29 Der Verlust eines Hügels

Konzentriert euch auf die Blassen!«, rief Egwene und schickte den Trollocs, die den Hügel erklommen, einen Luftstoß entgegen. Das Schattengezücht hatte eine gewaltige Bresche in die Reihen der Pikenmänner geschlagen, die den Hügel verteidigten, und strömte nun hindurch. Mittlerweile daran gewöhnt, Machtlenker anzugreifen, hatten die Kreaturen ihre Scheu davor verloren. Das gab Egwene einen guten Blick auf die Faust und den Myrddraal, der sich genau in der Mitte verbarg. Er trug einen braunen Mantel über der üblichen Kleidung und hielt einen Trolloc-Haken.

Kein Wunder, dass ich ihn lange nicht entdeckt habe, dachte Egwene und vernichtete das Geschöpf mit einem Gewebe Feuer. Der Halbmensch zuckte kreischend in den Flammen, das augenlose Gesicht dem Himmel zugewandt. Die Faust Trollocs stürzte ebenfalls.

Zufrieden lächelte Egwene, aber ihre Befriedigung war nicht von langer Dauer. Ihren Bogenschützen gingen die Pfeile aus, die Pikenreihen waren mitgenommen, und einige Aes Sedai waren offensichtlich erschöpft. Eine neue Welle Trollocs ersetzte jene, die sie eben vernichtet hatte. Überstehen wir noch so einen Tag?, fragte sie sich unwillkürlich.

Unvermittelt brach ein Banner Lanzenreiter aus der linken Flanke von Brynes Heer, das am Fluss kämpfte. Sie führten die Flamme von Tar Valon – das musste die Einheit schwere Kavallerie sein, auf die Bryne so stolz war. Er hatte sie unter dem Kommando von Hauptmann Joni Shagrin aus erfahrenen Veteranen sämtlicher Kavallerieeinheiten anderer Länder und den Soldaten der Burgwache, die sich dieser Elitestreitmacht anschließen wollten, zusammengestellt.

Die Lanzenreiter umgingen die Sharaner in vollem Galopp und hielten auf Egwenes Hügel zu, direkt auf die Rückseite der Trollocs, die ihre Position angriffen. Gleich dahinter folgte eine zweite Kavallerieeinheit im Staub der ersten; sie führte das dunkelgrüne Banner von Illian. Anscheinend schickte der General den Aes Sedai endlich Hilfe.

Aber … Moment mal. Egwene runzelte die Stirn. Von ihrer Position aus konnte sie deutlich erkennen, dass die ganze linke Flanke des Hauptheeres jetzt völlig ungeschützt war. Was tut er da? Eine Falle für die Sharaner?

Falls eine Falle geplant gewesen war, schlug sie nicht zu. Stattdessen stürmte eine sharanische Kavallerieeinheit in Brynes entblößte linke Flanke und fing an, den Soldaten, die diese Position am Fluss verteidigten, schwere Verluste zuzufügen. Und dann entdeckte Egwene auf dem Feld unter ihr eine andere Truppenbewegung, die sie wirklich entsetzte – von der rechten Flanke des Feindes hatte sich eine noch größere Kavallerieeinheit gelöst und hielt auf die Lanzenreiter zu, die ihr zu Hilfe kamen.

»Gawyn, sagt diesen Lanzenreitern Bescheid – es ist eine Falle!«

Aber es war zu spät. Nach wenigen Augenblicken machte sich die sharanische Kavallerie daran, die Reiter der Weißen Burg rücklings abzuschlachten. Gleichzeitig hatten sich die hinteren Reihen der Trollocs gedreht, um sich dem Kavallerieangriff zu stellen. Egwene konnte genau sehen, dass diese Tiermenschen alle lange Stangenwaffen trugen, die Leiber von Mensch und Pferd durchbohrten. Die vorderen Reihen der Lanzenreiter gingen in einem blutigen Haufen zu Boden, und die Trollocs strömten über die Toten, um die dahinter befindlichen Kavalleristen von ihren Reittieren zu zerren und niederzumachen.

Egwene brüllte, zog so viel von der Einen Macht in sich, wie sie konnte, und versuchte, diese Trolloc-Streitmacht zu vernichten – und die anderen Frauen schlossen sich ihr an. Es war ein Massaker auf beiden Seiten. Es gab einfach zu viele Trollocs, und die Lanzenreiter waren ungeschützt. In wenigen Minuten war es vorbei. Nur ein paar Kavalleristen hatten überlebt, und Egwene sah, wie sie, so schnell sie konnten, in Richtung Fluss ritten.

Das hatte sie erschüttert. Manchmal schienen sich die Heere mit der behäbigen Geschwindigkeit von Schiffen in einem Dock zu bewegen – und dann brach alles los, und ganze Banner wurden vernichtet.

Sie nahm den Blick von den Leichen am Boden. Die Positionen der Aes Sedai auf dem Hügel waren bloßgestellt und nicht länger zu halten. Als die Trollocs ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Streitmacht richteten, gab Egwene den Befehl, Wegetore zu weben. Sie ließ die Pikenmänner sich nach oben durch die Tore zurückziehen, während die Bogenschützen den Beschuss auf die Kreaturen fortsetzten. Dann ließen sie und die letzten Aes Sedai lange genug Zerstörung auf die Ungeheuer herabregnen, damit die Bogenschützen die Tore erreichten.

Bevor sie durch das letzte Tor auf ihrem Hügel verschwand, warf sie noch einen Blick auf das Schlachtfeld. Was war hier gerade passiert? Sie schüttelte den Kopf, als Gawyn treu wie immer an ihre Seite trat. In diesem Kampf hatte er keine Gelegenheit gehabt, das Schwert zu ziehen. Genauso wenig wie Leilwin; die beiden schienen einen kleinen törichten Wettstreit laufen zu haben, wer an Egwenes Seite der bessere Leibwächter war. Sie fand das ärgerlich, aber es war besser als Gawyns mürrisches Bedauern bei den vorherigen Kämpfen.

Aber er sah blass aus. Als würde er krank. Hatte er genug Schlaf mitbekommen?

»Begleitet mich ins Lager zu General Bryne«, sagte Egwene. »Ich will wissen, warum das passieren konnte. Und dann gehe ich zu unseren Truppen, die die Furt verteidigen, und räche unsere Leute, die dort ihr Leben verloren haben.«

Beide bedachten sie mit einem Stirnrunzeln.

»Egwene …«, sagte Gawyn.

