1 Ostwärts blies der Wind

Das Rad der Zeit dreht sich, Zeitalter kommen und vergehen und lassen Erinnerungen zurück, die zu Legenden werden. Legenden verblassen zu Mythen, und sogar der Mythos ist lange vergessen, wenn das Zeitalter wiederkehrt, aus dem er geboren wurde. In einem Zeitalter, das von einigen das Dritte Zeitalter genannt wurde, einem Zeitalter, das noch kommen sollte, einem lange vergangenen Zeitalter, erhob sich in den Verschleierten Bergen ein Wind. Der Wind war nicht der Anfang. Es gibt bei der Drehung des Rades der Zeit keinen Anfang und kein Ende. Aber es war ein Anfang.

Ostwärts blies der Wind, senkte sich herab von kühnen Gipfeln und strich über einsame Hügel. Er kam zu dem Ort, den man Westwald nannte, ein Gebiet, in dem einst Kiefern und Zwerglorbeer wucherten. Hier fand der Wind kaum mehr als dichtes Unterholz und gelegentlich hohe Eichen. Die Bäume sahen krank aus, die Rinde schälte sich, die Äste hingen herab. Anderswo waren die Nadeln von den Kiefernzweigen abgefallen und hüllten den Boden in einen braunen Teppich. Keiner der knochenartigen Äste des Westwaldes wies Knospen auf.

Nach Norden und Osten blies der Wind durch Unterholz, das knisterte und barst, wenn es geschüttelt wurde. Es war Nacht, und dürre Füchse strichen über den verfaulenden Boden, auf der vergeblichen Suche nach Beute oder Aas. Der Frühling hatte keine Vögel gebracht, und im ganzen Land war das Heulen der Wölfe verstummt, was noch viel bezeichnender war.

Der Wind verließ den Wald und strich über Taren-Fähre. Nach örtlichem Maßstab war dies einst eine prächtige Stadt gewesen. Dunkle Häuser, die sich hoch über ihr Fundament aus Rotstein erhoben, eine gepflasterte Straße, das alles erbaut an der Öffnung des Landes, das man die Zwei Flüsse nannte.

Schon lange stieg von den niedergebrannten Gebäuden kein Rauch mehr auf, aber es war nur wenig von der Stadt übrig geblieben, das man hätte wiederaufbauen können. Wilde Hunde suchten in den Trümmern nach Nahrung. Mit hungrigen Blicken schauten sie auf, als der Wind vorbeiwehte.

Der Wind überquerte den Fluss in östlicher Richtung. Hier waren Gruppen von Flüchtlingen trotz der späten Stunde mit Fackeln in den Händen auf dem langen Weg von Baerlon nach Weißbrücke unterwegs. Es waren traurig anzusehende Gestalten, mit gesenkten Köpfen und hängenden Schultern. Einige hatten die kupferfarbene Haut von Domani, und ihre zerschlissene Kleidung verriet deutlich, wie schwer es gewesen war, die Berge ohne ausreichende Vorräte zu überqueren. Andere kamen von noch viel weiter entfernten Orten. Taraboner mit eingeschüchterten Blicken über schmutzigen Schleiern. Bauern und ihre Frauen aus dem nördlichen Ghealdan. Sie alle hatten Gerüchte gehört, dass es in Andor noch etwas zu essen gab. In Andor gab es Hoffnung.

Bis jetzt hatten sie keines von beidem gefunden.

Der Wind wehte nach Osten, folgte dem Fluss, der sich zwischen Bauernhöfen ohne Weizen schlängelte. Grasland ohne Gras. Obstplantagen ohne Früchte.

Verlassene Dörfer. Bäume wie Knochen, deren Fleisch abgenagt worden war. Oft drängten sich Raben auf ihren Ästen; hungernde Hasen und manchmal auch Rehe durchsuchten das tote Gras am Boden. Über allem drückten die allgegenwärtigen Wolken auf das Land. Manchmal sorgte die Wolkendecke dafür, dass man unmöglich sagen konnte, ob es Tag oder Nacht war.

Als sich der Wind der großen Stadt Caemlyn näherte, bog er nach Norden ab, fort von der brennenden Stadt – erfüllt vom rot und orange lodernden Schein spuckte sie schwarzen Rauch zu den hungrigen Wolken empor. In der Stille der Nacht war der Krieg nach Andor gekommen. Die näher kommenden Flüchtlinge würden bald entdecken, dass sie auf die Gefahr zumarschiert waren. Das war nicht überraschend. Gefahr lauerte in allen Richtungen. Die einzige Möglichkeit, sich ihr nicht zu nähern, bestand darin, auf der Stelle zu verharren.

Als der Wind nach Norden weiterzog, passierte er Leute, die allein oder in kleinen Gruppen am Straßenrand hockten und in deren Augen keinerlei Hoffnung zu entdecken war. Einige lagen auch am Boden und hungerten dort, während sie zu den grollenden, brodelnden Wolken emporschauten. Andere schleppten sich einfach weiter, obwohl sie nicht wussten, wo sie das hinführte. Zur Letzten Schlacht, nach Norden, was auch immer das zu bedeuten hatte. Die Letzte Schlacht bot keine Hoffnung. Die Letzte Schlacht war der Tod. Aber es war ein Ort, an dem man sein konnte, ein Ort, an den man gehen konnte.

In der Dunkelheit des Abends erreichte der Wind eine große Versammlung weit nördlich von Caemlyn. Dieses große Feld riss eine Lücke in die bewaldete Landschaft, aber es war mit Zelten übersät wie ein verfaulender Baumstamm mit Pilzen. Zehntausende Soldaten warteten neben Lagerfeuern, die schnell das Brennmaterial der Gegend erschöpften.

Der Wind fuhr zwischen sie und peitschte den Rauch der Feuer in die Gesichter der Soldaten. Hier zeigten die Menschen nicht die Hoffnungslosigkeit der Flüchtlinge, aber ihnen haftete ein Grauen an. Sie sahen das kranke Land. Sie fühlten die Wolken am Himmel. Sie wussten Bescheid.

Die Welt lag im Sterben. Die Soldaten starrten die Flammen an und sahen zu, wie das Holz verschlungen wurde. Scheit für Scheit verwandelte sich einst Lebendiges in Asche.

Eine Kompanie Männer inspizierte Rüstungen, die trotz sorgfältigen Einölens zu rosten angefangen hatten. Eine Gruppe Aiel in weißen Gewändern holte Wasser – ehemalige Krieger, die sich weigerten, ihre Waffen wieder zu ergreifen, obwohl sie ihr Toh erfüllt hatten. Ein Haufen ängstlicher Diener, die der festen Überzeugung waren, dass der morgige Tag den Krieg zwischen der Weißen Burg und dem Wiedergeborenen Drachen bringen würde, organisierte Vorräte in vom Wind geschüttelten Zelten.

Männer und Frauen flüsterten die Wahrheit in die Nacht. Das Ende ist da. Das Ende ist da. Alles wird fallen. Das Ende ist da.

Gelächter erfüllte die Luft.

Aus einem großen Zelt in der Lagermitte fiel warmes Licht aus dem Spalt des Zelteingangs und kroch unter den Rändern hervor.

Im Zelt lachte Rand al’Thor – der Wiedergeborene Drache – mit in den Nacken geworfenem Kopf.

»Und was hat sie gemacht?«, fragte Rand, als er sich wieder beruhigt hatte. Er schenkte sich einen Becher mit rotem Wein ein, dann noch einen für Perrin, der bei der Frage errötet war.

Er ist härter geworden, dachte Rand, aber irgendwie hat er seine Unschuld nicht verloren. Jedenfalls nicht ganz. Rand fand das ganz erstaunlich. Ein Wunder, wie eine in einer Forelle entdeckte Perle. Perrin war stark, aber seine Stärke hatte ihn nicht gebrochen.

»Nun«, erwiderte Perrin, »du weißt ja, wie Marin ist. Irgendwie schafft sie es, selbst Cenn anzusehen, als wäre er ein Kind, das die Mutter braucht. Faile und mich wie zwei junge Narren auf dem Boden liegend vorzufinden … nun, ich glaube, sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie über uns lachen oder uns in die Küche zum Geschirrspülen schicken sollte. Voneinander getrennt natürlich, damit wir nicht in Schwierigkeiten geraten.«

Rand lächelte und versuchte es sich bildlich vorzustellen. Perrin, der stattliche Perrin, so schwach, dass er kaum laufen konnte. Das Bild wollte keinen Sinn ergeben. Rand wollte sich damit zufriedengeben, dass sein Freund übertrieb, aber Perrin hatte keine unehrliche Faser im Leib. Seltsam, wie sehr sich ein Mann doch verändern konnte, während er im Kern genau derselbe blieb.

