23 Am Rand der Zeit

Gawyn zog eilig an Egwenes Schulter. Warum wollte sie nicht gehen? Wer auch immer dieser Mann in der Rüstung aus Silberscheiben war, er konnte Machtlenkerinnen spüren. Leane hatte er aus der Finsternis gepflückt; das Gleiche konnte er mit Egwene machen. Licht, er würde es vermutlich tun, sobald sie ihm auffiel.

Wenn sie sich nicht bewegt, werfe ich sie mir über die Schulter. Das Licht helfe mir, ich tue es, ganz egal, wie viel Lärm das auch macht. Sie erwischen uns sowieso, wenn wir nicht …

Der Mann, der sich Bao nannte, setzte sich in Bewegung und zog die noch immer in Luft gefesselte Leane mit sich. Die anderen folgten ihm und ließen die schrecklichen, verkohlten Überreste der anderen Gefangenen zurück.

»Egwene?«, flüsterte er.

Sie sah ihn mit kalter Entschlossenheit im Blick an und nickte. Licht! Wie konnte sie so ruhig sein, wo er doch die Zähne aus Angst, sie könnten klappern, zusammenbeißen musste?

Auf dem Bauch schoben sie sich unter dem Wagen hervor. Egwene blickte in die Richtung der Sharaner. Durch den Bund strömte ihre Selbstbeherrschung in seinen Geist. Dafür war der Name des Mannes verantwortlich, der in ihr einen plötzlichen Stich des Entsetzens ausgelöst hatte, dem eine grimmige Entschlossenheit gefolgt war. Wie hatte dieser Name noch einmal gelautet? Barid soundso? Gawyn glaubte, ihn schon einmal gehört zu haben.

Er wollte Egwene aus dieser Todesfalle herausschaffen. Er legte ihr den Behüterumhang um die Schultern. »Der beste Weg hier hinaus liegt direkt im Osten«, flüsterte er. »Am Kantinenzelt vorbei, jedenfalls seinen Überresten, dann weiter zum Lagerrand. Sie haben neben unserem Reisegelände einen Wachtposten eingerichtet. Den umgehen wir nach Norden.«

Sie nickte.

»Ich kundschafte, du folgst. Falls ich irgendetwas sehe, werfe ich ein Steinchen in deine Richtung. Achte darauf, ob es irgendwo landet, in Ordnung? Zähl bis zwanzig, dann komm ganz langsam hinter mir her.«

»Aber …«

»Du kannst nicht als Erste gehen; was ist, wenn wir auf diese Machtlenker stoßen? Ich muss die Führung übernehmen.«

»Dann zieh wenigstens den Umhang an«, zischte sie.

»Das geht schon so«, flüsterte er und verschwand, bevor sie weiterdebattieren konnte. Er fühlte ihren Ärger und würde sich sicherlich etwas anhören müssen, sobald sie sicher entkommen waren. Nun, falls sie lange genug lebten, um das noch zu erleben, würde er die Rüge fröhlich über sich ergehen lassen.

Sobald er ein Stück von ihr entfernt war, schob er sich einen der Ringe der Blutmesser über den Finger. Er hatte ihn mit seinem Blut aktiviert, genau wie es Leilwin erklärt hatte.

Sie hatte auch behauptet, er würde ihn vermutlich umbringen.

Gawyn Trakand, du bist ein Narr, dachte er, als ein Kribbeln durch seinen Körper fuhr. Obwohl er das Ter’angreal erst einmal benutzt hatte, wusste er, dass seine Gestalt dunkler und verschwommen wurde. Falls Leute in seine Richtung blickten, würden ihre Blicke von ihm abgleiten. Besonders hervorragend funktionierte das in Schatten. Dieses eine Mal war er froh, dass die Wolkendecke jegliches Mondlicht oder Sternenlicht blockierte.

Mit vorsichtigen Schritten ging er weiter. Als er den Ring in dieser Nacht zuvor ausprobiert hatte, während Egwene schlief, hatte er Wächter mit Laternen in nur wenigen Schritten Abstand passieren können. Einer von ihnen hatte ihn direkt angesehen, ihn aber nicht wahrgenommen. In dieser tiefen Dunkelheit hätte er genauso gut unsichtbar sein können.

Das Ter’angreal erlaubte ihm auch, sich schneller bewegen zu können. Diese Veränderung war nicht weltbewegend, aber durchaus bemerkbar. Es juckte ihn in den Fingern, diese Fähigkeit bei einem Duell auszuprobieren. Wie viele dieser Sharaner konnte er mit diesem Ring am Finger wohl allein zur Strecke bringen? Ein Dutzend? Zwei?

Das würde genau so lange funktionieren, bis dich einer dieser Machtlenker brät, sagte er sich. Er sammelte ein paar Steinchen vom Boden, um sie auf Egwene zu werfen, sollte er eine dieser Machtlenkerinnen entdecken.

Er umrundete das Kantinenzelt und schlug den Weg ein, den er zuvor ausgekundschaftet hatte. Es war wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, vorsichtig zu sein; zuvor hatte ihn die Macht des Ter’angreals zu leichtsinnig gemacht. Sich so mühelos bewegen zu können stieg einem in den Kopf.

Er hatte sich geschworen, die Ringe nicht zu benutzen, aber das war in der Schlacht gewesen – als er versucht gewesen war, sich einen Namen zu machen. Das hier war etwas anderes. Er beschützte Egwene. Da konnte er eine Ausnahme machen.


Als Egwene zwanzig zählte, setzte sie sich in die Dunkelheit hinein in Bewegung. Sie konnte nicht so gut schleichen wie Nynaeve oder Perrin, aber sie kam aus den Zwei Flüssen. In Emondsfelde lernte jedes Kind, wie man sich im Wald bewegte, ohne das Wild zu verscheuchen.

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Pfad vor ihr und tastete ihn mit den Zehen ab – ihre Schuhe hatte sie ausgezogen –, um trockene Blätter oder Unkraut zu meiden. Sich auf diese Weise zu bewegen war ihr zur zweiten Natur geworden; unglücklicherweise hatte sie so Zeit zum Nachdenken.

Einer der Verlorenen führte die Sharaner an. Seine Worte ließen bloß die Vermutung zu, dass ihre ganze Nation ihm folgte. Das war so schlimm wie die Seanchaner. Schlimmer. Die Seanchaner nahmen Aes Sedai gefangen und benutzten sie, aber sie schlachteten normale Menschen nicht auf diese gleichgültige Weise hin.

