32 Eine gelbe Blumenspinne

Die Damane hielt für Mat ein Loch im Boden geöffnet. Es schaute auf das Schlachtfeld hinab.

Mat rieb sich das Kinn. Obwohl er diese Löcher seit mindestens einer Stunde benutzte, um den Fallen entgegenzuwirken, die Bryne für Egwenes Heer gestellt hatte, war er noch immer beeindruckt. Er hatte zusätzliche Banner seanchanischer Kavallerie losgeschickt, um beide Flanken am Fluss zu verstärken, und weitere Damane sollten die sharanischen Machtlenker bekämpfen und sich gegen die Flut der Trollocs stemmen, die die Verteidiger bedrängten.

Natürlich war diese Vorgehensweise nicht so gut, als persönlich auf dem Schlachtfeld zu sein. Vielleicht hätte er wieder losreiten und ein bisschen kämpfen sollen. Er warf einen Blick auf Tuon, die an der Wand des Befehlshauses auf einem Thron saß – einem massiven, zehn Fuß hohen Thron. Tuon erwiderte den Blick mit zusammengekniffenen Augen, als könnte sie ihm direkt in den Kopf sehen.

Sie ist eine Aes Sedai, sagte er sich. Oh, sie kann nicht die Macht lenken – noch hat sie sich nicht erlaubt, das zu lernen. Trotzdem ist sie verflucht noch mal eine von ihnen. Und ich habe sie geheiratet.

Allerdings war sie wirklich unglaublich. Jedes Mal, wenn sie Befehle erteilte, bereitete ihm das eine Gänsehaut. Bei ihr erschien das so natürlich. Elayne und Nynaeve hätten Unterricht bei ihr nehmen können. Sie sah sehr hübsch auf dem Thron aus. Er ließ den Blick noch eine Weile auf ihr ruhen, was ihm ein Stirnrunzeln einbrachte, was natürlich völlig ungerechtfertigt war. Wenn ein Mann nicht einmal seine Ehefrau lüstern anschauen durfte, wen denn dann?

Er wandte sich wieder dem Schlachtfeld zu. »Netter Trick«, sagte er, bückte sich und stieß die Hand durch das Loch. Sie waren wirklich hoch oben. Sollte er hindurchfallen, hätte er vielleicht Zeit, um drei Strophen von »Sie hat keine Knöchel, soweit ich sehe« zu summen, bevor er aufschlug. Vielleicht noch ein Stück vom Refrain.

»Die hier hat es gelernt, indem sie die Gewebe der Aes Sedai beobachtete«, sagte die Sul’dam und meint damit ihre neue Damane. Die Sul’dam, Catrona, erstickte beinahe an den Worten »Aes Sedai«. Mat konnte es ihr nicht verübeln. Diese Worte waren manchmal schwer auszusprechen.

Er bemühte sich, die Damane nicht zu genau anzuschauen, erst recht nicht die Tätowierungen auf ihren Wangen, die wie Hände aus ihrem Nacken nach vorn reichten, als wollten sie ihr Gesicht umfassen. Er war für ihre Gefangennahme verantwortlich. Aber das war besser, als wenn sie für den Schatten gekämpft hätte. Oder nicht?

Blut und verdammte Asche. Das machst du wirklich toll, Tuon dazu zu überreden, keine Damane einzusetzen, Matrim Cauthon. Nimmst nur selbst eine gefangen …

Es war beunruhigend, wie schnell sich die Sharanerin an ihre Gefangenschaft gewöhnt hatte. Alle Sul’dam hatten sich dementsprechend geäußert. Nur ein kurzer Augenblick des Widerstands, dann völlige Unterwerfung. Normalerweise veranschlagten sie Monate, um eine neue gefangene Damane abzurichten, aber die hier war innerhalb von Stunden bereit gewesen. Catrona strahlte förmlich, als wäre sie selbst für das Temperament der Sharanerin verantwortlich.

Das Loch war erstaunlich. Mat stand direkt am Rand und schaute auf die Welt, zählte Banner und Schwadronen, um sie sich einzuprägen. Er fragte sich, was Classen Bayor mit so einem Loch angefangen hätte. Vielleicht wäre die Schlacht von Kolesar anders ausgegangen. Dann hätte er seine Kavallerie nicht im Sumpf verloren, so viel stand fest.

Seine Streitkräfte hielten den Schatten an der Ostgrenze von Kandor weiterhin fest, aber die derzeitige Situation gefiel ihm keineswegs. Brynes Falle war ausgesprochen subtil gewesen, so schwer zu sehen wie eine gelbe Blumenspinne auf einem Blütenblatt. Das hatte ihn erst darauf aufmerksam gemacht. Es war ein wahres militärisches Genie erforderlich gewesen, um ein Heer in eine so schlimme Situation zu bringen, ohne es aber so aussehen zu lassen, als sei das Heer in einer schlimmen Situation. So etwas geschah nicht zufällig.

Mat hatte mehr Männer verloren, als er zählen wollte. Seine Leute standen gegen den Fluss gedrängt, und obwohl Demandred weiterhin irgendwelchen Unsinn über den Wiedergeborenen Drachen brüllte, forderte er ständig seine Verteidigung heraus und versuchte, einen Schwachpunkt zu finden; er schickte die schwere Kavallerie gegen die eine Seite, dann gab es auf der anderen einen Angriff von sharanischen Bogenschützen und Trollocs. Deshalb musste Mat Demandreds Bewegungen scharf im Auge behalten, um die nötigen Abwehrmaßnahmen zu treffen.