»Wie dem auch sei«, sagte Perrin, nachdem er einen Schluck Wein genommen hatte, »Faile hob mich vom Boden auf und setzte mich aufs Pferd, und dann stolzierten wir umher und taten so, als seien wir wichtig. Ich tat nicht viel, Rand. Der Kampf wurde von den anderen geführt – ich hatte Schwierigkeiten, einen Becher an die Lippen zu führen.« Er hielt inne, und der Blick seiner goldenen Augen schien in die Ferne zu schweifen. »Du solltest stolz auf sie sein, Rand. Ohne Dannil, deinen Vater und Mats Vater, ohne sie hätte ich nicht einmal die Hälfte dessen geschafft, was ich tat. Nein, nicht einmal ein Zehntel.«

»Das glaube ich.« Rand betrachtete seinen Wein. Lews Therin hatte Wein geliebt. Ein Teil von Rand, ein sehr ferner Teil, die Erinnerungen eines Mannes, der er gewesen war, war über diesen schlechten Jahrgang erbost. In der derzeitigen Welt konnte nur wenig Wein mit den bevorzugten Jahrgängen des Zeitalters der Legenden mithalten. Das galt zumindest für die, die er getrunken hatte.

Er nahm einen kleinen Schluck und stellte den Becher dann ab. Min schlief noch immer in einem anderen Teil des Zeltes, das durch einen Vorhang abgetrennt war. Ereignisse in seinen Träumen hatten Rand aufgeweckt. Er war froh gewesen, dass Perrins Ankunft ihn von dem abgelenkt hatte, was er dort gesehen hatte.

Mierin … Nein. Er würde nicht zulassen, dass diese Frau ihn ablenkte. Vermutlich hatte er sie allein aus diesem Grund sehen sollen.

»Begleite mich ein Stück«, sagte er. »Ich muss noch ein paar Dinge für morgen überprüfen.«

Sie traten hinaus in die Nacht. Mehrere Töchter schlossen sich ihnen an, als Rand zu Sebban Balwer ging, dessen Dienste Perrin ihm geliehen hatte. Was Balwer nur recht war, der dazu neigte, sich stets denen anzuschließen, die die größte Macht besaßen.

»Rand?«, fragte Perrin und ging mit der Hand auf Mah’alleinir neben ihm. »Ich habe dir das doch alles bereits erzählt, die Belagerung der Zwei Flüsse, die Kämpfe … Warum hast du dich noch einmal danach erkundigt?«

»Zuvor hatte ich nach den Ereignissen gefragt, Perrin. Ich wollte wissen, was geschehen war, aber ich hatte mich nicht nach den Menschen erkundigt, die davon betroffen waren.« Er sah Perrin an und erschuf eine Lichtkugel, damit sie in der Dunkelheit sehen konnten, wo sie hintraten. »Ich muss mich an die Menschen erinnern. Darauf zu verzichten ist ein Fehler, den ich in der Vergangenheit viel zu oft begangen habe.«

Der unstete Wind trug den Geruch der Feuer aus Perrins Lager und die Geräusche der an Waffen arbeitenden Schmiede heran. Rand kannte die Geschichten: mit der Einen Macht geschmiedete Waffen, deren Herstellung man neu entdeckt hatte. Perrin hatte seine Männer rund um die Uhr arbeiten lassen und seine beiden Asha’man bis zur Erschöpfung angetrieben, um so viel wie möglich davon zu machen.

Rand hatte ihm so viele zusätzliche Asha’man geliehen, wie er entbehren konnte, und das auch nur, weil Dutzende von Töchtern bei ihm vorgesprochen und mit der Macht hergestellte Speerspitzen verlangten, sobald sie davon gehört hatten. Das ist nur vernünftig, Rand al’Thor, hatte Beralna erklärt. Seine Schmiede können vier Speerspitzen statt eines Schwertes herstellen. Bei dem Wort Schwert hatte sie das Gesicht verzogen, als schmeckte es wie Meerwasser.

Rand hatte noch nie Meerwasser probiert. Lews Therin schon. Einst hatte ihn das Wissen über solche Tatsachen zutiefst beunruhigt. Jetzt hatte er gelernt, diesen Teil von sich zu akzeptieren.

»All das, was wir erlebt haben – kannst du das alles eigentlich wirklich glauben?«, fragte Perrin. »Beim Licht, manchmal frage ich mich, wann der Mann, dem diese feinen Kleider in Wirklichkeit gehören, endlich angestürmt kommt, um mich anzubrüllen und dann zum Ausmisten in den Stall zu schicken, weil mein Kopf schon längst zu groß für meinen Kragen geworden ist.«

»Das Rad webt, was das Rad will, Perrin. Wir sind zu dem geworden, zu dem wir werden mussten.«

Perrin nickte, während sie den Weg zwischen den Zelten entlanggingen, der von dem Licht über Rands Hand erleuchtet wurde.

»Wie … wie fühlt sich das eigentlich an?«, wollte Perrin wissen. »Diese Erinnerungen, die du zusätzlich bekommen hast.«

»Hattest du jemals einen Traum, an den du dich nach dem Aufwachen noch in allen Einzelheiten ganz deutlich erinnern konntest? Keiner von denen, die schnell verblassen, sondern der dich den ganzen Tag lang nicht mehr losließ?«

»Ja«, erwiderte Perrin und klang seltsam reserviert dabei. »Ja, ich kann behaupten, dass ich das hatte.«

»Es ist so ähnlich. Ich kann mich daran erinnern, Lews Therin gewesen zu sein, kann mich daran erinnern, getan zu haben, was er tat, so wie man sich an Handlungen in einem Traum erinnert. Ich tat diese Dinge, aber das heißt nicht, dass sie mir gefallen. Ich bin auch nicht immer der Meinung, dass ich im wachen Zustand das Gleiche getan hätte. Aber es ändert nichts an der Tatsache, dass sie im Traum wie die richtigen Entscheidungen erschienen.«

Perrin nickte.

»Er ist ich«, sagte Rand. »Und ich bin er. Aber wiederum auch nicht.«

»Nun, du erscheinst noch immer wie du selbst«, sagte Perrin, allerdings entging Rand das kurze Zögern bei dem Wort »erscheinst« nicht. Hatte Perrin nicht stattdessen »riechst« sagen wollen? »So sehr hast du dich nicht verändert.«

Rand bezweifelte, ob er es Perrin erklären konnte, ohne wie ein Verrückter zu klingen. Die Person, die er wurde, wenn er den Mantel des Wiedergeborenen Drachen trug … das war nicht einfach nur eine Maske, es war auch kein Schauspiel.

Das war, wer er war. Er hatte sich nicht verändert, er hatte sich nicht verwandelt. Er hatte es bloß einfach akzeptiert.

Das bedeutete keineswegs, dass er sämtliche Antworten kannte. Auch wenn vierhundert Jahre Erinnerungen in seinem Verstand ruhten, bereitete ihm das, was er tun musste, noch immer große Sorgen. Lews Therin hatte nicht gewusst, wie man die Bohrung versiegeln sollte. Sein Versuch hatte in die Katastrophe geführt. Der Makel, die Zerstörung der Welt, das alles für einen mangelhaften Kerker mit Siegeln, die nun brüchig waren.

Eine Antwort kam Rand immer wieder in den Sinn. Eine gefährliche Antwort. Eine Antwort, die Lews Therin nicht in Betracht gezogen hatte.

Was, wenn die Antwort nicht darin lag, den Dunklen König wieder hinter Siegeln einzusperren? Was, wenn die Antwort, die endgültige Antwort, ganz anders lautete? Etwas Dauerhafteres.

Ja, dachte Rand zum hundertsten Mal. Aber ist das möglich?

Sie kamen zu dem Zelt, in dem Rands Sekretäre arbeiteten; die Töchter schwärmten hinter ihnen aus. Rand und Perrin traten ein. Die Sekretäre arbeiteten natürlich zu dieser späten Stunde, und es überraschte sie nicht, als Rand eintrat.