»Ich habe noch genug Kraft«, erwiderte sie. »Das Sa’angreal habe ich benutzt, um mich nicht zu sehr verausgaben zu müssen. Die Männer, die dort in diesem Abschnitt kämpfen, müssen mich sehen, und ich muss dort hingehen, wo ich am meisten bewirken kann. Ich werde so viele Leibwächter mitnehmen, wie ihr für richtig haltet.«

Gawyn zögerte, warf Leilwin einen Blick zu und nickte dann.


Lan stieg vom Pferd und reichte Andere die Zügel, dann eilte er an den Wachen vorbei zum Befehlszelt. Die Anwesenden schienen überrascht zu sein, ihn und seine Leibwächter, von denen viele blutverschmiert waren, zu sehen. Das Zelt war kaum mehr als ein Unterstand, der nach allen Seiten offen war. Soldaten eilten hinein und hinaus wie Ameisen in ihren Hügel. In Shienar herrschte große Hitze. Von den anderen Fronten hatte Lan in letzter Zeit keine Berichte erhalten, aber er hatte gehört, dass er heute nicht der Einzige war, der verzweifelt war. Elayne kämpfte vor Cairhien; die Amyrlin an der Grenze zu Arafel.

Mochte das Licht dafür sorgen, dass sie besser vorankamen als er. Im Zelt hatte Agelmar überall um sich herum Karten auf dem Boden ausgebreitet und zeigte mit einem dünnen Stab darauf und schob kleine farbige Steine hin und her, während er seine Befehle gab. Die besten Schlachtpläne waren in dem Augenblick hinfällig, in dem die erste Klinge gezogen wurde, aber ein guter General konnte Schlachten formen wie ein Töpfer seinen Lehm, erkannte die natürlichen Bewegungen seiner Soldaten und setzte sie dementsprechend ein.

»Lord Mandragoran?«, fragte Agelmar und schaute auf. »Licht, Mann! Ihr seht aus wie die Fäule. Wart Ihr schon zum Heilen bei einer Aes Sedai?«

»Mir geht es gut«, erwiderte Lan. »Wie verläuft unsere Schlacht?«

»Ich bin zuversichtlich. Falls wir eine Möglichkeit finden, diese Schattenlords ein oder zwei Stunden aufzuhalten, dann haben wir wahrhaftig eine Chance, die Trollocs zurückzuschlagen.«

»Sicherlich nicht«, erwiderte Lan. »Es sind zu viele.«

»Es geht hier nicht um Zahlen«, behauptete Agelmar, winkte Lan zu sich und zeigte auf eine Karte. »Lan, da gibt es etwas, das nur wenige Männer wirklich begreifen. Heere können oft scheitern, obwohl sie von überlegener Zahl sind, auf dem Feld Vorteile haben und ihre Aussichten auf einen Sieg überragend sind.

Als Feldherr fängt man irgendwann an, sich ein Heer als Gestalt vorzustellen. Eine riesige Bestie mit Tausenden Gliedmaßen. Das ist ein Fehler. Jedes Heer setzt sich aus Männern zusammen – oder in diesem Fall Trollocs –, von denen jeder im Feld steht und Angst hat. Beim Soldatentum geht es darum, seine Angst im Zaum zu behalten. Das Tier in einem will einfach nur entkommen.«

Lan ging in die Hocke und betrachtete die Schlachtpläne. Größtenteils stellte sich die Situation so dar, wie er sie gesehen hatte, allerdings hatte Agelmar die leichte saldaeanische Kavallerie auf der Karte noch immer an der Ostflanke. Ein Fehler? Lan hatte sich selbst davon überzeugt, dass sie sich nicht länger dort befand. Hätten Läufer Agelmar nicht längst die Botschaft überbringen müssen, dass die Karte nicht mehr stimmte? Oder lenkte er sie irgendwie davon ab, es zu bemerken?

»Lan, heute zeige ich Euch etwas«, sagte Agelmar leise. »Ich zeige Euch, was der geringste Mann auf dem Kasernenhof lernen muss, wenn er überleben will. Man kann den überlegenen Feind brechen, wenn man ihn davon überzeugen kann, dass er sterben wird. Schlagt ihn fest genug, und er wird die Flucht ergreifen und nicht zurückkehren, um erneut getroffen zu werden – selbst wenn man insgeheim zu schwach ist, um ihn noch einmal zu schlagen.«

»Das ist also Euer Plan?«, fragte Lan. »Heute?«

»Die Trollocs werden nachgeben, wenn wir ihnen unsere Überlegenheit auf eine Weise vor Augen führen, die ihnen Angst einjagt. Ich weiß, dass es funktionieren kann. Ich hoffe, dass wir die Anführer dieser Schattenlords zur Strecke bringen können. Wenn die Trollocs überzeugt sind, dass sie verlieren, laufen sie davon. Es sind feige Bestien.«

Agelmars Worte klangen einleuchtend. Vielleicht sah Lan ja nicht das Gesamtbild. Vielleicht überstieg das Genie des Großen Hauptmanns die Vorstellungskraft geringerer Männer. War es richtig von ihm gewesen, den Befehl, die Bogenschützen zu verlegen, zu widerrufen?

Der Bote, den er losgeschickt hatte, kam zurück zum Befehlsstand galoppiert. Einer von Lans Hohen Gardisten begleitete ihn; der Mann hielt sich den Arm, in dem ein Pfeil mit schwarzer Befriedung steckte. »Eine riesige Streitmacht Schattengezücht!«, verkündete der Bote. »Sie kommt aus dem Osten! Dai Shan, Ihr hattet recht!«

Sie wussten, dass sie diesen Weg nehmen müssen, dachte Lan. Sie können unmöglich einfach bemerkt haben, dass wir uns dort eine Blöße geben, nicht, wo dieser Hügel ihre Sicht versperrt. Das geschah zu schnell. Man muss es dem Schatten gesagt haben, oder er wusste, womit er rechnen muss. Er blickte Agelmar an.

