Er spähte zwischen den Zelten vorbei zu einer Stelle, an der drei Frauen vor einem Scheiterhaufen standen.

Moridin, dachte er. Er wird mit allen Ehren als der Wiedergeborene Drache eingeäschert.

Rand wich zurück, schwang sich auf den Schecken, um loszureiten. Dabei fiel sein Blick auf eine Gestalt, die ein Stück abseits vom Scheiterhaufen stand. Eine einzelne Gestalt, die in seine Richtung sah, während alle anderen Blicke abgewandt waren.

Cadsuane. Sie musterte ihn von oben bis unten, und in ihren Augen spiegelte sich das Licht von Rands Scheiterhaufen. Rand nickte, wartete einen Moment, dann zog er das Pferd herum und ritt los.


Cadsuane sah ihm hinterher.

Seltsam, dachte sie. Diese Augen hatten ihren Verdacht bestätigt. Dieses Wissen würde ihr sehr nützlich sein. Und darum bestand auch keine Veranlassung mehr, an diesem lächerlichen Schauspiel teilzunehmen.

Sie wandte sich ab, wählte einen Weg zwischen den Zelten und lief direkt in einen Hinterhalt.

»Saerin«, sagte sie, als sich die Frauen um sie scharten und sie begleiteten. »Yukiri, Lyrelle, Rubinde. Was hat das zu bedeuten?«

»Wir benötigen der Führung«, sagte Rubinde.

»Führung?« Cadsuane schnaubte. »Fragt die neue Amyrlin, sobald ihr eine arme Frau gefunden habt, der ihr diese Stellung aufbürden könnt.«

Die Frauen wichen keinen Schritt von ihrer Seite.

Als Cadsuane endlich begriff, blieb sie wie angewurzelt stehen.

»Ach, Blut und Asche, nein!«, rief sie aus und fuhr zu ihnen herum. »Nein, nein und nochmals nein

Die Frauen lächelten auf beinahe raubtierhafte Weise.

»Ihr habt dem Wiedergeborenen Drachen stets auf so vortreffliche Weise erklärt, was Verantwortung ist«, sagte Yukiri.

»Ihr habt immer davon gesprochen, dass die Frauen dieses Zeitalters einer besseren Ausbildung bedürfen«, fügte Saerin hinzu.

»Das ist ein neues Zeitalter«, sagte Lyrelle. »Vor uns liegen so viele Herausforderungen … und wir brauchen dringend eine starke Amyrlin, die uns anführt.«

Cadsuane schloss die Augen und stöhnte.


Rand atmete erleichtert auf, als er Cadsuane zurückließ. Sie schlug keinen Alarm, obwohl sie ihn nicht aus den Augen gelassen hatte, während er das Pferd antrieb. Ein Blick über die Schulter verriet ihm, dass sie mit ein paar anderen Aes Sedai fortging.

Sie bereitete ihm große Sorgen; vermutlich ahnte sie etwas, von dem er wünschte, dass sie es nicht tat. Allerdings war das noch immer besser, als Alarm zu schlagen.

Seufzend klopfte er seine Taschen ab und entdeckte eine Pfeife. Dafür danke ich dir, Alivia, dachte er und stopfte sie mit dem Tabak aus einem Beutel, den er in der anderen Tasche fand. Instinktiv griff er nach der Einen Macht, um sie zu entzünden.

Aber da war nichts. Kein Saidin in der Leere, nichts. Er stutzte, dann lächelte er und verspürte grenzenlose Erleichterung. Er konnte die Macht nicht lenken. Nur um sicher zu sein, griff er zögernd nach der Wahren Macht. Auch da war nichts.

Er betrachtete seine Pfeife und ritt eine kleine Steigung zur Seite von Thakan’dar hinauf, auf der nun Pflanzen wucherten. Es gab keine Möglichkeit, die Pfeife anzuzünden. Einen Augenblick lang betrachtete er den Tabak in der Dunkelheit, dann stellte er sich einfach vor, wie man die Pfeife anzündete. Und sie brannte.

Rand lächelte und wandte sich nach Süden. Er warf noch einen Blick über die Schulter. Die drei Frauen vor dem Scheiterhaufen hatten sich umgedreht und blickten genau in seine Richtung. Im Licht des brennenden Leichnams konnte er sie deutlich erkennen.

Ich frage mich, welche von ihnen mir folgt, dachte er, und sein Lächeln wurde breiter. Rand al’Thor, du bist mittlerweile ganz schön von dir eingenommen, nicht wahr? Einfach davon auszugehen, dass dir eine oder sogar mehrere folgen.

Vielleicht würde ja auch gar keine kommen. Vielleicht auch sie alle, wenn jede von ihnen so weit war. Er musste kichern.