»Mein Lord Drache«, sagte Balwer und verneigte sich steif an der Stelle, wo er neben einem Tisch voller Karten und Papierstapel stand. Der vertrocknete kleine Mann sortierte nervös seine Papiere; aus einem Loch im Ärmel seines zu großen braunen Mantels ragte ein knöcherner Ellbogen.

»Berichtet«, sagte Rand.

»Roedran kommt«, sagte Balwer mit dünner und präziser Stimme. »Die Königin von Andor hat nach ihm geschickt, hat ihm Wegetore versprochen, die diese Frauen erschaffen sollen, die sie hat, diese Kusinen. Unser Auge an seinem Hof sagt, dass er wütend darüber ist, dass er ihre Hilfe braucht, um herzukommen, aber er besteht darauf, dass er bei dieser Zusammenkunft dabei sein muss – und wenn es auch nur darum geht, dass es nicht so aussieht, als würde man ihn übergehen.«

»Ausgezeichnet«, sagte Rand. »Elayne weiß nichts von Euren Spionen?«

»Mein Lord!«, sagte Balwer indigniert.

»Habt Ihr herausgefunden, welcher von meinen Sekretären für sie spioniert?«, fragte Rand.

Balwer plusterte sich auf. »Niemand …«

»Sie wird jemanden haben, Balwer«, sagte Rand mit einem Lächeln. »Schließlich hat sie mir mehr oder weniger beigebracht, wie man das macht. Egal. Nach dem morgigen Tag werden meine Absichten jedermann klar sein. Geheimnisse sind dann nicht mehr nötig.«

Abgesehen von denen, die ich im Herzen trage.

»Das bedeutet, dass morgen jeder bei der Zusammenkunft dabei sein wird, richtig?«, fragte Perrin. »Jeder große Herrscher? Tear und Illian?«

»Die Amyrlin hat sie überredet zu kommen«, sagte Balwer. »Ich habe hier Abschriften ihrer Korrespondenz, wenn Ihr sie zu sehen wünscht, meine Lords.«

»Ich ja«, sagte Rand. »Schickt sie in mein Zelt. Heute Abend sehe ich sie mir an.«

Plötzlich erbebte der Boden. Schreiber packten Papierstapel, hielten sie fest und schrien auf. Draußen riefen Männer, kaum hörbar bei dem Lärm umstürzender Bäume und klirrenden Metalls. Das Land stöhnte, ein fernes Grollen.

Für Rand war es wie ein schmerzhafter Muskelkrampf.

Ferner Donner erschütterte den Himmel wie das Versprechen kommender Dinge. Das Beben ließ nach. Die Schreiber hielten ihr Papier weiter fest, als hätten sie Angst, es loszulassen und zu riskieren, dass es zu Boden flatterte.

Es ist wirklich so weit, dachte Rand. Ich bin noch nicht bereit – wir sind noch nicht bereit. Aber es ist trotzdem so weit.

Diesen Tag hatte er monatelang gefürchtet. Seit jener Nacht, in der die Trollocs gekommen waren, seit Lan und Moiraine ihn von den Zwei Flüssen fortgezerrt hatten, hatte er sich vor dem gefürchtet, was nun kommen würde.

Die Letzte Schlacht. Das Ende. Aber jetzt, da der Augenblick gekommen war, verspürte er keine Angst mehr. Er war besorgt, ja, aber nicht länger furchterfüllt.

Ich komme und hole dich!, dachte er.

»Sagt es allen«, befahl er seinen Sekretären. »Verteilt Warnungen. Es wird weiterhin Erdbeben geben. Stürme. Richtige Stürme, ganz schreckliche Stürme. Die Welt wird zerstört werden, und das können wir nicht verhindern. Der Dunkle König wird versuchen, diese Welt zu Staub zu zermahlen.«

Die Sekretäre nickten und warfen sich besorgte Blicke zu. Perrin sah nachdenklich aus, nickte aber andeutungsweise, als würde er sich etwas bestätigen.

»Noch weitere Neuigkeiten?«, fragte Rand.

»Die Königin von Andor könnte in dieser Nacht möglicherweise noch etwas vorhaben, mein Lord«, sagte Balwer.

»›Etwas‹ ist kein sehr anschauliches Wort, Balwer«, erwiderte Rand.

Der Mann verzog das Gesicht. »Es tut mir leid, mein Lord. Mehr habe ich noch nicht für Euch; diese Nachricht habe ich eben erst erhalten. Königin Elayne ist vor Kurzem von einem ihrer Ratgeber geweckt worden. Ich habe niemanden in ihrer unmittelbaren Nähe, der den Grund erfahren könnte.«

Rand runzelte die Stirn, legte die Hand auf Lamans Schwert, das an seiner Seite hing.

»Es könnten bloß Pläne für morgen sein«, meinte Perrin.

»Das ist wahr«, sagte Rand. »Balwer, lasst mich wissen, falls Ihr etwas entdeckt. Vielen Dank. Ihr leistet gute Arbeit.«

Der Mann schien plötzlich zu wachsen. In diesen letzten Tagen, diesen Tagen voller Dunkelheit, suchte jeder Mann nach einer nützlichen Aufgabe. Balwer war auf seinem Gebiet der Beste und vertraute auf seine Fähigkeiten. Trotzdem schadete es nicht, wenn man von seinem Dienstherrn daran erinnert wurde, erst recht, wenn der Dienstherr niemand anders als der Wiedergeborene Drache war.

Rand verließ das Zelt, Perrin folgte ihm.

»Du machst dir deshalb Sorgen«, sagte Perrin. »Wegen dem, was Elayne geweckt hat.«

»Sie hätten sie nicht ohne guten Grund geweckt«, erwiderte Rand leise. »Wenn man ihren Zustand bedenkt.«

Schwanger. Schwanger mit seinen Kindern. Beim Licht! Warum hatte ihm das niemand gesagt? Warum hatte sie es ihm nicht gesagt?

Die Antwort war ganz einfach. Elayne konnte Rands Gefühle spüren, so wie er die ihren. Sie würde mitbekommen haben, wie er in der letzten Zeit gewesen war. Vor dem Drachenberg. Als er noch …

Nun, in dem Zustand, in dem er sich befunden hatte, hätte sie ihn bestimmt nicht mit einer Schwangerschaft konfrontieren wollen. Davon abgesehen hatte er es anderen Leuten nicht gerade leicht gemacht, ihn zu finden.

Trotzdem war es ein Schock.

Ich werde Vater, dachte er, und das nicht zum ersten Mal. Ja, Lews Therin hatte Kinder gehabt, und Rand konnte sich an sie erinnern, genau wie an die Liebe, die er für sie empfunden hatte. Aber es war nicht das Gleiche.

Er, Rand al’Thor, würde Vater sein. Vorausgesetzt, er siegte in der Letzten Schlacht.

»Sie hätten Elayne nicht ohne guten Grund geweckt«, fuhr er fort und konzentrierte sich wieder auf das Wesentliche. »Ich mache mir Sorgen, aber nicht wegen dem, was geschehen sein könnte, sondern weil es möglicherweise eine Ablenkung ist. Morgen ist ein wichtiger Tag. Falls der Schatten auch nur eine Ahnung hat, wie wichtig der morgige Tag werden wird, dann wird er alles in seiner Macht Stehende tun, um uns von dieser Zusammenkunft abzuhalten, von dem Versuch, uns zu vereinen.«

Perrin kratzte sich am Bart. »Ich habe Leute in Elaynes Nähe. Vielleicht wissen sie ja etwas. Wir könnten meine Augen-und-Ohren fragen.«

»Du … du hast Spione?«, fragte Rand überrascht.

Perrin errötete. »Keine Spione. Leute, die für mich die Dinge im Auge behalten.«

»Das ist eigentlich die Definition dieses Wortes, Perrin.« Er hob die Hand, als Perrin Einwände erheben wollte. »Sprechen wir mit ihnen. Heute Nacht habe ich noch viel zu tun, aber … Ja, das darf ich nicht ignorieren.«

Sie schlugen die Richtung zu Perrins Lager ein und beschleunigten ihre Schritte, und Rands Leibwächter folgten ihnen wie Schatten mit Schleiern und Speeren.


Die Nacht fühlte sich viel zu ruhig an. In ihrem Zelt brütete Egwene über einem Brief an Rand. Sie vermochte nicht zu sagen, ob sie ihn überbringen lassen würde. Aber das war auch nicht wichtig. Ihm zu schreiben ordnete ihre Gedanken, sich zu entscheiden, was sie ihm sagen wollte.

