12 Der Splitter eines Augenblicks

Birgitte rannte durch den Wald, begleitet von dreißig Aiel, die ihre Bögen bereithielten. Sie machten Geräusche, das war unvermeidlich, aber sie machten weniger Geräusche, als eigentlich möglich war. Sie sprangen auf umgestürzte Baumstämme und rannten sie ohne zu zögern entlang, oder sie fanden Steine, auf die sie treten konnten. Tief hängenden Ästen wichen sie einfach aus, duckten sich, wanden sich, schlängelten sich vorbei.

»Hier«, sagte sie gedämpft, als sie die Seite eines Hügels umrundeten. Glücklicherweise war die Höhle noch da; sie war mit Pflanzen überwuchert, ein kleiner Bach plätscherte daran vorbei. Die Aiel durchquerten ihn, und das Wasser entfernte jeden Geruch ihrer Gegenwart.

Zwei der Männer liefen weiter den Wildpfad entlang, bewegten sich nun aber viel lauter und stießen gegen jeden Zweig, der sich anbot. Birgitte gesellte sich zu denen, die sich in der Höhle verbargen. Sie war dunkel und roch nach Moder und Erde.

Hatte sie sich vor Jahrhunderten in dieser Höhle versteckt, als sie als Räuberin in diesen Wäldern gehaust hatte? Sie vermochte es nicht zu sagen. Sie erinnerte sich kaum noch an ihre früheren Leben, manchmal waren es bloß flüchtige Blicke auf die dazwischenliegenden Jahre während ihres Lebens in der Welt der Träume, bevor Moghedien sie auf unnatürliche Weise in diese Welt gebracht hatte.

Die Vorstellung flößte ihr noch immer Ekel ein. Wiedergeboren zu werden war völlig in Ordnung, ganz frisch und neu. Aber ihre Erinnerungen gewaltsam entrissen zu bekommen, ihre Persönlichkeit? Wenn sie ihre Erinnerungen an ihre Zeit in der Welt der Träume verlor, würde sie Gaidal dann völlig vergessen? Würde sie sich selbst vergessen?

Sie biss die Zähne zusammen. Das ist die Letzte Schlacht, du Närrin, dachte sie. Wen interessiert das schon?

Sie. Seit einiger Zeit verfolgte sie eine Frage. Was, wenn sie der Rauswurf aus der Welt der Träume vom Horn getrennt hatte? Sie wusste nicht, ob das überhaupt möglich war. Sie erinnerte sich nicht an genug, um das sagen zu können.

Aber falls es sich so verhielt, würde sie Gaidal für immer verlieren.

Draußen knirschten Blätter, knisterten Zweige. Es war so laut, dass sie hätte schwören können, dass dort tausend Soldaten marschierten – obwohl sie genau wusste, dass eine Faust Trollocs nur fünfzig Bestien zählte. Trotzdem waren fünfzig für ihre Gruppe eine Übermacht. Aber sie sorgte sich nicht. Auch wenn sie sich gegenüber Elayne immer beschwerte, nicht viel von der Kriegskunst zu wissen; sich mit einer Gruppe gut ausgebildeter Gefährten in einem Wald zu verstecken … das hatte sie schon öfter gemacht. Dutzende Male. Vielleicht sogar Hunderte Male, aber ihre Erinnerungen waren so verschwommen, dass sie es nicht mit Sicherheit sagen konnte.

Als die Trollocs sie so gut wie passiert hatten, sprangen sie und ihre Aiel aus der Deckung. Die Bestien waren der falschen Spur gefolgt, die die beiden Aiel-Männer früher erschaffen hatten, und Birgitte griff sie von hinten an, brachte eine Reihe von ihnen mit Pfeilen zur Strecke, bevor der Rest überhaupt reagieren konnte.

Trollocs starben nicht leicht. Oft ertrugen sie zwei oder drei Pfeile, bevor sie langsamer wurden. Aber das geschah nur, wenn man die Augen oder den Hals verfehlte. Ihr passierte das nicht. Ihr Bogen schickte ein Ungeheuer nach dem anderen zu Boden. Die Trollocs kamen hangabwärts von der Höhle, was bedeutete, dass jeder von ihnen, den sie oder die Aiel töteten, nur eine weitere Leiche war, über die die anderen hinwegsteigen mussten, um sie zu erreichen.