»Unmöglich!«, rief Agelmar. »Was hat das zu bedeuten? Warum haben die Kundschafter das nicht bemerkt?«

»Lord Agelmar«, erwiderte einer seiner Befehlshaber. »Ihr habt die Späher im Osten zurückgeschickt, um den Fluss zu erkunden, erinnert Ihr Euch nicht? Sie sollten für uns die Stelle für den Übergang überprüfen. Ihr sagtet, die Bogenschützen würden …« Der Mann wurde blass. »Die Bogenschützen!«

»Die Bogenschützen sind noch auf ihrem Posten«, sagte Lan und erhob sich. »Ich will, dass die Frontlinien sich zurückziehen. Zieht die Saldaeaner vom Kampf ab; sie sollen sich bereithalten, den Fußsoldaten dabei zu helfen, sich vom Kampfgeschehen zu lösen. Zieht die Asha’man zurück. Wir brauchen Wegetore.«

»Lord Mandragoran«, sagte Agelmar. »Diese neue Entwicklung können wir uns zunutze machen. Wenn wir uns auseinanderziehen und sie dann zwischen uns zerschmettern, können wir …«

»Ihr seid von Euren Pflichten entbunden, Lord Agelmar«, sagte Lan, ohne den Mann anzusehen. »Und leider muss ich darauf bestehen, dass Ihr unter Bewachung steht, bis ich herausgefunden habe, was passiert ist.«

Im Befehlszelt wurde es ganz still, als sich jeder Bote, Helfer und Offizier Lan zuwandte.

»Also wirklich, Lan«, protestierte Agelmar. »Das klingt ja beinahe so, als ließet Ihr mich verhaften.«

»Das tue ich auch«, sagte Lan und gab den Hohen Gardisten einen Wink. Sie betraten das Zelt und nahmen Aufstellung, damit niemand entkommen konnte. Einige von Agelmars Männern griffen nach den Waffen, aber die meisten wirkten bloß verwirrt und legten nur die Hände auf die Schwertgriffe.

»Das ist ungeheuerlich!«, rief Agelmar. »Seid kein Narr. Das ist nicht der Augenblick …«

»Was soll ich Eurer Meinung nach tun?«, brüllte Lan. »Euch diese Armee in Grund und Boden führen lassen? Uns dem Schatten ausliefern? Warum tut Ihr das? Warum?«

»Eure Vorgehensweise ist übertrieben«, erwiderte der Lord und beherrschte sich mit offensichtlicher Anstrengung. »Was denkt Ihr Euch nur dabei? Licht!«

»Warum habt Ihr die Bogenschützen von den östlichen Hügeln abgezogen?«

»Weil ich sie andernorts brauchte!«

»Und das ergibt einen Sinn?«, verlangte Lan zu wissen. »Habt Ihr mir nicht gesagt, dass es von entscheidender Bedeutung ist, diese Flanke zu beschützen?«

»Ich …«

»Ihr habt auch die Kundschafter von dieser Position abgezogen. Warum?«

»Sie … Ich …« Agelmar hob die Hand an die Stirn und sah verwirrt aus. Er schaute auf den Schlachtplan am Boden, und seine Augen weiteten sich.

»Was stimmt mit Euch nicht, Agelmar?«, fragte Lan drängend.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte der Mann. Er blinzelte, starrte die Karte zu seinen Füßen an. Dann zeichnete sich Entsetzen auf seinen Zügen ab; er riss die Augen auf, öffnete den Mund. »O Licht! Was habe ich getan?«

»Gebt meine Befehle weiter!«, sagte Lan zu seiner Hohen Garde. »Bringt Lord Baldhere ins Befehlszelt. Und Königin Ethenielle und König Easar.«

»Lan, bringt unbedingt die …« Agelmar verstummte. »Licht! Ich kann es nicht aussprechen. Ich denke an das, was zu tun ist, und dann kommen in meinem Kopf die falschen Gedanken! Ich versuche noch immer, uns zu sabotieren. Ich habe uns zum Untergang verurteilt.« Er riss das Kurzschwert aus der Scheide.

Lan packte das Schwert an der Parierstange und verhinderte, dass Agelmar es sich in den Leib stieß und sein Leben beendete. Blut rann von Lans Fingern, wo er die scharfe Kante der Klinge direkt unterhalb der Stange berührt hatte.

»Lasst mich in Ehre sterben«, sagte Agelmar. »Ich … habe uns alle vernichtet. Ich habe uns den Sieg und den Krieg gekostet, Lan.«

»Nicht den Krieg, nur eine Schlacht«, erwiderte Lan. »Mit Euch stimmt etwas nicht. Eine Krankheit, eine Erschöpfung oder ein Angriff des Schattens. Ich vermute, jemand hat Euren Verstand getrübt.«

»Aber …«

»Ihr seid ein Soldat!«, fuhr Lan ihn an. »Benehmt Euch wie einer!«

Agelmar erstarrte. Er erwiderte Lans Blick und nickte knapp. Lan nahm die Finger von der Klinge, und Agelmar schob sie zurück in ihre Scheide. Dann setzte sich der Große Hauptmann mit untergeschlagenen Beinen auf den Boden und nahm die traditionelle shienarische Meditationshaltung ein, schloss die Augen.

Lan wandte sich ab und rief Befehle. Prinz Kaisel kam angelaufen; er war offensichtlich ängstlich. »Was geschieht hier, Lord Mandragoran?«

»Vermutlich ein Gewebe namens Zwang«, sagte Lan. »Wir waren wie Kaninchen in einer Falle, und die Schlinge wurde langsam, aber fest um unseren Hals zugezogen. Jemand soll mir bitte sagen, dass die Asha’man noch genügend Kraft für Wegetore haben! Und bringt mir Nachricht von der Ostflanke! Diese Bogenschützen werden Unterstützung brauchen. Der Rest unserer Reserven soll sie beschützen.«

Prinz Kaisel wich zurück, als die Befehle erfolgten. Seine Augen waren weit aufgerissen, seine Hand lag auf dem Schwert. Er sah Lord Agelmars bleiches Gesicht an. »Haben wir wirklich verloren?«, fragte er Lan, sobald die Befehle erteilt worden waren und die Boten loseilten, um sie zu überbringen.

»Ja«, sagte Lan. »Das haben wir.«

»Lan!«, sagte Agelmar unvermittelt und öffnete die Augen.

Lan wandte sich ihm zu.

»Königin Tenobia«, sagte der Lord. »Ich habe sie in Gefahr gebracht, ohne zu wissen, was ich da tat. Wer auch immer diese Pläne in meinen Kopf gepflanzt hat, wollte sie tot sehen!«

Mit einem leisen Fluch rannte Lan aus dem Lager und den nächsten Hügel hinauf. Die Kundschafter machten ihm Platz, als er den Kamm erreichte und das Fernrohr vom Gürtel riss. Er brauchte es nicht. Er entdeckte das Banner der Königin auch so auf dem Schlachtfeld.

