Verblüfft starrten die Söldner Birgitte an, und Elayne benutzte die Gelegenheit, um sich mit einem Ruck zur Seite zu drehen. Die Schwangerschaft machte ihre Bewegungen unbeholfen, trotzdem war sie alles andere als hilflos. Sie rollte auf die Knie, und das Medaillon, das Mellar ihr an den Kopf gehalten hatte, rutschte zu Boden. Das Glühen Saidars erwartete ihre Umarmung. Sie füllte sich mit der Macht und hielt sich den Bauch.
Dort bewegten sich ihre Kinder. Elayne webte Stränge Luft und stieß ihre Feinde zurück. Nicht weit entfernt hatte sich ihre Garde neu formiert und durchbrach die Linien von Mellars Söldnern. Ein paar Angehörige der Königlichen Garde blieben wie erstarrt stehen, als sie Birgitte erblickten.
»Kämpft gefälligst weiter, ihr verfluchten Ziegensöhne und Ziegentöchter!«, brüllte Birgitte und schoss Pfeile auf die Söldner ab. »Ich mag ja vielleicht tot sein, aber ich bin noch immer eure verdammte Kommandantin, und ihr werdet meinen Befehlen gehorchen!«
Das trieb sie an. Der aufsteigende Nebel wogte in die Höhe und verteilte sich über das ganze Schlachtfeld. Er schien leicht in der Dunkelheit zu leuchten. In wenigen Augenblicken trieb Elaynes Machtlenken, Birgittes Bogen und das Werk ihrer Gardistinnen den traurigen Rest von Mellars Schattenfreunden in die Flucht.
Birgitte schoss sechs von ihnen mit Pfeilen nieder, während sie flohen.
»Birgitte«, sagte Elayne durch Tränen. »Es tut mir leid.«
»Leid?« Birgitte wandte sich ihr zu. »Leid? Warum trauerst du? Es ist alles wieder da! Meine Erinnerung ist zurückgekehrt!« Sie lachte. »Es ist wunderbar! Ich weiß gar nicht, wie du mich diese letzten Wochen ertragen konntest. Ich habe schlimmer geschmollt als ein Kind, das seinen Lieblingsbogen zerbrochen hat.«
»Ich … O Licht.« Elaynes Inneres verkündete ihr noch immer, dass sie ihre Behüterin verloren hatte, und der durch den zerstörten Bund verursachte Schmerz war keine leicht verständliche Sache. Es spielte keine Rolle, dass Birgitte dort vor ihr stand. »Vielleicht sollte ich dich erneut durch den Bund mit mir verknüpfen?«
Birgitte winkte ab. »Das würde nicht funktionieren. Bist du verletzt?«
»Nur mein Stolz.«
»Schön für dich, aber es war ein noch größeres Glück, dass das Horn in diesem Augenblick geblasen wurde.«
Elayne nickte.
»Ich gehe zu den anderen Helden«, sagte Birgitte. »Du bleibst hier und erholst dich.«
»Das soll das Licht verbrennen«, erwiderte Elayne und zwang sich auf die Füße. »Ich bleibe jetzt bestimmt nicht zurück, verdammt noch mal. Den Babys geht es gut. Ich reite.«
»Elayne …«
»Meine Soldaten halten mich für tot«, sagte Elayne. »Unsere Linien zerbrechen, unsere Männer sterben. Sie müssen mich sehen, um zu wissen, dass noch Hoffnung besteht. Dieser Nebel sagt ihnen nichts. Falls sie jemals ihre Königin brauchten, dann in diesem Augenblick. Mich könnte bloß der Dunkle König davon abhalten, jetzt zurückzukehren.«
Birgitte runzelte die Stirn.
»Du bist nicht länger meine Behüterin«, sagte Elayne. »Aber du bist noch immer meine Freundin. Reitest du mit mir?«
»Sture Närrin.«
»Ich bin hier nicht diejenige, die nicht tot bleiben wollte. Zusammen?«
»Zusammen«, nickte Birgitte.
