42 Unmögliche Dinge

Aviendha hatte das Gefühl, die Welt selbst würde auseinanderbrechen, würde verschlungen.

Die Blitze, die auf das Tal von Shayol Ghul hagelten, waren nicht länger unter Kontrolle. Weder unter der der Windsucherinnen noch von sonst jemandem. Sie töteten sowohl Schattengezücht wie auch Verteidiger. Unvorhersehbar. Die Luft stank nach Feuer, verbranntem Fleisch und etwas anderem – einem unverkennbaren, sauberen Geruch, den sie mittlerweile als den Geruch eines einschlagenden Blitzes erkannte.

Aviendha bewegte sich wie die Windböen, versuchte Graendal immer einen Schritt vorauszubleiben, die einen Strahl glühend heißes Baalsfeuer nach dem anderen auf sie schleuderte. Jedes Mal erbebte der Untergrund. Überall krochen schwarze Linien über den Felsen.

Die Verteidiger des Tals waren fast alle gefallen. Diejenigen von ihnen, die sich nicht bis ganz nach hinten in die Nähe des Pfades zum Gipfel zurückgezogen hatten, wurden von Schattenhunden vernichtet. Der Boden grollte, und Aviendha stolperte. In der Nähe stürzte eine Gruppe Trollocs knurrend aus den windigen Schatten. Die Kreaturen sahen sie nicht, drehten sich aber um und griffen jemand anders an … Andere Trollocs? Sie kämpften gegeneinander.

Das überraschte Aviendha nicht. Es war nicht ungewöhnlich, dass sich Trollocs bekämpften, wenn sie nicht von den Augenlosen mit eiserner Hand kontrolliert wurden. Aber was war das für ein seltsamer Nebel?

Aviendha stemmte sich auf die Füße und rannte von den Trollocs fort, hastete einen Hang hinauf. Vielleicht half ihr die erhöhte Stellung, Graendal auszumachen. Oben angekommen entdeckte sie, dass sie auf einer völlig unmöglichen Sache stand: einem gewaltigen Felsbrocken, dem die Unterseite so gut wie fehlte und der dort bedenklich schwebte. Er hatte sich aus dem Boden gelöst und war in die Luft gestiegen.

Im ganzen Tal geschahen ähnlich unmögliche Dinge. Eine Gruppe flüchtender Domani-Reiter galoppierte über ein Stück Felsboden, der wie eine Wasseroberfläche wogte, und alle vier Männer versanken mit ihren Pferden darin und verschwanden. Dieser undurchdringliche Nebel hatte angefangen, sich an einer Stelle ins Tal zu ergießen. Menschen und Trollocs rannten schreiend davor weg.

Baalsfeuer durchbohrte den schwebenden Felsbrocken und verfehlte ihren Kopf nur um wenige Zoll. Aviendha keuchte auf und ließ sich zu Boden fallen. In der Nähe bewegte sich etwas, und sie rollte herum und bereitete ein Gewebe vor.

Amys eilte zu ihr und ging neben ihr in die Hocke; ihre Kleidung einer Weisen Frau war stellenweise geschwärzt und verbrannt, eine Wange stark gerötet. »Hast du Cadsuane oder die anderen gesehen?«

»Nein.«

Amys fluchte leise. »Wir müssen die Schattenbeseelte gleichzeitig angreifen. Du gehst nach rechts, ich nach links. Wenn du mich weben fühlst, mach mit. Vielleicht können wir sie zusammen töten.«

Aviendha nickte. Sie erhoben sich und eilten auseinander. Irgendwo dort draußen kämpfte Cadsuanes handverlesene Gruppe. Talaan, eine Windsucherin, die es irgendwie zu den Drachenverschworenen verschlagen hatte. Alivia, die ehemalige Damane. Zusammen mit Amys und ihr waren das einige der stärksten Machtlenkerinnen, die das Licht hatte.

