21 Ein unverzeihlicher Fehler

Siuan rollte die Schultern. Der scharfe Schmerz ließ sie das Gesicht verziehen. »Yukiri«, murrte sie, »Euer Gewebe braucht noch etwas Arbeit.«

Die kleine Graue fluchte leise und stand vom Lager des Soldaten auf, der eine Hand verloren hatte. Sie hatte ihn nicht Geheilt, sondern ihn gewöhnlichen Heilern mit ihren Verbänden überlassen. Kraft für diesen Mann aufzuwenden wäre eine Verschwendung, denn er würde nie wieder kämpfen. Sie musste ihre Kraft für Soldaten reservieren, die wieder an die Front konnten.

Es war eine brutale Einstellung. Nun, das waren auch brutale Zeiten. Siuan und Yukiri begaben sich zu dem nächsten Soldaten in der Reihe der Verletzten. Der Mann mit der fehlenden Hand würde auch ohne das Heilen überleben. Vermutlich. Sie hatten die Gelben in Mayene, aber deren Energie wurde für das Heilen der Aes Sedai benötigt, die die Flucht überlebt hatten. Und für Soldaten, die noch kämpfen konnten.

Überall in dem provisorischen Lager, das östlich vom Fluss und dessen Furt auf dem Boden von Arafel errichtet worden war, stöhnten und schluchzten Soldaten. So viele Verletzte, und Siuan und Yukiri gehörten zu den wenigen Aes Sedai, die noch Kraft zum Heilen hatten. Die meisten anderen hatten sich völlig verausgabt, als sie Wegetore erschufen, um ihre Armee aus der Mitte der beiden angreifenden Feinde zu schaffen.

Die Sharaner hatten gnadenlos angegriffen, aber das Lager der Weißen Burg zu sichern hatte sie eine Weile beschäftigt, was dem Heer die Zeit zur Flucht verschafft hatte. Jedenfalls Teilen davon.

Yukiri unterzog den nächsten Mann der Tiefenschau, dann nickte sie. Siuan kniete nieder und bereitete ein Heilgewebe vor. Sie war darin nie besonders gut gewesen, und selbst mit einem Angreal forderte ihr das viel ab. Sie brachte den Soldaten zurück vom Rand des Todes und Heilte die Wunde in seiner Seite. Er keuchte auf, denn ein großer Teil der für die Heilung nötigen Energie kam aus seinem eigenen Körper.

Siuan schwankte, dann sackte sie erschöpft zusammen. Beim Licht, sie war so unsicher auf den Beinen wie eine Adlige an ihrem ersten Tag auf einem Schiffsdeck!

Yukiri betrachtete sie, dann hielt sie die Hand für das Angreal hin, eine kleine Steinblume. »Ruht Euch aus, Siuan.«

Siuan biss die Zähne zusammen, dann übergab sie das Angreal. Die Eine Macht entglitt ihr, und sie seufzte tief, zugleich erleichtert und betrübt, die Schönheit Saidars zu verlieren.

Yukiri ging zum nächsten Soldaten. Siuan blieb dort liegen, wo sie war, und ihr Körper beschwerte sich über seine zahllosen Prellungen und Schmerzen. Die Geschehnisse der Schlacht waren ihr nur verschwommen bewusst. Sie erinnerte sich noch, wie der junge Gawyn Trakand in das Befehlszelt stürmte und brüllte, dass Egwene den Rückzug des Heeres befahl.

Bryne hatte schnell reagiert und einen schriftlichen Befehl durch das Wegetor im Boden fallen lassen. Das war seine neueste Methode, Befehle weiterzugeben – ein Pfeilschaft mit einem daran gebundenen Blatt, den man durch ein Wegetor am Himmel fallen ließ. Die Schäfte wiesen keine Spitzen auf, sondern waren bloß mit kleinen Steinen beschwert.