Sie musste einfach überleben und entkommen! Sie musste der Weißen Burg diese Neuigkeiten überbringen. Die Aes Sedai würden Demandred entgegentreten. Man konnte nur beim Licht hoffen, dass genügend von ihnen aus der Schlacht entkommen waren, um das zu schaffen.

Warum hatte Demandred nach Rand geschickt? Jedermann wusste, wo er den Wiedergeborenen Drachen finden würde.

Schließlich erreichte sie das Kantinenzelt. Dann schlich sie darum herum. In der Nähe unterhielten sich ein paar Wächter. Ihr Akzent klang auf eine seltsame Weise monoton, als fehlten diesen Leuten jegliche Gefühle. Es war, als wäre ihren Worten jegliche … Melodie entzogen worden. Eine Melodie, die Egwene noch nie zuvor bewusst wahrgenommen hatte.

Dort sprachen Männer, also musste sie sich vermutlich keine Sorgen machen, dass sie ihre Fähigkeit zum Machtlenken fühlten. Allerdings war es Demandred bei Leane gelungen; vielleicht trug er für diesen Zweck ein Ter’angreal bei sich. Solche Dinge existierten.

Auf jeden Fall machte sie einen großen Bogen um die Soldaten und schlich weiter durch die Dunkelheit dessen, was einst ihr Lager gewesen war. Sie bewegte sich an umgestürzten Zelten vorbei, deren Brandgeruch noch immer in der Luft lag, und kreuzte einen Weg, den sie an den meisten Abenden eingeschlagen hatte, um die Truppenberichte einzusammeln. Es war schon beunruhigend, wie schnell es passieren konnte, eben noch eine Machtposition zu haben, um dann wie eine Ratte durch das eigene Lager schleichen zu müssen. Plötzlich nicht mehr die Macht lenken zu können veränderte so viele Dinge.

Meine Autorität kommt nicht von meiner Fähigkeit, die Macht lenken zu können, sagte sie sich. Meine Stärke liegt in Kontrolle, Verstehen und Sorgfalt. Ich werde diesem Lager entkommen, und ich werde weiterkämpfen.

Sie wiederholte die Worte und schüttelte das schleichende Gefühl von Hilflosigkeit ab – das Gefühl der Verzweiflung über so viele Tote, das Kribbeln zwischen ihren Schulterblättern, als würde sie jemand in der Dunkelheit beobachten. Licht, die arme Leane.

In ihrer Nähe prallte etwas auf dem Boden auf. Ihm folgten zwei weitere Steinchen. Anscheinend wollte sich Gawyn nicht auf eines verlassen. Sie huschte zu den halb verbrannten Überresten eines Zeltes; Stücke der Plane hingen noch immer von den Pfosten.

Sie ging in die Hocke. In diesem Augenblick bemerkte sie, dass nur wenige Zoll von ihr entfernt die verbrannte Leiche eines Soldaten auf dem Boden lag. Ein Blitz aus den brodelnden Wolken über ihr enthüllte ihn als Shienarer, obwohl er das Symbol der Weißen Burg auf dem Hemd trug. Eines seiner Augen stand offen und starrte stumm zum Himmel, während die andere Kopfseite bis auf den Knochen verbrannt war.

Ein Licht erschien aus der Richtung, die sie eingeschlagen hatte. Angespannt wartete sie, während zwei Wächter mit einer Laterne näher kamen. Sie sprachen kein Wort. Als sie abbogen, um nach Süden zu gehen, konnte Egwene auf dem Rücken ihrer Rüstung eingeritzte Symbole ausmachen, die den Tätowierungen entsprachen, die sie zuvor bei den Sharanern gesehen hatte. Die Markierungen waren ziemlich extravagant gewesen, und so vermutete sie, dass diese Männer vermutlich einen niedrigen gesellschaftlichen Rang bekleideten.

Das System bereitete ihr Unbehagen. Eine Tätowierung konnte man jederzeit anbringen, aber ihr war keine Möglichkeit bekannt, wie man sie wieder entfernte. Wenn die Tätowierungen immer komplizierter wurden, je tiefer man in der Gesellschaftsordnung stand, dann bedeutete das, dass Leute zwar stürzen, aber niemals aufsteigen konnten, falls sie in eine niedrige Position hineingeboren wurden oder in Ungnade fielen.

Sie spürte die Machtlenkerin hinter ihr nur Sekunden, bevor eine Abschirmung zwischen sie und die Quelle schnappte.

Egwene reagierte sofort. Sie ließ dem Entsetzen keine Zeit, sich ihrer zu bemächtigen; sie zog das Gürtelmesser und fuhr zu der Frau herum, die sie hinter sich herankommen spürte. Sie stach zu, aber ein Gewebe Luft packte ihren Arm und hielt ihn fest; ein weiteres füllte ihren Mund und knebelte sie.

Egwene wehrte sich, aber ein weiteres Gewebe ergriff sie und riss sie in die Luft. Das Messer fiel aus ihren zuckenden Fingern.

In der Nähe erschien eine Lichtkugel, ein sanftes blaues Licht, das wesentlich gedämpfter als das jeder Laterne war. Sie war von einer dunkelhäutigen Frau mit sehr feinen Zügen gewebt worden. Zierlich. Eine kleine Nase, ein schlanker Körper. Sie erhob sich aus der Hocke, und Egwene erkannte, dass sie ziemlich groß war, fast so groß wie ein Mann.

»Du bist ein gefährliches kleines Häschen«, sagte die Frau, und ihr wuchtiger, gefühlloser Akzent erschwerte es, sie zu verstehen. Sie betonte die Worte an den falschen Stellen und sprach viele Laute auf eine sehr merkwürdige Weise aus. Die Tätowierungen auf ihrem Gesicht glichen zerbrechlichen Zweigen und führten vom Nacken zu den Wangen. Sie trug ebenfalls eines dieser hufeisenförmigen Gewänder, das völlig schwarz war; eine Handspanne unterhalb des Halses waren weiße Riemen angebracht.

Die Frau berührte ihren Arm an der Stelle, wo Egwenes Messer sie beinahe getroffen hätte. »Ja«, sagte sie, »sehr gefährlich. Nur wenige Ayyad würden so schnell nach dem Dolch greifen, statt nach der Quelle. Du bist gut ausgebildet worden.«

Egwene kämpfte gegen ihre Fesseln an. Es war sinnlos. Sie saßen fest. Ihr Herz schlug schneller, aber sie war besser als das. Panik würde sie nicht retten. Sie zwang sich zur Ruhe.