Der Ursprungsort des Baalsfeuers war zumindest ein Hinweis auf Graendals neue Position. Aviendha umrundete den schwebenden Felsen – das Baalsfeuer hatte ihn durchlöchert, statt ihn zu vernichten – und verspürte weiteres Unbehagen, als sie sah, wie überall im Tal Steine in die Luft stiegen. Es war eine Blase des Bösen, nur in einem viel größeren Ausmaß als sonst. Während sie vorwärtsschlich, vernahm sie ein leises Dröhnen, das vom Berg kam. Wieder bebte der Boden, Steinchen tanzten in die Höhe. Aviendha blieb tief gebückt und sah, dass im ganzen Tal unbegreiflicherweise neue Pflanzen wucherten. Der eben noch unfruchtbare Boden verwandelte sich in eine grüne Fläche, und die Pflanzen schienen sich zu winden, während sie in die Höhe kletterten.

Überall im Tal sprossen diese Pflanzeninseln, explosionsartige grüne Ausbrüche. Die weißen und schwarzen Wolken am Himmel wirbelten umeinander, weiß auf schwarz, schwarz auf weiß. Blitze schlugen ein, dann erstarrten sie auf dem Weg zum Boden. Sie schienen sich groteskerweise in riesige, gezackte Glassäulen verwandelt zu haben, die noch immer die Form im Moment ihres Einschlags aufwiesen, aber nicht länger glühten.

Diese Wolken am Himmel bildeten ein Muster, das bekannt erschien. Schwarz auf weiß, weiß auf schwarz …

Es ist das Symbol, schoss es Aviendha durch den Kopf. Das uralte Symbol der Aes Sedai.

Unter diesem Zeichen … soll er erobern.

Aviendha klammerte sich an die Eine Macht. Irgendwie war er dieses Dröhnen. Er war das wachsende Leben. Während der Dunkle König das Land zerriss, nähte Rand es wieder zusammen.

Sie musste in Bewegung bleiben. Geduckt rannte sie weiter, benutzte die in die Höhe wuchernden Gewächse als Deckung. Sie waren genau dort erschienen, wo sie sie brauchte. Zufall? Sie wollte es nicht glauben. Im Hinterkopf konnte sie ihn fühlen. Er kämpfte, ein echter Krieger. Seine Schlacht gab ihr Kraft, und sie versuchte ihm das Gleiche zu übermitteln.

Entschlossenheit. Ehre. Ruhm. Kämpfe weiter, Schatten meines Herzens. Kämpfe weiter.

Sie stieß auf Graendal – die noch immer von ihren unter Zwang stehenden Handlangern umgeben war –, die mit Cadsuane und Alivia tödliche Gewebe der Einen Macht austauschte. Aviendha verlangsamte ihr Tempo und beobachtete, wie die drei Frauen Feuerstöße aufeinanderschleuderten, die Gewebe der anderen mit Geist zerschnitten, die Luft durch die Hitze verformten und so schnell webten, dass es schwerfiel, den Ereignissen überhaupt zu folgen.

Es juckte ihr in den Fingern, in den Kampf einzugreifen und ihnen zu helfen, aber Amys hatte recht. Wenn sie beide gemeinsam angriffen, vor allen Dingen solange Graendal beschäftigt war, hatten sie eine bessere Chance, die Verlorene zu töten. Vorausgesetzt, Cadsuane und Alivia hielten durch, war Warten die bessere Entscheidung.

Aber konnten sie durchhalten? Cadsuane war mächtig, weitaus mächtiger, als Aviendha je gedacht hatte. Ihr Haarschmuck enthielt mit Sicherheit Angreale und Ter’angreale, davon war sie überzeugt, auch wenn sie nie Gelegenheit gehabt hatte, sie in die Hand zu nehmen und es mit ihrem Talent zu bestätigen.

Graendals gefangene Frauen lagen auf dem Boden; sie konnten offensichtlich nicht mehr. Zwei waren zusammengebrochen, Sarene war auf die Knie gefallen und starrte ins Leere.