Schon vor Gawyns Erscheinen war Bryne unruhig gewesen. Der Schlachtverlauf hatte ihm gar nicht gefallen. Die Bewegungen der Trollocs hatten ihn gewarnt, dass der Schatten etwas im Schilde führte. Siuan war davon überzeugt, dass er die Befehle bereits vorbereitet hatte.

Dann war das Lager von Explosionen erschüttert worden. Und Yukiri brüllte ihnen zu, durch das Loch im Boden zu springen. Beim Licht, sie hatte die Frau für verrückt gehalten! Offensichtlich verrückt genug, um ihnen allen das Leben zu retten!

Ich will zu Asche verbrannt werden, wenn ich hier rumliege wie die Reste vom gestrigen Fang, dachte sie und starrte in den Himmel. Sie zwang sich auf die Füße.

Yukiri behauptete, dass ihr Gewebe überhaupt nicht obskur war, obwohl Siuan noch nie davon gehört hatte. Ein gewaltiges Kissen aus Luft, das jemanden auffangen sollte, der aus großer Höhe stürzte. Sein Weben hatte die Aufmerksamkeit der Sharaner auf sich gezogen – ausgerechnet Sharaner! –, aber sie waren entkommen. Sie, Bryne, Yukiri und ein paar Adjutanten. Verflucht, sie waren dort herausgekommen, auch wenn sie die Erinnerung an den Sturz noch immer zusammenzucken ließ. Und Yukiri behauptete noch immer, dass das Gewebe möglicherweise das Geheimnis hinter der Entdeckung des Fliegens war! Dumme Frau. Es gab einen guten Grund, warum der Schöpfer Menschen keine Flügel verliehen hatte.

Sie fand Bryne am Rand des neuen Lagers, wo er erschöpft auf einem Baumstumpf saß. Zwei von Steinen gehaltene Schlachtpläne lagen vor ihm ausgebreitet auf dem Boden. Die Karten waren zerknittert; er hatte sie sich noch geschnappt, als das Zelt bereits in die Luft flog.

Dummer Mann, dachte sie. Riskiert sein Leben für ein paar Blätter Papier.

»… die Berichte«, sagte General Haerm, der neue Befehlshaber der Gefährten von Illian. »Es tut mir leid, mein Lord. Die Kundschafter wagen sich nicht zu nahe an das alte Lager heran.«

»Kein Zeichen von der Amyrlin?«, fragte Siuan.

Bryne und Haerm schüttelten beide den Kopf.

»Sucht weiter, junger Mann.« Siuan fuchtelte Haerm mit dem Finger vor dem Gesicht herum. Das Wort »jung« ließ ihn die Braue heben. Dieses jugendliche Gesicht, das sie bekommen hatte, sollte verflucht sein. »Das ist mein Ernst. Die Amyrlin lebt. Ihr findet sie, habt Ihr verstanden?«

»Ich … ja, Aes Sedai.« Ein gewisses Maß an Respekt zeigte er ja, aber es reichte nicht. Diese Illianer wussten einfach nicht, wie man eine Aes Sedai zu behandeln hatte.

Bryne verabschiedete den Mann, und dieses eine Mal hatte es nicht den Anschein, als würde bereits der nächste auf ihn warten. Vermutlich waren alle zu erschöpft. Ihr »Lager« sah eher wie eine Ansammlung von Flüchtlingen aus, die einem schrecklichen Brand entkommen waren, als wie das einer Armee. Die meisten Männer hatten sich in ihre Umhänge gerollt und schliefen. Soldaten waren besser als Matrosen darin, überall und zu jeder Zeit schlafen zu können.

Sie konnte es ihnen nicht verübeln. Schon vor der Ankunft der Sharaner war sie erschöpft gewesen. Jetzt war sie zu Tode erschöpft. Sie setzte sich neben Brynes Baumstumpf auf den Boden.

»Tut dir der Arm noch weh?«, fragte er und beugte sich vor, um ihre Schulter zu reiben.

»Das kannst du doch fühlen«, grollte sie.