Sie war umzingelt. Mit welcher Unterstützung sie auch immer gerechnet hatte, sie war nicht eingetroffen. Lan öffnete den Mund, um Befehle zu geben, aber sie erstarben auf seinen Lippen, als die Trollocs das kleine weiße und silberne Banner überrannten, unter dem sie gekämpft hatte. Sie fiel, und Sekunden später konnte er auf diesem Teil des Schlachtfelds keinen lebenden Soldaten mehr entdecken.

In seinem Inneren herrschte nur noch Kälte. Er konnte nichts für Tenobia tun. Hier ging es nicht länger darum, einzelne Personen zu retten.

Er konnte sich glücklich schätzen, wenn er an diesem Tag mit etwas entkam, das noch entfernte Ähnlichkeit mit einem Heer hatte.


Mat ritt mit Tuon nach Süden dem Schlachtfeld entgegen, am Ufer des Flusses entlang, der die Westgrenze von Arafel bildete.

Wo Tuon hinging, da ging natürlich auch Selucia hin. Und jetzt Min; Tuon wollte ihre neue Unheilseherin ständig an ihrer Seite haben. Die Kaiserin fragte ununterbrochen nach Visionen, und Min erklärte zögernd, was sie alles sah.

Mat hatte versucht, sie zu der Erklärung zu verleiten, sie sähe einen Hut um seinen Kopf kreisen. Dann hörte Tuon bestimmt endlich mit ihren Bemühungen auf, seinen Hut loszuwerden, oder nicht? Auf jeden Fall wäre es besser gewesen, als Min den Zeiger einer Waage und den Dolch und die verfluchten anderen Dinge erklären zu lassen, die sie um ihn herum gesehen hatte.

Wo Tuon hinging, da gingen auch hundert Totenwächter hin. Und Galgan und Courtani, die sich gerügt fühlten, weil sie Mat nicht schnell genug geholfen hatten. Furyk Karede war auch da, denn er führte die Totenwache an. In Karedes Nähe zu sein war ungefähr so angenehm, wie die Finger eines Mannes in seinem Geldbeutel zu finden, aber er war ein guter Soldat, und Mat respektierte ihn. Zu gern hätte er ihn und Lan in einem Blickwettstreit gegeneinander antreten lassen. Das hätte die beiden jahrelang beschäftigt.

»Ich brauche einen besseren Aussichtspunkt«, sagte Mat und betrachtete das Schlachtfeld, als sie in Reichweite kamen. »Da.«

Er wendete Pips und ritt auf einen Hügel zu, der sich in der Nähe jener Stelle befand, an der die gegnerischen Streitkräfte an der Furt Zerstörung austauschten. Tuon folgte ihm wortlos. Als sie alle den Hügel erreicht hatten, fiel Mat auf, dass Selucia ihn mit Blicken zu erdolchen schien.

»Was ist?«, fragte er. »Ich dachte, es würde Euch freuen, mich zurückzuhaben. Jetzt könnt Ihr wieder jemanden böse anstarren.«

»Die Kaiserin wird Euch überallhin folgen, wo Ihr hingeht«, antwortete sie.

»Das wird sie«, entgegnete Mat. »So wie ich ihr überallhin folge. Vermutlich. Ich hoffe, das führt uns nicht zu oft im Kreis.« Er betrachtete die Kämpfe.

Der Fluss war nicht besonders breit – vielleicht hundert Schritte –, aber er floss schnell und war auf beiden Seiten der Furt ziemlich tief. Das Wasser bildete eine hübsche Barriere, und das nicht nur für die Trollocs. Allerdings bot die Furt einen bequemen Übergang – hier war das Wasser bestenfalls knietief und breit genug, dass zumindest zwanzig Reiter nebeneinander zur gleichen Zeit übersetzen konnten.

In der Ferne saß inmitten des sharanischen Heeres ein Mann auf einem makellos weißen Pferd. Ohne sein Fernrohr konnte Mat ihn kaum ausmachen; er trug eine funkelnde Rüstung, wie sie Mat noch nie zuvor gesehen hatte, auch wenn die Entfernung es erschwerte, Einzelheiten zu erkennen. »Ich nehme an, das ist unser Verlorener?«, fragte er und deutete mit dem Ashandarei in seine Richtung.

»Anscheinend ruft er den Wiedergeborenen Drachen«, sagte Galgan. Genau in diesem Augenblick hallte Demandreds Stimme verstärkt von der Einen Macht über das Schlachtfeld. Er verlangte, dass ihm der Drache in einem Duell gegenübertrat.

Mat sah sich den Kerl durch sein Fernrohr an. »Demandred, was? Ist er nicht mehr ganz richtig im Kopf, oder wie sehe ich das?« Nun, auf jeden Fall wusste Mat jetzt, von welchem Teil des Schlachtfelds er sich verdammt noch mal fernhalten musste. Er hatte sich nicht in die Soldatenrolle eintragen lassen, um gegen Verlorene zu kämpfen. Soweit er sich erinnerte, hatte er sich überhaupt nicht eintragen lassen. Er war verflucht noch mal jeden Schritt genötigt worden. Für gewöhnlich mit viel Druck und immer von der einen oder anderen dummen Frau.

Egwene konnte sich mit Demandred herumschlagen, vielleicht auch die Asha’man. Rand hatte behauptet, dass die Asha’man nicht länger verrückt wurden, aber das war ein lahmes Versprechen. Soweit es ihn betraf, war jeder Mann, der die Eine Macht lenken wollte, von vornherein verrückt. Sie noch verrückter zu machen war so, als würde man noch mehr Tee in eine bereits gefüllte Tasse schütten.

Zumindest beschäftigten Tuons Damane diese sharanischen Machtlenker. Ihre Auseinandersetzung hatte das Ufer auf beiden Seiten umgepflügt. Aber es war unmöglich, sich ein klares Bild von den Ereignissen dort zu machen. Es herrschte einfach zu viel Verwirrung.

Mat führte das Fernrohr wieder in südlicher Richtung am Fluss entlang und runzelte die Stirn. Nur wenige Hundert Schritte von der Furt entfernt stand ein Militärlager aufgebaut, aber nicht die zufällige Ansammlung von Zelten erregte seine Aufmerksamkeit. Am Ostrand dieses Lagers befand sich eine große Menge Soldaten und ihre Pferde, die einfach dort herumstanden. Vor der Formation konnte er eine Gestalt auf und ab gehen sehen, die offensichtlich schlechte Laune hatte. Mat mochte ein Auge fehlen, aber es war nicht allzu schwer, Tylee zu erkennen.