Gawyn schob sich wieder in das Zelt, die Hand auf dem Schwert. Sein Behüterumhang raschelte.

»Bleibst du dieses Mal?«, wollte Egwene wissen und tauchte ihre Feder in die Tinte, »oder gehst du gleich wieder?«

»Mir gefällt diese Nacht nicht.« Er warf einen Blick über die Schulter. »Etwas an ihr fühlte sich falsch an.«

»Die Welt hält den Atem an, Gawyn, und wartet auf die morgigen Geschehnisse. Hast du jemanden zu Elayne geschickt, wie ich wollte?«

»Ja. Sie wird nicht mehr wach sein. Es ist zu spät für sie.«

»Wir werden sehen.«

Es dauerte nicht lange, bis ein Bote aus Elaynes Lager eintraf und einen kleinen gefalteten Brief brachte. Egwene las ihn und lächelte. »Komm«, sagte sie zu Gawyn, stand auf und packte ein paar Dinge ein. Sie schwenkte die Hand, und ein Wegetor zerschnitt die Luft.

»Wir Reisen dorthin?«, fragte Gawyn. »Das ist doch nur ein kurzer Weg.«

»Ein kurzer Spaziergang würde erfordern, dass die Amyrlin bei der Königin von Andor anklopft«, sagte Egwene, während Gawyn als Erster durch das Tor schritt und die andere Seite überprüfte. »Manchmal will ich nichts tun, das den Leuten Anlass gibt, Fragen zu stellen.«

Für diese Fähigkeit hätte Siuan gemordet, dachte sie, als sie durch das Wegetor schritt. Wie viele Pläne hätte diese Frau noch umsetzen können, hätte sie andere auf diese Weise so schnell, lautlos und mühelos besuchen können?

Auf der anderen Seite stand Elayne neben einer warmen Kohlenpfanne. Die Königin trug ein hellgrünes Kleid, und ihr Bauch war stark gewölbt durch die Kinder in ihrem Leib. Sie eilte zu Egwene und küsste ihren Ring. Birgitte stand mit verschränkten Armen neben dem Zelteingang; sie trug einen kurzen roten Mantel und himmelblaue Hosen. Ihr goldener Zopf lag über ihrer Schulter.

Gawyn sah seine Schwester mit gerunzelter Stirn an. »Es überrascht mich, dass du wach bist.«

»Ich warte auf einen Bericht«, erwiderte Elayne und bedeutete Egwene, sich zu ihr zu setzen. Neben der Kohlenpfanne standen zwei gepolsterte Stühle.

»Etwas Wichtiges?«, fragte Egwene.

Elayne runzelte die Stirn. »Jesamyn hat schon wieder vergessen, sich aus Caemlyn zu melden. Ich habe der Frau den strikten Befehl gegeben, mir alle zwei Stunden Bericht zu erstatten, und trotzdem tut sie es nicht. Beim Licht, vermutlich ist es ja nichts. Trotzdem bat ich Serinia, zum Reisegelände zu gehen, um nachzusehen. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.«

»Du brauchst Ruhe«, sagte Gawyn und verschränkte die Arme.

»Vielen herzlichen Dank für den Rat«, sagte Elayne, »den ich ignorieren werde, so wie ich Birgitte ignorierte, als sie das Gleiche sagte. Egwene, was wolltest du besprechen?«

Egwene reichte ihr den Brief, den sie geschrieben hatte. Sie waren unter sich, da gab es keinen Platz für Förmlichkeiten.

»Für Rand?«, fragte Elayne.

»Du siehst ihn aus einem anderen Blickwinkel als ich. Sag mir, was du davon hältst. Vielleicht schicke ich ihm den Brief gar nicht. Ich habe mich noch nicht entschieden.«

»Der Ton ist … energisch«, bemerkte Elayne.

»Anders scheint er ja nicht zu reagieren.«

Nachdem Elayne zu Ende gelesen hatte, senkte sie das Blatt. »Vielleicht sollten wir ihn einfach tun lassen, was er will.«

»Die Siegel brechen?«, fragte Egwene. »Den Dunklen König befreien?«

»Warum nicht?«

»Beim Licht, Elayne!«

»Es muss geschehen, oder nicht? Ich meine, der Dunkle König wird entkommen. Er ist auch schon so gut wie frei.«

Egwene rieb sich die Schläfen. »Es ist ein Unterschied, ob man die Welt berührt oder frei ist. Im Krieg der Macht wurde der Dunkle König niemals ungehindert auf die Welt losgelassen. Der Stollen ließ ihn sie berühren, aber der wurde wieder versiegelt, bevor er entkommen konnte. Hätte der Dunkle König die Welt betreten, wäre das Rad selbst zerbrochen worden. Hier, ich habe dir das hier mitgebracht, um es dir zu zeigen.«

Egwene holte einen Papierstapel aus ihrer Tasche. Die Bibliothekarinnen des Dreizehnten Depositoriums hatten die Blätter eilig zusammengetragen. »Ich sage nicht, dass wir die Siegel nicht brechen sollten«, sagte sie. »Ich sage nur, dass wir uns es nicht leisten können, einen von Rands hirnverbrannten Plänen mit ihnen durchzuführen.«

Elayne lächelte liebevoll. Beim Licht, wie verliebt sie war. Ich kann mich doch auf sie verlassen, oder? Das war im Moment schwer bei Elayne zu sagen. Ihr Plan mit den Kusinen …

»Leider haben wir in deinem Bibliotheks-Ter’angreal nichts Relevantes finden können.« Die Statue des lächelnden bärtigen Mannes hatte in der Weißen Burg beinahe einen Aufruhr ausgelöst; jede Schwester hatte die Tausende von Büchern lesen wollen, die darin enthalten waren. »Sämtliche Bücher scheinen aus der Zeit vor der Bohrung des Stollens zu stammen. Sie werden weitersuchen, aber diese Notizen hier enthalten alles, was wir über die Siegel, den Kerker und den Dunklen König finden konnten«, fuhr Egwene fort. »Sollten wir die Siegel zum falschen Zeitpunkt brechen, könnte das womöglich das Ende von allem bedeuten. Hier, lies das.« Sie drückte Elayne eine Seite in die Hand.

»Der Karaethon-Zyklus?«, fragte Elayne neugierig. »›Und das Licht soll scheitern, und die Morgendämmerung wird nicht kommen, und noch immer wütet der Gefangene.‹ Der Gefangene ist der Dunkle König?«

»Ich glaube schon. Die Prophezeiungen drücken sich niemals klar aus. Rand will die Letzte Schlacht beginnen und die Siegel sofort brechen, aber das ist eine schreckliche Idee. Vor uns liegt ein langer Krieg. Den Dunklen König jetzt zu befreien wird die Streitmächte des Schattens stärken und uns schwächen.

Wenn es getan werden muss – und ich bin noch immer nicht davon überzeugt, dass das der Fall ist –, dann sollten wir bis zum letztmöglichen Augenblick warten. Zumindest müssen wir das diskutieren. Rand hat in vielem recht behalten, aber er hat sich auch geirrt. Das ist keine Entscheidung, die er allein treffen darf.«

Elayne blätterte die Papiere durch und verharrte plötzlich. »›Sein Blut soll uns das Licht geben …‹« Sie rieb mit dem Daumen über die Seite, als wäre sie in Gedanken versunken. »›Dient dem Licht.‹ Wer hat diese Notiz hinzugefügt?«

»Das ist Doniella Alievins Kopie der Übersetzung des Karaethon-Zyklus von Kyera Termendal«, sagte Egwene. »Doniella fügte ihre eigenen Anmerkungen hinzu, und sie waren Gegenstand von beinahe genauso vielen Debatten unter den Gelehrten wie die Prophezeiungen selbst. Sie war eine Wahrträumerin, musst du wissen. Die einzige Amyrlin, von der wir genau wissen, dass sie es war. Jedenfalls abgesehen von mir.«

Elayne nickte.