Cadsuane und Alivia schienen keine Rücksicht darauf zu nehmen, aus Versehen die Gefangenen zu treffen. Das war die richtige Entscheidung. Trotzdem, falls es ihr irgendwie gelingen sollte …

Neben ihr bewegte sich das hohe Gebüsch.

Ohne nachzudenken fuhr Aviendha herum und webte Feuer. Sie brannte einen schwarz verschleierten Angreifer nieder – Sekunden bevor er ihr den Speer ins Genick gerammt hätte. Die Waffe schnitt über ihre Schulter, als der Mann stolperte und dann nach vorn kippte. Sie hatte ihm ein faustgroßes Loch in die Brust gebrannt.

Eine weitere Machtlenkerin griff in den Kampf ein und schleuderte wild Gewebe. Amys war eingetroffen. Glücklicherweise konzentrierte sich Graendal auf sie, statt Aviendhas gerade preisgegebene Position anzugreifen.

Das war auch gut so, denn Aviendha starrte auf den Mann, den sie getötet hatte, einen Mann, den die Verlorene mit einem Zwang auf ihre Seite gezogen hatte. Einen Mann, der ihr so bekannt vorkam.

Entsetzt schob sie mit zitternder Hand den Schleier zur Seite.

Es war Rhuarc.


»Ich gehe«, sagte Mishraile mit finsterer Miene und sah der angreifenden sharanischen Kavallerie hinterher. Sie standen auf der Westseite des Plateaus, weit von der linken Flanke ihrer Armee entfernt. »Keiner hat uns gesagt, dass wir gegen die verdammten Helden des Horns kämpfen müssen.«

»Es ist die Letzte Schlacht, Kind.« Alviarin klang hämisch. In letzter Zeit hatte sie angefangen, sie alle als »Kind« anzureden. Mishraile stand kurz davor, sie zu erwürgen. Warum hatte M’Hael bloß erlaubt, dass sie den Bund mit Nensen einging? Warum überhaupt einer Frau den Befehl über sie geben?

Sie waren eine kleine Gruppe. Alviarin, Mishraile, Nensen, Kash, Rianna und Donalo. Und Ayako – den man Umgedreht hatte. Mishraile verstand nicht viel von Taktik; wenn er Menschen tötete, wartete er gern, bis es sie an einen dunklen Ort verschlug, wo niemand zusah. Diese ganze offene Schlacht, dieses ganze Chaos, gab ihm das Gefühl, eine Messerspitze im Nacken zu fühlen.

»Da«, sagte Alviarin zu Nensen und zeigte auf einen Lichtblitz, als eine weitere Explosion dieser sogenannten Drachen durch Wegetore über das Schlachtfeld hallte. »Ich glaube, das kam von der Mitte der Anhöhe. Macht ein Tor und begebt Euch dorthin.«

»Wir werden niemals …«, begann Mishraile.

»Geht!«, stieß Alviarin mit zornrotem Gesicht hervor.

Nensen beeilte sich zu gehorchen. Er befolgte gern Befehle, denn es gab ihm das Gefühl, dass jemand das Kommando hatte.

Möglicherweise muss ich sie töten, dachte Mishraile. Und Nensen auch. Selbst ohne Schlachterfahrung konnte er erkennen, dass das kein leichter Kampf werden würde. Die Rückkehr der Seanchaner, Demandreds Tod und die blindlings wütenden Trollocs … Ja, der Schatten war noch immer in der Überzahl, aber der Kampf war bei Weitem nicht so einseitig, wie er es gern gehabt hätte. Eine der ersten Regeln, die er je im Leben gelernt hatte, besagte, niemals gegen einen Mann zu kämpfen, wenn beide gleich stark waren.