Bald würde die Nacht hereinbrechen. Würde sich der Schatten zurückziehen? Die Trollocs konnten in der Dunkelheit kämpfen, diese Sharaner möglicherweise nicht. Er gab eine weitere Reihe von Befehlen, und Boten galoppierten durch Wegetore, um sie zu überbringen. Es hatte den Anschein, als würden nur Augenblicke vergehen, bevor seine Truppen in der Tiefe unter ihm reagierten. »So schnell …«, sagte er.

»Das wird die Welt verändern«, frohlockte General Galgan. »Boten können sofort reagieren; Kommandanten können ihre Schlacht verfolgen und sofort planen.«

Mat grunzte zustimmend. »Aber ich wette, man muss weiter den ganzen verfluchten Abend warten, bis das Essen aus dem Verpflegungszelt kommt.«

Galgan lächelte tatsächlich. Es war, als würde man einem Felsen dabei zusehen, wie er sich spaltete.

»Sagt mir, General«, sagte Tuon. »Wie schätzt Ihr die Fähigkeiten meines Gemahls ein?«

»Ich weiß nicht, wo Ihr ihn gefunden habt, Allergrößte, aber er ist ein Juwel von großem Wert. Ich habe ihn die letzten Stunden beobachtet, als er die Streitkräfte der Weißen Burg gerettet hat. Trotz seines … unkonventionellen Stils ist mir selten ein so begabter Befehlshaber untergekommen.«

Tuon lächelte nicht, aber Mat sah ihr an, dass sie erfreut war. Das waren wirklich hübsche Augen. Und wenn sich Galgan einmal nicht so schroff benahm, würde das hier vielleicht doch gar kein so übler Ort sein.

»Danke«, sagte Mat leise, als er und Galgan sich wieder nach vorn beugten, um das Schlachtfeld unter ihnen zu beobachten.

»Ich betrachte mich als Mann der Wahrheit, mein Prinz«, sagte Galgan und rieb sich mit dem schwieligen Finger das Kinn. »Ihr werdet dem Kristallthron gut dienen. Es wäre eine Schande, Euch zu früh umbringen zu lassen. Ich werde dafür sorgen, dass die Ersten, die ich zu Euch schicke, noch unerfahren sind, damit Ihr sie mühelos aufhalten könnt.«

Mat fühlte, wie sein Mund offen stehen blieb. Der Mann sagte das doch tatsächlich mit völliger Offenheit, beinahe schon mit Zuneigung. Als wollte er Mat mit dem Versuch, ihn umzubringen, einen Gefallen tun!

»Die Trollocs da …« – er zeigte auf eine Gruppe tief unter ihnen – »… werden sich bald zurückziehen.«

»Da stimme ich zu«, erwiderte Galgan.

Mat rieb sich das Kinn. »Wir müssen abwarten, was Demandred mit ihnen macht. Ich habe die Befürchtung, die Sharaner könnten in der Nacht versuchen, einige ihrer Marath’Damane einzuschmuggeln. Sie beweisen eine erstaunliche Hingabe an ihre Sache. Oder eine verfluchte Missachtung jeglicher Selbsterhaltung.«

Aes Sedai und Sul’dam konnte man nun wirklich nicht als furchtsam bezeichnen, aber für gewöhnlich waren sie vorsichtig. Auf die sharanischen Machtlenker traf das nicht einmal ansatzweise zu, vor allem nicht auf die Männer.

»Ein paar Damane sollen am Fluss Licht machen«, sagte Mat. »Und riegelt das Lager ab, und ein Kreis aus Damane soll im ganzen Lager verteilt nach Machtlenkern Ausschau halten. Niemand lenkt die Macht, nicht einmal, um eine verdammte Kerze zu entzünden.«

»Das könnte den … Aes Sedai nicht gefallen«, meinte General Galgan. Auch er zögerte, die Worte Aes Sedai auszusprechen. Mat hatte den Befehl gegeben, diesen Begriff zu benutzen statt Marath’Damane, und er hatte damit gerechnet, dass Tuon ihn widerrufen würde. Aber das hatte sie nicht.

Diese Frau verstehen zu lernen würde viel Vergnügen machen, falls sie beide diesen verdammten Schlamassel überleben sollten.

Tylee betrat den Raum. Hochgewachsen und mit einem vernarbten Gesicht versehen, bewegte sich die dunkelhäutige Frau mit dem Selbstbewusstsein einer langjährigen Soldatin. Sie warf sich mit ihrer blutverschmierten und verbeulten Rüstung vor Tuon zu Boden. Ihre Legion hatte heute Prügel bezogen, und vermutlich fühlte sie sich wie ein Teppich, an dem sich die Hausfrau ausgetobt hatte.

»Ich sorge mich um unsere Position hier.« Mat drehte sich wieder um und ging in die Hocke, spähte durch das Loch. Wie er vorhergesagt hatte, zogen sich die Trollocs zurück.

»Warum?«, wollte General Galgan wissen.

»Wir haben unsere Machtlenker völlig erschöpft. Und wir sind zum Fluss zurückgewichen, eine schwierige Position, wenn man sie lange verteidigen will, vor allem gegen ein so großes Heer. Sollten sie ein paar Wegetore weben und einen Teil der Sharaner in der Nacht auf diese Flussseite schaffen, könnten sie uns zerschmettern.«

Galgan schüttelte den Kopf. »Ich verstehe, was Ihr meint. Mit ihrer Stärke werden sie uns weiter bedrängen, bis wir erschöpft sind, dann können sie uns eine Schlinge umlegen und zuziehen.«

Mat blickte Galgan in die Augen. »Ich glaube, es wird Zeit, diese Position aufzugeben.«

»Ich stimme zu, das scheint der einzig vernünftige Ausweg zu sein.« Galgan nickte. »Warum suchen wir uns kein Schlachtfeld aus, das uns größere Vorteile bietet? Werden Eure Freunde von der Weißen Burg einem Rückzug zustimmen?«