Aviendha blieb abrupt stehen und lauschte dem neuen Heulen. Das hörte sich nicht unbedingt nach Wölfen an.
Der Sturm am Shayol Ghul wütete weiter. Sie hatte keine Ahnung, welche Seite die Oberhand hatte. Überall lagen Leichen herum, manche von Wölfen zerfetzt, andere qualmten noch immer durch Angriffe mit der Einen Macht. Winde tobten, obwohl kein Regen fiel; Staubwolken rissen an ihrer Kleidung.
Im Krater des Verderbens wurde die Macht gelenkt, das konnte sie fühlen, aber es war wie ein langsamer Pulsschlag, das genaue Gegenteil von dem Sturm, der die Reinigung der Quelle gewesen war. Rand. Ging es ihm gut? Was geschah dort nur?
Die von den Windsucherinnen herbeigeholten weißen Wolken wogten zwischen den pechschwarzen Gewitterwolken und kreisten in einem gewaltigen, sich windenden Muster um den Berggipfel. Nach dem zu urteilen, was sie von den Windsucherinnen gehört hatte – sie hatten sich nach oben zum Shayol Ghul zurückgezogen, auf einen Sims hoch über dem Höhleneingang, wo sie noch immer die Schale der Winde bearbeiteten –, standen sie an einem entscheidenden Punkt. Mehr als zwei Drittel ihrer Zahl war vor Erschöpfung zusammengebrochen. Bald würde der Sturm alles verschlingen.
Aviendha strich durch den Mahlstrom und suchte den Ursprung dieses Heulens. Ihr standen keine anderen Machtlenker zur Verknüpfung zur Verfügung, jetzt, da Rafela gegangen war, um sich der letzten Verteidigungslinie der Drachenverschworenen an der Höhle anzuschließen. Unten im Tal töteten verschiedene Gruppen einander, bewegten sich hin und her. Töchter, Weise Frauen, Siswai’aman, Trollocs, Blasse. Und Wölfe; bis jetzt hatten sich Hunderte von ihnen in die Schlacht geworfen. Da waren auch ein paar Domani, Tairener und Drachenverschworene – obwohl die meisten von denen in der Nähe des Weges zu Rand kämpften.
Etwas schlug neben ihr im Boden ein und summte, und sie schlug zu, ohne nachzudenken. Der Draghkar flammte auf wie ein hundert Tage in der Sonne getrockneter Stock. Aviendha holte tief Luft und blickte sich um. Heulen. Aberhundert Male.
Sie lief auf seinen Ausgangspunkt los, durchquerte das Tal. Dabei trat jemand aus den staubigen Schatten, ein drahtiger Mann mit grauem Bart und goldenen Augen. Er wurde von einem kleinen Wolfsrudel begleitet. Die Tiere blickten sie an, dann wandten sie sich wieder in die Richtung, in der sie unterwegs waren.
Aviendha blieb stehen. Goldene Augen.
»Ho, der, der mit den Wölfen läuft!«, rief sie dem Mann zu. »Habt Ihr Perrin Aybara mitgebracht?«
Der Mann erstarrte. Er verhielt sich wie ein Wolf, vorsichtig und doch gefährlich. »Ich kenne Perrin Aybara«, rief er zurück, »aber er begleitet mich nicht. Er jagt an einem anderen Ort.«
Aviendha schritt näher auf den Mann zu. Misstrauisch musterte er sie, und ein paar seiner Wölfe knurrten. Anscheinend trauten sie ihr oder ihrer Art genauso wenig wie den Trollocs.
»Dieses neue Heulen«, überschrie sie den Wind, »kommt das von Euren … Freunden?«
»Nein«, sagte der Mann, und seine Augen schienen in die Ferne zu blicken. »Nein, nicht mehr. Falls Ihr Frauen kennt, die die Macht lenken können, Aiel, solltet Ihr sie jetzt holen.« Er bewegte sich in Richtung der Laute, und sein Rudel lief mit ihm.