»Die Schwestern, die das für mich zusammenstellten, kamen zu demselben Schluss wie ich«, fuhr Egwene fort. »Es mag der Zeitpunkt kommen, an dem man die Siegel brechen muss, aber dieser Augenblick ist nicht zu Beginn der Letzten Schlacht, ganz egal, was Rand denkt. Wir müssen auf den richtigen Moment warten, und als die Wächterin über die Siegel ist es meine Pflicht, diesen Moment zu bestimmen. Ich werde die Welt nicht wegen Rands tollkühner Pläne riskieren.«

»Er hat schon etwas von einem Gaukler«, meinte Elayne liebevoll. »Du hast da ein sehr gutes Argument vorgebracht, Egwene. Trag es ihm vor. Er wird dir zuhören. Er hat einen wachen Verstand und kann überzeugt werden.«

»Wir werden sehen. Im Moment muss ich …«

Plötzlich versteifte sich Egwene, als sie fühlte, dass Gawyn beunruhigt war. Als sie zu ihm sah, drehte er sich gerade um. Draußen ertönte Hufgetrappel. Seine Ohren waren nicht besser als die ihren, aber es war seine Aufgabe, auf solche Dinge zu achten.

Egwene umarmte die Wahre Quelle, was Elayne veranlasste, ihrem Beispiel zu folgen. Birgitte hatte bereits den Zelteingang zurückgezogen und die Hand auf dem Schwertgriff.

Eine verschwitzte Botin sprang mit weit aufgerissenen Augen vom Pferd. Sie stürmte ins Zelt, und Birgitte und Gawyn setzten sich sofort an ihre Seite und behielten sie für den Fall im Auge, dass sie zu nahe kam.

Das tat sie nicht. »Caemlyn wird angegriffen, Euer Majestät«, stieß die Frau hervor und rang nach Luft.

»Was!« Elayne sprang auf die Füße. »Wie? Hat Jarid Sarand endlich …«

»Trollocs«, verkündete die Botin. »Es fing bei Einbruch der Abenddämmerung an.«

»Unmöglich!«, rief Elayne, packte die Botin am Arm und zerrte sie aus dem Zelt. Egwene schloss sich ihnen schnell an. »Die Abenddämmerung kam vor über sechs Stunden«, sagte Elayne zu der Botin. »Warum haben wir noch nichts davon gehört? Was ist mit den Kusinen geschehen?«

»Davon sagte mir niemand etwas, meine Königin«, berichtete die Botin. »Hauptmann Guybon schickte mich rasch los, um Euch zu holen. Er ist gerade durch ein Wegetor eingetroffen.«

Das Reisegelände war nicht weit von Elaynes Zelt entfernt. Eine Menschenmenge hatte sich versammelt, aber Männer und Frauen machten der Amyrlin und der Königin sofort Platz. In wenigen Augenblicken hatten sie die vorderste Reihe erreicht.

Eine Gruppe Männer in blutverschmierter Kleidung kam durch das geöffnete Wegetor und zog Karren, die mit Elaynes neuen Waffen beladen waren, den Drachen. Viele der Männer schienen kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen. Sie stanken nach Rauch, ihre Haut war von Ruß geschwärzt. Nicht wenige von ihnen brachen zusammen, als Elaynes Soldaten die Karren, die eigentlich von Pferden hätten gezogen werden müssen, nahmen, um ihnen zu helfen.

In der Nähe öffneten sich weitere Wegetore, als Serinia Sedai und ein paar der stärkeren Kusinen – Egwene würde sie auf keinen Fall als Elaynes Kusinen betrachten – sie webten. Flüchtlinge strömten hindurch wie das Wasser eines unaufhaltsamen Flusses.

»Geh«, sagte Egwene zu Gawyn und öffnete selbst ein Wegetor – es führte zu dem Reisegelände im Lager der Weißen Burg in der Nähe. »Hole so viele Aes Sedai, wie wir zusammenbekommen. Sag Bryne, er soll seine Soldaten alarmieren, sie sollen Elaynes Befehlen gehorchen. Dann schickt sie durch Wegetore nach Caemlyn. Wir werden unsere Verbundenheit mit Andor zeigen.«

Gawyn nickte und duckte sich durch das Tor. Egwene ließ es verschwinden, dann gesellte sie sich zu Elayne, die bei den verwundeten, verwirrten Soldaten stand. Sumeko, eine der Kusinen, hatte das Kommando über das Heilen übernommen, damit man die Männer, die in unmittelbarer Lebensgefahr schwebten, versorgte.

In der Luft lag der Gestank von Rauch. Als Egwene zu Elayne eilte, fiel ihr Blick durch eines der geöffneten Wegetore. Caemlyn brannte.

Beim Licht! Einen Augenblick lang konnte sie bloß dastehen, dann eilte sie weiter. Elayne sprach mit Guybon, einem der Kommandanten der Königlichen Garde. Der Mann schien sich kaum noch auf den Beinen halten zu können, seine Kleidung und die Arme waren blutverschmiert.

»Schattenfreunde töteten zwei der Frauen, die Ihr zurückließet, um Botschaften zu schicken, Euer Majestät«, berichtete er mit müder Stimme. »Aber wir bargen die Drachen. Sobald wir … entkamen …« Etwas schien ihn zu schmerzen. »Sobald wir durch das Loch in der Stadtmauer entkamen, entdeckten wir, dass sich mehrere Söldnergruppen um die Stadt herum auf das Tor zu kämpften, das Lord Talmanes hatte verteidigen lassen. Zufällig waren sie nahe genug, um uns bei unserer Flucht zu helfen.«

»Das habt Ihr gut gemacht«, sagte Elayne.

»Aber die Stadt …«

»Das habt Ihr gut gemacht«, wiederholte Elayne energisch. »Ihr habt die Drachen geholt und all die Menschen gerettet? Ich werde dafür sorgen, dass man Euch dafür belohnt, Hauptmann.«

»Belohnt die Männer der Bande, Euer Majestät. Das war ihr Werk. Und bitte, wenn Ihr etwas für Lord Talmanes tun könnt …« Er zeigte auf den leblosen Mann, den mehrere Angehörige der Bande durch das Wegetor trugen.

Elayne kniete sich neben ihn, und Egwene gesellte sich zu ihr. Zuerst hielt sie ihn für tot, da seine Haut schwarz angelaufen war. Da holte er stockend Luft.

»Beim Licht!«, sagte Elayne und unterzog seinen reglosen Körper der Tiefenschau. »So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen.«

»Thakan’dar-Klingen«, erklärte Guybon.

»Wir müssen uns verknüpfen«, sagte Elayne zu Egwene. »Vielleicht können wir gemeinsam etwas erreichen. Mutter?«

»Das übersteigt unsere Fähigkeiten«, sagte Egwene und stand auf. »Ich …« Sie unterbrach sich, als sie ein Geräusch vernahm, das das Stöhnen der Soldaten und Ächzen der Karren übertönte.

»Egwene?«, fragte Elayne.

»Tut für ihn, was ihr könnt«, sagte Egwene und eilte fort. Sie bahnte sich den Weg durch die aufgeregte Menge und folgte der Stimme. War das … ja, dort. Am Rand des Reisegeländes fand sie ein geöffnetes Wegetor, durch das Aes Sedai in verschiedenen Stadien der Bekleidung eilten, um sich um die Verwundeten zu kümmern. Gawyn hatte seine Arbeit gut gemacht.

Nynaeve fragte gerade ziemlich laut, wer hier das Kommando über dieses Chaos hatte. Egwene kam von der Seite, packte sie bei der Schulter und überraschte sie.

»Mutter?«, fragte Nynaeve. »Was soll das bedeuten, dass Caemlyn brennt? Ich …«

Sie unterbrach sich, als sie die Verletzten erblickte. Sie versteifte sich, dann wollte sie sich auf sie stürzen.

»Da gibt es einen, um den du dich zuerst kümmern musst«, sagte Egwene und führte sie zu Talmanes.

Nynaeve holte scharf Luft, dann ließ sie sich auf die Knie fallen und schob Elayne sanft zur Seite. Sie unterzog Talmanes der Tiefenschau, dann erstarrte sie mit weit aufgerissenen Augen.

»Nynaeve?«, sagte Egwene. »Kannst du …«

Eine Explosion aus Geweben brach aus Nynaeve hervor wie das plötzliche Aufblitzen der Sonne hinter dunklen Wolken. Nynaeve webte die Fünf Mächte zu einer strahlenden Säule zusammen und stieß sie in Talmanes.

Egwene überließ sie ihrer Arbeit. Vielleicht würde es helfen, obwohl er so gut wie tot aussah. Hoffentlich überlebte er das. Er hatte sie in der Vergangenheit sehr beeindruckt. Er schien genau die Sorte von Mann zu sein, den die Bande – und Mat – brauchten.