Nein, dachte sie. Nein, Panik rettet mich nicht … aber sie könnte Gawyn alarmieren. Sie konnte spüren, dass er irgendwo in der Nähe in der Dunkelheit besorgt war. Mit einer bewussten Anstrengung gestattete sie, dass ihr Entsetzen wuchs. Sie verdrängte ihre Ausbildung als Aes Sedai. Das war viel schwieriger als erwartet.

»Du bewegst dich schnell, kleines Häschen«, fuhr die Sharanerin fort und musterte Egwene. »Ich hätte dir nie folgen können, hätte ich nicht bereits gewusst, dass du diese Richtung wählst.« Neugierig ging sie um Egwene herum. »Du hast dem kleinen Schauspiel des Wylds bis zum Ende zugesehen, nicht wahr? Mutig. Oder dumm.«

Egwene schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihre Angst. Auf ihre blinde Panik. Sie musste Gawyn herbringen. Sie griff tief in sich hinein und öffnete diesen kleinen, mit aller Macht unterdrückten Gefühlssplitter, den sie dort begraben hatte. Ihre Furcht, noch einmal in die Gefangenschaft der Seanchaner zu geraten.

Sie konnte es fühlen. Der A’dam um ihren Hals. Der Name. Tuli. Ein Name für ein Schoßtier.

Damals war Egwene jünger gewesen, aber genauso hilflos wie jetzt. Es würde erneut geschehen. Sie würde ein Nichts sein. Man würde ihr die Persönlichkeit rauben. Lieber wollte sie tot sein. O Licht! Warum hatte sie nicht sterben können?

Sie hatte sich geschworen, sich niemals wieder auf diese Weise gefangen nehmen zu lassen. Ihre Atmung ging schneller, da sie ihr Entsetzen jetzt nicht länger kontrollieren konnte.

»Aber, aber«, sagte die Sharanerin. Sie schien amüsiert zu sein, auch wenn ihr Tonfall so ausdruckslos war, dass Egwene es nicht genau zu sagen vermochte. »So schlimm wird es nun auch nicht werden, oder? Ich muss mich entscheiden. Was bringt mir mehr ein? Dich ihm auszuliefern oder dich für mich selbst zu behalten? Hmm …«

Auf der anderen Seite des Lagers, wo sich Demandred hinbegeben hatte, wurde plötzlich eine große Menge Macht gelenkt. Die Frau schaute in die Richtung, schien aber nicht alarmiert zu sein.

Egwene fühlte Gawyn sich nähern. Er war sehr besorgt. Ihre Botschaft hatte ihren Zweck erfüllt, aber er kam nicht schnell genug, und er war weiter fort als erwartet. Was stimmte nicht? Jetzt, da sie ihre Ängste aus ihrem Versteck gelassen hatte, überwältigten sie sie und prügelten förmlich auf sie ein.

»Dein Mann …«, sagte die Sharanerin. »Du hast einen von ihnen. Wie heißen sie noch mal? Seltsam, dass du dich auf den Schutz eines Mannes verlässt, aber in diesem Land erreicht ja keine von euch ihr Potenzial, wie man mir berichtet hat. Man wird ihn ergreifen. Ich habe ihn holen lassen.«

Wie Egwene befürchtet hatte. Licht! Sie hatte Gawyn in die Falle gelockt. Sie hatte ihr Heer in die Katastrophe geführt. Egwene kniff die Augen fest zusammen. Sie hatte die Weiße Burg in ihre Zerstörung geführt.

Man würde ihre Eltern hinschlachten. Die Zwei Flüsse würden brennen.

Sie hätte stärker sein müssen.

Sie hätte klüger sein müssen.

Nein.

Die Seanchaner hatten sie nicht brechen können. Und sie würde sich auch von dem hier nicht brechen lassen. Sie öffnete die Augen und erwiderte im blauen weichen Licht den Blick der Sharanerin. Sie bezwang ihre Gefühle und fühlte, wie sie die Ruhe einer Aes Sedai erfüllte.

»Du bist … aber seltsam«, flüsterte die Sharanerin noch immer von Egwenes Blick gefangen. Sie war so gebannt, dass sie gar nicht bemerkte, wie hinter ihr ein Schatten auftauchte. Ein Schatten, der nicht Gawyn sein konnte, denn er war noch immer weit weg.

Etwas traf von hinten den Kopf der Frau. Sie sackte in sich zusammen und fiel zu Boden. Die Lichtkugel verschwand, und Egwene war frei. Sie fiel ein Stück, ging federnd in die Hocke und fand ihr Messer.

Eine Gestalt kam auf sie zu. Egwene hob die Klinge und bereitete sich darauf vor, die Quelle zu umarmen. Wenn es sein musste, würde sie eben Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Man würde sie nicht noch einmal überwältigen.

Aber wer war das?

»Pst«, sagte die Gestalt.

Egwene erkannte die Stimme. »Leilwin?«

»Andere haben bemerkt, dass diese Frau die Macht lenkte«, sagte Leilwin. »Sie werden kommen und nachsehen. Wir müssen los!«

»Ihr habt mich gerettet«, flüsterte Egwene. »Ihr habt mich gerettet

»Ich nehme meine Eide sehr ernst«, sagte Leilwin. Dann fügte sie so leise, dass Egwene es beinahe überhört hätte, hinzu: »Vielleicht zu ernst. So schreckliche Omen in dieser Nacht …«

Sie eilten ein paar Momente durch das Lager, bis Egwene Gawyn herannahen spürte. Sie konnte ihn in der Dunkelheit nicht ausmachen. Schließlich flüsterte sie leise: »Gawyn?«

Plötzlich stand er direkt neben ihr. »Egwene? Wen hast du da gefunden?«

Leilwin erstarrte und stieß dann leise die Luft zwischen den Zähnen hervor. Etwas schien sie sehr aufgebracht zu haben. Vielleicht war sie ja wütend, dass sich jemand an sie hatte anschleichen können. Falls das der Fall war, teilte Egwene ihre Empfindung. Sie war stolz auf ihre Fähigkeiten, und dann hatte sie sich nicht nur von einer Machtlenkerin überraschen lassen, sondern jetzt auch noch von Gawyn! Wie konnte sich ein Stadtjunge so schnell bewegen, ohne dass sie ihn entdeckte?

»Ich habe niemanden gefunden«, flüsterte sie. »Leilwin fand mich … und zog mich aus dem Feuer.«

»Leilwin?« Gawyn spähte in die Finsternis. Egwene konnte seine Überraschung und sein Misstrauen spüren.