Mat senkte das Fernrohr. Er rieb sich das Kinn, rückte den Hut zurecht und legte sich den Ashandarei auf die Schulter. »Gebt mir fünf Minuten«, sagte er und trieb Pips zum Galopp den Hügel hinunter an. Er hoffte, dass Tuon ihn in Frieden ließ. Und das tat sie auch dieses eine Mal, obwohl … als er den Fuß des Hügels erreichte, konnte er sich vorstellen, wie sie ihn mit ihrem neugierigen Ausdruck in den Augen beobachtete. Was er auch tat, sie schien es interessant zu finden.

Mat galoppierte am Fluss entlang zu Tylees Stellung. Explosionen schmerzten in seinen Ohren und machten deutlich, dass er sich dem Herz der Schlacht näherte.

Er lenkte Pips nach links und ritt direkt zu der auf und ab gehenden Generalin. »Tylee, Ihr vom Licht geblendete Närrin! Warum sitzt Ihr hier herum, statt Euch nützlich zu machen?«

»Hoheit«, sagte Tylee und fiel auf die Knie, »man befahl uns, hier zu warten, bis man uns holt.«

»Wer befahl Euch das? Und steht auf.«

»General Bryne, Hoheit«, sagte sie und erhob sich wieder. Die Wut in ihrem Tonfall blieb ihm nicht verborgen, aber ihre Miene zeigte keinerlei Regung. »Er sagte, wir seien nur eine Reservetruppe und dass wir unter gar keinen Umständen hier wegreiten sollten, bevor er den Befehl dazu gibt. Er sagte, dass viele Leben davon abhängen. Aber Ihr könnt es ja selbst sehen«, sagte sie und zeigte zum Fluss, »die Schlacht verläuft nicht gut.«

Mat hatte sich viel zu sehr auf Tylee konzentriert, um zu sehen, was auf der anderen Seite des Wassers vor sich ging, aber jetzt ließ er den Blick seines einen Auges über das Feld schweifen.

Während sich die Damane noch immer gegen die gegnerischen Machtlenker behaupten konnten, befanden sich die regulären Truppen in einer schlimmen Lage. Flussabwärts war die Verteidigung an Brynes linker Flanke völlig zusammengebrochen, und die Soldaten wurden von den Sharanern niedergemacht.

Wo steckte die Kavallerie? Sie sollte die Flanken beschützen. Und genau wie Mat vorhergesagt hatte, waren die sharanischen Bogenschützen vorgerückt und beschossen Brynes Kavallerie auf der rechten Flanke. Es war, als würde man einen Pickel ausdrücken wollen, und Brynes Truppen waren der Pickel, der bald platzen würde.

»Das ergibt doch alles verflucht noch mal keinen Sinn«, knurrte Mat. »Er macht daraus eine immer größere Katastrophe. Wo ist der General jetzt, Tylee?«

»Das kann ich nicht sagen, Hoheit. Ich lasse nach ihm suchen, aber bis jetzt bekam ich noch keine Rückmeldung. Aber ich habe Berichte erhalten, dass unsere Seite südlich von hier einen schweren Rückschlag erhielt. Direkt unterhalb der Hügel an der Grenze sind zwei von General Brynes Kavallerieeinheiten ausgelöscht worden. Angeblich hat man sie dorthin geschickt, damit sie die Marath’Damane auf den Hügeln entsetzen.«

»Blut und verdammte Asche.« Mat dachte über das Gehörte nach. »Also gut, Tylee, wir können hier nicht länger herumstehen und warten. Wir tun jetzt Folgendes. Bannergeneral Makoti soll mit dem Zweiten Banner direkt in der Mitte vorrücken. Er muss sich seinen Weg um unsere dort kämpfenden Truppen herum freikämpfen und diese Sharaner zurückdrängen. Ihr nehmt das Dritte Banner und schwenkt herum zur rechten Flanke; schaltet diese Bogenschützen und jeden anderen Ziegenküsser aus, der Euch im Weg steht. Ich führe das Erste Banner zur linken Flanke herüber und flicke diese Verteidigung. Bewegt Euch, Tylee!«

»Ja, Hoheit. Aber sicherlich wollt Ihr doch nicht so nahe ans Kampfgeschehen heran?«

»Doch, das werde ich. Und jetzt bewegt Euch, Tylee!«

»Bitte, darf ich demütig einen Vorschlag machen, Hoheit? Ihr seid ungeschützt; lasst mich Euch wenigstens eine vernünftige Rüstung besorgen.«

Mat dachte einen Augenblick lang nach, dann musste er zugestehen, dass ihr Vorschlag vernünftig war. Da dort draußen überall Pfeile herumschwirren und mit Schwertern herumgefuchtelt wird, könnte jemand verletzt werden. Tylee rief einen ihrer Senioroffiziere heran, der ungefähr die gleiche Größe wie Mat hatte. Sie ließ den Mann die Rüstung ausziehen, die außerordentlich farbig war. Sich überlappende Platten waren grün, golden und rot lackiert und an den Rändern silbern bemalt. Der Offizier blinzelte verwirrt, als Mat ihm im Gegenzug seinen Mantel reichte und sagte, dass er ihn am Ende des Tages im selben Zustand zurückzubekommen erwartete. Mat legte die Rüstung an, die seine Brust, die Hinterseiten der Arme und die Vorderseiten der Oberschenkel bedeckte, und sie fühlte sich ganz bequem an. Aber als der Offizier seinen Helm hinhielt, ignorierte Mat ihn und richtete lediglich seinen breitkrempigen Hut, während er sich Tylee zuwandte.

»Hoheit, noch eine Sache, die Marath’Damane …«

»Ich kümmere mich selbst um diese Machtlenker«, erwiderte Mat.

Sie starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. Verdammte Asche, vermutlich stimmte das sogar.

»Hoheit!«, sagte Tylee. »Die Kaiserin …« Sie verstummte, als sie Mats Gesichtsausdruck sah. »Lasst uns wenigstens nach ein paar Damane schicken, die Euch beschützen.«

»Ich kann selbst auf mich aufpassen, vielen herzlichen Dank. Diese verdammten Frauen würden mir bloß im Weg stehen.« Er grinste. »Seid Ihr bereit, Tylee? Ich möchte das hier wirklich gern erledigt haben, bevor es Zeit für meinen Schlummertrunk Ale ist.«

Tylee fuhr auf dem Absatz herum und rief: »Aufgesessen!« Licht, sie hatte ein Paar ordentliche Lungen. Tausende Hinterteile trafen ihre Sättel und produzierten ein sattes Klatschen, das quer durch die Legion hallte, und jeder Soldat saß in Habtachtstellung da, die Augen geradeaus. Eines musste er den Seanchanern lassen – sie bildeten verdammt gute Soldaten aus.