Elayne stand bei den Drachen und befragte eine Frau mit Zöpfen. Das musste Aludra sein, die die Drachen erfunden hatte. Egwene ging zu den Waffen und legte die Finger auf eines der langen Bronzerohre. Natürlich hatte sie Berichte darüber erhalten. Angeblich seien sie wie Aes Sedai, nur in Eisen gegossen und vom Pulver des Feuerwerks angetrieben.

Immer mehr Flüchtlinge strömten durch die Tore, viele davon Bürger der Stadt. »Beim Licht«, murmelte Egwene leise. »Das sind zu viele. Wir können nicht ganz Caemlyn hier in Merrilor unterbringen.«

Elayne beendete ihre Unterhaltung und ließ Aludra ihre Waffen inspizieren. Anscheinend war die Frau nicht dazu bereit, sich den Rest der Nacht auszuruhen und am Morgen bei ihnen zu melden. Elayne ging auf die Wegetore zu.

»Die Soldaten sagen, die Gegend vor der Stadt ist sicher«, sagte sie und ging an Egwene vorbei. »Ich werde es mir ansehen.«

»Elayne …« Birgitte lief hinter ihr her.

»Wir gehen! Komm schon.«

Egwene ließ die Königin gewähren und trat zurück, um die Arbeit zu überwachen. Romanda hatte den Befehl über die Aes Sedai übernommen und kümmerte sich um die Verletzten, teilte sie nach der Dringlichkeit ihrer Wunden in Gruppen ein.

Als Egwene ihre Blicke über das Chaos schweifen ließ, fielen ihr zwei Leute auf, die ein Stück abseits standen. Eine Frau und ein Mann, allem Anschein nach Illianer. »Was wollt ihr?«

Die Frau ging vor ihr auf die Knie. Sie hatte helle Haut und dunkle Haare, und ihre energischen Züge passten zu ihrer schlanken, hochgewachsenen Gestalt. »Ich bin Leilwin«, sagte sie mit einem unverkennbaren Akzent. »Ich begleitete Nynaeve Sedai, als der Aufruf zum Heilen erfolgte. Wir folgten ihr.«

»Ihr seid Seanchanerin«, sagte Egwene überrascht.

»Ich bin gekommen, um Euch zu dienen, Amyrlin.«

Seanchaner. Egwene hielt noch immer die Eine Macht. Beim Licht, nicht jede Seanchanerin, die ihr begegnete, war gefährlich; trotzdem würde sie kein Risiko eingehen. Als ein paar Männer der Burgwache durch ein Wegetor kamen, zeigte Egwene auf die beiden Seanchaner. »Bringt sie an einen sicheren Ort und passt auf sie auf. Ich kümmere mich später um sie.«

Die Soldaten nickten. Der Mann ging nur zögernd mit, die Frau bereitwillig, beinahe schon eifrig. Sie konnte nicht die Macht lenken, also war sie keine befreite Damane. Aber das bedeutete natürlich nicht, dass sie keine Sul’dam war.

Egwene kehrte zu Nynaeve zurück, die noch immer neben Talmanes kniete. Die Krankheit war aus der Haut des Mannes verschwunden und hatte sie bleich zurückgelassen. »Bringt ihn an einen Ort, wo er ruhen kann«, sagte Nynaeve müde zu den Leuten der Bande, die in der Nähe standen und zusahen. »Ich tat, was ich konnte.«

Sie schaute zu Egwene hoch, als die Männer ihn fortbrachten. »Beim Licht, das hat mir viel abverlangt«, flüsterte Nynaeve. »Selbst mit meinem Angreal. Ich bin beeindruckt, dass Moiraine das vor so langer Zeit bei Tam glückte …« In ihrer Stimme schien ein Hauch Stolz mitzuschwingen.

Sie hatte vor Moiraine versucht, Tam zu Heilen, allerdings hatte sie zu diesem Zeitpunkt natürlich noch gar nicht gewusst, was sie da eigentlich machte. Seit damals hatte sie einen sehr langen Weg zurückgelegt.

»Stimmt das, Mutter?«, fragte Nynaeve und stand auf. »Das mit Caemlyn?«

Egwene nickte.

»Das wird eine lange Nacht«, sagte Nynaeve und betrachtete die Verwundeten, die durch die Wegetore kamen.

»Und der morgige Tag wird noch viel länger«, sagte Egwene. »Komm, lass uns uns miteinander verknüpfen. Ich leihe dir meine Kraft.«

Nynaeve sah entsetzt aus. »Mutter?«

»Du bist viel besser im Heilen als ich.« Egwene lächelte. »Ich mag ja die Amyrlin sein, aber ich bin noch immer eine Aes Sedai. Eine Dienerin aller. Meine Kraft wird dir nützlich sein.«

Nynaeve nickte, und sie verknüpften sich. Dann gesellten sie sich zu den Aes Sedai, die Romanda zur Heilung der Flüchtlinge mit den schlimmsten Wunden eingeteilt hatte.


»Faile hat mein Netzwerk der Augen-und-Ohren organisiert«, sagte Perrin, als er und Rand auf Perrins Lager zueilten. »Möglicherweise ist sie heute Abend bei ihnen. Allerdings solltest du darauf gefasst sein, dass sie dich vielleicht nicht mag.«

Sie wäre verrückt, wenn sie mich mag, dachte Rand. Vermutlich weiß sie, was ich von dir verlangen werde, bevor das hier vorbei ist.

»Ich vermute zwar, dass es ihr gefällt, dass ich dich kenne«, fuhr Perrin fort. »Schließlich ist sie die Kusine einer Königin. Ich glaube, sie befürchtet noch immer, dass du den Verstand verlierst und mich verletzt.«

»Der Wahnsinn ist bereits da«, erwiderte Rand, »und ich habe ihn im Griff. Und dass ich dich verletzen könnte, da könnte sie vielleicht sogar recht haben. Ich glaube nicht, dass ich vermeiden kann, die Menschen in meiner unmittelbaren Nähe zu verletzen. Das war eine harte Lektion, die ich lernen musste.«

»Du deutest an, dass du wahnsinnig bist«, sagte Perrin, dessen Hand wieder auf seinem Hammer lag. So groß er war, trug er ihn dennoch an seiner Seite. Offensichtlich hatte er dafür eine ganz spezielle Halterung herstellen müssen. Ein erstaunliches Werk. Rand wollte ihn noch unbedingt irgendwann fragen, ob das eine dieser mit der Einen Macht geschmiedeten Waffen war, die einer seiner Asha’man hergestellt hatte. »Aber das bist du nicht, Rand. Du erscheinst mir kein bisschen verrückt.«

Rand lächelte, und ein Gedanke flackerte am Rand seines Bewusstseins. »Ich bin wahnsinnig, Perrin. Mein Wahnsinn besteht aus diesen Erinnerungen, diesen Eingebungen. Lews Therin wollte mich übernehmen. Ich war zwei Personen, die um die Vorherrschaft meines Ichs rangen. Und eine davon war vollkommen wahnsinnig.«

»Licht«, flüsterte Perrin, »das klingt schrecklich.«

»Es war nicht angenehm. Aber … das ist das Verrückte daran. Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass ich diese Erinnerungen brauchte. Lews Therin war ein guter Mann. Ich war ein guter Mann, aber die Dinge gingen schief – ich wurde zu arrogant, ich ging davon aus, alles allein schaffen zu können. Daran musste ich mich erinnern; ohne den Wahnsinn … ohne diese Erinnerungen wäre ich vielleicht wieder allein auf den Feind losgestürmt.«

»Also willst du mit den anderen zusammenarbeiten?«, fragte Perrin und schaute in die Richtung, in der Egwene und die anderen aus der Weißen Burg lagerten. »Das hat schreckliche Ähnlichkeit mit Heeren, die sich darauf vorbereiten, gegeneinander zu kämpfen.«

»Ich werde Egwene schon dazu bringen, dass sie Vernunft annimmt«, sagte Rand. »Ich habe recht. Wir müssen die Siegel brechen. Ich weiß nicht, warum sie das nicht einsehen will.«

»Sie ist jetzt die Amyrlin.« Perrin rieb sich das Kinn. »Sie ist die Wächterin über die Siegel, Rand. Es ist ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass man sie richtig behandelt.«

»Das ist richtig. Darum will ich sie ja davon überzeugen, dass mein Vorhaben richtig ist.«

»Bist du dir sicher, dass man sie brechen muss?«, fragte Perrin. »Absolut sicher?«