»Wir müssen in Bewegung bleiben«, mahnte Leilwin.

»Da habe ich keine Einwände«, erwiderte Gawyn. »Wir haben es fast geschafft. Aber wir sollten weiter nach Norden gehen. Ich habe rechts von uns ein paar Leichen hinterlassen.«

»Leichen?«, fragte Leilwin.

»Etwa ein halbes Dutzend Sharaner stürzten sich auf mich«, erwiderte er.

Ein halbes Dutzend? Er ließ es klingen, als wäre das nichts.

Das hier war nicht der richtige Ort für eine Diskussion. Egwene schloss sich den anderen beiden an und eilte aus dem Lager. Leilwin führte sie in eine bestimmte Richtung. Jeder Ruf und jedes Geräusch ließ Egwene zusammenzucken und fachte die Sorge an, dass man einen der Toten gefunden hatte. Als plötzlich jemand in der Dunkelheit sprach, wäre sie tatsächlich beinahe bis zu den Sturmwolken gesprungen.

»Sein ihr das?«

»Wir sind es, Bayle«, sagte Leilwin leise.

»Bei meiner alten Großmutter!«, stieß Bayle Domon leise hervor und schloss sich ihnen an. »Du hast sie gefunden? Frau, du erstaunen mich immer wieder.« Er zögerte. »Dennoch wünschen ich mir, du hätten mich mitkommen lassen.«

»Mein Gemahl«, flüsterte Leilwin, »du bist so tapfer und entschlossen, wie sich eine Frau nur einen Mann für ihre Mannschaft wünschen kann. Aber du bewegst dich mit der Verstohlenheit eines Bären, der durch einen Fluss planscht.«

Er grunzte, schloss sich ihnen aber an, als sie das Lager vorsichtig und umsichtig verließen. Zehn Minuten weiter traute sich Egwene endlich, die Quelle zu umarmen. Sie genoss sie mit allen Zügen, erschuf ein Wegetor zum Gleiten und glitt mit den anderen zur Weißen Burg.


Aviendha rannte mit dem Rest der Aiel durch Wegetore. Einer Sturmflut gleich strömten sie in das Tal von Thakan’dar. Zwei Wellen, die von gegenüberliegenden Talseiten kamen.

Aviendha trug keinen Speer; dort war nicht länger ihr Platz. Stattdessen war sie ein Speer.

Bei ihr befanden sich zwei Männer in schwarzen Mänteln, fünf Weise Frauen, die ehemalige Damane Alivia und zehn der Rand verschworenen Aes Sedai mit ihren Behütern. Abgesehen von Alivia hatte keiner von ihnen erfreut darauf reagiert, Aviendha vor die Nase gesetzt zu bekommen. Den Asha’man gefiel es nicht, überhaupt einer Frau gehorchen zu müssen, den Weisen Frauen gefiel es nicht, von Rand Befehle entgegenzunehmen, und die Aes Sedai hielten die Machtlenkerinnen der Aiel noch immer für minderwertig. Trotzdem gehorchten sie dem Befehl.

In einem stillen Augenblick hatte Rand ihr zugeflüstert, bei ihnen allen nach Schattenfreunden Ausschau zu halten. Diese Worte gründeten sich nicht auf Furcht, sondern auf sein Gespür für Realitäten. Überall konnten Schatten lauern.

Im Tal befanden sich Trollocs und einige Myrddraal, aber diesen Angriff hatten sie nicht erwartet. Die Aiel machten sich ihre Überraschung zunutze und veranstalteten ein Massaker. Aviendha führte ihre Machtlenker zur Schmiede, diesem gewaltigen Gebäude mit dem grauen Dach. Die Schattenschmiede wandten sich von ihrer ruhelosen Arbeit ab und zeigten nur einen Hauch von Verwirrung.

Aviendha webte Feuer und entfernte einen Kopf von seinen Schultern. Augenblicklich verwandelte sich der Körper zu Stein und zerbröckelte.

Das schien das Signal für die anderen Machtlenker gewesen zu sein, und im ganzen Tal explodierten die Schattenschmiede. Angeblich waren sie schreckliche Krieger, wenn man sie provozierte, und ihre Haut war gegen Schwerthiebe gefeit. Möglicherweise waren das ja nur Gerüchte, denn nur wenige Aiel hatten jemals mit einem Schattenschmied den Tanz der Speere getanzt.

Aviendha verspürte keine große Lust, die Wahrheit zu ergründen. Sie ließ ihre Mannschaft die erste Gruppe Schattenschmiede niedermachen und versuchte, nicht zu intensiv über den Tod und die Zerstörung nachzudenken, den diese Kreaturen während ihres unnatürlichen Lebens verursacht hatten.

Das Schattengezücht versuchte eine Verteidigung aufzubauen; ein paar Myrddraal peitschten auf ihre Trollocs ein, damit sie den Angriff der Aiel aufbrachen, die auf breiter Front auf sie zukamen. Es wäre leichter gewesen, einen Fluss mit einer Handvoll Zweige aufzuhalten. Die Aiel wurden nicht langsamer, und die Tiermenschen wurden auf der Stelle getötet, fielen oft mehreren Pfeilen oder Speeren zum Opfer.

Die meisten Trollocs ergriffen vor den donnernden Schlachtrufen der Aiel die Flucht. Aviendha und ihre Machtlenker erreichten die Schmiedeöfen und die in der Nähe befindlichen Käfige mit den vor Dreck starrenden Gefangenen mit den leblosen Blicken, die auf den Tod gewartet hatten.

»Schnell!«, sagte Aviendha zu den Behütern in ihrer Begleitung. Die Männer brachen die Käfige auf, während sie und die anderen die letzten Schattenschmiede angriffen. Als sie starben und sich in Stein und Staub verwandelten, ließen sie zur Hälfte fertiggestellte Thakan’dar-Klingen auf den Felsboden fallen.

Aviendha blickte nach rechts oben. Ein langer, gewundener Pfad führte zu dem riesigen, an einen Rachen erinnernden Loch in der Seite des Berges, der dort in den Himmel ragte. Das Loch war schwarz. Es erschien wie eine Falle, die alles Licht dazu verlockte, dort einzufallen, um es niemals wieder freizugeben.