In wenigen Sekunden wurden fünfzig zu dreißig. Und diese dreißig stürmten den Hang hinauf. Die Hälfte der Aiel zog die Speere und begann mit dem Kampf, während Birgitte und der Rest ein paar Schritte hangabwärts sprangen und die Bestien flankierten.

Zwanzig wurden zu zehn, die zu fliehen versuchten. Trotz der Waldlandschaft boten sie leichte Ziele – auch wenn man sie zuerst in die Beine oder den Nacken treffen musste, um sie zu Boden zu schicken, damit die Speere ihnen den Rest geben konnten.

Zehn Aiel vergewisserten sich, dass die Trollocs tot waren, indem sie sie mit Speeren durchbohrten. Die anderen sammelten die Pfeile wieder ein. Birgitte zeigte auf Nichil und Ludin, zwei Aiel-Männer, und sie schlossen sich ihr an, um die Gegend zu erkunden.

Ihre Schritte kamen ihr vertraut vor, dieser Wald kam ihr vertraut vor. Nicht nur wegen der vergangenen Leben, an die sie sich nicht länger erinnern konnte. Während ihrer Jahrhunderte in der Welt der Träume hatten sie und Gaidal viele Jahre in diesem Wald verbracht. Sie erinnerte sich daran, wie er ihre Wange liebkoste. Ihren Hals.

Ich darf das nicht verlieren, dachte sie und kämpfte ihre Panik nieder. Beim Licht. Ich darf es einfach nicht. Bitte … Sie wusste nicht, was mit ihr geschah. Da war eine vage Erinnerung, irgendeine Diskussion über … worüber noch mal? Es war ihr entglitten. Menschen konnten vom Horn doch nicht entbunden werden, oder doch? Falkenflügel würde es vielleicht wissen. Sie würde ihn fragen müssen. Oder hatte sie das bereits getan?

Verflucht!

Bewegungen im Wald ließen sie erstarren. Neben einem Stein ging sie in die Hocke. Ganz in der Nähe raschelte es im Unterholz. Nichil und Ludin waren beim ersten Laut verschwunden. Beim Licht, sie waren gut. Es dauerte einen Augenblick, bis sie sie in der Nähe versteckt fand.

Sie hob einen Finger, zeigte auf sich selbst, dann zeigte sie nach vorn. Sie würde erkunden; die anderen würden sie decken.

Birgitte bewegte sich lautlos. Sie würde diesen Aiel zeigen, dass sie nicht die Einzigen waren, die wussten, wie man einer Entdeckung entging. Außerdem waren das ihre Wälder. Ein paar Wüstenleute würden ihr nicht zeigen, wo es langging.

Verstohlen bewegte sie sich vorwärts, ging verdorrten Dornbüschen aus dem Weg. Gab es von denen mehr in der letzten Zeit? Sie schienen zu den wenigen Pflanzen zu gehören, die nicht völlig abgestorben waren. Der Boden roch auf eine Weise abgestanden, wie kein Wald riechen sollte. Allerdings wurde das von dem Gestank nach Tod und Verfall überlagert. Sie kam an einer weiteren Gruppe toter Trollocs vorbei. Das Blut an ihnen war trocken. Sie waren schon ein paar Tage tot.

Elayne hatte ihren Truppen befohlen, die eigenen Toten zurückzubringen. Abertausende Trollocs krochen käfergleich durch diese Wälder. Elayne wollte, dass sie über ihre Toten stolperten, denn sie hoffte, dass es ihnen Angst einjagen würde.

Birgitte näherte sich den Geräuschen. In dem schwachen Licht sah sie große Schatten näher kommen. Trollocs, die witterten.