»Sag mir eines, Perrin. Wenn ein Werkzeug aus Eisen oder eine Waffe zerbricht, kannst du sie wieder zusammenflicken, damit sie so zu gebrauchen ist wie zuvor?«

»Nun, das kann man natürlich machen«, sagte Perrin. »Aber es ist besser, es nicht zu tun. Die Maserung des Stahls … nun, es ist eigentlich fast immer besser, sie neu zu schmieden. Sie einzuschmelzen und von vorn anzufangen.«

»Das ist hier genau das Gleiche. Die Siegel sind wie ein Schwert zerbrochen. Wir können die Stücke nicht einfach wieder zusammenflicken. Das funktioniert nicht. Wir müssen die Splitter entfernen und etwas Neues herstellen, das ihren Platz einnimmt. Etwas Besseres.«

»Rand, das ist das Vernünftigste, das jemand je zu diesem Thema gesagt hat«, meinte Perrin. »Hast du es Egwene auf diese Weise erklärt?«

Rand lächelte. »Sie ist keine Schmiedin, mein Freund.«

»Sie ist klug. Klüger als wir beide zusammen. Sie wird es verstehen, wenn du es auf die richtige Weise erklärst.«

»Wir werden sehen«, meinte Rand. »Morgen.«

Perrin blieb stehen. Sein Gesicht wurde vom Schein der von der Macht erzeugten Lichtkugel erhellt. Sein Lager, das direkt neben Rands lag, umfasste eine Streitmacht, die genauso groß wie die anderen hier war. Rand fand es noch immer unglaublich, dass er so viele Menschen um sich geschart hatte, einschließlich ausgerechnet der Weißmäntel. Seine Augen-und-Ohren hatten ihm zugetragen, dass anscheinend jeder im Lager Perrin loyal ergeben war. Selbst die Weisen Frauen und Aes Sedai in seiner Umgebung waren geneigt, seine Befehle ohne großen Widerspruch zu befolgen.

Perrin war ein König geworden, so sicher, wie der Wind vom Himmel kam. Eine andere Art König als Rand – ein König seines Volkes, der in seiner Mitte lebte. Dieser Weg blieb Rand versperrt. Perrin konnte ein Mann sein. Er hingegen musste etwas mehr sein, zumindest noch eine Weile. Er musste ein Symbol sein, eine Kraft, auf die sich die Menschen verlassen konnten.

Das war schrecklich ermüdend. Nicht nur im körperlichen Sinn; diese Erschöpfung ging tiefer. Was diese Menschen brauchten, ging ihm an die Substanz, zermürbte ihn so sicher, wie sich ein Fluss seinen Weg durch einen Berg grub. Am Ende würde der Fluss stets den Sieg davontragen.

»Ich unterstütze dich darin«, sagte Perrin. »Aber ich will, dass du mir versprichst, dass du es nicht zu einem Streit kommen lässt. Ich werde nicht gegen Elayne kämpfen. Gegen die Aes Sedai anzutreten wäre noch schlimmer. Wir können es uns nicht leisten, auf diese Weise zu streiten.«

»Es wird keinen Kampf geben.«

»Versprich es mir.« Perrins Miene wurde so hart, dass man daran Steine hätte zerschlagen können. »Versprich es mir, Rand.«

»Ich verspreche es, mein Freund. Ich werde uns vereint in die Letzte Schlacht führen.«

»Das reicht mir.« Perrin drehte sich um, betrat sein Lager und nickte den Wachtposten zu. Es waren beides Männer von den Zwei Flüssen – Reed Soalen und Kert Wagoner. Sie salutierten Perrin, dann betrachteten sie Rand und verneigten sich irgendwie peinlich berührt.

Reed und Kert. Sie waren ihm beide vertraut – beim Licht, als Kind hatte er zu ihnen aufgeschaut. Aber er hatte sich daran gewöhnt, dass Menschen, die ihn sein Leben lang gekannt hatten, ihn nun wie einen Fremden behandelten. Er fühlte, wie der Mantel des Wiedergeborenen Drachen schwerer auf ihm lastete.

»Mein Lord Drache«, sagte Kert. »Sind wir … Ich meine …« Er schluckte und schaute zum Himmel und den Wolken, die trotz Rands Gegenwart immer näher zu kommen schienen. »Die Dinge sehen schlimm aus, oder?«

»Stürme sind oft schlimm, Kert«, sagte Rand. »Aber die Zwei Flüsse haben sie immer überlebt. Und so wird es auch wieder sein.«

»Aber …«, wiederholte Kert. »Es sieht schlimm aus. Soll das Licht mich verbrennen, aber das tut es.«

»Es wird geschehen, wie es das Rad will«, erwiderte Rand und blickte nach Norden. »Friede, Kert, Reed«, sagte er dann leise. »Fast alle Prophezeiungen haben sich erfüllt. Dieser Tag wurde vorausgesehen, und unsere Prüfungen sind bekannt. Wir begegnen ihnen nicht unvorbereitet.«

Er hatte ihnen nicht versprochen, dass sie siegen oder überleben würden, aber beide Männer hielten sich plötzlich aufrechter und nickten lächelnd. Die Menschen hörten gern, dass es einen Plan gab. Das Wissen, dass da jemand war, der die Kontrolle hatte, mochte vielleicht der stärkste Trost sein, den Rand ihnen geben konnte.

»Damit habt ihr den Lord Drachen genug mit euren Fragen gelöchert«, sagte Perrin. »Sorgt dafür, dass ihr diesen Posten gut bewacht – es wird weder ein Nickerchen gemacht, Kert, noch gewürfelt.«

Beide Männer salutierten erneut, als Perrin und Rand das Lager betraten. Es erschien fröhlicher als die anderen Lager auf dem Feld. Die Feuer schienen heller zu brennen, das Lachen war etwas lauter. Als hätten die Leute aus den Zwei Flüssen es irgendwie geschafft, die Heimat mitzubringen.

»Du führst sie gut«, sagte Rand leise, während Perrin anderen in der Nacht zunickte.

»Sie sollten mich nicht brauchen, um ihnen zu sagen, was getan werden muss, und so ist es auch.« Als aber ein Bote ins Lager gestürmt kam, war Perrin sofort der Befehlshaber. Er rief den dürren Jungen mit Namen an, und als er das gerötete Gesicht und die zitternden Beine des Burschen sah – offensichtlich fürchtete er sich vor Rand –, nahm er ihn zur Seite und sprach leise, aber energisch mit ihm.

Er schickte den Jungen los, um Lady Faile zu suchen, dann kam er zurück. »Ich muss wieder mit Rand sprechen.«

»Aber du sprichst doch mit …«

»Ich brauche den echten Rand, nicht den Mann, der gelernt hat, wie eine Aes Sedai zu sprechen.«

Rand seufzte. »Ich bin es wirklich, Perrin«, protestierte er. »Ich bin mehr ich selbst als seit langer Zeit.«

»Ja, in Ordnung. Ich rede nicht gern mit dir, wenn du deine Gefühle verbirgst.«

Eine Gruppe Männer von den Zwei Flüssen ging vorbei und salutierte. Als Rand diese Männer sah und sich bewusst wurde, dass er nie wieder einer von ihnen sein würde, durchzuckte ihn plötzlich Einsamkeit. Bei den Männern von den Zwei Flüssen war das immer am schlimmsten. Aber er entspannte sich für Perrin.

»Also, was ist? Was hatte der Bote zu berichten?«

»Deine Sorge war berechtigt«, sagte Perrin. »Rand, Caemlyn ist gefallen. Es wurde von Trollocs überrannt.«

Rand fühlte, wie seine Miene erstarrte.