Aviendha webte Feuer und Geist und entließ das Gewebe in die Luft. Einen Augenblick später öffnete sich ein Wegetor oben auf dem Pfad zum Shayol Ghul. Vier Gestalten traten hindurch. Eine Frau in Blau von kleiner Gestalt, aber von großer Willenskraft. Ein älterer Mann mit weißen Haaren und einem bunten Umhang. Eine Frau in Gelb, die ihr schwarzes Haar kurz geschnitten trug und es mit mehreren in Gold eingefassten Edelsteinen schmückte.

Und ein hochgewachsener Mann, dessen Haar die Farbe glühender Scheite hatte. Er trug einen Mantel in Rot und Gold, aber darunter befand sich ein schlichtes Hemd aus den Zwei Flüssen. Was er geworden und was er gewesen war, war zu einer Einheit verschmolzen. Wie ein Shienarer trug er zwei Schwerter. Das eine erweckte den Anschein, als bestünde es aus Glas; das trug er auf den Rücken geschnallt. Das andere war das Schwert des Baummörders König Laman, und er trug es am Gürtel. Das trug er nur wegen ihr. Dummer Mann.

Aviendha hob die Hand in seine Richtung, und er erwiderte den Gruß. Das würde ihr einziger Abschied sein, falls er bei seiner Aufgabe scheiterte oder sie während der ihren starb. Nach einem letzten Blick wandte sie sich von ihm ab und ihrer Pflicht zu.

Zwei ihrer Aes Sedai hatten sich verknüpft und ein Wegetor erschaffen, damit die Behüter die Gefangenen in Sicherheit bringen konnten. Viele mussten angestoßen werden, damit sie sich überhaupt bewegten. Sie stolperten vorwärts, und ihre Augen waren beinahe so leblos wie die der Schattenschmiede.

»Überprüft auch die ganze Schmiede«, befahl Aviendha und gab ein paar Behütern ein Zeichen. Sie stürmten hinein, gefolgt von Aes Sedai. Gewebe der Einen Macht erschütterten das Gebäude, als sie noch mehr Schattenschmiede fanden, und die beiden Asha’man begaben sich ebenfalls eilig hinein.

Aviendha musterte das Tal. Die Schlacht war hässlicher geworden; in dem Felskorridor, der aus dem Tal führte, hatte sich Schattengezücht versammelt. Es hatte mehr Zeit gehabt, sich zu formieren. Hinter den Aiel führte Ituralde seine Streitkräfte heran und sicherte die Teile des Tales, die sie bereits erobert hatten.

Geduld, sagte sich Aviendha. Ihre Aufgabe bestand nicht darin, sich der vor ihnen liegenden Schlacht anzuschließen, sondern Rand den Rücken zu decken, während er in die Tiefe stieg und den Krater des Verderbens betrat.

Eine Sache bereitete ihr große Sorgen. Konnten die Verlorenen direkt in die Höhle Reisen? Rand schien sich deswegen keine Sorgen zu machen, aber er war auch durch das abgelenkt, was er zu tun hatte. Vielleicht sollte sie sich ihm anschließen und …

Stirnrunzelnd schaute sie auf. Was war das für ein Schatten?

Hoch oben am aufgewühlten Himmel schien die Sonne. Es gab Sturmwolken, einige davon tiefschwarz, andere ganz weiß. Aber es handelte sich nicht um eine Wolke, die sich plötzlich vor die Sonne geschoben hatte, sondern um etwas Festes und Schwarzes, das dort heranglitt.

Aviendha fröstelte und zitterte unwillkürlich, als das Licht verblasste. Dunkelheit brach über sie herein – echte Dunkelheit.

Überall auf dem Schlachtfeld sahen Soldaten voller Scheu und sogar Angst auf. Das Licht ging aus. Das Ende der Welt war da.

Plötzlich wurde am anderen Ende des weitläufigen Tales die Macht gelenkt. Aviendha schüttelte ihre Beklommenheit ab und fuhr herum. Der Boden in der Nähe war mit zerrissenen Kleidungsstücken, weggeworfenen Waffen und Leichen übersät. Der Kampf konzentrierte sich jetzt allein auf den Talausgang, weit von ihr entfernt; dort versuchten die Aiel, das Schattengezücht in den Pass zurückzudrängen.

Obwohl sie in der Finsternis nicht viel erkennen konnte, wusste Aviendha, dass die Soldaten in den Himmel starrten. Selbst die Trollocs erschienen überwältigt. Aber dann bewegte sich die alles umfassende Finsternis und gab zuerst den Sonnenrand und dann die Sonne selbst frei. Licht! Das Ende war doch noch nicht da.

Der Kampf am Taleingang ging weiter, aber er war offensichtlich schwierig. Die Trollocs durch einen so schmalen Weg zu treiben war ungefähr so, als wollte man ein Pferd in einen schmalen Felsspalt schieben. Schlichtweg unmöglich, es sei denn, man fing an zu schnitzen.

»Dort!«, sagte Aviendha und zeigte auf die Talseite hinter den Linien der Aiel. »Ich spüre das Machtlenken einer Frau.«

»Licht, sie ist mächtig«, hauchte Nesune.

»Einen Zirkel!«, brüllte Aviendha. »Sofort!«

Die anderen verknüpften sich und übergaben Aviendha die Kontrolle des Zirkels. Macht erfüllte sie, unvorstellbare Macht. Es war, als würde sie einen Atemzug nehmen, dabei aber immer mehr Luft in den Körper saugen, sich ausdehnen und vor Energie knistern. Sie war ein Gewittersturm, ein riesiges Meer aus der Einen Macht.

Sie stieß die Hände nach vorn und entließ ein nur zur Hälfte geformtes primitives Gewebe. Das war beinahe zu viel Macht für sie, um sie formen zu können. Luft und Feuer sprühte von ihren Händen, eine Säule so breit wie ein Mann mit ausgestreckten Armen. Das Feuer flammte dick und heiß, beinahe schon flüssig. Kein Baalsfeuer – dafür war sie zu schlau –, aber trotzdem gefährlich. Die Luftgewebe schlossen das Feuer als konzentrierte zerstörerische Masse ein.

Die Säule raste über das Schlachtfeld und zerschmolz den Felsboden und setzte Kadaver in Brand. Ein gewaltiges Nebelfeld löste sich zischend auf, und der Boden erbebte, als die Säule in die Seite der steilen Talwand krachte, auf der die feindliche Machtlenkerin – ihrer Stärke nach zu urteilen konnte es eigentlich nur eine der Verlorenen sein – die hinteren Reihen der Aiel angegriffen hatte.