Die Kreaturen stöberten im Wald herum. Die Straßen mussten sie gezwungenermaßen meiden, weil ein Angriff mit Drachen tödlich sein konnte. Elaynes Plan basierte auf Gruppen, wie Birgitte eine anführte, die ständig auf die Bestien einschlugen, kleine Abteilungen von ihnen tiefer in den Wald lockten und sie dezimierten.

Leider war diese Abteilung bedeutend zu groß für ihren Stoßtrupp. Birgitte zog sich zurück, bedeutete den Aiel, ihr zu folgen, und huschte lautlos zu ihrem Lager zurück.


In der Nacht nach seinem Fehlschlag mit Lans Heer floh Rand in seine Träume.

Er suchte sein Tal des Friedens auf und erschien in einem Hain aus Kirschbäumen in voller Blüte, deren Duft schwer in der Luft lag. Dank dieser wunderschönen weißen Blüten mit der roten Mitte hatte es fast den Anschein, als würden die Bäume in Flammen stehen.

Rand trug die einfache Kleidung der Zwei Flüsse. Nach Monaten in königlicher Kleidung mit hellen Farben und weichen Stoffen waren die locker sitzende Wollhose und das Leinenhemd sehr bequem. An die Füße dachte er robuste Stiefel, wie er sie während seiner Jugend getragen hatte. Sie passten ihm auf eine Weise, wie kein neuer Stiefel, ganz egal, wie gut er auch gemacht war, es je geschafft hatte.

Alte Stiefel durfte er mittlerweile nicht mehr tragen. Gab es auch nur einen Funken Abnutzung zu sehen, ließ sie irgendein Diener stets verschwinden.

Rand stand in den Traumhügeln und machte sich einen Wanderstab. Dann stieg er nach oben in die Berge. Das Tal war kein echter Ort, jedenfalls nicht mehr. Er hatte es aus Erinnerungen und Wunschdenken erschaffen, Vertrautes mit einem Gespür für Entdeckungsreisen vermengt. Überall roch es frisch nach Blättern und Pflanzensaft. Im Unterholz huschten Tiere. Irgendwo in der Ferne kreischte ein Falke.

Lews Therin hatte gewusst, wie man solche Traumsplitter erschuf. Obwohl er kein Traumgänger gewesen war, hatten sich die meisten Aes Sedai dieses Zeitalters das Tel’aran’rhiod auf irgendeine Weise zunutze gemacht. Unter anderem hatten sie gelernt, wie man einen Traum für den Eigenbedarf abtrennte, ein Zufluchtsort innerhalb des eigenen Bewusstseins, der kontrollierter als normale Träume war. Sie hatten gelernt, während ihrer Meditation solche Fragmente zu betreten und dem Körper dabei eine Erholungspause zu verschaffen, die so wirksam wie Schlaf war.

Lews Therin hatte diese Dinge gewusst und noch viel mehr. Wie man auf den Geist eines anderen zugriff, falls dieser den Traumsplitter betrat. Wie man feststellen konnte, ob ein Fremder in seine Träume eingedrungen war. Wie man andere seinen Träumen aussetzte. Lews Therin hatte es einfach Spaß gemacht, Dinge zu wissen; er war darin wie ein Reisender gewesen, der in seinem Rucksack alles haben wollte, was sich irgendwann als nützlich erweisen konnte.

Diese Werkzeuge hatte er zwar nur selten benutzt. Er hatte sie in seinem Hinterkopf abgelegt, wo sie dann verstaubten. Hätten die Geschehnisse ein anderes Ende genommen, wenn er sich jede Nacht die Zeit genommen hätte, in einem friedlichen Tal wie dem hier umherzuwandern? Rand vermochte es nicht zu sagen. Und um der Wahrheit die Ehre zu geben, war dieses Tal auch nicht länger sicher. Er passierte eine tiefe Höhle zu seiner Linken. Er hatte sie nicht dort hingesetzt. Ein weiterer Versuch Moridins, ihn anzulocken? Er ging daran vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

Der Wald erschien nicht mehr so lebendig wie noch Augenblicke zuvor. Rand ging weiter und versuchte, dem Land seinen Willen aufzuzwingen. Aber darin hatte er sich nicht genug geübt – also nahm der Wald Grautöne an und erschien ausgewaschen.