Tylee bellte eine Reihe Befehle, dann wandte sie sich wieder Mat zu und sagte: »Auf Euren Befehl, Hoheit.«

Mat rief: »Los caba’drin!« Die wenigsten der hier Versammelten verstanden die Worte, und doch wussten sie instinktiv, dass es »Reiter vorwärts!« hieß.

Mit über dem Kopf erhobenen Ashandarei führte Mat Pips in das Wasser, gefolgt vom Bodengrollen das Ersten Banners, das die Reihen um ihn schloss. Die dröhnenden seanchanischen Signalhörner hinter ihm bliesen zum Angriff; der Ton eines jeden Horns unterschied sich leicht vom nächsten, was einen grellen, dissonanten Laut hervorrief, der über große Entfernungen gehört werden sollte. Der Lärm ließ die Soldaten der Weißen Burg über die Schulter blicken, und in den Sekunden, die Mat und die Seanchaner brauchten, um die Furt zu überqueren, stürzten Soldaten aus dem Weg, um den Reitern Platz zu machen.

Die Seanchaner scherten ein kurzes Stück nach links aus und befanden sich unversehens mitten in der sharanischen Kavallerie, die sich ihren Weg durch Egwenes Fußsoldaten gebahnt hatte. Die Schnelligkeit ihres Vorstoßes versetzte die seanchanische Vorhut in die Lage, hart in die Sharaner hineinzustoßen, und ihre gut ausgebildeten Pferde stiegen genau in dem Moment kurz auf die Hinterbeine, bevor sie den Feind mit den Vorderbeinen trafen. Sharaner und ihre Reittiere stürzten, und viele von ihnen wurden zertrampelt, als die seanchanische Kavallerie ihren gnadenlosen Vorstoß fortführte.

Die Sharaner schienen zu wissen, was sie zu tun hatten, aber es handelte sich bei ihnen um schwere Kavallerie, die mit beschwerlicher Rüstung bepackt und mit langen Lanzen ausgerüstet war. Perfekt, um Fußsoldaten zu töten, die mit dem Rücken zur Wand standen, aber auf so engem Raum waren sie gegen eine äußerst bewegliche leichte Kavallerie eindeutig im Nachteil.

Das Erste Banner war eine Eliteeinheit, die ein großes Arsenal Waffen benutzte, und sie war dazu ausgebildet, in kleinen Gruppen zusammenzuarbeiten. Von den vorderen Reitern mit tödlicher Treffsicherheit geschleuderte Speere stachen in die Visiere der Sharaner, und eine überraschende Anzahl landete in den dahinter befindlichen Gesichtern. Ihnen folgten Reiter, die Bihänder mit gekrümmten Klingen schwangen und auf die verletzbare Stelle zwischen Helm und Brustpanzer zielten oder auf die genauso verletzbare Brust der gepanzerten sharanischen Schlachtrosse einschlugen und ihre Reiter so zu Boden warfen. Andere Seanchaner setzten gekrümmte Stangenwaffen ein, um Sharaner aus dem Sattel zu zerren, während die ihnen zugeteilten Gefährten mit stachelbewehrten Streitkolben auf den Gegner einschlugen und seine Rüstung so sehr verbeulten, dass seine Bewegungen erheblich eingeschränkt waren. Und wenn die Sharaner am Boden lagen und mühsam aufzustehen versuchten, stürzten sich die Stecher auf sie, leicht bewaffnete Seanchaner, deren Aufgabe darin bestand, die Visiere der Gestürzten nach oben zu reißen und schmale Dolche in entblößte Augen zu rammen. Unter diesen Bedingungen waren die Lanzen der Sharaner nutzlos – tatsächlich behinderten sie nur, und viele Sharaner starben, bevor sie die Lanzen fallen lassen und Schwerter ziehen konnten.

Mat befahl einer Kavallerieeinheit, am Ufer entlang über die linke Flanke der Schlacht zu reiten und dann einen Bogen um die sharanische Kavallerie zu machen. Die Infanterie der Weißen Burg im linken Zentrum konnte nun, da sie nicht länger von den sharanischen Lanzen niedergehalten wurde, ihre Piken und Hellebarden wieder einsetzen, und mit den zusätzlichen Bemühungen des Zweiten und Dritten Banners der Seanchaner formierte sich die Verteidigung an der Furt langsam wieder. Es war eine schmutzige, rutschige Arbeit, als der nur mehrere Hundert Schritte vom Fluss entfernte Boden zertrampelt wurde und sich in Schlamm verwandelte. Aber die Streitkräfte des Lichts verteidigten ihre Stellung.

Mat wurde mitten ins Getümmel gerissen, und sein Ashandarei kam nicht zur Ruhe. Aber er fand schnell heraus, dass seine Waffe nicht sehr nützlich war; nur wenige Hiebe fanden verletzliches Fleisch, größtenteils glitt die Klinge von den gegnerischen Rüstungen ab, und er musste sich wiederholt im Sattel verrenken und ducken, um nicht von einer sharanischen Klinge getroffen zu werden.

Langsam bahnte er sich einen Weg durch den Kampf und hatte fast die hinteren Linien der sharanischen Kavallerie erreicht, als ihm bewusst wurde, dass drei seiner Gefährten nicht länger auf ihren Pferden saßen. Seltsam, vor einer Minute waren sie noch da gewesen. Zwei andere erstarrten und blickten sich hektisch um, dann standen sie plötzlich in Flammen, schrien gequält auf und warfen sich zu Boden, bevor sie erschlafften. Mat schaute gerade noch rechtzeitig nach rechts, um mitzubekommen, wie eine seanchanische Fahne von einer unsichtbaren Kraft hundert Fuß zurückgeschleudert wurde.

Als er wieder nach vorn blickte, sah er sich dem Blick einer wunderschönen Frau ausgesetzt. Sie trug ein seltsames schwarzes Seidengewand, das weit von ihrem Körper abstand und mit weißen Schleifen verziert war. Wie Tuon war sie eine dunkelhäutige Schönheit, aber ihre hohen Wangenknochen und der breite sinnliche Mund, der zu schmollen schien, hatten nichts Zierliches. Da verzogen sich die Lippen zu einem Lächeln, einem Lächeln, das nichts Gutes für ihn verhieß.