»Finden wir es heraus.« Mat richtete sich wieder auf. »Jemand soll nach Egwene und den Sitzenden schicken.«

»Sie werden nicht kommen«, sagte Tuon. »Die Aes Sedai werden sich nicht mit uns hier treffen. Ich bezweifle, dass diese Amyrlin mich in ihr Lager lässt, nicht bei den Schutzmaßnahmen, die ich verlangen würde.«

»Schön.« Mat deutete auf das Wegetor im Boden, das die Damane daraufhin schloss. »Benutzen wir eben ein Wegetor und sprechen da durch, als wäre es eine Tür.«

Tuon erhob keine Einwände, also schickte Mat Boten. Es dauerte eine Weile, bis alles geregelt war, aber Egwene schien die Idee ebenfalls zu gefallen. Tuon unterhielt sich während der Wartezeit damit, ihren Thron auf die andere Seite des Raumes schaffen zu lassen – Mat hatte nicht die geringste Ahnung, wozu das gut sein sollte. Dann fing sie an, Min zu ärgern. »Und der hier?«, fragte die Kaiserin, als ein schlanker Angehöriger des Blutes eintrat und sich verneigte.

»Er wird bald heiraten«, sagte Min.

»Ihr werdet zuerst die Omen nennen«, verlangte Tuon, »und dann die Interpretation, wenn es Euch danach verlangt.«

»Ich weiß genau, was dieses Bild zu bedeuten hat«, protestierte Min. Man hatte sie auf einen kleinen Thron neben der Kaiserin gesetzt. Das Mädchen war so in feines Tuch und Spitze gehüllt, dass es an eine Maus erinnerte, die sich in einem Seidenballen verbarg. »Manchmal weiß ich sofort Bescheid und …«

»Ihr werdet zuerst die Omen nennen«, wiederholte Tuon im genau gleichen Tonfall. »Und Ihr werdet mich als Allergrößte anreden. Es ist eine hohe Ehre, dass Ihr mich direkt ansprechen dürft. Lasst Euch nicht vom Benehmen des Prinzen der Raben verleiten, ihm nachzueifern.«

Min hielt den Mund, aber sie wirkte keineswegs eingeschüchtert. Sie hatte zu viel Zeit in der Gesellschaft von Aes Sedai verbracht, um sich von Tuon herumschubsen zu lassen. Das bereitete Mat Sorgen. Er hatte eine ziemlich genaue Vorstellung, wozu Tuon fähig war, sollte sie nicht mit Min zufrieden sein. Er liebte sie – beim Licht, da war er sich ziemlich sicher. Aber er gestattete sich auch, ein kleines bisschen Angst vor ihr zu haben.

Er würde aufpassen müssen, damit Tuon sich nicht entschied, Min zu »erziehen«.

»Das Omen für diesen Mann«, sagte Min und kontrollierte ihren Tonfall mit – wie es schien – einiger Mühe, »ist weißer Spitzenstoff, der in einem Teich treibt. Ich weiß, dass das bedeutet, dass er in naher Zukunft heiraten wird.«

Tuon nickte. Sie signalisierte Selucia etwas – der Mann, über den sie sprachen, gehörte dem Niederen Blut an und besaß damit nicht den nötigen Rang, um direkt mit der Kaiserin sprechen zu können. Sein Kopf schwebte so nahe am Boden, dass es den Anschein hatte, als hätte er eine plötzliche Faszination für Käfer entdeckt und wollte einen für seine Sammlung aussuchen.

»Lord Gokhan vom Blut«, intonierte Selucia in ihrer Rolle als Stimme, »soll sich in die vorderste Frontlinie begeben. Es ist ihm verboten, bis zum Ende dieses Konflikts zu heiraten. Die Omen haben verkündet, dass er lange genug leben wird, um eine Frau zu finden, also wird er beschützt sein.«

Min verzog das Gesicht und öffnete den Mund, vermutlich um zu widersprechen, dass das nicht auf diese Weise funktionierte. Mat fing ihren Blick ein und schüttelte den Kopf, und sie gab nach.

Tuon ließ die Nächste kommen, eine junge Soldatin, die nicht dem Adel angehörte. Die Frau hatte helle Haut und gar kein so übles Gesicht, allerdings konnte Mat unter der unförmigen Rüstung nur wenig erkennen. Die Rüstungen von Männern und Frauen unterschieden sich nicht sehr voneinander, was er bedauerlich fand. Er hatte einen seanchanischen Plattner gefragt, ob es denn nicht von Vorteil wäre, gewisse Teile eines Frauenharnischs sozusagen zu betonen, und der Mann hatte ihn nur angesehen, als wäre er nicht richtig bei Verstand. Beim Licht, diese Leute hatten kein Gespür für Sittlichkeit. Ein Bursche musste doch wissen, ob er auf dem Schlachtfeld gegen eine Frau kämpfte. Das gebot doch der Anstand.

Während Min ihre Omen verkündete, setzte sich Mat auf seinen Stuhl, legte die Füße auf den Kartentisch und suchte in seiner Tasche nach seiner Pfeife. Diese Soldatin sah wirklich nicht schlecht aus, auch wenn er die wichtigen Teile nicht sehen konnte. Sie würde gut zu Talmanes passen. Dieser Mann verbrachte einfach nicht genug Zeit damit, sich Frauen anzusehen. In ihrer Gegenwart war er schüchtern, so war Talmanes nun einmal.

Mat ignorierte die Blicke seiner Umgebung, als er den Stuhl nach hinten kippte, sich mit den Hacken auf dem Kartentisch abstützte und seine Pfeife stopfte. Seanchaner konnten ja so empfindlich sein.