»Ich will bloß nett sein, Siuan.«

»Glaube ja nicht, dass ich vergessen habe, dass du an dieser Prellung schuld bist.«

»Ich?« Bryne klang amüsiert.

»Du hast mich in das Loch gestoßen.«

»Du schienst dich nicht bewegen zu wollen.«

»Ich wollte gerade springen. Ich war fast so weit.«

»Da bin ich mir sicher.«

»Das ist deine Schuld«, beharrte Siuan. »Ich geriet ins Stolpern. Ich wollte aber nicht stolpern. Und Yukiris Gewebe … eine schreckliche Sache.«

»Es hat funktioniert«, erwiderte Bryne. »Ich bezweifle, dass viele Leute von sich behaupten können, dreihundert Schritt tief gefallen zu sein und überlebt zu haben.«

»Sie war viel zu eifrig«, fuhr Siuan fort. »Weißt du, vermutlich hatte sie schon die ganze Zeit vorgehabt, uns springen zu lassen. Dieses ganze Gerede über das Reisen und Gewebe der Bewegung …« Sie verstummte, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich über sich selbst ärgerte. Dieser Tag war auch so schon schlimm genug, ohne dass sie Bryne anfahren musste. »Wie viele haben wir verloren?« Kein besseres Thema, aber sie musste es wissen. »Liegen die Berichte schon vor?«

»Beinahe jeden zweiten Soldaten«, sagte Bryne leise.

Schlimmer, als sie gedacht hatte. »Und die Aes Sedai?«

»Ungefähr zweihundertfünfzig sind noch übrig«, sagte er. »Allerdings sind einige von ihnen in einen Schockzustand verfallen, weil sie Behüter verloren haben.«

Eine noch größere Katastrophe. Einhundertzwanzig tote Aes Sedai in nur wenigen Stunden? Die Weiße Burg würde eine sehr lange Zeit brauchen, um sich davon zu erholen.

»Es tut mir leid, Siuan«, sagte er.

»Bah«, sagte sie. »Die meisten von ihnen haben mich sowieso wie Fischgräten behandelt. Sie haben mich als Amyrlin verabscheut, über mich gelacht, als ich gestürzt wurde, und mich nach meiner Rückkehr zu einer Dienerin gemacht.«

Bryne nickte und rieb ihre Schulter weiter. Er konnte fühlen, dass sie trotz ihrer Worte tief betroffen war. Unter den Toten waren gute Frauen gewesen. Viele gute Schwestern.

»Sie ist irgendwo dort draußen«, sagte sie stur. »Egwene wird uns überraschen, Bryne. Pass nur auf!«

»Wenn ich aufpasse, wird es keine besondere Überraschung, oder?«

Siuan grunzte. »Alberner Mann.«

»Du hast recht«, sagte er ernst. »In beiden Dingen. Ich glaube, dass Egwene uns überraschen wird. Und ich bin ein Narr.«

»Bryne …«

»Das bin ich, Siuan. Wie hätte ich sonst übersehen können, dass sie uns hinhalten? Sie wollten uns beschäftigen, bis sich diese andere Streitmacht versammeln konnte. Die Trollocs zogen sich auf diese Hügel zurück. Eine Defensivbewegung. Trollocs sind aber nicht defensiv. Ich nahm an, sie wollten bloß einen Hinterhalt vorbereiten und hätten darum Leichen eingesammelt und abgewartet. Hätte ich sie früher angegriffen, hätte man das hier vermeiden können. Ich war zu vorsichtig.«

»Ein Mann, der den ganzen Tag über den Fang nachgrübelt, den er wegen stürmischen Wetters versäumt hat, verschwendet Zeit, wenn der Himmel klar ist.«

»Ein kluges Sprichwort«, meinte er. »Aber es gibt auch eines unter Generälen, geschrieben von Fogh dem Unermüdlichen. ›Wenn man nichts aus seinen Verlusten lernt, wird man sich von ihnen beherrschen lassen.‹ Ich kann nicht verstehen, wie ich das zulassen konnte. Ich bin besser ausgebildet, besser vorbereitet! Wir sprechen hier nicht nur von einem Fehler, den ich einfach ignorieren kann, Siuan. Das Muster selbst steht auf dem Spiel.«

Er rieb sich die Stirn. Im schwachen Licht der untergehenden Sonne sah er älter aus, das Gesicht faltig, die Hände gebrechlich. Es war, als hätte ihm diese Schlacht Jahrzehnte gestohlen. Er seufzte und beugte sich vor.