Als sie ihn anstarrte, wurde sein Medaillon eiskalt. Mat atmete auf.

Bis jetzt schien er Glück gehabt zu haben, aber er wollte es nicht zu sehr strapazieren, genauso wenig wie man sein bestes Rennpferd zu sehr antrieb. In den kommenden Tagen würde er noch eine ordentliche Menge Glück brauchen.

Er sprang vom Pferd und ging auf die Frau zu, die keuchend und mit weit aufgerissenen Augen versuchte, ein anderes Gewebe zu weben. Mat drehte den Ashandarei und ließ ihn nach vorn sausen, schlug ihr die Beine unter dem Körper weg. Dann brachte er den Schaft herum und versetzte ihr noch im Sturz einen Hieb auf den Hinterkopf.

Die Frau landete mit dem Gesicht im Schlamm. Mat hatte keine Zeit, sie dort herauszuziehen, denn plötzlich standen ihm Dutzende Sharaner gegenüber. Zehn seiner Soldaten schwärmten hinter ihm aus, und er griff an. Diese Sharaner hatten lediglich Schwerter. Mat wehrte sie mit wirbelnder Klinge und Schaft ab; er und die Seanchaner kämpften wild.

Waffen wirbelten schemenhaft umher, der Ashandarei ließ Lehmklumpen aufspritzen. Zwei von Mats Männern schnappten sich die am Boden liegende Frau, bevor sie im Schlamm erstickte.

Mat drängte vorwärts.

Männer brüllten, riefen nach Verstärkung.

Schritte führten vorsichtig, aber unweigerlich nach vorn.

Der Boden färbte sich rot.

Sharanische Soldaten ersetzten die Gefallenen, und die Leichen wurden tiefer in den Schlamm getrampelt. Soldaten waren oft grimmige Burschen, aber jeder dieser Sharaner schien darauf versessen zu sein, Mat zu töten – bis keine von ihnen mehr kamen. Mat schaute sich um; an seiner Seite standen nur noch vier Seanchaner.

Trotz des chaotischen Kampfes hatte Mat den Eindruck, jetzt klarer als zuvor zu sehen. Und die Kampfpause gab ihm Gelegenheit, wieder wie ein Befehlshaber zu handeln.

»Fesselt der Frau die Hände auf den Rücken«, sagte er keuchend zu seinen Männern, »und bindet ihr ein Tuch vor die Augen, damit sie nicht sehen kann.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn – Licht, das reichte für einen zweiten Fluss. »Wir werden uns mit unserer Gefangenen einen Weg zurück zur Furt erzwingen. Ich werde sehen, ob ich noch ein paar verdammte Damane finden kann, die man in diesen Kampf wirft. Die Sharaner haben einen Fehler gemacht, nur eine ihrer Machtlenkerinnen allein auf dem Schlachtfeld zu lassen. Aber wir sollten hier verschwinden, bevor noch mehr von ihnen auftauchen.«

Mat schüttelte die Hand; er hatte einen seiner Nägel angeschlagen und den schönen Lack zerkratzt. Er wandte sich einem seanchanischen Offizier zu, der die ganze Zeit an seiner Seite gekämpft hatte. Der Mann sah ihn ehrfürchtig an, als würde er den verdammten Wiedergeborenen Drachen persönlich anstarren. Mat schaute zu Boden, denn ihm gefiel der Ausdruck des Mannes gar nicht, aber vermutlich war der auch nicht schlimmer als der Anblick des blutgetränkten Schlamms voller sharanischer Leichen. Wie viele hatte er davon getötet?

»Hoheit …«, sagte der Offizier. »Großer Lord, kein Mann im Dienst des Kaiserreichs würde es jemals wagen, der Kaiserin, möge sie ewig leben, nicht den gebührenden Respekt zu erweisen. Aber sollte sich ein Mann über ihre Entscheidung seine Gedanken gemacht haben, dann würde er das nicht länger tun. Prinz der Raben!« Er hob das Schwert zum Salut, was die Männer hinter ihm in Jubel ausbrechen ließ.

»Besorgt euch ein paar verdammte Stangenwaffen«, sagte Mat grob. »In dieser Schlacht sind Schwerter für Fußsoldaten so gut wie nutzlos.« Er biss ein Stück des störenden Fingernagels ab und spuckte es aus. »Das habt ihr Burschen gut gemacht. Hat jemand mein Pferd gesehen?«

Pips stand in der Nähe, also nahm er seine Zügel und ging zurück zur Furt. Er schaffte es sogar, sich von den meisten Scharmützeln fernzuhalten. Jedenfalls größtenteils. Dieser seanchanische Hauptmann erinnerte ihn etwas zu sehr an Talmanes, und es folgten ihm bereits genug Leute. Ich frage mich, ob er wohl gern würfelt, dachte er bei sich und trat ins Wasser. Seine Stiefel waren gut, aber irgendwann wurden alle Stiefel undicht, und seine Füße in den Socken wurden nass, als er mit Pips die Furt durchquerte. Am Ufer weit zu seiner Rechten gab es irgendeinen Aufruhr, anscheinend stand dort eine Gruppe Aes Sedai und lenkte die Macht in Richtung Schlachtfeld. Aber er hatte nicht die geringste Absicht, seine Nase in ihre Angelegenheiten zu stecken. Ihn beschäftigten weiterreichende Dinge.

Voraus erblickte er einen Mann in voluminösen Hosen und einem bekannt aussehenden Mantel, der neben einem Baum stand. Er ritt zu ihm und tauschte mit ihm nach einer kurzen Unterhaltung die Sachen. Es fühlte sich gut an, wieder den Mantel aus den Zwei Flüssen zu tragen, und er schwang sich mit noch immer tropfenden Stiefeln in den Sattel und ritt wieder zu der Stelle, an der er Tuon zurückgelassen hatte. Seine Männer hatten die sharanische Machtlenkerin gebracht – wie befohlen hatten sie sie geknebelt und ihr die Augen verbunden. Beim Licht, was sollte er mit ihr machen? Vermutlich würde sie als Damane enden.

Er verließ seine Soldaten und passierte die Leibwächter, die jetzt vor dem Hügel Aufstellung genommen hatten, mit kaum einem Nicken. Vor seinem inneren Auge breitete sich das Schlachtfeld aus, das nun keine kleinen Zeichnungen auf einem Stück Papier mehr darstellte. Er konnte das Feld sehen und die Männer kämpfen hören, konnte den stinkenden Atem des Feindes riechen. Jetzt war es Wirklichkeit für ihn.