Da war die Höhle wieder. Rand blieb an ihrem Eingang stehen. Kalte, feuchte Luft wehte ihm entgegen und ließ ihn frösteln; es roch nach Pilzen. Er warf den Wanderstab zur Seite und betrat die Höhle, webte eine Kugel aus weißblauem Licht und hängte sie neben seinen Kopf. Die Helligkeit wurde von dem feuchten Felsen reflektiert und zeigte glatte Flächen und Spalten.

Aus den Tiefen der Höhle ertönten keuchende Echos. Ihnen folgte Stöhnen. Und … Geplätscher. Rand ging weiter, obwohl ihm mittlerweile klar war, worum es sich hier handelte. Er hatte sich schon gefragt, ob sie es erneut versuchen würde.

Am Ende des Tunnels stieß er auf einen kleinen, vielleicht zehn Schritt breiten Raum, wo sich der Felsen zu einem kreisrunden Teich mit klarem Wasser absenkte. Die blauen Tiefen schienen keinen Grund zu haben.

In der Mitte kämpfte eine Frau in weißem Kleid darum, nicht unterzugehen. Der Stoff ihrer Kleidung breitete sich im Wasser aus und bildete einen Kreis. Gesicht und Haare waren nass. Während Rand zusah, keuchte sie auf und versank, schlug in dem kristallklaren Wasser um sich.

Einen Augenblick später kam sie keuchend wieder an die Oberfläche.

»Hallo, Mierin«, sagte Rand leise. Er ballte die Faust. Auf keinen Fall würde er in das Wasser springen, um sie zu retten. Das war ein Traumsplitter. Sicherlich konnte der Teich aus echtem Wasser bestehen, aber es war viel wahrscheinlicher, dass es etwas ganz anderes war.

Seine Ankunft schien ihr neuen Auftrieb zu verleihen und die wilden Bewegungen wurden effektiver. »Lews Therin«, sagte sie und wischte sich keuchend mit einer Hand das Gesicht ab.

Licht! Wo war nur seine Ausgeglichenheit geblieben? Unversehens kam er sich wieder wie ein Kind vor, wie der Junge, der Baerlon für die großartigste Stadt hielt, die je erbaut worden war. Ja, ihr Gesicht war anders, aber Gesichter spielten für ihn keine Rolle mehr. Sie war noch immer dieselbe Person.

Von allen Verlorenen hatte allein Lanfear ihren neuen Namen selbst ausgesucht. Sie hatte immer so einen gewollt.

Er erinnerte sich. Er erinnerte sich. Wie er mit ihr am Arm großartige Feste betreten hatte. Wie ihr Lachen die Musik übertönte. Ihre gemeinsamen Nächte. Er hatte sich nicht daran erinnern wollen, wie er mit einer anderen Frau geschlafen hatte, erst recht nicht mit einer der Verlorenen, aber er konnte sich nicht aussuchen, was sein Geist alles enthielt.

Die fremden Erinnerungen vermengten sich mit seinen eigenen, als er sie als Lady Selene begehrt hatte. Dumme, jugendliche Lust. Solche Regungen hatte er abgelegt, aber die Erinnerungen daran blieben.

»Du kannst mich befreien, Lews Therin«, sagte Lanfear. »Er hat Anspruch auf mich erhoben. Muss ich betteln? Er hat Anspruch auf mich erhoben!«

»Du hast dich dem Schatten verschworen, Mierin«, erwiderte Rand. »Das ist deine Belohnung. Erwartest du Mitleid von mir?«

Etwas Dunkles schoss in die Höhe und schlang sich um ihre Beine, um sie wieder in die Tiefe zu reißen. Trotz seiner Worte ertappte sich Rand dabei, wie er einen Schritt nach vorn machte, als wollte er in den Teich springen.

Er brachte sich wieder unter Kontrolle. Endlich fühlte er sich nach langem Kampf wieder wie ein ganzer Mensch. Das verlieh ihm Kraft, aber sein innerer Frieden war eine Schwäche – die Schwäche, die er immer gefürchtet hatte. Die Schwäche, die Moiraine richtigerweise in ihm erkannt hatte. Die Schwäche des Mitgefühls.