Schweißüberströmt ließ Aviendha das Gewebe los. Auf dem zerklüfteten Felsen stieg eine schwelende schwarze Rauchsäule in die Höhe. Geschmolzener Stein rann den Hang hinunter. Aviendha wartete aufmerksam. Die Eine Macht in ihr begann sich auszudehnen, als wollte sie ihr entkommen. Geschah dies, weil ein Teil der von ihr benutzten Energie von Männern kam? Noch nie zuvor hatte die Eine Macht sie anscheinend vernichten wollen.

Sie bekam nur eine kurze Warnung: hektisches Machtlenken auf der anderen Talseite, gefolgt von einem gewaltigen Windstoß.

Aviendha schnitt den Wind mit einem unsichtbaren Gewebe von der Größe eines großen Baumes in der Mitte entzwei. Sie ließ einen weiteren Feuerstoß folgen, dieses Mal war er kontrollierter. Nein, sie wagte es nicht, Baalsfeuer einzusetzen. Rand hatte sie gewarnt. Das konnte die Bohrung ausdehnen und das Gefüge der Realität an einem Ort brechen, wo die Membrane bereits sehr dünn war.

Ihr Feind hatte nicht die gleichen Vorbehalte. Der nächste Angriff der Frau bestand aus einem glühend heißen Balken, der Aviendhas Kopf nur um Fingerbreite verfehlte, bevor er die Wand der Schmiede hinter ihr traf. Das Baalsfeuer schlitzte einen breiten Pfad in Felsen und Ziegel, dann brach das Gebäude mit lautem Donnern in sich zusammen.

Nicht schade drum, dachte Aviendha und warf sich zu Boden. »Verteilt euch!«, befahl sie den anderen. »Bietet kein gutes Ziel!« Sie lenkte die Macht und wühlte die Luft auf, um einen Sturm aus Staub und Trümmern vor ihnen aufzupeitschen. Dann benutzte sie ein Gewebe, um die Tatsache zu verschleiern, dass sie die Eine Macht hielt, und um sich vor ihrem Feind zu verbergen. Tief geduckt huschte sie hinter eine Deckung, eine Halde aus Schlacke und Eisenschrott, der auf die Weiterverarbeitung wartete.

Wieder schlug Baalsfeuer in den steinigen Boden, an der Stelle, wo sie eben noch gestanden hatte. Es durchbohrte den Stein so mühelos wie ein Speer eine Melone. Aviendhas Gefährten waren alle in Deckung gegangen, und sie fütterten sie weiterhin mit Kraft. So viel Macht. Das war eine Ablenkung.

Sie schätzte die Stellung des Angreifers ein. »Haltet euch bereit, mir zu folgen«, sagte sie zu den anderen, dann erschuf sie ein Wegetor zu der Stelle, wo das Gewebe begonnen hatte. »Kommt nach mir durch, aber geht sofort in Deckung!«

Mit raschelnden Röcken sprang sie durch die Öffnung und hielt die Eine Macht wie ein irgendwie eingesperrtes Gewitter. Sie landete auf einem Hang, der das Schlachtfeld überschaute. Tief unter ihr kämpften Töchter und Männer gegen Trollocs; es sah aus, als würden die Aiel eine riesige schwarze Flut eindämmen.

Aviendha nahm sich nicht mehr Zeit als für einen flüchtigen Blick. Mit einem urtümlichen Gewebe Erde stieß sie in den Boden, riss ein pferdegroßes Felsstück heraus und schleuderte es in die Luft. Der Strahl, der eine Sekunde später nach ihr stach, bohrte sich mitten in den Stein.

Baalsfeuer war ein gefährlicher Speer. Manchmal schnitt es wie ein Messer, aber wenn es ein genau umrissenes Objekt traf – zum Beispiel eine Person –, ließ es das ganze Ding aufblitzen und verschwinden. Das Baalsfeuer brannte Aviendhas Felstrümmer aus der Existenz und ließ glühenden Staub herabregnen, der sich auflöste. Hinter ihr sprangen die Männer und Frauen ihres Zirkels durch das Wegetor und gingen in Deckung.

Aviendha blieb kaum genug Zeit, die Risse zu registrieren, die sich in der Nähe im Felsen ausbreiteten. Spalten, die in einen Abgrund aus Finsternis zu führen schienen. Als der Lichtstrahl in Aviendhas Blickfeld verblasste, ließ sie eine lodernde Feuersäule los. Dieses Mal traf sie Fleisch und verbrannte eine schlanke Frau mit kupferfarbener Haut, die ein rotes Kleid trug. Zwei weitere Frauen in der Nähe fluchten und eilten fort. Aviendha setzte sofort mit einem zweiten Angriff nach.

Eine der beiden Frauen – die stärkere – erschuf ein Gewebe mit solcher Eile und Raffinesse, dass Aviendha es kaum mitbekam. Es legte sich um ihre Feuersäule und führte zu einer Explosion aus kochend heißem Dampf. Geblendet keuchte sie auf; das Feuer war gelöscht.

Der Instinkt aus zahllosen Kämpfen übernahm. Verborgen von der Dampfwolke ließ sie sich auf die Knie fallen und rollte sich zur Seite, während sie sich dabei Steine schnappte und schleuderte, um für eine Ablenkung zu sorgen.

Es funktionierte. Noch während sie Tränen fortblinzelte, schlug ein weiß glühender Strahl dort ein, wo die Wurfgeschosse aufgeprallt waren. Jene dunklen Spalten breiteten sich weiter aus.

Mit einem Gewebe Luft vertrieb Aviendha den Dampf, während ihr noch immer Tränen aus den Augen schossen und ihre Sicht behinderten. Wenigstens konnte sie gut genug sehen, um zwei schwarze Gestalten unterscheiden zu können, die in der Nähe zwischen den Felsen kauerten. Eine von ihnen wandte sich ihr zu, keuchte auf, weil sie das Angriffsgewebe erkannte, das Aviendha gerade webte – und verschwand einfach.

Es gab kein Wegetor. Die Frau schien sich einfach zusammenzufalten, und Aviendha spürte kein Machtlenken. Allerdings war da etwas anderes, ein kaum wahrnehmbares … Etwas. Ein Zittern in der Luft, das nicht völlig physisch war.