Aviendha folgte ihm, hielt Abstand zu den Wölfen, vertraute deren Sinnen aber mehr als den eigenen. Sie kamen zu einer schmalen Erhebung auf dem Talboden, die Ituralde manchmal benutzt hatte, um die Verteidigung des Passes zu leiten.
Dutzende dunkle Umrisse strömten aus dem Pass. Schwarze Wölfe von der Größe kleiner Pferde. Anmutig sprangen sie über den Felsen, und obwohl sie es nicht sehen konnte, wusste Aviendha, dass sich ihre Pfotenabdrücke im Felsen eingebrannt hatten.
Hunderte Wölfe griffen die dunkleren Gestalten an und sprangen auf ihre Rücken, wurden aber abgeworfen. Sie schienen nicht viel ausrichten zu können.
Der Mann mit den Wölfen knurrte.
»Schattenhunde?«, rief Aviendha.
»Ja«, rief er zurück und musste laut brüllen, um sich über das Tosen des Sturms Gehör zu verschaffen. »Das ist die Wilde Jagd, sie sind die schlimmsten ihrer Art. Die Waffen der Sterblichen können ihnen nichts anhaben. Die Bisse normaler Wölfe verletzen sie nicht, jedenfalls nicht auf Dauer.«
»Warum kämpfen sie dann?«
Der Wolfsbruder lachte. »Warum kämpft überhaupt einer von uns? Weil wir irgendwie siegen müssen! Geht! Holt Aes Sedai, einige dieser Asha’man, falls Ihr sie finden könnt! Diese Kreaturen werden Eure Kämpfer so mühelos überrennen wie eine Welle Kieselsteine am Strand!«
Der Mann lief den Hang hinunter, seine Wölfe schlossen sich ihm an. Aviendha verstand, warum sie kämpften. Sie würden die Schattenhunde nicht töten können, aber sie konnten sie aufhalten. Und darin bestand ihr Sieg – Rand genug Zeit zu erkaufen, um das zu tun, was er tun musste.
Rasch wandte sie sich um, um die anderen zu holen. Das Gefühl einer mächtigen Machtlenkerin, die in der Nähe Saidar umarmte, ließ sie abrupt anhalten. Sie fuhr herum und blickte in die Richtung, aus der der Eindruck kam.
Graendal war da, dort oben – kaum sichtbar. In aller Ruhe schickte sie tödliche Gewebe auf eine Reihe Verteidiger des Steins. Sie hatte eine kleine Gruppe Frauen – Aes Sedai, Weise Frauen – und ein paar Wächter versammelt. Die Frauen knieten um sie herum und fütterten sie gezwungenermaßen mit Macht, wie die Gewebe verrieten, die sie entfesselte.
Ihre Wächter waren vier Aiel-Männer mit schwarzen Schleiern, keinen roten. Mit Sicherheit standen sie unter Zwang. Aviendha zögerte, schwankte. Was war mit den Schattenhunden?
Ich muss diese Gelegenheit nutzen, dachte sie. Sie webte und feuerte einen blauen Lichtstrahl in den Himmel – das Zeichen, auf das sie, Amys und Cadsuane sich geeinigt hatten.
Natürlich alarmierte das Graendal. Die Verlorene entdeckte sie und schlug mit Feuer zu. Aviendha warf sich zur Seite, rollte sich ab. Als Nächstes kam eine Abschirmung und versuchte sie von der Quelle abzuschneiden. Verzweifelt zog sie so viel von der Einen Macht in sich hinein, wie sie halten konnte, zog sie durch die Schildkrötenbrosche. Eine Frau mit einer Abschirmung von der Quelle abzuschneiden war wie der Versuch, ein Seil mit einer Schere durchzuschneiden – je dicker das Seil, umso schwerer fiel das Schneiden. In diesem Fall hatte Aviendha genug Saidar in sich aufgenommen, um die Abschirmung abzuwehren.