»Du bist nicht überrascht«, stellte Perrin fest. »Du bist besorgt, aber nicht überrascht.«

»Nein, das bin ich nicht«, gab Rand zu. »Ich glaubte, sie würden im Süden zuschlagen – ich hatte von Trolloc-Sichtungen dort gehört, und ich bin mir zur Hälfte sicher, dass Demandred da die Hand im Spiel hat. Er hat sich noch nie ohne Heer wohlgefühlt. Aber Caemlyn … ja, das ist ein schlauer Zug. Ich habe dir ja gesagt, dass sie versuchen werden, uns abzulenken. Wenn sie Andor angreifen und sie weglocken können, dann wird meine Allianz bedeutend wackliger.«

Perrin blickte hinüber zu Elaynes Lager, das sich direkt neben Egwenes befand. »Aber wäre es denn nicht von Vorteil für dich, wenn Elayne ginge? Bei dieser Konfrontation befindet sie sich auf der anderen Seite.«

»Es gibt keine andere Seite. Es gibt nur diese eine Seite, die sich nicht einig ist, wie sie vorgehen soll. Wenn Elayne nicht an der Zusammenkunft teilnimmt, wird das alles untergraben, was ich zu erreichen versuche. Sie ist vermutlich die mächtigste Regentin von allen.«

Natürlich konnte Rand sie durch den Bund fühlen. Ihre plötzliche Aufregung ließ ihn wissen, dass sie die Nachricht erhalten hatte. Sollte er zu ihr gehen? Vielleicht konnte er ja Min schicken. Sie war aufgestanden und entfernte sich von dem Zelt, in dem er sie zurückgelassen hatte. Und …

Er blinzelte. Aviendha. Sie war hier in Merrilor. Aber vor wenigen Augenblicken noch nicht, oder? Perrin sah ihn an, und er machte sich nicht die Mühe, die Überraschung aus seinem Gesicht zu verbannen.

»Wir können Elayne nicht gehen lassen!«

»Nicht einmal, um ihre Heimat zu verteidigen?«, fragte Perrin ungläubig.

»Wenn die Trollocs Caemlyn bereits erobert haben, dann ist es für Elayne zu spät. Dann kann sie nichts mehr ausrichten. Ihre Streitkräfte werden sich auf die Evakuierung konzentrieren. Dazu braucht sie nicht vor Ort zu sein, aber sie muss hier sein. Morgen früh.«

Wie konnte er dafür sorgen, dass sie blieb? Elayne reagierte schlecht darauf, wenn man ihr vorschrieb, was sie zu tun hatte, so wie alle Frauen, aber wenn er andeutete …

»Und wenn wir die Asha’man schicken?«, schlug Perrin vor. »Sie alle? Wir könnten den Kampf in Caemlyn führen.«

»Nein«, sagte Rand, obwohl das Wort schmerzte. »Perrin, wenn die Stadt wirklich überrannt wurde – und ich werde Männer durch Wegetore losschicken, um das zu bestätigen –, dann ist sie verloren. Diese Mauern zurückzuerobern würde viel zu viel Mühe kosten, zumindest in diesem Augenblick. Wir können diese Koalition nicht auseinanderbrechen lassen, bevor ich überhaupt Gelegenheit hatte, sie zu schmieden. Einigkeit wird uns retten. Wenn jeder von uns losläuft, um in seiner Heimat irgendwelche Brände zu löschen, dann verlieren wir. Darum geht es bei diesem Angriff.«

»Ich schätze, das ist möglich …« Perrin fingerte an seinem Hammer herum.

»Der Angriff könnte Elayne nervös machen, sie schneller zum Handeln treiben«, sagte Rand und zog ein Dutzend verschiedener Möglichkeiten in Betracht. »Vielleicht macht es sie ja verletzlicher, damit sie meinem Plan zustimmt. Das wäre eine gute Sache.«

Perrin sah ihn stirnrunzelnd an.

Wie schnell ich doch gelernt habe, andere zu benutzen. Er hatte wieder zu lachen gelernt. Er hatte gelernt, sein Schicksal zu akzeptieren und ihm mit einem Lächeln entgegenzustürmen. Er hatte gelernt, mit dem Mann, der er gewesen war, und dessen Taten seinen Frieden zu schließen.

Dieses Verständnis würde ihn jedoch nicht davon abhalten, die Werkzeuge zu benutzen, die sich ihm boten. Er brauchte sie, brauchte sie alle. Der Unterschied bestand nun darin, dass er sie als die Menschen betrachten würde, die sie waren, und nicht als seine Werkzeuge. Das versprach er sich.

»Ich finde noch immer, wir sollten etwas tun, um Andor zu helfen«, meinte Perrin und kratzte sich am Bart. »Wie haben sie sich hereingeschlichen, was glaubst du?«

»Durch die Kurzen Wege«, sagte Rand gedankenverloren.

Perrin grunzte. »Nun, du hast ja behauptet, dass Trollocs nicht durch Wegetore Reisen können; könnten sie gelernt haben, das zu ändern?«

»Beten wir zum Licht, dass das nicht passiert ist«, sagte Rand. »Das einzige Schattengezücht, das sie dazu bringen konnte, Wegetore zu benutzen, waren Gholam, und Aginor war nicht so dumm, mehr als nur ein paar davon zu machen. Nein, ich würde gegen Mat selbst wetten, dass das der Eingang zu den Kurzen Wegen in Caemlyn war. Ich war überzeugt, sie hätte dieses Ding streng bewacht!«

»Wenn es der Eingang zu den Kurzen Wegen war, dann können wir etwas unternehmen«, sagte Perrin. »Wir können nicht zulassen, dass Trollocs in Andor wüten; wenn sie Caemlyn verlassen, haben wir sie im Rücken, und das wäre eine Katastrophe. Wenn sie aber durch eine bestimmte Stelle reinkommen, könnten wir das mit einem Angriff auf diese Stelle unterbinden.«

Rand grinste.

»Was?«

»Wenigstens habe ich eine Entschuldigung, Dinge zu wissen und zu verstehen, von denen kein junger Mann von den Zwei Flüssen etwas wissen sollte.«

Perrin schnaubte. »Spring doch in den Weinquellenbach. Glaubst du wirklich, dass das Demandred ist?«

»Das ist genau die Art Unternehmen, das er versuchen würde. Trenne deine Gegner, dann zerschmettere sie einen nach dem anderen. Eine der ältesten Strategien der Kriegskunst.«

Demandred hatte das selbst in alten Schriften entdeckt. Zur Zeit der Bohrung hatten sie nichts mehr über Krieg gewusst. Oh, sie hatten geglaubt, ihn zu verstehen, aber es war das Verständnis eines Gelehrten gewesen, der etwas Uraltes und Verstaubtes studierte.

Von all jenen, die sich dem Schatten zugewandt hatten, erschien Demandreds Verrat der tragischste. Der Mann hätte ein Held sein können. Hätte ein Held sein müssen.

Auch dafür bin ich verantwortlich, dachte Rand. Hätte ich ihm die Hand entgegengestreckt, statt verächtlich zu grinsen, hätte ich gratuliert, statt einen Wettstreit zu beginnen. Wäre ich damals der Mann gewesen, der ich jetzt bin …

Egal. Er musste jemanden zu Elayne schicken. Die angemessene Reaktion bestand darin, Unterstützung anzubieten, um die Stadt zu evakuieren, Asha’man und loyale Aes Sedai, die Wegetore erschufen und so viele Menschen wie möglich befreiten – und die dafür sorgten, dass die Trollocs im Augenblick in Caemlyn blieben.

»Nun, ich vermute, deine Erinnerungen sind doch zu etwas nütze«, sagte Perrin.

»Willst du wissen, was mir einen Knoten ins Hirn macht?«, sagte Rand leise. »Die eine Sache, die mich frösteln lässt, als wäre es der kalte Atem des Schattens selbst? Der Makel hat mich in den Wahnsinn getrieben und mir die Erinnerungen an mein früheres Leben gegeben. Sie kamen, als Lews Therin anfing, mir zuzuflüstern. Aber ausgerechnet dieser Wahnsinn gibt mir die Hinweise, die ich brauche, um zu siegen. Verstehst du nicht? Falls ich siegreich bin, wird es der Makel selbst sein, der zum Sturz des Dunklen Königs führt.«

Perrin stieß einen leisen Pfiff aus.

Wiedergutmachung, dachte Rand. Als ich das das letzte Mal versuchte, hat uns mein Wahnsinn zerstört.

Dieses Mal rettet er uns.

»Geh zu deiner Frau, Perrin«, sagte er und blickte zum Himmel. »Das ist für dich die letzte Nacht vor dem Ende, die wenigstens einen Hauch von Frieden haben wird. Ich erkundige mich danach, wie schlimm die Dinge in Andor stehen.« Er sah zurück zu seinem Freund. »Ich vergesse mein Versprechen nicht. Einigkeit muss vor allem anderen kommen. Aus genau diesem Grund scheiterte ich das letzte Mal, weil ich die Einigkeit gering schätzte.«

Perrin nickte, dann legte er Rand die Hand auf die Schulter. »Das Licht erleuchte dich.«

»Dich auch, mein Freund. Dich auch.«

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