»Nein!«, stieß die zweite Frau hervor. Für Aviendhas tränenverschleierte Augen stellte sie bloß einen Schemen dar. »Nicht …«

Aviendhas Blick klärte sich gerade genug, um das Erscheinungsbild ihrer Gegnerin ausmachen zu können – ein lang gezogenes Gesicht und dunkle Haare –, während ihr Gewebe traf. Der Frau wurden die Gliedmaßen vom Körper gerissen. Ein qualmender Arm wirbelte durch die Luft und zog einen schwarzen Rauchschleier hinter sich her, bevor er in der Nähe aufschlug.

Aviendha hustete, dann ließ sie den Zirkel los. »Heilen!«, befahl sie und kam mühsam auf die Füße.

Bera Harkin erreichte sie zuerst, und ein Heilgewebe ließ sie erbeben. Sie keuchte auf, und die verbrannte Haut und die angesengten Augen waren wieder in Ordnung. Sie nickte Bera, die sie nun ganz deutlich sehen konnte, dankend zu.

Ein Stück voraus begab sich Sarene – eine Aes Sedai mit einem tropfenförmigen Gesicht und zahllosen dunklen Zöpfen – zu den Leichen, für die Aviendha verantwortlich war. Ihr Behüter Vitalien blieb dicht an ihrer Seite. Sie schüttelte den Kopf. »Duhara und Falion. Jetzt sind sie Schattenlords.«

»Es besteht ein Unterschied zwischen Schattenlords und Schwarzen Ajah?«, fragte Amys.

»Natürlich«, erwiderte Sarene ganz sachlich.

In der Nähe hielten die anderen noch immer die Eine Macht, weil sie jeden Augenblick mit einem weiteren Angriff rechneten. Aviendha hielt das für unwahrscheinlich. Sie hatte das überraschte Keuchen der geflohenen Frau und die Panik in ihrer Aktion gespürt. Und sie war die Stärkste von ihnen gewesen. Vielleicht hatte sie nicht so früh mit so starkem Widerstand gerechnet.

Sarene trat gegen einen Arm, der Falion gehört hatte. »Es wäre besser gewesen, man hätte sie gefangen nehmen und verhören können. Ich bin sicher, wir hätten die Identität der dritten Frau erfahren. Hat jemand sie erkannt?«

Alle schüttelten den Kopf. »Sie stand nicht auf der Liste der Schwarzen Ajah, die entkommen konnten«, sagte Sarene und nahm den Arm ihres Behüters. »Sie hat ein einprägsames Gesicht – wie eine Knolle und ohne jeden Reiz. Ich bin sicher, ich würde mich an sie erinnern.«

»Sie war mächtig«, sagte Aviendha. »Sehr mächtig.« Eigentlich hätte sie sie für eine der Verlorenen gehalten. Aber es war mit Sicherheit nicht Moghedien gewesen, und die Beschreibung Graendals traf ebenfalls nicht auf sie zu.

»Wir teilen uns in drei Zirkel auf«, befahl sie. »Bera übernimmt einen, ich und Amys die anderen. Ja, ich weiß, wir können jetzt Zirkel machen, die größer als dreizehn sind, aber das scheint eine Verschwendung zu sein. Um zu töten, brauche ich doch nicht so viel Macht. Eine unserer Gruppen wird die Trollocs dort unten angreifen. Die anderen beiden werden nicht die Macht lenken und sich in der Nähe verstecken und beobachten. So können wir die gegnerische Machtlenkerin zu der Annahme verleiten, wir würden noch immer einen großen Zirkel bilden, und die anderen beiden können sie dann von zwei Seiten zugleich angreifen, wenn sie sich aus ihrem Versteck wagt.«

Amys lächelte. Sie erkannte es als grundlegende Überfalltaktik der Töchter. Aviendhas Befehlen folgen zu müssen schien sie nicht besonders zu stören, nachdem jetzt der Ärger über Rands Anmaßung verflogen war. Sie kämpften, während andere Gruppen Aes Sedai und Asha’man die Wegetore geöffnet hielten, um die Heere der Domani und Tairener zu befördern.

Hier lenkten zu viele Menschen gleichzeitig die Macht. Es würde sehr schwierig werden, im Falle eines Angriffs die Position der Verlorenen herauszufinden.

»Wir müssen Reisegelände abstecken«, sagte sie. »Und genau überprüfen, wer die Macht lenkt und wo. So werden wir sofort wissen, ob etwas nicht stimmt, falls wir einen Machtlenker spüren.« Sie hob die Hand an die Stirn. »Das wird schrecklich schwer zu organisieren sein.«

Amys’ Lächeln wurde noch breiter. Du hast jetzt das Kommando, Aviendha, schien dieses Lächeln sagen zu wollen. Also kannst du auch die Kopfschmerzen ertragen, die das mit sich bringt.


Rand al’Thor, der Wiedergeborene Drache, wandte sich von Aviendha ab und überließ sie und Ituralde ihrem Kampf. Ihn erwartete ein ganz anderer.

Endlich war der Augenblick da.

Er näherte sich dem Fuß des Shayol Ghul. Weiter oben grub sich ein schwarzes Loch in das Antlitz des Berges, der einzige Weg zum Krater des Verderbens. Moiraine gesellte sich zu ihm und zog ihre Stola enger um sich, deren blaue Fransen vom Wind ergriffen wurden. »Denkt daran. Das ist nicht die Bohrung, das ist auch nicht der Kerker des Dunklen Königs. Das ist bloß der Ort, wo seine Berührung der Welt am stärksten ist. Hier hat er die Kontrolle.«

»Jetzt berührt er die ganze Welt, mal mehr und mal weniger«, erwiderte Rand.

»Und darum wird seine Berührung hier stärker sein.«

Rand nickte und legte die Hand auf den Dolch an seinem Gürtel. »Kein Machtlenken, bis wir den Dunklen König direkt angreifen können. Falls möglich, möchte ich einen Kampf wie bei der Reinigung der Quelle vermeiden. Das Kommende wird meine ganze Kraft erfordern.«

Nynaeve nickte. Sie trug ihren Schmuck aus Angrealen und Ter’angrealen über einem gelben Gewand, das viel schöner war als alle, die sie sich während ihres Lebens in den Zwei Flüssen zugestanden hatte. Ohne ihren Zopf erschien sie ihm fremd; das Haar erreichte kaum ihre Schultern. Irgendwie erschien sie älter. Aber so sollte es eigentlich nicht sein. In den Zwei Flüssen war der Zopf das Symbol von Alter und Reife. Warum sollte Nynaeve ohne ihn älter aussehen?

Thom trat an seine Seite und spähte mit zusammengekniffenen Augen zu dem Loch im Felsen hinauf. »Ich nehme mal an, ich gehe nicht mit euch rein.«

Moiraine blickte ihn mit geschürzten Lippen an.