Er brauchte es. So wie ein Helm eine Öffnung brauchte, durch die man sehen konnte. Beides konnte ausgenutzt werden. Er musste sich eingestehen, dass das stimmte.

Wasser spuckend kam Lanfear wieder an die Oberfläche und sah hilflos aus. »Muss ich betteln?«, rief sie erneut.

»Ich glaube nicht, dass du so etwas kannst.«

Sie senkte den Blick. »Bitte!«, flüsterte sie.

Etwas in Rand verkrampfte sich. Um das Licht zu finden, hatte er sich durch Finsternis gekämpft. Sich selbst hatte er eine zweite Chance verschafft; sollte er das nicht auch einem anderen zugestehen?

Beim Licht! Er schwankte, erinnerte sich daran, wie es sich angefühlt hatte, die Wahre Macht zu ergreifen. Diese Qual und diese Erregung, diese Macht und dieses Entsetzen. Lanfear hatte sich dem Dunklen König ausgeliefert. Aber in gewisser Weise hatte er das auch getan.

Er blickte ihr in die Augen, forschte darin, erkannte sie. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Du bist wesentlich besser in dieser Art von Täuschung geworden, Mierin. Aber nicht gut genug.«

Ihre Miene verfinsterte sich. Im nächsten Augenblick wurde der Teich durch einen Steinboden ersetzt. Lanfear saß dort mit untergeschlagenen Beinen in ihrem silberweißen Kleid. Trug ihr neues Gesicht, war aber noch immer dieselbe.

»Also bist du zurück«, sagte sie, klang aber keineswegs völlig zufrieden. »Nun, dann bin ich nicht länger gezwungen, mich mit einem Bauernjungen auseinanderzusetzen. Das ist immerhin ein kleiner Segen.«

Rand schnaubte und betrat den Raum. Sie war noch immer gefangen – er konnte etwas Dunkles wie eine Schattenkuppel um sie herum fühlen, und er hielt sich davon fern. Der Teich und das Ertrinken waren bloß Theater gewesen. Sie war stolz, stand aber keineswegs darüber, sich schwach zu geben, wenn es die Situation erforderte. Hätte er früher Zugang zu Lews Therins Erinnerungen gehabt, hätte er sich damals in der Fäule niemals so leicht von ihr an der Nase herumführen lassen.

»Dann werde ich dich nicht als eine hilflose Frau ansprechen, die dringend einen heldenhaften Retter braucht«, sagte Lanfear und sah zu, wie er um ihren Kerker herumging. »Sondern als Gleichgestellte, die um Asyl ersucht.«

»Eine Gleichgestellte?« Rand lachte. »Seit wann betrachtest du jemanden als dir gleichgestellt?«

»Meine Gefangenschaft bedeutet dir nichts?«

»Sie schmerzt mich«, sagte er, »aber auch nicht mehr, wie mich geschmerzt hat, dass du dich dem Schatten verschworen hast. Weißt du eigentlich, dass ich dabei war, als du das enthüllt hast? Du hast mich nicht gesehen, denn ich wollte nicht gesehen werden, aber ich habe zugesehen. Beim Licht, Mierin, du hast geschworen, mich zu töten.«

»Habe ich das ernst gemeint?«, fragte sie und drehte sich um, um ihm in die Augen zu blicken.

Hatte sie? Nein, das hatte sie nicht. Jedenfalls nicht in diesem Augenblick. Lanfear tötete niemanden, den sie noch für nützlich hielt, und ihn hatte sie immer als nützlich betrachtet.