Siuan musste entdecken, dass ihr die Worte fehlten.

Schweigend blieben sie dort sitzen.


Lyrelle wartete vor den Toren dieser sogenannten Schwarzen Burg. Es kostete sie jeden Funken ihrer Ausbildung, um sich ihre Frustration nicht anmerken zu lassen.

Diese ganze Expedition war von Anfang an ein Desaster gewesen. Zuerst hatte die Schwarze Burg ihnen den Eintritt verwehrt, bis die Roten mit ihrer Sache fertig waren, dann hatte es den Ärger mit den Wegetoren gegeben. Darauf folgten drei Blasen des Bösen, zwei Versuche von Schattenfreunden, sie alle zu ermorden, und die Warnung der Amyrlin, dass sich die Schwarze Burg auf die Seite des Schattens geschlagen hatte.

Lyrelle hatte die meisten ihrer Frauen aufgrund des Befehls der Amyrlin zu Lan Mandragoran geschickt, um an seiner Seite zu kämpfen. Sie selbst war mit ein paar Schwestern zurückgeblieben, um die Schwarze Burg zu beobachten. Und jetzt … und jetzt das. Was sollte sie davon halten?

»Ich kann Euch versichern«, sagte der junge Asha’man, »dass die Gefahr vorüber ist. Wir haben den M’Hael und die anderen, die sich dem Schatten zugewandt haben, vertrieben. Der Rest von uns wandelt im Licht.«

Lyrelle wandte sich an ihre Begleiterinnen. Eine Abgeordnete von jeder Ajah, unterstützt von Rückendeckung in Gestalt von dreißig weiteren Schwestern, nach denen man an diesem Morgen verzweifelt geschickt hatte, als die Asha’man das erste Mal zu ihr gekommen waren. Sie hatten Lyrelles Führung akzeptiert, wenn auch widerstrebend.

»Wir werden es besprechen«, sagte sie und entließ den jungen Asha’man mit einem Nicken.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Myrelle. Die Grüne war von Anfang an dabei gewesen; sie hatte zu den wenigen gehört, die sie nicht weggeschickt hatte, vor allem weil sie die Behüter der Frau in der Nähe haben wollte. »Wenn einige von ihnen für den Schatten kämpfen …«

»Man kann wieder Wegetore weben«, sagte Seaine. »Seit wir vor ein paar Tagen fühlten, wie innerhalb dieses Ortes die Macht gelenkt wurde, hat sich hier etwas verändert.«

»Darauf verlasse ich mich nicht«, sagte Myrelle.

»Wir müssen es mit Sicherheit wissen«, erwiderte Seaine. »Die Schwarze Burg darf während der Letzten Schlacht nicht unbeaufsichtigt bleiben. Wir müssen dafür sorgen, dass man sich um diese Männer kümmert, auf die eine oder andere Weise.« Die Männer von der Schwarzen Burg behaupteten, dass nur wenige von ihnen zum Schatten übergelaufen waren und dass das Machtlenken das Resultat eines Angriffs der Schwarzen Ajah gewesen war.

Allein schon diese Worte hören zu müssen widerte Lyrelle an. Schwarze Ajah. Jahrhundertelang hatte die Weiße Burg die Existenz von Schattenfreunden unter Aes Sedai geleugnet. Leider war die Wahrheit enthüllt worden. Aber das bedeutete nicht, dass Lyrelle hören wollte, wie Männer so freimütig mit diesem Begriff um sich warfen. Erst recht nicht Männer wie diese.