Sie knirschte mit den Zähnen, webte eigene Gewebe. Beim Licht, ihr war gar nicht klar gewesen, wie müde sie war. Um ein Haar verlor sie die Kontrolle, die Fäden der Einen Macht drohten ihr zu entgleiten.
Mit reiner Willenskraft zwang sie sie an Ort und Stelle und schickte ein Gewebe aus Luft und Feuer auf den Weg, obwohl sie wusste, dass unter diesen Gefangenen Freunde und Verbündete waren.
Sie würden lieber sterben, als sich vom Schatten benutzen zu lassen, sagte sie sich, als sie dem nächsten Angriff auswich. Um sie herum explodierte der Boden, und sie warf sich der Länge nach hin.
Nein. Bleib in Bewegung.
Aviendha sprang auf die Füße und lief. Das rettete ihr das Leben, denn Blitze regneten hinter ihr in die Tiefe, und ihre Gewalt schleuderte sie erneut von den Beinen.
Von mehreren Schnitten am Arm blutend kam sie wieder hoch und fing an, Stränge zu verweben. Und musste sie fallen lassen, als ein kompliziertes Gewebe auf sie zuraste. Zwang. Wurde sie davon getroffen, würde sie ebenfalls zur Sklavin dieser Frau, dazu gezwungen, ihre Kraft für die Unterwerfung des Lichts einzusetzen.
Aviendha webte vor sich Erde in den Boden und schleuderte Felssplitter, Staub und Rauch in die Luft. Dann rollte sie sich zur Seite in eine Bodenvertiefung, spähte vorsichtig über den Rand der Deckung. Den Atem anhaltend, lenkte sie keine Macht.
Die peitschenden Böen wehten die von ihr erschaffene Deckung zur Seite. Graendal zögerte in der Mitte des Feldes. Sie konnte Aviendha nicht spüren, die sich zuvor das Gewebe umgestülpt hatte, das ihr Talent verbarg. Sollte sie die Macht lenken, würde das Graendal sofort bemerken, ansonsten würde sie sicher sein.
Graendals Aiel-Sklaven schwärmten mit hochgezogenen Schleiern aus, um sie zu suchen. Aviendha war versucht, auf der Stelle die Macht zu lenken, um ihr Leben zu beenden. Jeder Aiel, den sie kannte, würde ihr dafür danken.
Aber sie wartete ab; sie wollte ihre Stellung nicht verraten. Graendal war zu stark. Dieser Frau konnte sie nicht allein entgegentreten. Aber wenn sie wartete …
Ein Gewebe aus Luft und Geist griff Graendal an und versuchte sie von der Quelle abzuschneiden. Die Frau stieß einen Fluch aus, fuhr herum. Cadsuane und Amys waren eingetroffen.
»Haltet stand! Haltet stand für Andor und die Königin!«
Elayne galoppierte durch Gruppen von Pikenmännern, deren Formationen auseinandergesprengt worden waren; ihr Haar wehte hinter ihr, während sie mit durch die Macht verstärkter Stimme rief. Sie hielt ein Schwert in die Höhe, obwohl das Licht allein wusste, was sie damit anstellen sollte, falls sie es schwingen musste.
Männer drehten sich um, als sie sie passierte. Einige wurden dabei von Trollocs niedergehauen. Die Bestien drängten sich durch die Verteidigungslinie und genossen das Gemetzel.
Meine Männer sind zu erschöpft, dachte sie. O Licht. Meine armen Soldaten. Vor ihr breitete sich eine Geschichte aus Tod und Verzweiflung aus. Die andoranischen und cairhienischen Pikenhaufen hatten sich nach schrecklichen Verlusten aufgelöst; jetzt standen Männer in kleinen Gruppen, viele weit verstreut, und kämpften um ihr Leben. »Haltet stand!«, rief Elayne. »Kämpft mit eurer Königin!«
Mehr Männer blieben stehen, aber sie gingen nicht zurück zur Front. Was war zu tun?