Er war sich nicht sicher, was er davon halten sollte, dass bei den Seanchanern so viele Frauen im Heer dienten. Viele von ihnen schienen wie Birgitte zu sein, was ja nicht schlecht war. Er hätte lieber mit ihr einen Abend in einer Schenke verbracht als mit der Hälfte der ihm bekannten Männer.

»Ihr werdet hingerichtet«, ließ Tuon der Soldatin durch Selucia ausrichten.

Um ein Haar wäre Mat von seinem Stuhl gepurzelt. Blitzschnell griff er nach dem Tisch vor ihm, und die Vorderbeine des Stuhls landeten hart auf dem Boden.

»Was?«, verlangte Min zu wissen. »Nein!«

»Ihr saht das Zeichen des Weißen Ebers«, sagte Tuon.

»Ich kannte seine Bedeutung nicht!«

»Der Eber ist das Symbol eines gewissen Handoin, einer meiner Rivalen in Seanchan«, erklärte Tuon geduldig. »Der Weiße Eber ist ein Omen der Gefahr, vielleicht sogar des Verrats. Diese Frau arbeitet für ihn oder wird es in der Zukunft tun.«

»Ihr könnt sie nicht einfach so hinrichten!«

Tuon blinzelte einmal und blickte Min direkt an. Plötzlich schien die Temperatur im Raum zu sinken und wurde kälter. Mat fröstelte. Es gefiel ihm nicht, wenn Tuon so wurde. Dieser starre Blick … er schien einer Fremden zu gehören. Jemandem ohne Mitgefühl. Eine Statue war lebendiger.

Selucias Finger bewegten sich hektisch. Tuon sah sie an, dann nickte sie.

»Ihr seid meine Wahrheitssprecherin«, sagte sie fast zögernd zu Min. »Ihr dürft mich in der Öffentlichkeit berichtigen. Seht Ihr einen Fehler in meiner Entscheidung?«

»Ja, das tue ich«, erwiderte Min ohne zu zögern. »Ihr verwendet meine Fähigkeiten nicht so, wie Ihr solltet.«

»Und wie sollte ich das tun?«, fragte die Kaiserin. Die Soldatin, die soeben ihr Todesurteil erhalten hatte, lag noch immer reglos da. Sie erhob keinen Einspruch – ihr fehlte der nötige Rang, um die Kaiserin ansprechen zu dürfen. Ihre Stellung war sogar so niedrig, dass sie die Ehre verletzen würde, wenn sie überhaupt jemand in Tuons Umgebung anspräche.

»Was jemand vielleicht irgendwann einmal tun wird, ist kein Grund, ihn zu töten«, sagte Min. »Ich will nicht respektlos sein, aber wenn Ihr wegen meiner Worte Leute umbringt, spreche ich nicht mehr.«

»Man kann Euch zum Sprechen bringen.«

»Versucht es«, sagte Min leise. Mat zuckte zusammen. Verdammte Asche, sie sah genauso kalt aus wie Tuon eben. »Sehen wir, wie Euch das Muster behandelt, Kaiserin, wenn Ihr die Überbringerin von Omen foltern lasst.«

Überraschenderweise lächelte Tuon. »Ihr geht gut damit um. Erklärt mir, was Ihr wünscht, Überbringerin von Omen.«

»Ich werde Euch meine Visionen mitteilen«, sagte Min, »aber von jetzt an bleiben der Allgemeinheit die Interpretationen verborgen – ob es sich nun um meine Deutung handelt oder um das, was Ihr aus den Bildern herauslest. Am besten bleiben sie unter uns. Ihr dürft jemanden wegen meiner Worte beobachten lassen, ihn aber nicht bestrafen – nicht ehe ihr ihn bei etwas erwischt. Lasst diese Frau gehen.«

»So soll es sein«, sagte Tuon. »Ihr seid frei«, ließ sie dann durch Selucia verkünden. »Geht in Treue zum Kristallthron. Man wird Euch im Auge behalten.«

Die Frau ging mit tief gesenktem Kopf rückwärts aus dem Raum. Mat sah, wie ihr Schweißperlen die Schläfe hinunterrannen. Also war sie doch keine Statue.

Er wandte sich wieder Tuon und Min zu. Die beiden starrten einander noch immer an. Keine Messer waren blankgezogen, aber es kam ihm so vor, als hätte jemand einen Stich davongetragen. Wenn Min doch bloß nur etwas Respekt lernen würde. Eines Tages würde er sie am Kragen von den Seanchanern wegschleifen müssen, dem Henker einen Schritt voraus, da war er sich sicher.

Plötzlich durchschnitt ein Wegetor die Luft auf der Seite des Raums, die Tuon angewiesen hatte. Schlagartig wurde Mat klar, warum sie den Thron hatte verschieben lassen. Hätte man die Damane gefangen genommen und gezwungen, zu verraten, wo die Kaiserin saß, hätte eine Aes Sedai ein Wegetor genau an dieser Stelle öffnen und sie in zwei Teile schneiden können. Das war so unwahrscheinlich, dass es schon lächerlich war – eher konnte eine Aes Sedai fliegen als jemanden töten, der kein Schattenfreund war –, aber Tuon ging kein Risiko ein.

Das Tor öffnete sich und enthüllte den Saal der Burg, der in einem Zelt saß. Hinter ihnen thronte Egwene auf einem großen Stuhl. Es handelte sich um den richtigen Amyrlin-Sitz, wie Mat erkannte. Blut und Asche … sie hat ihn extra herschaffen lassen.