»Wir haben einmal etwas ganz Besonderes geteilt«, sagte sie. »Du warst mein …«

»Ich war dein Schmuckstück!«, fauchte Rand. Er holte tief Luft und versuchte sich zu beruhigen. Beim Licht, wie schwer das doch in ihrer Nähe fiel. »Die Vergangenheit ist erledigt. Sie ist mir egal, und ich würde dir mit Freuden eine zweite Chance für das Licht geben. Leider kenne ich dich genau. Du tust es schon wieder. Manipulierst uns, den Dunklen König eingeschlossen. Dir ist das Licht völlig egal. Du interessierst dich nur für Macht, Mierin. Erwartest du allen Ernstes von mir, zu glauben, dass du dich verändert hast?«

»Du kennst mich nicht so gut, wie du glaubst.« Sie beobachtete ihn, wie er die Grenze ihres Kerkers umrundete. »Das hast du nie.«

»Dann beweise es mir.« Rand blieb stehen. »Enthülle mir deinen Geist. Öffne ihn mir völlig. Gib mir die Kontrolle über dich, hier an diesem Ort der beherrschten Träume. Sind deine Absichten rein, befreie ich dich.«

»Um was du mich da bittest, ist verboten.«

Er lachte. »Wann hat dich das je von etwas abgehalten?«

Sie schien darüber nachzudenken; ihre Gefangenschaft schien sie tatsächlich zu beunruhigen. Einst hätte sie über einen derartigen Vorschlag bloß gelacht. Da es sich hier angeblich um einen Ort handelte, an dem er die absolute Kontrolle besaß, falls sie ihm das gestattete, konnte er sie auseinandernehmen und in die Tiefen ihres Verstandes eintauchen.

»Ich …«, sagte Lanfear.

Er machte einen Schritt nach vorn, direkt bis zum Rand ihres Kerkers. Dieses Zittern in ihrer Stimme … das erschien echt. Das erste echte Gefühl, das sie zeigte.

Beim Licht, dachte er und ließ ihren Blick nicht los. Wird sie es tatsächlich tun?

»Ich kann nicht«, sagte sie. »Ich kann nicht.« Beim zweiten Mal sagte sie es leiser.

Rand atmete aus. Seine Hand zitterte. So nahe dran. So nahe am Licht, wie eine Raubkatze in der Nacht, die vor der beleuchteten Scheune auf und ab schlich! Er verspürte Wut, mehr Wut als zuvor. Das tat sie doch jedes Mal! Mit dem zu liebäugeln, was richtig war, aber dann stets den eigenen Weg zu wählen.

»Ich bin fertig mit dir, Mierin«, sagte Rand, wandte sich ab und verließ das Gemach. »Für immer.«

»Du irrst dich in mir!«, rief sie da. »Du hast dich immer in mir geirrt! Würdest du dich jemandem auf diese Weise zeigen? Ich kann das nicht tun. Ich bin zu oft von jenen geschlagen worden, denen ich hätte vertrauen sollen. Von jenen verraten worden, die mich hätten lieben sollen.«

»Du machst mich dafür verantwortlich?« Rand fuhr auf dem Absatz herum.

Sie wich seinem Blick nicht aus. Herrisch saß sie da, als wäre ihr Gefängnis ein Thron.

»In deiner Erinnerung hat sich das wirklich so abgespielt, oder? Du glaubst, ich hätte dich für sie verraten?«

»Du hast gesagt, du liebst mich.«

»Das habe ich nie gesagt. Nie. Das konnte ich nicht. Ich wusste nicht, was Liebe ist. Ein Leben von Jahrhunderten, und ich habe es erst entdeckt, als ich ihr begegnete.« Er zögerte, dann fuhr er fort, sprach aber so leise, dass seine Stimme in der kleinen Höhle nicht einmal hallte. »Du hast dieses Gefühl wirklich nie erlebt, oder? Natürlich nicht. Wer könnte dich schon lieben? Dein Herz gehört bereits vollständig etwas anderem, nämlich der Macht, die du so sehr begehrst. Da ist kein Platz mehr für etwas anderes übrig.«

Rand ließ los.

Auf eine Weise, wie es Lews Therin selbst nie geschafft hatte. Der hatte sich an seinem Hass und seiner Verachtung festgekrallt, selbst nachdem er Ilyena kennengelernt hatte, selbst nachdem er erkannt hatte, wie Lanfear ihn benutzt hatte. Erwartest du Mitleid von mir?, hatte Rand sie gefragt.