Kämpfen.
Elayne griff einen Trolloc an. Sie nahm das Schwert, obwohl sie noch vor Augenblicken gedacht hatte, damit völlig überfordert zu sein. Und das war sie auch. Der eberköpfige Trolloc sah tatsächlich überrascht aus, als sie mit der Klinge auf ihn einschlug.
Glücklicherweise war Birgitte da und schoss der Bestie in den Unterarm, als sie nach Elayne ausholte. Das rettete ihr Leben, ließ sie das verdammte Ungeheuer aber trotzdem nicht töten. Ihr von einer Gardistin geliehenes Pferd tänzelte herum und hielt den Trolloc davon ab, sie zu erwischen, während sie sich bemühte, ihn zu durchbohren. Die Klinge bewegte sich einfach nicht in die Richtung, die sie wollte. Die Eine Macht war eine viel elegantere Waffe. Falls nötig würde sie sie benutzen, aber im Augenblick wollte sie eher so kämpfen.
Sie brauchte sich nicht lange abzumühen. Soldaten schwärmten um sie herum, erledigten die Kreatur und verteidigten sie vor den anderen, die auf sie vorrückten. Elayne wischte sich die Stirn ab und zog sich zurück.
»Was sollte das denn?«, fragte Birgitte, die an ihrer Seite ihr Pferd zügelte und einen Pfeil auf einen Trolloc abschoss, bevor er einen der Soldaten töten konnte. »Bei Ratliffs Nägeln, Elayne! Und ich dachte, ich hätte jeden Blödsinn erlebt, zu dem du imstande bist.«
Elayne hielt das Schwert in die Höhe. In der Nähe riefen Männer. »Die Königin lebt!«, brüllten sie. »Für das Licht und Andor! Steht mit der Königin!«
»Wie würdest du dich fühlen«, sagte Elayne leise, »wenn du sehen würdest, wie deine Königin einen Trolloc mit einem Schwert zu töten versucht, während du wegläufst?«
»Ich würde mich fühlen, als müsste ich verflucht noch mal in ein anderes Land ziehen«, fauchte Birgitte und schoss den nächsten Pfeil ab, »wo die Monarchen keine Grütze als Hirn haben!«
Elayne schnaubte. Birgitte konnte sagen, was sie wollte, aber das Manöver hatte seinen Zweck erreicht. Die Streitmacht, die sie um sich scharte, quoll auf wie ein Hefeteig, wuchs zu beiden Seiten von ihr und bildete eine Schlachtreihe. Sie hielt das Schwert in die Höhe, brüllte und erschuf nach einem Augenblick der Unentschlossenheit ein Gewebe, das das majestätische Banner von Andor über ihrem Kopf in der Luft schweben ließ, den roten Löwen, der die Nacht erhellte.
Das würde gleich das Feuer von Demandred und seinen Machtlenkern auf sich ziehen, aber die Männer brauchten dieses Signal. Sie würde die Angriffe abwehren, wenn sie kamen.
Das taten sie aber nicht, als sie die Linie abritt und ihren Männern neue Hoffnung einflößte. »Für das Licht und Andor! Eure Königin lebt! Haltet stand und kämpft!«
Mat donnerte mit den Resten eines einst zahlenmäßig großen Heeres nach Südwesten über das Plateau. An seiner linken Seite formierten sich Tiermenschen, die Sharaner voraus zu seiner Rechten. Dem Feind entgegen ritten die Helden, Grenzländer, Karede und seine Männer, Ogier, Bogenschützen von den Zwei Flüssen, Weißmäntel, Ghealdaner und Mayener, Söldner, Tinna und die drachenverschworenen Flüchtlinge. Und die Bande der Roten Hand. Seine Männer.