»Hätten sie uns angreifen wollen«, sagte sie nachdenklich, »dann hätten sie es getan, als wir nicht durch Wegetore entkommen konnten. Für den Augenblick will ich einmal davon ausgehen, dass sie das … Problem in ihren eigenen Rängen gelöst haben. Wie es die Weiße Burg verlangt hat.«

»Also treten wir ein?«, wollte Myrelle wissen.

»Ja. Wir gehen mit den uns versprochenen Männern den Behüterbund ein; aus denen bekommen wir schon die Wahrheit heraus, falls sie verschleiert werden sollte.« Es störte Lyrelle, dass der Wiedergeborene Drache ihnen die höchstrangigen Asha’man verweigert hatte, aber bei ihrer ursprünglichen Ankunft hatte sie einen Plan geschmiedet. Er sollte noch immer funktionieren. Sie würde vorher verlangen, dass die Männer ihre Beherrschung der Macht demonstrierten und dann mit dem den Bund eingingen, der ihrer Meinung nach der Stärkste war. Dann würde sie denjenigen von ihnen erwischt haben, der ihr verraten konnte, welche unter den Auszubildenden die Talentiertesten waren, damit sich ihre Schwestern sie nehmen konnten.

Und dann … nun, sie hoffte, dass sie die Mehrzahl dieser Männer in Schach halten konnten. Beim Licht, was für eine scheußliche Angelegenheit. Männer, die die Macht lenken konnten, die schamlos damit herumliefen. Dieses Märchen vom gereinigten Makel akzeptierte sie nicht. Natürlich würden diese … Männer … so etwas behaupten.

»Manchmal wünschte ich«, murmelte sie, »ich könnte zurückgehen und mich dafür ohrfeigen, diese Aufgabe übernommen zu haben.«

Myrelle lachte. Sie nahm die Dinge nie so ernst, wie sie es hätte tun sollen. Lyrelle war wütend, die vielen Gelegenheiten verpasst zu haben, die sich während ihrer langen Abwesenheit in der Weißen Burg zugetragen hatten. Die Wiedervereinigung, der Kampf gegen die Seanchaner … Das waren Zeiten, in denen Führungsqualitäten bewiesen werden konnten, und eine Frau konnte hier den Ruf erringen, über großes Durchsetzungsvermögen zu verfügen.

In Zeiten des Aufruhrs gab es immer Gelegenheiten. Gelegenheiten, die nun für sie verloren waren. Beim Licht, wie sie diese Vorstellung hasste.

»Wir treten ein«, rief sie zu den Mauern hoch, die das Tor vor ihr umgaben. Dann sprach sie leiser zu ihren Frauen. »Haltet die Eine Macht und seid vorsichtig. Wir wissen nicht, was hier passieren könnte.« Ihre Frauen würden, falls nötig, auch einer großen Zahl unerfahrener Asha’man gewachsen sein. Logischerweise sollte es nicht dazu kommen. Natürlich waren diese Männer mehr oder weniger geisteskrank. Also war es vielleicht falsch, von ihnen Logik erwarten zu wollen.

Die großen Tore öffneten sich, um sie einzulassen. Es sagte viel über diese Männer der Schwarzen Burg aus, dass sie zuerst die Mauer um ihren Besitz errichtet hatten, bevor sie an ihrer Burg weiterbauten.

Sie trieb ihr Pferd an, und Myrelle und die anderen folgten ihr inmitten von Hufgeklapper. Sie umarmte die Quelle und benutzte das neue Gewebe, das ihr verraten würde, falls ein Mann in der Nähe die Macht lenkte. Allerdings begrüßte sie nicht der junge Mann von eben am Tor.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte sie Pevara Tazanovni, die auf sie zuritt. Sie kannte die Rote Sitzende, wenn auch nicht gut.