Jetzt fühlte er nichts anderes. Mitleid für eine Frau, die nie die Liebe kennengelernt hatte, eine Frau, die sich selbst daran gehindert hatte, sie kennenzulernen. Mitleid für eine Frau, die einfach nicht dazu fähig war, eine andere Seite als die ihre zu wählen.

»Ich …«, sagte sie leise.

Rand hob die Hand, dann öffnete er sich ihr. Seine Absichten, sein Verstand, sein Ich erschienen als ein Wirbel aus Farben, Gefühlen und Macht um ihn herum.

Sie riss die Augen weit auf, als der Wirbel wie Bilder auf einer Wand vor ihr ablief. Sie sah seine Motive, was er sich ersehnte, seine Wünsche für die Menschheit. Sie sah seine Absichten. Zum Shayol Ghul zu gehen und den Dunklen König zu töten. Eine bessere Welt zurückzulassen als beim letzten Mal.

Er hatte nicht die geringste Angst, diese Dinge zu offenbaren. Er hatte die Wahre Macht berührt, also kannte der Dunkle König sein Herz. Hier fand man keine Überraschungen, zumindest nichts, das einen hätte überraschen sollen.

Lanfear war trotzdem überrascht. Ihr klappte der Kiefer herunter, als sie die Wahrheit erkannte – dass tief in seinem Inneren nicht Lews Therin sein eigentliches Wesen ausmachte. Es war der Schafhirte, den Tam großgezogen hatte. In wenigen Augenblicken rasten seine Leben vorbei, waren seine Erinnerungen und Gefühle entblößt.

Als Letztes zeigte er ihr seine Liebe für Ilyena – sie war wie ein glühender Kristall, für den man einen Platz auf einem Regal an der Wand gefunden hatte, um ihn zu bewundern. Dann seine Liebe für Min, Aviendha und Elayne. Sie wärmte wie ein brennendes Leuchtfeuer, tröstete und war voller Leidenschaft.

In dem, was er dort enthüllte, war keine Liebe für Lanfear. Nicht einmal ein Hauch davon. Aber er hatte auch Lews Therins Verachtung für sie ausgemerzt. Und so bedeutete sie ihm absolut nichts mehr.

Sie keuchte.

Das Leuchten um Rand verblasste. »Es tut mir leid«, sagte er. »Das ist mein Ernst. Ich bin fertig mit dir, Mierin. Halte bei dem kommenden Sturm deinen Kopf unten. Wenn ich diesen Kampf gewinne, musst du nicht länger um deine Seele fürchten. Dann wird es niemanden mehr geben, der dich quälen kann.«

Er wandte sich wieder von ihr ab und verließ die Höhle. Stumm blieb sie zurück.


Der Abend im Braemwald wurde vom Geruch der Lagerfeuer in ihren Erdgruben und dem leisen Stöhnen der Männer begleitet, die mit dem Schwert in der Hand in unruhigen Schlaf sanken. In der Sommerluft lag eine unnatürliche Kühle.

Perrin ging durch das Lager der Männer, die unter seinem Befehl standen. Der Kampf in diesen Wäldern war hart gewesen. Seine Leute fügten den Trollocs schwere Verluste zu, aber beim Licht, es schien stets genügend Schattengezücht zur Verfügung zu stehen, um für Ersatz zu sorgen.

Nachdem er sich darum gekümmert hatte, dass seine Leute etwas Anständiges zu essen bekommen hatten, dass die Wachen aufgestellt waren und die Männer wussten, was sie zu tun hatten, falls sie in der Nacht von einem Angriff geweckt wurden, suchte er nach den Aiel. Insbesondere nach den Weisen Frauen. Sie hatten sich fast alle entschieden, Rand bei seinem Marsch zum Shayol Ghul zu begleiten – im Augenblick warteten sie auf seinen Befehl –, aber einige von ihnen waren bei ihm geblieben, Edarra eingeschlossen.

Sie und die anderen Weisen Frauen unterstanden nicht seinem Befehl. Und doch blieben sie wie Gaul bei ihm, während ihre Artgenossen anderswohin zogen. Perrin hatte sie nicht nach dem Grund gefragt. Eigentlich war er ihm sogar egal. Sie bei sich zu haben war nützlich, und er war dankbar.