Die Erinnerungen in seinem Kopf, die nicht ihm gehörten, ließen ihn an bedeutend größere Armeen denken, die er angeführt hatte. Heere, die nicht zerrissen, kaum ausgebildet, verletzt und erschöpft gewesen waren. Aber beim Licht, er war noch nie so stolz gewesen. Trotz allem, was geschehen war, brüllten die Männer ihre Schlachtrufe und warfen sich mit neuer Kraft in die Schlacht.
Demandreds Tod verschaffte ihm eine Chance. Er fühlte das Heer voranstürmen und wie in ihm dieser instinktive Rhythmus einer Schlacht pulsierte. Das war der Augenblick, den er gesucht hatte. Das war die Karte, auf die er alles setzen musste, was er hatte. Noch immer standen die Chancen zehn zu eins, aber Sharaner, Trollocs und Blasse hatten keine Führung. Keinen General, der ihnen die Richtung vorgab. Verschiedene Kontingente führten sich widersprechende Aktionen aus, während Blasse oder Schattenlords Befehle zu geben versuchten.
Ich muss diese Sharaner im Auge behalten, dachte Mat. Die werden Generäle haben, die die Disziplin wiederherstellen können.
Im Augenblick musste er sie hart und mit aller Kraft treffen. Musste Trollocs und Sharaner von der Anhöhe vertreiben. Unten füllten die Tiermenschen den Korridor zwischen dem Moor und der Anhöhe, bedrängten die Verteidiger am Flussbett schwer. Elaynes Tod war eine Lüge gewesen. Ihre Truppen waren in Auflösung begriffen – sie hatten mehr als ein Drittel ihrer Männer verloren –, aber als sie kurz davorgestanden hatten, vom Feind überrannt zu werden, ritt sie in ihre Mitte und sammelte sie um sich. Jetzt hielten sie wunderbarerweise ihre Linien, obwohl sie tief auf shienarisches Gebiet zurückgeworfen worden waren. Aber sie konnten nicht viel länger durchhalten, ob nun mit Elayne oder ohne – an der Front wurden immer mehr Piken durch die schiere Masse des Gegners bedrängt, überall auf dem Schlachtfeld fielen Soldaten, und ihrer Kavallerie und den Aiel fiel es trotz ihres wilden Kampfes immer schwerer, den Feind zurückzuhalten.
Beim Licht, wenn ich den Schatten von diesem verdammten Plateau in die Bestien dort unten stoßen kann, werden sie alle übereinanderstolpern!
»Lord Cauthon!«, rief Tinna. Mit einem blutigen Speer zeigte sie nach Süden.
In der Ferne unweit des Erinin flackerte Licht. Mat wischte sich die Stirn ab. War das …
Wegetore am Himmel. Dutzende von ihnen, und aus ihnen strömten fliegende To’raken, die Laternen trugen. Dichte Pfeilwolken schossen auf die Trollocs im Korridor herab; die To’raken flogen mit ihren Bogenschützen in Formation über die Furt und das Gelände dahinter.
Laute übertönten den Schlachtenlärm, die das Blut des Feindes erstarren lassen mussten: Hunderte, vielleicht sogar Tausende Tierhörner schmetterten ihren Kriegsruf in die Nacht hinaus. Ohrenbetäubende Trommeln schlugen einen einheitlichen Takt, der immer lauter wurde, und das Dröhnen der Marschtritte eines herannahenden Heeres aus Männern und Tieren rückte in der Dunkelheit auf die Polov-Anhöhe zu. In der Dunkelheit kurz vor der Morgendämmerung konnte sie niemand sehen, aber jeder auf dem Schlachtfeld wusste, wer das war.