Egwene sah erschöpft aus, konnte das aber halbwegs überzeugend verbergen. Die anderen sahen nicht besser aus. Die Aes Sedai waren bis an ihre Grenzen gegangen. Wäre sie eine Soldatin gewesen, hätte er sie niemals in die Schlacht geschickt. Blut und verdammte Asche – hätte er einen Soldaten mit solch bleichem Gesicht und diesem Ausdruck in den Augen vor sich gehabt, hätte er dem Burschen eine Woche Bettruhe befohlen.

»Wir sind neugierig, den Zweck dieses Treffens zu erfahren«, sagte Saerin beherrscht.

Silviana saß neben Egwene auf einem kleineren Stuhl, und die restlichen Schwestern waren nach ihren Ajah eingeteilt. Aber Mat schätzte, dass einige fehlten, einschließlich einer der Gelben.

Tuon nickte Mat zu. Er sollte diese Konferenz leiten. Als Erwiderung tippte er sich an die Hutkrempe, was ihm eine hochgezogene Braue einbrachte. Ihr gefährlicher Ausdruck war verschwunden, obwohl sie noch immer die personifizierte Kaiserin war.

»Aes Sedai«, sagte Mat, stand auf und lüftete den Hut für die Sitzenden. »Der Kristallthron weiß es zu schätzen, dass ihr endlich zu Verstand gekommen seid und uns die Schlacht führen lasst.«

Silvianas Augen quollen hervor, als wäre ihr gerade jemand auf den Fuß getreten. Aus dem Augenwinkel sah Mat, wie der Hauch eines Lächelns Tuons Mundwinkel umspielte. Blut und verdammte Asche, beide Frauen sollten es eigentlich besser wissen, als ihn so zu ermutigen.

»Du drückst dich so gewählt aus wie immer, Mat«, sagte Egwene trocken. »Hast du noch immer deinen geliebten Fuchs?«

»Habe ich«, erwiderte er. »Er schmiegt sich warm an.«

»Dann pass auf ihn auf. Ich möchte nicht zusehen müssen, wie du Gareth Brynes Schicksal teilst.«

»Also war es wirklich der Zwang?« Egwene hatte ihm einen vorläufigen Bericht geschickt.

»Soweit wir das beurteilen können«, sagte Saerin. »Wie man mir berichtet hat, vermag Nynaeve Sedai die Gewebe im Verstand einer Person zu erkennen, aber der Rest von uns verfügt nicht über diese Fähigkeit.«

»Unsere Heilerinnen sehen sich Bryne an«, sagte eine stämmige Domani-Schwester. »Im Augenblick können wir keinem Schlachtplan trauen, an dem er beteiligt war, zumindest nicht, bis wir ergründen können, wie lange er schon unter dem Daumen des Schattens steht.«

Mat nickte. »Das leuchtet mir ein. Also, wir müssen unsere Streitkräfte von der Furt zurückziehen.«

»Warum?«, verlangte Lelaine zu wissen. »Wir haben die Lage stabilisiert.«

»Nicht gut genug«, erwiderte Mat. »Mir gefällt dieses Gelände nicht, und wir sollten nicht dort kämpfen müssen, wo wir nicht wollen.«

»Ich bin nicht gewillt, dem Schatten ohne guten Grund auch nur einen zusätzlichen Zoll Boden zuzugestehen«, sagte Saerin.

»Ein Schritt, den wir jetzt aufgeben, kann uns im Morgengrauen zwei weitere einbringen«, sagte Mat.

General Galgan murmelte zustimmend, und Mat wurde sich bewusst, dass er gerade Falkenflügel zitiert hatte.

Saerin runzelte die Stirn. Die anderen schienen ihr die Führung zu überlassen. Egwene saß hinter ihnen und hielt sich größtenteils aus allem heraus, die Finger verschränkt.

»Vielleicht sollte ich Euch sagen«, verkündete Saerin, »dass unser Großer Hauptmann nicht das einzige Ziel war. Davram Bashere und Lord Agelmar versuchten ebenfalls, ihre Heere in die Vernichtung zu führen. Elayne Sedai hat sich gut in ihrer Schlacht geschlagen und eine beträchtliche Streitmacht des Schattengezüchts vernichtet, aber das gelang ihr nur wegen des Eingreifens der Schwarzen Burg. Die Grenzländer wurden vernichtet, verloren fast zwei Drittel ihrer Männer.«

Mat fröstelte. Zwei Drittel? Licht! Sie gehörten zu den besten Truppen, die dem Licht zur Verfügung standen. »Lan?«

»Lord Mandragoran lebt.«

Nun, das war wenigstens etwas. »Und was ist mit dem Heer oben in der Fäule?«

»Lord Ituralde fiel in der Schlacht«, berichtete Saerin. »Niemand scheint genau zu wissen, was mit ihm geschehen ist.«

»Das ist raffiniert geplant worden.« Mats Gedanken rasten. »Verflucht! Sie haben versucht, alle vier Fronten auf einen Schlag zu zerstören. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, welche Koordination dazu erforderlich war …«

»Wie ich bereits bemerkte«, warf Egwene leise ein, »müssen wir sehr vorsichtig sein. Halte deinen Fuchs immer in deiner Nähe.«

»Was will Elayne tun?«, erkundigte sich Mat. »Hat sie nicht den Oberbefehl?«

»Im Augenblick hilft Elayne Sedai den Grenzländern«, sagte Saerin. »Sie hat uns unterrichtet, dass Shienar so gut wie verloren ist, und sie lässt das Heer von Lord Mandragoran von den Asha’man an einen sicheren Ort bringen. Morgen will sie ihr Heer durch Wegetore führen und die Trollocs in der Fäule festhalten.«

Mat schüttelte den Kopf. »Wir müssen vereint kämpfen.« Er zögerte. »Können wir sie durch eines dieser Tore herbringen? Oder zumindest mit ihr in Verbindung treten?«

Niemand erhob Einwände. Nach kurzer Zeit öffnete sich in dem Zelt mit Egwene und den Sitzenden ein weiteres Tor. Elayne trat mit dick gewölbtem Bauch hindurch, und ihre Augen schienen beinahe Blitze zu schleudern. Hinter ihr erhaschte Mat einen Blick auf erschöpfte Soldaten, die sich im matten Abendlicht über ein Feld schleppten.