Die Aiel ließen ihn ihre Lagergrenze passieren. Er fand Edarra an einem Feuer sitzen, das sorgfältig mit Steinen umgeben war, damit kein zufälliger Funken entkommen konnte. So trocken, wie diese Wälder waren, würden sie schneller brennen als eine mit der Heuernte gefüllte Scheune.

Sie schaute Perrin an, als er sich neben sie setzte. Die Aiel sah jung aus, roch aber nach Geduld, Neugier und Kontrolle. Weisheit. Sie fragte nicht, was Perrin von ihr wollte. Sie wartete darauf, dass er das Wort ergriff.

»Seid Ihr eine Traumgängerin?«, fragte Perrin.

Sie musterte ihn in der Dunkelheit der Nacht und vermittelte ihm den deutlichen Eindruck, dass das keine Frage war, die ein Mann – oder gar ein Außenseiter – stellen durfte.

Daher überraschte es ihn, als sie antwortete.

»Nein.«

»Wisst Ihr viel darüber?«

»Ein bisschen.«

»Ich muss eine Möglichkeit finden, um die Welt der Träume leibhaftig betreten zu können. Nicht nur im Schlaf im Traum, sondern mit meinem richtigen Körper. Habt Ihr schon von so etwas gehört?«

Sie atmete scharf ein. »Denkt nicht einmal daran, Perrin Aybara. Das ist eine böse Sache.«

Perrin runzelte die Stirn. Im Wolfstraum – in Tel’aran’rhiod – war Kraft eine komplizierte Angelegenheit. Je stärker er sich im Traum manifestierte, je solider er dort war, umso leichter fiel es ihm, die Dinge dort zu ändern und diese Welt zu manipulieren.

Allerdings barg das ein Risiko. Trat er zu energisch in den Traum ein, riskierte er, sich für immer von seinem in der realen Welt schlafenden Körper abzuschneiden.

Der Schlächter schien sich daran nicht zu stören. Er war dort stark, so unendlich stark; der Mann hielt sich mit seinem Körper im Traum auf. Perrin war zusehends davon überzeugt.

Unser Wettstreit endet nicht, bevor du die Beute bist, Schlächter. Wolfsjäger, dachte er. Ich werde dir ein Ende bereiten.

»Ihr seid in vielerlei Weise noch immer ein Kind«, murmelte Edarra, ohne ihn aus den Augen zu lassen, »obwohl Ihr so viel Ehre errungen habt.« Perrin hatte sich daran gewöhnt, dass ihn Frauen, die nicht einmal ein oder zwei Jahre älter als er waren, auf diese Weise ansprachen. Auch wenn ihm das nicht gerade gefiel. »Keine Traumgängerin wird Euch das beibringen. Es ist böse.«

»Warum?«

»Die Welt der Träume im Fleisch zu betreten kostet Euch einen Teil dessen, was Eure Menschlichkeit ausmacht. Solltet Ihr außerdem im Fleisch an diesem Ort sterben, sterbt Ihr für alle Ewigkeit. Keine Wiedergeburt mehr, Perrin Aybara. Euer Faden im Muster könnte für alle Ewigkeit enden, Ihr selbst wärt vernichtet. Das ist nichts, das Ihr in Betracht ziehen solltet.«

»Die Diener des Schattens tun das«, erwiderte Perrin. »Sie gehen dieses Risiko ein, um zu dominieren. Wollen wir sie aufhalten, müssen wir das gleiche Risiko eingehen.«

Edarra zischte leise und schüttelte den Kopf. »Schneidet Euch nicht den Fuß ab, weil Ihr befürchtet, die Schlange könnte Euch beißen, Perrin Aybara. Macht keinen schrecklichen Fehler, weil Ihr etwas fürchtet, das noch schlimmer erscheint. Das ist alles, was ich zu diesem Thema zu sagen habe.«

Sie stand auf und ließ ihn am Feuer zurück.

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