Mat stieß einen lauten Freudenschrei aus. Vor seinem geistigen Auge konnte er die Bewegungen der Seanchaner sehen. Die eine Hälfte ihres Heeres würde vom Erinin genau nach Norden marschieren und sich mit Elaynes bedrängter Armee am Mora vereinigen, um die Trollocs zu vernichten, die sich den Weg nach Shienar erzwingen wollten. Die andere Hälfte würde nach Westen um das Moor herum zur Westseite der Anhöhe herumschwingen, um das Schattengezücht im Korridor von hinten zu zerschmettern.
Jetzt wurde der Pfeilhagel von glühenden Lichtern begleitet, die in der Luft erschienen – Damane, die mehr Licht für ihre Armee machten. Ein Schauspiel, das selbst Feuerwerker begeistert hätte! Tatsächlich erbebte der ganze Boden, als das riesige seanchanische Heer über das Feld von Merrilor marschierte.
Jenseits von Mats rechter Flanke zerriss Donner die Luft – ein tieferer Donner. Talmanes und Aludra hatten die Drachen repariert und feuerten durch Wegetore aus der Höhle auf das sharanische Heer.
Fast alle Spielsteine waren an Ort und Stelle. Es gab nur noch eine einzige Sache zu erledigen, bevor man die Würfel ein letztes Mal warf.
Mats Heere drängten weiter nach vorn.
Jur Grady betastete den Brief seiner Frau, den Androl von der Schwarzen Burg mitgebracht hatte. In dieser Dunkelheit konnte er nicht lesen, aber das spielte auch keine Rolle, solange er ihn nur halten konnte. Er hatte die Worte ohnehin seinem Gedächtnis anvertraut.
Er beobachtete diese Schlucht, die sich ungefähr zehn Meilen nordöstlich den Mora hinauf befand, wo Cauthon ihn positioniert hatte. Er war weit außer Sicht des Schlachtfeldes von Merrilor.
Er kämpfte nicht. Licht, das fiel schwer, aber er kämpfte nicht. Er sah zu und versuchte dabei nicht an die armen Menschen zu denken, die bei dem Versuch gestorben waren, den Fluss dort zu halten. Es war die perfekte Stelle dafür – hier strömte der Mora durch eine Schlucht, wo der Schatten den Fluss stauen konnte. Was er auch getan hatte. Sicher, die Männer, die Mat geschickt hatte, hatten versucht, gegen die Schattenlords und die Sharaner zu kämpfen. Welch ein vergebliches Unterfangen! Gradys Zorn auf Cauthon schwelte. Jeder Mann behauptete, er sei ein guter General. Und dann tat er so etwas.
Nun, wenn er so ein Genie war, warum hatte er dann fünfhundert einfache Leute aus einem Bergdorf in Murandy geschickt, um diesen Fluss zu halten? Sicher, er hatte ebenfalls etwa hundert Soldaten der Bande geschickt, aber das reichte nicht einmal annähernd. Sie waren gestorben, nachdem sie den Fluss ein paar Stunden lang gehalten hatten. An der Flussschlucht befanden sich Aberhunderte Trollocs und mehrere Schattenlords.
Nun, diese Leute waren bis auf den letzten Mann abgeschlachtet worden. Licht! Da waren sogar Kinder dabei gewesen. Die Dörfler und die paar Soldaten hatten gut gekämpft und die Schlucht viel länger verteidigt, als Grady das für möglich gehalten hätte, aber dann waren sie gefallen. Und er hatte den Befehl gehabt, ihnen nicht zu Hilfe zu kommen!
Nun, jetzt wartete er in der Dunkelheit oben am Schluchtrand und verbarg sich zwischen ein paar Felsen. Vielleicht hundert Schritte entfernt von ihm bewegten sich Trollocs im Fackelschein – die Schattenlords brauchten sie, um sehen zu können. Sie befanden sich ebenfalls oben an den Rändern der Schlucht, was ihnen die Gelegenheit bot, nach unten auf den Fluss zu schauen – der sich in einen See verwandelt hatte. Die drei Schattenlords hatten große Stücke der Schlucht abgetragen und einen Felsdamm erschaffen, der den Fluss staute.