»Beim Licht«, sagte Elayne. »Mat, was willst du?«

»Du hast deine Schlacht gewonnen?«

»So gerade eben. Die Trollocs in Cairhien wurden vernichtet. Die Stadt selbst ist ebenfalls sicher.«

Mat nickte. »Ich muss mich von unserer Position hier zurückziehen.«

»Schön«, erwiderte Elayne. »Vielleicht können wir deine Streitmacht mit den Resten der Grenzländer zusammenlegen.«

»Ich will mehr als das tun, Elayne.« Mat trat einen Schritt vor. »Diese List des Schattens … sie war schlau, Elayne. Verflucht schlau. Wir sind blutig geschlagen und fast gebrochen. Wir können uns nicht länger den Luxus leisten, an verschiedenen Fronten zu kämpfen.«

»Was dann?«

»Ein letzter Kampf«, sagte Mat leise. »Wir alle zusammen, an einem Ort, wo das Terrain auf unserer Seite ist.«

Elayne verstummte, und jemand brachte ihr einen Stuhl, damit sie sich neben Egwene setzen konnte. Sie hielt sich weiterhin wie eine Königin, aber ihr zerzaustes Haar und das an einigen Stellen verbrannte Kleid wiesen deutlich darauf hin, was sie alles durchgemacht hatte. Mat konnte den Rauch riechen, der von ihrem Schlachtfeld durch das noch immer geöffnete Tor herüberdrang.

»Das klingt verzweifelt«, sagte Elayne schließlich.

»Wir sind verzweifelt«, meinte Saerin.

»Wir sollten unsere Kommandanten fragen …« Elayne verstummte. »Falls es welche gibt, bei denen wir uns darauf verlassen können, dass sie nicht unter Zwang stehen.«

»Da gibt es nur einen«, sagte Mat grimmig und erwiderte ihren Blick. »Und er sagt dir, dass wir erledigt sind, wenn wir so weitermachen wie bisher. Der frühere Plan war durchaus gut, aber nach unseren heutigen Verlusten … Elayne, wenn wir nicht einen Ort erwählen, an dem wir gemeinsam stehen und kämpfen, sind wir tot.«

Ein letzter Wurf der Würfel.

Elayne saß eine Weile schweigend da. »Wo?«, fragte sie schließlich.

»Tar Valon?«, fragte Gawyn.

»Nein«, sagte Mat. »Sie würden es einfach belagern und weitermachen. Es kann keine Stadt sein, in der man uns einschließt. Wir brauchen ein Gelände, das zu unseren Gunsten arbeitet, und ein Land, das die Trollocs nicht ernähren kann.«

Elayne verzog das Gesicht. »Nun, ein Ort in den Grenzlanden müsste da reichen. Lans Heer hat so gut wie jede Stadt und jedes Feld niedergebrannt, um dem Schatten sämtliche Ressourcen vorzuenthalten.«

»Karten«, verlangte Mat und schwenkte den Arm. »Jemand soll mehr Karten besorgen. Wir brauchen einen Ort im südlichen Shienar oder Arafel. Nahe genug, dass es den Schatten anlocken kann, ein Ort, an dem er uns alle zugleich bekämpfen kann …«

»Aber geben wir ihnen nicht genau das, was sie wollen? Die Gelegenheit, uns auf einen Schlag zu vernichten?«, fragte Elayne.

»Ja«, erwiderte Mat leise, während die Aes Sedai Karten durch das Tor schickten. Sie wiesen Markierungen auf, die anscheinend in General Brynes Handschrift erfolgt waren. »Wir müssen ein verlockendes Ziel sein. Wir müssen sie anlocken und uns ihnen stellen – und sie entweder besiegen oder von ihnen vernichtet werden.«

Ein langer Kampf diente nur dem Schatten. Sobald genug Trollocs die südlichen Länder erreichten, würde man sie nicht länger aufhalten können. Mat musste schnell siegen oder verlieren.

In der Tat ein letzter Wurf.

Mat zeigte auf einen Ort auf den Karten, einen Ort, den Bryne mit vielen Anmerkungen versehen hatte. Es gab eine gute Wasserversorgung, Hügel und Flüsse trafen auf angenehme Weise aufeinander. »Dieser Ort. Merrilor? Ihr habt ihn als Nachschublager benutzt?«

Saerin kicherte leise. »Also gehen wir dorthin zurück, wo alles anfing, richtig?«

»Es gibt ein paar kleine Befestigungen«, sagte Elayne. »Auf der einen Seite errichteten die Männer eine Palisade, und wir könnten sie ausbauen.«

»Genau das brauchen wir«, sagte Mat und stellte sich dort eine Schlacht vor.