Zu sechst traten sie durch das Tor und kamen in der Mitte der Anhöhe heraus. Der von Drachen und Machtlenkern verbrannte Boden qualmte, zu dem Rauch kam nun der seltsame Nebel, der aufstieg; es fiel schwer, genau zu erkennen, was hier vor sich ging. Der Boden war mit Löchern übersät, die die Drachen verursacht hatten. Überall lagen Leichen herum … nun ja, eigentlich Stücke davon. Ein seltsamer Geruch hing in der Luft. Mittlerweile war die Sonne aufgegangen, aber es kam kaum Licht durch die Wolken.

Vom Himmel ertönte Kreischen, ausgestoßen von diesen seltsamen fliegenden Kreaturen, die die Seanchaner mitgebracht hatten. Mishraile fröstelte. Licht. Als würde man in einem Haus ohne Dach stehen und wissen, dass der Feind Bogenschützen über einem aufgestellt hatte. Er schoss eine von ihnen mit Feuer ab und sah zufrieden, wie sich die Schwingen zu Asche auflösten und die Bestie jäh zu Boden trudelte.

Aber so ein Angriff verriet ihn. Er würde die anderen Schattenlords wirklich umbringen müssen und dann entkommen. Er hätte auf der Siegerseite sein sollen.

»An die Arbeit«, sagte Alviarin. »Tut, was ich Euch gesagt habe. Die Tore, durch die diese Geräte schießen, werden von Männern gemacht, also müssen wir die Stelle finden, wo sich das Tor befand, und Donalo dann seinen Nachklang lesen lassen.«

Die Männer verteilten sich und überprüften den Boden, versuchten die Stelle zu finden, an der sich das Wegetor geöffnet hatte. In der Nähe, sogar unerfreulich nahe, kämpften Männer – Sharaner und diese Leute mit dem Wolfsbanner. Falls sie in diese Richtung kamen …

Donalo setzte sich an seine Seite, und sie suchten schnell, hielten beide die Macht fest. Donalo war ein Tairener mit einem kantigen Gesicht und einem grauen Spitzbart.

»Als Demandred fiel«, flüsterte Donalo. »Da wusste ich, dass das die ganze Zeit eine Falle war. Man hat uns reingelegt.«

Mishraile nickte. Vielleicht konnte Donalo ein Verbündeter sein. Sie konnten zusammen entkommen. Natürlich würde er ihn dann umbringen müssen. Er konnte unmöglich einen Zeugen zurücklassen, der dem Großen Herrn berichtete, was er getan hatte.

Davon abgesehen konnte er Donalo ohnehin nicht vertrauen. Der Mann hatte sich ihnen bloß wegen dieses Tricks mit den Myrddraal angeschlossen. Wenn ein Mann so schnell die Seiten wechselte, was sollte ihn davon abhalten, sie erneut zu wechseln? Außerdem gefiel Mishraile das Gefühl nicht, das sich immer in ihm ausbreitete, wenn er Donalo oder die anderen Umgedrehten ansah. Als wäre etwas Unnatürliches tief in ihnen, das auf der Suche nach Beute aus ihnen herausstarrte.

»Wir müssen hier verschwinden«, flüsterte er. »Hier zu kämpfen ist doch völliger Blöd…« Er verstummte, als er im Rauch eine Gestalt erblickte.

Ein großer Mann mit fast rotem Haar. Ein bekannter Mann, mit Schnitten übersät, dessen Kleidung teilweise verbrannt war. Mishraile keuchte auf, und Donalo fluchte, als der Wiedergeborene Drache höchstpersönlich sie sah, sich umdrehte und die Flucht ergriff. Als Mishraile endlich daran dachte, ihn anzugreifen, hatte al’Thor ein Wegetor gewebt und war entkommen.

Die Erde erbebte, an einigen Stellen klaffte der Boden auf; ein Stück vom Osthang brach ab und krachte auf die Trollocs dort unten. Dieser Ort wurde immer instabiler. Noch ein Grund, um zu verschwinden.