Welche würde er wählen? Min… aber nein, Aviendha verlassen? Elayne. Nein. Er lachte. Eine Wahl zu treffen war unmöglich. Drei Frauen liebten ihn, und er vermochte nicht zu sagen, wer ihm am liebsten folgen sollte. Jede von ihnen. Sie alle. Beim Licht, Mann. Du bist hoffnungslos. Hoffnungslos in alle drei verliebt, und einen Ausweg aus diesem Schlamassel gibt es nicht.

Er stieß dem Pferd die Fersen in die Flanken und ließ es schneller traben, weiter in Richtung Süden. Er hatte eine gefüllte Geldbörse, ein gutes Pferd und ein solides Schwert. Lamans Schwert, was ein besseres Schwert war, als er je gewollt hätte. Möglicherweise würde es Aufmerksamkeit erregen. Es war ein echtes Reiherschwert mit einer ausgezeichneten Klinge.

Ob Alivia überhaupt klar gewesen war, wie viel Geld sie ihm besorgt hatte? Sie hatte keine Ahnung von Münzen. Vermutlich hatte sie sie irgendwo gestohlen, also war er nicht nur ein Pferdedieb. Nun, er hatte ihr befohlen, ihm etwas Gold zu besorgen, und das hatte sie getan. Mit dem, was er da bei sich trug, konnte er in den Zwei Flüssen einen ganzen Bauernhof kaufen.

Nach Süden. Osten oder Westen würden es auch tun, aber er wollte fort von allem, und zwar richtig. Zuerst nach Süden, dann vielleicht nach Westen, die Küste entlang. Vielleicht fand er ja ein Schiff? So viel von der Welt hatte er noch nicht gesehen. Er hatte ein paar Schlachten erlebt, war in ein gewaltiges Spiel der Häuser verwickelt worden. Es hatte viele Dinge gegeben, mit denen er überhaupt nichts zu tun haben wollte. Er kannte den Bauernhof seines Vaters. Und Paläste. Er hatte so viele Paläste kennengelernt.

Aber er hatte nie die nötige Zeit gehabt, sich die Welt einmal richtig anzusehen. Das wird eine ganz neue Erfahrung. Einfach zu reisen, ohne verfolgt zu werden oder hier und dort herrschen zu müssen. Einfach zu reisen und in einer Scheune schlafen zu können, als Bezahlung für etwas Holzhacken. Er sann darüber nach, lachte wieder fröhlich, ritt weiter nach Süden und rauchte seine verrückte Pfeife. Dabei erhob sich ein Wind um ihn, um den Mann, den man alles Mögliche genannt hatte – Lord, Wiedergeborener Drache, König, Mörder, Geliebter und Freund.

Der Wind stieg ungehindert in die Höhe und weiter hinauf in den offenen, wolkenlosen Himmel. Er strich über eine verwüstete Landschaft, die mit noch nicht bestatteten Toten übersät war. Eine Landschaft, in der zugleich überall gefeiert wurde. Er kitzelte die Äste von Bäumen, die endlich Knospen ausbildeten.

Der Wind wandte sich nach Süden, wehte durch dichte Wälder und über schimmernde Ebenen, hielt auf unerforschte Länder zu. Der Wind war nicht das Ende. Es gibt bei der Drehung des Rades der Zeit kein Ende, und es wird auch niemals ein Ende geben.

Aber es war ein Ende.


Und es geschah in jenen Tagen, so wie es schon zuvor geschehen ist und wieder geschehen wird, dass die Finsternis schwer auf dem Land lastete und die Herzen der Menschen tief bedrückte. Und alles Grün welkte dahin, und die Hoffnung starb. Und alle Menschen riefen verzweifelt den Schöpfer an und sagten: O Licht des Himmels, Licht der Welt, lass den uns Versprochenen auf den Berghängen geboren werden, so wie es die Prophezeiungen verkünden, so wie er in längst vergangenen Zeitaltern geboren wurde und in zukünftigen Zeitaltern geboren werden wird. Lass den Prinz des Morgens zum Land singen, damit das Grün wieder wächst und in den Tälern Lämmer geboren werden. Lass den Arm des Herrn der Morgendämmerung uns vor der Finsternis beschützen und das große Schwert der Gerechtigkeit uns verteidigen. Lass den Drachen wieder auf dem Wind der Zeit reiten.

– Aus Charal Drianaan te Calamon,

Der Zyklus des Drachen.

Unbekannter Autor aus dem Vierten Zeitalter


Er kam wie der Wind, berührte alles wie der Wind und verschwand auch wieder wie der Wind.

– Aus Der Wiedergeborene Drache.

Von Loial, Sohn von Arent, Sohn von Halan,

aus dem Vierten Zeitalter

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