Merrilor würde sie zwischen die beiden großen Trolloc-Heere platzieren, die beide ankommen und versuchen würden, die Menschen zwischen ihnen zu zermalmen. Das würde verlockend sein. Aber das Terrain würde sich wunderbar dazu eignen, damit er …

Ja. Es würde genau wie die Schlacht an der Landenge von Priya sein. Wenn er Bogenschützen an diesen Hängen aufstellte – nein, Drachen – und den Aes Sedai ein paar Tage Ruhe verschaffte … Die Landenge von Priya. Er hatte darauf gezählt, einen großen Fluss zur Verfügung zu haben, um das Heer von Hamarean am Eingang der Landenge in die Falle zu locken. Aber dann war ihm der verfluchte Fluss versiegt; die Hamareaner hatten ihn auf der anderen Seite der Landenge aufgestaut. Sie waren einfach durch das Flussbett gegangen und so davongekommen. Das ist eine Lektion, die ich nicht vergessen werde.

»Das wird gehen«, sagte er und legte die Hand auf die Karte. »Elayne?«

»Tun wir es«, sagte Elayne. »Ich hoffe, du weißt, was du machst, Mat.«

Und sie hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als die Würfel anfingen, in seinem Kopf zu poltern.


Galad schloss Troms Augen. Über eine Stunde hatte er das Schlachtfeld nördlich von Cairhien nach ihm abgesucht. Trom war verblutet, nur ein paar Flecken seines Umhangs waren noch weiß. Galad riss den Offiziersknoten von seiner Schulter, der erstaunlicherweise sauber war, und stand auf.

Er war erschöpft bis auf die Knochen. Er ging zurück über das Schlachtfeld, vorbei an aufgeschichteten Toten. Die Krähen und Raben waren gekommen; sie schienen sich wie eine Decke über die Landschaft hinter ihm gelegt zu haben. Eine wogende, bebende Finsternis, die den Boden wie Schimmel bedeckte. Aus der Ferne hatte es den Anschein, als hätte man den Untergrund verbrannt, so viele Aasfresser gab es.

Gelegentlich kam Galad an anderen Männern wie ihm vorbei, die zwischen den Leichen nach Freunden suchten. Es gab überraschend wenig Plünderer – auf die musste man immer auf einem Schlachtfeld aufpassen. Elayne hatte ein paar erwischt, die sich aus der Stadt schleichen wollten. Sie hatte gedroht, sie aufzuhängen.

Sie ist härter geworden, dachte Galad und ging mit schweren, erschöpften Schritten weiter in Richtung Lager. Seine Stiefel fühlten sich wie Blei an seinen Füßen an. Das ist gut. Als Kind hatte sie oft mit dem Herzen entschieden. Jetzt war sie die Königin, und sie handelte dementsprechend. Wenn er doch nur ihren moralischen Kompass in die richtige Richtung hätte lenken können. Sie war kein schlechter Mensch, aber Galad wünschte sich, dass sie und die anderen Monarchen alles so klar erkennen würden wie er.

Langsam begann er sich damit abzufinden, dass sie es nicht taten. Allmählich akzeptierte er, dass das durchaus in Ordnung war, solange sie ihr Bestes gaben. Was auch immer in seinem Inneren steckte, das ihm erlaubte, das Wahrhaftige zu erkennen, war offensichtlich ein Geschenk des Lichts, und andere zu verachten, weil sie nicht damit geboren worden waren, war einfach falsch. So wie es falsch sein würde, einen Mann zu verachten, weil er nur mit einer Hand geboren worden und darum ein schlechter Schwertkämpfer war.

An den seltenen Stellen, an denen es weder Leichen noch Blut gab, saßen viele der Überlebenden. Diese Männer sahen nicht wie die Sieger einer Schlacht aus, auch wenn die Ankunft der Asha’man diesen Tag gerettet hatte. Das Manöver mit der Lava hatte Elaynes Heer die Atempause verschafft, die es gebraucht hatte, um sich neu zu formieren und anzugreifen.

Dieser Kampf war schnell, aber brutal gewesen. Trollocs ergaben sich nicht, und man durfte nicht zulassen, dass sie die Flucht ergriffen. Also hatten Galad und die anderen gekämpft, geblutet und waren lange über den Augenblick hinaus gestorben, an dem es offensichtlich geworden war, dass sie siegreich sein würden.

Die Trollocs waren nun tot. Die übrig gebliebenen Männer saßen da und starrten auf das Leichentuch, als würde sie die Vorstellung betäuben, unter den Tausenden von Toten nach den paar Lebenden suchen zu müssen.

Die untergehende Sonne und die alles erstickenden Wolken färbten das Licht rot und tauchten Gesichter in einen blutigen Dunst.

Irgendwann erreichte Galad den langen Hügel, der die beiden Schlachtfelder voneinander trennte. Langsam stieg er ihn empor und verdrängte Gedanken, wie gut sich doch ein Bett anfühlen würde. Oder eine Pritsche. Oder ein flacher Fels an einem weit entfernten Ort, wo er seinen Umhang ausrollen konnte.

Die frische Luft oben auf dem Hügel traf ihn wie ein Schlag. Er hatte Blut und Tod nun so lange gerochen, dass die saubere Luft jetzt irgendwie falsch erschien. Kopfschüttelnd ging er an erschöpften Grenzländern vorbei, die aus Wegetoren stolperten. Die Asha’man waren losgezogen, um die Trollocs im Norden in Schach zu halten, damit Lord Mandragorans Heere entkommen konnten.

Soweit er gehört hatte, waren die Heere der Grenzländer auf einen Bruchteil ihres ursprünglichen Umfangs geschrumpft. Lord Mandragoran und seine Männer hatten den Verrat eines der Großen Hauptmänner am schlimmsten zu spüren bekommen, und das machte Galad ganz krank, denn diese Schlacht war weder für ihn noch sonst jemanden in Elaynes Gefolge leicht gewesen. Sie war sogar schrecklich gewesen – aber so schlimm alles auch gewesen war, für die Grenzländer war der Kampf noch schlimmer verlaufen.