»Die Kaiserin«, empfing ihn Selucia, als er oben angelangt war, »würde gern und vor allem in allen Einzelheiten wissen, warum Ihr es für angebracht hieltet, Euch auf eine derart verantwortungslose Weise ins Getümmel zu stürzen. Euer Leben gehört nicht länger Euch, Prinz der Raben. Ihr könnt es nicht länger wegwerfen, wie Ihr es einst wohl immer getan habt.«

»Ich musste es wissen«, erwiderte Mat und sah zurück. »Ich musste den Puls der Schlacht fühlen.«

»Den Puls?«, fragte Selucia. Tuon unterhielt sich mit huschenden Fingern wie eine verdammte Tochter des Speers mit ihr. Sprach ihn nicht direkt an. Kein gutes Zeichen.

»Jede Schlacht hat einen Puls, Tuon«, sagte Mat und starrte weiterhin in die Ferne. »Nynaeve … sie hat manchmal jemandes Hand berührt, um dessen Herzschlag zu überprüfen, und darum wusste sie dann, dass etwas mit seinen Füßen nicht stimmte. Das hier ist das Gleiche. Man muss in den Kampf treten, seine Bewegung fühlen. Sie kennenlernen …«

Ein Diener mit zur Hälfte rasiertem Kopf trat zu Tuon und flüsterte ihr und Selucia etwas zu. Er war von der Furt gekommen.

Mat musterte weiterhin die Gegend, rief sich Karten in Erinnerung, legte aber die echten Kampfhandlungen darüber. Bryne, der Tylee nicht einsetzte, die Verteidigung seiner linken Flanke an der Furt entblößte, seine Kavallerie in eine Falle schickte.

Die Schlacht eröffnete sich Mat, und er erkannte Taktiken, die den aktuellen Geschehnissen zehn Schritte voraus waren. Es war, als würde er die Zukunft lesen, so wie die Dinge, die Min sah, nur mit Fleisch, Blut, Schwertern und Schlachttrommeln.

Er grunzte. »Ha! Gareth Bryne ist ein Schattenfreund.«

»Er ist was?«, stotterte Min.

»Diese Schlacht ist nur einen Schritt von der Niederlage entfernt«, sagte Mat und wandte sich Tuon zu. »Ich brauche auf der Stelle den Oberbefehl über unsere Heere. Keine Debatten mit Galgan mehr. Min, geh zu Egwene und warne sie, dass Bryne versucht, diese Schlacht zu verlieren. Tuon, sie muss persönlich gehen. Ich bezweifle, dass Egwene auf jemand anderen hören wird.«

Alle starrten Mat verblüfft an – alle bis auf Tuon, die ihm einen ihrer die Seele erschütternden Blicke widmete. Die ihm das Gefühl gaben, er wäre eine Maus, die man in einem ansonsten makellos sauberen Zimmer erwischte. Er ließ ihn mehr schwitzen als die Schlacht.

Komm schon, dachte er. Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Nun sah er es genau vor sich, wie eine große Partie Steine. Brynes Bewegungen waren kompliziert und subtil, aber letzten Endes würden sie auf die Vernichtung von Egwenes Heer hinauslaufen.

Mat konnte das verhindern. Aber er musste jetzt handeln.

»So soll es sein«, sagte Tuon.

Die Bemerkung rief beinahe genauso Überraschung hervor wie Mats Ankündigung. Generalhauptmann Galgan sah aus, als würde er lieber die eigenen Stiefel fressen, als Mat das Kommando zu überlassen. Min wurde von einer Reihe Diener und Soldaten weggeführt, und sie protestierte wütend.

Tuon brachte ihr Pferd näher an Mat heran. »Man hat mir berichtet«, sagte sie leise, »dass Ihr eben in der Schlacht nicht nur eine Marath’Damane für Euch beansprucht habt, sondern auch einen Eurer Offiziere zum Niedrigen Blut erhoben habt.«

»Das habe ich?«, fragte Mat verblüfft. »Daran erinnere ich mich gar nicht.«

»Ihr habt Euren Nagel vor seine Füße geworfen.«

»Ach. Das … Nun gut, das habe ich wohl getan. Das war ein Zufall. Und die Machtlenkerin … verdammte Asche, Tuon. Ich wollte sie nicht zur … glaube ich jedenfalls. Nun, Ihr könnt sie haben.«

»Nein«, erwiderte Tuon. »Es ist gut für Euch, selbst eine erbeutet zu haben. Natürlich könnt Ihr sie nicht ausbilden, aber viele Sul’dam werden begierig auf diese Gelegenheit warten. Es geschieht sehr selten, dass ein Mann auf dem Schlachtfeld eine Damane gefangen nimmt, in der Tat sehr selten. Obwohl ich Euren besonderen Vorteil kenne, tun andere das nicht. Das wird Euren Ruf bedeutend stärken.«

Mat zuckte mit den Schultern. Was sollte er da machen? Vielleicht konnte er die Damane ja freilassen, wenn sie ihm gehörte.

»Ich werde den Offizier, den Ihr erhoben habt, Euch als persönlichen Bediensteten zuteilen«, fuhr Tuon fort. »Er hat einen guten Ruf, vielleicht sogar zu gut. Man hatte ihn zum Dienst an der Furt eingeteilt, weil man ihn einer Gruppierung zurechnete, die sich gegen uns wenden will. Jetzt singt er Euer Loblied. Ich weiß nicht, was Ihr gemacht habt, um seine Meinung zu ändern. Ihr scheint da besondere Fähigkeiten zu haben.«

»Hoffen wir bloß, dass meine Fähigkeiten ausreichen, um einen Sieg zu erringen«, knurrte Mat. »Tuon, das hier sieht übel aus.«

»Niemand sonst teilt diese Meinung.« Sie sagte es sehr bedacht, widersprach ihm eigentlich nicht. Stellte lediglich eine Tatsache dar.

»Wie dem auch sei, ich habe recht. Ich wünschte, es wäre anders, aber ich habe recht. Ich habe verflucht noch mal recht.«

»Falls nicht, werde ich viel an Einfluss verlieren.«

»Werdet Ihr nicht«, sagte Mat und führte den Weg zurück zum seanchanischen Lager ein paar Meilen weiter nördlich an. Er legte ein zügiges Tempo vor. »Ich mag Euch ja hin und wieder in die falsche Richtung führen, aber am Ende könnt Ihr Euch darauf verlassen, dass ich stets eine sichere Wette darstelle.«

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