Das hatte den Mora bei Merrilor ausgetrocknet und dem Schattengezücht eine mühelose Flussüberquerung ermöglicht. Grady konnte diesen Damm sofort beseitigen – ein Schlag mit der Einen Macht würde ihn öffnen und das Wasser aus der Schlucht befreien. Bis jetzt hatte er es nicht gewagt. Cauthon hatte ihm befohlen, auf keinen Fall anzugreifen, aber darüber hinaus hätte er keinen der drei Schattenlords allein besiegen können. Sie würden ihn einfach töten und den Fluss erneut aufstauen.
Er liebkoste den Brief seiner Frau, dann bereitete er sich vor. Cauthon hatte ihm befohlen, bei Einbruch der Morgendämmerung ein Wegetor zu demselben Dorf zu öffnen. Das würde seine Anwesenheit verraten. Den Zweck dieses Befehls kannte er nicht.
Das Becken unter ihm war mit Wasser gefüllt, das die Leichen der Gefallenen verbarg.
Ich schätze, dieser Augenblick ist genauso gut wie jeder andere, dachte Grady und holte tief Luft. Die Morgendämmerung würde so gut wie da sein, auch wenn die Wolkendecke das Land in Dunkelheit hüllte.
Er würde seine Befehle befolgen. Sollte ihn das Licht verbrennen, aber das würde er tun. Doch sollte Cauthon die Schlacht flussabwärts überleben, würden sie beide eine ernste Unterhaltung führen. Eine sehr ernste Unterhaltung. Cauthon stammte von einfachen Leuten ab, und er hätte es besser wissen müssen, als sinnlos Leben zu opfern.
Grady nahm noch einen tiefen Atemzug, dann fing er an, das Wegetor zu weben. Er öffnete es in das Dorf, aus dem die Leute gestern gekommen waren. Er wusste nicht, warum er es tun sollte; das Dorf war entvölkert worden, um die Gruppe zusammenzustellen, die gestern gekämpft hatte. Er bezweifelte, dass überhaupt noch jemand übrig war. Wie hatte Mat das Dorf noch einmal genannt? Hinderstap?
Menschen stürmten brüllend aus dem Tor und schwenkten Fleischerbeile, Heugabeln, rostige Schwerter. Begleitet wurden sie von weiteren Soldaten der Bande wie die hundert, die zuvor hier gekämpft hatten. Bloß dass …
Bloß dass die Gesichter jener Soldaten im Licht des Feuers der Schattenlords genau dieselben waren wie die der Männer, die hier zuvor gekämpft hatten … hier gekämpft hatten und gestorben waren.
Grady starrte sie an, als er in der Dunkelheit aufstand und zusah, wie diese Leute kämpften. Es waren alle dieselben. Dieselben Hausfrauen, dieselben Hufschmiede und Schmiede, dieselben Leute. Er hatte sie sterben sehen, und jetzt waren sie wieder da.
Trollocs konnten vermutlich nicht einen Menschen vom anderen unterscheiden, aber die Schattenlords sahen es – und erkannten, dass es sich um dieselben Leute handelte. Diese drei Schattenlords schienen völlig verblüfft zu sein. Einer von ihnen schrie etwas, dass der Dunkle König sie im Stich ließ. Er fing an, Gewebe zu weben und auf die Leute zu schleudern.
Die Dorfbewohner stürmten trotz der Gefahr einfach weiter, obwohl viele von ihnen zerfetzt wurden. Sie warfen sich auf die Schattenlords und hackten sie mit ihren Werkzeugen und Küchenmessern in Stücke. Als die Trollocs endlich angriffen, waren die Schattenlords tot. Jetzt konnte er …
Grady schüttelte seine Lähmung ab, nahm seine Macht und zerstörte den Damm, der die Schlucht blockierte.
Und damit befreite er den Fluss von seinen Fesseln.