»Jemand wird den Höhleneingang bewachen müssen, meine liebe Ehefrau«, sagte Thom. »Der Felsvorsprung da rechts neben dem Eingang bietet einen ausgezeichneten Blick auf das Schlachtfeld. Ich kann die Schlacht verfolgen und vielleicht eine gute Ballade oder auch zwei verfassen.«

Das humorvolle Funkeln in Thoms Augen ließ Rand lächeln. Da standen sie am Rand der Zeit selbst, und Thom Merrilin fand trotzdem etwas, über das es sich zu lächeln lohnte.

Über ihm wirbelten die schwarzen Wolken um den Gipfel des Shayol Ghul im Kreis. Finsternis griff nach der Sonne, bis sie beinahe völlig verschlungen war.

Rands Streitkräfte hielten inne und starrten entsetzt zum Himmel, und selbst das Schattengezücht erstarrte und knurrte. Aber als die Sonne ihrer Gefangenschaft langsam entkam, ging der verbissene Kampf in dem Tal unter ihnen weiter. Er verkündete Rands Absichten, aber der Dolch würde ihn vor den Augen des Dunklen Königs verbergen. Wenn es das Licht wollte, würden sich die Anführer des Schattens auf die Schlacht konzentrieren und annehmen, dass er ihr Ergebnis abwartete, bevor er zuschlug.

»Jetzt?«, fragte Nynaeve und sah den schmalen, steinigen Pfad zur Höhle hinauf.

Rand nickte und schritt voran. Ein Wind erhob sich und peitschte auf die vier Menschen ein, als sie in die Höhe stiegen. Rand hatte seine Kleidung mit Bedacht gewählt. Der rote Mantel mit den aufgestickten Dornenranken auf den Ärmeln und den goldenen Reihern am Kragen war eine genaue Kopie des Mantels, den Moiraine ihm in Fal Dara hatte zukommen lassen. Das weiße, an der Vorderseite mit Riemen zugeschnürte Hemd stammte aus den Zwei Flüssen. Callandor ruhte auf seinem Rücken, Lamans Schwert hing an seiner Hüfte. Es war lange her, dass er es das letzte Mal getragen hatte, aber es fühlte sich richtig an.

Der Wind stürmte auf ihn ein und drohte ihn in die Tiefe zu werfen. Er stemmte sich dagegen und erklomm den steilen Pfad; die Schmerzen in seiner Seite ließen ihn die Zähne zusammenbeißen. Zeit schien hier eine andere Bedeutung zu haben, und als er das Plateau vor der Höhle erreichte, hatte er das Gefühl, tagelang marschiert zu sein. Er drehte sich um, legte seine Hand auf den Stein des geöffneten Rachens und ließ den Blick über das Tal schweifen.

Seine dort kämpfenden Streitkräfte erschienen so zerbrechlich, so bedeutungslos. Würden sie das Tal lange genug halten können?

»Rand …« Nynaeve ergriff seinen Arm. »Vielleicht solltest du dich ausruhen.«

Er folgte ihrem Blick. Seine Wunde, die alte Wunde an seiner Seite, war wieder aufgebrochen. Blut hatte sich in seinem Stiefel gesammelt. Es war seine Seite hinuntergelaufen und dann weiter am Bein entlang, und bei jedem Schritt hinterließ er einen blutigen Abdruck.

Blut auf den Felsen …

Nynaeve schlug die Hand vor den Mund.

»Es muss geschehen, Nynaeve«, sagte er. »Du kannst es nicht aufhalten. Die Prophezeiung sagt nichts darüber aus, ob ich diesen Kampf überlebe. Ich fand das immer merkwürdig, du nicht? Warum sollte sie von Blut sprechen, aber nicht von dem, was danach kommt?« Er schüttelte den Kopf, dann zog er Callandor. »Moiraine, Nynaeve, wollt ihr mir eure Kraft leihen und euch mir in einem Zirkel anschließen?«

»Möchtet Ihr, dass eine von uns führt«, erwiderte Moiraine zögernd, »damit Ihr dieses Ding sicher benutzen könnt?«

»Mir geht es nicht um Sicherheit«, sagte Rand. »Einen Zirkel, bitte.«

Die beiden Frauen tauschten einen Blick aus. Solange er den Zirkel anführte, konnte ein anderer zuschlagen und ihm die Kontrolle entreißen. Offensichtlich gefiel keiner von ihnen die Bitte. Er war sich nicht sicher, ob er sich darüber freuen sollte, dass die beiden angefangen hatten, miteinander auszukommen – vielleicht sollte er sich lieber stattdessen sorgen, dass sie sich gegen ihn verbündeten.

Irgendwie erschien das wie ein Gedanke aus früheren Tagen. Einfacheren Tagen. Er lächelte trocken, wusste aber genau, dass dieses Lächeln nicht seine Augen erreichte. Moiraine und Nynaeve überließen ihm ihre Kraft, und er akzeptierte sie. Thom küsste Moiraine noch einmal, dann wandten sich die drei der klaffenden Felsenöffnung vor ihnen zu. Sie führte in die Tiefe des Berges und zu dem sagenumwobenen Krater, der auf dieser Welt der Behausung des Dunklen Königs noch am nächsten kam.

Von der zurückgekehrten Sonne verursachte Schatten verdunkelten den Höhleneingang. Der Wind zerrte an Rand, sein eigenes Blut wärmte seinen Fuß. Ich werde diese Höhle nicht lebend verlassen, dachte er.

Aber das kümmerte ihn nicht länger. Überleben war nicht sein Ziel. Das war es schon seit einiger Zeit nicht mehr.

Er wollte alles richtig machen. Er musste alles richtig machen. War das hier der richtige Augenblick? Hatte er gut genug geplant?

ES IST ZEIT. SOLL MAN DIESE AUFGABE IN ANGRIFF NEHMEN.

Die Stimme donnerte wie ein Erdbeben; die Worte vibrierten in Rands Körper. Sie waren so viel mehr als einfache Laute in der Luft, schienen sich von einer Seele zur anderen fortzupflanzen. Moiraine riss die Augen weit auf und keuchte.

Rand war nicht überrascht. Er hatte diese Stimme schon einmal vernommen, und ihm wurde klar, dass er sie erwartet hatte. Oder zumindest erhofft.

»Danke«, flüsterte Rand, betrat das Reich des Dunklen Königs und hinterließ dabei blutige Fußabdrücke.

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