»Das war der verfluchte Wiedergeborene Drache!«, sagte Donalo. »Alviarin! Der verfluchte Wiedergeborene Drache ist auf dem Schlachtfeld!«

»Was für ein Unsinn ist das denn schon wieder?«, fragte Alviarin, die mit den anderen herbeieilte.

»Rand al’Thor war hier«, sagte Mishraile noch immer verblüfft. »Blut und verdammte Asche, Donalo, Ihr hattet recht! Das ist die einzige Möglichkeit, wie Demandred fallen konnte.«

»Er hat ja immer gesagt, dass der Drache hier irgendwo auf dem Schlachtfeld ist«, meinte Kash.

Donalo legte den Kopf schief, als würde er etwas in der Luft studieren. »Ich sah genau, wo er das Tor machte, durch das er entkam. Es war genau da. Genau da … Ja! Ich kann die Resonanz fühlen. Ich weiß, wo er hin ist.«

Alviarin verschränkte skeptisch die Arme. »Er hat Demandred besiegt. Besteht überhaupt die Hoffnung, dass wir gegen ihn kämpfen können?«

»Er sah erschöpft aus«, sagte Mishraile. »Sogar mehr als erschöpft. Als er uns sah, geriet er in Panik. Ich glaube, falls er gegen Demandred gekämpft hat, dann hat ihm das viel abverlangt.«

Alviarin betrachtete die Stelle in der Luft, wo al’Thor verschwunden war. Mishraile konnte praktisch ihre Gedanken lesen. Falls sie den Wiedergeborenen Drachen töteten, würde M’Hael möglicherweise nicht der einzige Schattenlord sein, der zum Auserwählten erhoben wurde. Der Große Herr würde dem, der al’Thor zur Strecke brachte, dankbar sein. Sogar sehr dankbar.

»Ich habe es!«, rief Donalo und öffnete ein Wegetor.

»Ich brauche einen Zirkel, um gegen ihn zu kämpfen«, sagte Alviarin. Dann zögerte sie. »Aber ich nehme nur Rianna und Nensen. Ich will nicht das Risiko eingehen, dass wir zu unflexibel sind, wenn wir alle zu dem gleichen Zirkel verknüpft sind.«

Mishraile schnaubte, sammelte seine Macht und sprang durch die Öffnung. Sie wollte bloß nicht, dass einer der Männer den Zirkel anführte und ihr möglicherweise zuvorkam, das hatte sie eigentlich sagen wollen. Nun, da würde Mishraile noch ein Wörtchen mitzureden haben.

Er trat vom Schlachtfeld auf eine ihm unbekannte Lichtung. Die Bäume schienen nicht so sehr von der Berührung des Großen Herrn betroffen zu sein wie an anderen Orten. Warum? Nun, über ihnen donnerte der gleiche schwarze Himmel, und es war so dunkel, dass er eine Lichtkugel weben musste, um etwas erkennen zu können.

In der Nähe hockte al’Thor zusammengesunken auf einem Baumstumpf. Er schaute auf, entdeckte Mishraile und schrie auf, rannte los. Mishraile webte einen Feuerball, der hinter ihm herflog, aber al’Thor konnte ihn mit einem Gewebe aus der Luft holen.

Ha! Er ist schwach!, dachte Mishraile und rannte los. Die anderen folgten ihm durch das Wegetor, die Frauen mit Nensen verknüpft, der wie ein Schoßhund hinter Alviarin hereilte. Donalo kam als Letzter und forderte sie auf, auf ihn zu warten.

Einen Augenblick später blieben sie wie angewurzelt stehen.

Es traf Mishraile wie ein kalter Guss – als würde er mit dem Kopf zuerst in einen Wasserfall laufen. Die Eine Macht verschwand. Sie verließ ihn, einfach so.

Von Panik überwältigt stolperte er, versuchte zu begreifen, was da geschehen war. Man hatte ihn abgeschirmt! Nein. Da war keine Abschirmung. Er fühlte …

nichts.