Galad behielt mühsam seinen Mageninhalt bei sich, als ihn der Blick vom Hügel erst richtig sehen ließ, wie viele Aasfresser zum Mahl gekommen waren. Die Helfer des Dunklen Königs fielen, und die Helfer des Dunklen Königs stopften sich voll.

Schließlich fand er Elayne. Die leidenschaftlichen Worte, die sie gerade an Tam al’Thor und Arganda richtete, überraschten ihn.

»Mat hat recht«, sagte sie. »Das Feld von Merrilor ist ein gutes Schlachtfeld. Licht! Ich wünschte, wir könnten den Leuten mehr Zeit verschaffen, um sich auszuruhen. Uns bleiben nur ein paar Tage, bestenfalls eine Woche, bevor die Trollocs hinter uns Merrilor erreichen.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir hätten ahnen müssen, dass diese Sharaner kommen. Wenn das Kartenspiel aussieht, als wäre es gegen den Dunklen König gemischt, dann wirft er einfach ein paar neue Karten ins Spiel.«

Galads Stolz erforderte, dass er dort stehen blieb, während er zuhörte, wie Elayne mit den anderen Kommandanten sprach. Aber dieses eine Mal verlor sein Stolz, und er ließ sich auf einen Hocker sacken und beugte sich nach vorn.

»Galad«, sagte Elayne, »du solltest wirklich einem Asha’man erlauben, deine Müdigkeit zu beseitigen. Dein Beharren, sie wie Aussätzige zu behandeln, ist lächerlich.«

Galad richtete sich auf. »Das hat nichts mit den Asha’man zu tun«, fauchte er. Viel zu streitlustig. Er war müde. »Diese Erschöpfung erinnert mich daran, was wir heute verloren haben. Es ist die Erschöpfung, die meine Männer ertragen müssen, also werde ich das auch, damit ich nicht vergesse, wie müde sie sind und sie zu sehr antreibe.«

Elayne betrachtete ihn stirnrunzelnd. Er hatte schon vor langer Zeit damit aufgehört, sich zu sorgen, dass seine Worte sie möglicherweise beleidigen könnten. Anscheinend konnte er nicht einmal sagen, dass ein Tag angenehm oder sein Tee heiß war, ohne dass sie irgendwie daran Anstoß nahm.

Es wäre nett gewesen, wäre Aybara nicht weggelaufen. Dieser Mann war ein Anführer – einer der wenigen, die Galad je kennengelernt hatte –, mit dem man sich wirklich unterhalten konnte, ohne sich sorgen zu müssen, dass er daran Anstoß nahm. Vielleicht würden die Zwei Flüsse ja ein guter Ort sein, an dem sich die Weißmäntel ansiedeln konnten.

Natürlich gab es da dieses böse Blut zwischen ihnen. Möglicherweise konnte er daran arbeiten …

Ich habe sie Weißmäntel genannt, dachte er einen Augenblick später. In meinen Gedanken habe ich die Kinder gerade so bezeichnet. Es war schon lange her, dass ihm das das letzte Mal passiert war.

»Euer Majestät«, sagte Arganda. Er stand neben Logain, dem Anführer der Asha’man, und Havien Nurelle, dem neuen Befehlshaber der Geflügelten Wachen. Talmanes von der Bande der Roten Hand gesellte sich mit ein paar Offizieren der Saldaeaner und der Legion des Drachen zu ihnen. Ein kurzes Stück entfernt saß der Älteste Haman von den Ogiern am Boden; er starrte wie benommen in den Sonnenuntergang.

»Euer Majestät«, fuhr Arganda fort. »Mir ist klar, dass Ihr das als großen Sieg betrachtet …«

»Es ist ein großer Sieg«, erwiderte Elayne. »Wir müssen die Männer dazu bringen, es auf diese Weise zu betrachten. Vor nicht einmal acht Stunden war ich davon überzeugt, dass unser ganzes Heer niedergemacht werden würde. Wir haben gesiegt.«

»Und es hat uns die Hälfte unserer Truppen gekostet«, sagte Arganda leise.

»Ich werde das als Sieg zählen«, beharrte Elayne. »Wir standen vor der völligen Vernichtung.«

»Heute ist der Metzger der einzige Sieger«, meinte Nurelle leise. Er schien vom Grauen heimgesucht.

»Nein«, meldete sich Tam al’Thor zu Wort. »Sie hat recht. Die Männer müssen begreifen, was ihre Verluste bewirkt haben. Wir müssen das als Sieg behandeln. So muss es in die Geschichtsbücher Einzug halten, und die Soldaten müssen überzeugt werden, es so zu sehen.«

»Das ist eine Lüge«, hörte sich Galad sagen.

»Das ist es nicht«, widersprach al’Thor. »Wir haben heute viele Freunde verloren. Licht, das haben wir alle. Aber uns auf den Tod zu besinnen ist genau das, was der Dunkle König will. Sagt mir, dass ich mich irre! Wir müssen aufschauen und das Licht sehen und nicht den Schatten, oder es zieht uns alle unter Wasser.«

»Indem wir hier gewonnen haben«, sagte Elayne und betonte das Wort ausdrücklich, »haben wir uns eine Atempause verdient. Wir können uns in Merrilor versammeln, uns dort verschanzen und mit unserer Kraft das letzte Gefecht gegen den Schatten führen.«

»Beim Licht«, flüsterte Talmanes. »Wir werden das alles noch einmal durchmachen müssen, oder?«

»Ja.« Elayne sagte es zögernd.

Galad schaute auf das Feld der Toten hinaus und fröstelte. »Merrilor wird schlimmer sein. Das Licht stehe uns bei … es wird viel schlimmer werden.«

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