In der Nähe gerieten die Bäume in Bewegung, Gestalten traten aus den Schatten. Schwerfällige Kreaturen mit langen herabhängenden Augenbrauen und dicken Fingern. Mit ihrer faltigen Haut und dem weißen Haar erschienen sie so alt wie die Bäume selbst.

Er befand sich in einem Stedding.

Mishraile versuchte zu fliehen, aber starke Arme packten ihn. Die Alten der Ogier umzingelten ihn und die anderen. Voraus trat al’Thor hinter einem Baum hervor – aber er war es gar nicht. Nicht mehr. Es war ein Trick gewesen. Androl hatte das Gesicht des Wiedergeborenen Drachen getragen.

Die anderen schrien und schlugen mit den Fäusten auf die Ogier ein, aber Mishraile fiel auf die Knie und starrte in die Leere, wo einst die Eine Macht gewesen war.


Pevara trat an Androls Seite, als die Ogier, die zu alt gewesen waren, um noch in die Schlacht zu ziehen, die Schattenlords mit festem Griff packten und tiefer in das Stedding Sholoon zogen. Lindsar, die älteste von ihnen, die sich auf einen Stock von der Dicke eines männlichen Oberschenkels stützte, kam näher.

»Wir kümmern uns um die Gefangenen, Meister Androl«, sagte Lindsar.

»Eine Hinrichtung?«, fragte Pevara.

»Bei den ältesten Bäumen, nein!« Die Ogierfrau sah beleidigt aus. »Nicht an diesem Ort, nein, hier wird nicht getötet. Wir werden sie festhalten und nicht entkommen lassen.«

»Das sind sehr gefährliche Leute, gute Ogier«, warnte Androl. »Ihr dürft nicht unterschätzen, wie verschlagen sie sind.«

Die Ogierfrau kicherte und humpelte auf die noch immer wunderschönen Bäume des Stedding zu. »Die Menschen nehmen an, dass wir nicht ebenfalls verschlagen sein können, weil wir so ruhig sind«, sagte sie. »Sollen sie entdecken, wie einfallsreich ein Verstand in Jahrhunderten werden kann. Keine Sorge, Meister Androl. Wir werden vorsichtig sein. Es wird diesen armen Seelen guttun, im Frieden des Stedding zu leben. Vielleicht verändern ein paar Jahrzehnte des Friedens ja ihre Sicht der Welt.«

Sie verschwand zwischen den Bäumen.

Androl sah Pevara an und fühlte ihre Zufriedenheit durch den Bund pulsieren, obwohl ihre Miene unbewegt war. »Das habt Ihr gut gemacht«, sagte er. »Der Plan war ausgezeichnet.«

Sie nickte zufrieden, dann verließen sie das Stedding – passierten die unsichtbare Grenze zur Einen Macht. Auch wenn Androl so müde war, dass er kaum noch klar denken konnte, gelang es ihm mühelos, Saidin zu ergreifen. Er schnappte es sich wie ein Verhungernder ein Stück Brot, obwohl er bloß wenige Minuten davon getrennt gewesen war.

Ihm tat fast schon leid, was er Donalo und den anderen angetan hatte. Ruhe in Frieden hier, alter Freund, dachte er und warf einen Blick über die Schulter. Vielleicht finden wir ja einen Weg, dich eines Tages aus dem Gefängnis zu befreien, in das sie deinen Verstand sperrten.

Jonneth kam angelaufen. »Und?«

»Erledigt«, sagte Androl.

Pevara nickte, als sie die Bäume hinter sich ließen und den Mora und die Ruinen außerhalb des Stedding erblickten. Aber sie blieben ruckartig stehen, als sie den Ort sahen, an dem die Flüchtlinge aus Caemlyn die Verwundeten und Waffen zusammengetragen hatten.

Jetzt war er voller Trollocs.

Die mordeten.


Aviendha kniete über Rhuarcs Leichnam.

Tot. Sie hatte Rhuarc getötet.

Er war nicht länger er selbst, sagte sie sich. Graendal hat ihn getötet. Ihr Gewebe hätte ihn genauso gut verbrennen können. Das ist bloß eine Hülle.

Es war bloß eine …

Es war bloß eine …

Es war bloß eine …

Kraft, Aviendha. Rands Entschlossenheit füllte sie und strahlte aus dem Bund in sie hinein. Sie schaute auf und fühlte, wie sämtliche Müdigkeit sie floh und alle ablenkenden Gedanken verschwanden.

Graendal kämpfte gegen Amys, Talaan, Alivia und Cadsuane – und Graendal gewann. Gewebe flogen hin und her und erhellten die staubige Luft, aber die von Cadsuane und den anderen verloren zusehends an Kraft. Wurden defensiver. Blitze zuckten um Amys herum in die Tiefe und schleuderten sie zu Boden. Neben Graendal verkrampfte sich Sashalle Anderly und kippte zur Seite; das Glühen der Einen Macht umgab sie nicht länger. Graendal hatte zu viel Macht durch sie gezogen und sie ausgelaugt.

Aviendha stand auf. Graendal war mächtig und verschlagen. Außergewöhnlich gut darin, Gewebe aus der Luft zu schneiden, während sie sich bildeten.

Aviendha webte Feuer, Luft, Geist. Ein glühender, brennender Speer aus Licht und Feuer erschien in ihrer Hand. Sie bereitete fünf weitere Gewebe Geist vor, dann rannte sie los.

Das Dröhnen des erbebenden Bodens begleitete ihre Schritte. Kristallblitze regneten vom Himmel und erstarrten. Menschen und Bestien heulten, als die Schattenhunde die letzte Linie der menschlichen Verteidiger vor dem Weg zu Rand erreichten.

Graendal entdeckte Aviendha und webte Baalsfeuer. Aviendha schlug es mit einem Strom Geist aus der Luft, und Graendal fluchte, webte erneut. Aviendha zerschnitt das Gewebe.

Cadsuane und Talaan schlugen mit Feuerbällen zu. Einer der gefangenen Aiel warf sich vor Graendal und starb mit einem schrillen Schrei, als ihn die Flammen verschlangen.

Aviendha rannte schnell, der Boden unter ihren Füßen raste schemenhaft vorbei, während sie den Speer aus Licht trug. Sie erinnerte sich an ihr erstes Rennen, eine der Prüfungen zur Aufnahme bei den Töchtern. An diesem Tag hatte sie den Wind unter sich gespürt, wie er sie anfeuerte.

Dieses Mal fühlte sie keinen Wind. Stattdessen hörte sie die Rufe der Krieger. Die Aiel, die kämpften, schienen sie anzufeuern. Der Laut selbst trug sie Graendal entgegen.

Die Verlorene webte ein Gewebe, bevor Aviendha es aufhalten konnte, einen mächtigen Strom Erde, der genau unter ihre Füße zielte.

Also sprang sie.

Der Boden explodierte, Steine flogen in die Höhe, während sie die Druckwelle in die Luft schleuderte. Splitter schnitten in ihre Beine, ließen Blut spritzen. Es zerfetzte ihre Füße, Knochen brachen, Beine brannten.

Inmitten des Steinsturms hielt sie den Speer aus Feuer und Licht mit beiden Händen fest. Graendal schaute ungläubig auf, öffnete den Mund. Sie würde mit der Wahren Macht Reisen. Aviendha wusste das. Die Frau hatte diese Methode des Reisens bis jetzt nur deshalb gemieden, weil sie ihre Begleiter berühren musste, um sie mitzunehmen, und sie hatte keinen zurücklassen wollen.

In diesem kurzen Augenblick, in dem Aviendha in der Luft hing, trafen sich ihre Blicke, und sie las echtes Entsetzen in den Augen der Schattenbeseelten.

Die Luft verzerrte sich.

Aviendhas Speer bohrte sich in Graendals Seite.

Einen Moment später verschwanden sie beide.

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