»Man hat mich gebeten, Euch zu begleiten«, erwiderte Pevara fröhlich. »Logain war der Ansicht, dass Euch ein vertrautes Gesicht vielleicht die Anspannung nimmt.«

Lyrelle unterdrückte ein höhnisches Grinsen. Aes Sedai sollten nicht fröhlich sein. Aes Sedai sollten ruhig, gesammelt und vor allem anderen streng sein. Ein Mann sollte eine Aes Sedai anblicken und sich sofort fragen, was er falsch gemacht hatte und wie er es wohl in Ordnung bringen sollte.

Pevara setzte sich an ihre Seite, als sie auf das Gelände der Schwarzen Burg ritten. »Logain, der hier jetzt den Befehl hat, übersendet seinen Gruß«, fuhr Pevara fort. »Er ist bei dem Angriff schwer verletzt worden und hat sich noch nicht vollständig erholt.«

»Wird er wieder genesen?«

»Oh, mit Sicherheit. In ein, zwei Tagen sollte er wieder auf den Beinen sein. Ich schätze, er wird gebraucht, um die Asha’man in der Letzten Schlacht anzuführen.«

Schade, dachte Lyrelle. Ohne falschen Drachen an der Spitze wäre die Schwarze Burg leichter zu kontrollieren gewesen. Es wäre besser gewesen, er wäre gestorben.

»Ich bin überzeugt, seine Hilfe wird nützlich sein«, sagte Lyrelle. »Seine Führung hingegen … Nun, wir werden ja sehen. Sagt, Pevara … Man hat mir zugetragen, dass der Behüterbund mit einem Mann, der die Macht lenken kann, sich von dem Bund mit einem normalen Mann unterscheidet. Habt Ihr diese Erfahrung gemacht?«

»Ja«, erwiderte Pevara.

»Und, stimmt es? Gewöhnliche Männer können durch den Bund zum Gehorsam gezwungen werden, aber diese Asha’man nicht?«

Pevara lächelte nur und erschien irgendwie wehmütig. »Ach, wie das wohl wäre? Nein, der Bund kann keinen Asha’man zu etwas zwingen. Ihr werdet Euch schon einfallsreichere Methoden einfallen lassen müssen.«

Das war nicht gut. »Wie gehorsam sind sie denn?«, fragte Aledrin von der anderen Seite.

»Ich vermute, das kommt auf den jeweiligen Mann an«, antwortete Pevara.

»Wenn man sie nicht zwingen kann«, sagte Lyrelle, »werden sie ihrer Aes Sedai im Kampf gehorchen?«

»Vermutlich«, sagte Pevara, auch wenn in ihrem Tonfall etwas Doppeldeutiges mitschwang. »Ich muss euch etwas sagen, euch allen. Die Mission, zu der ich losgeschickt wurde und die ihr ebenfalls verfolgt, ist ein Narrenspiel.«

»Tatsächlich?«, fragte Lyrelle tonlos. Sie würde wohl kaum einer Roten trauen, vor allem nicht nach dem, was sie mit Siuan gemacht hatten. »Wieso das?«

»Einst war ich genau wie ihr jetzt«, fuhr Pevara fort. »Dazu bereit, sämtliche Asha’man in den Behüterbund zu zwingen, um sie kontrollieren zu können. Aber würdet ihr auch in irgendeine andere Stadt reiten und dort fünfzig Männer aufs Geratewohl aussuchen und zu Behütern machen? Sich mit den Asha’man um des Bundes willen zu verbinden ist dumm. Es wird sie nicht kontrollieren. Ich glaube, einige Asha’man werden ausgezeichnete Behüter abgeben, aber wie bei so vielen Männern ist das bei anderen nicht der Fall. Ich schlage vor, ihr gebt euren Plan auf, genau siebenundvierzig von ihnen auszuwählen und stattdessen die zu nehmen, die daran Interesse zeigen. Ihr werdet bessere Behüter erhalten.«

»Ein interessanter Rat«, sagte Lyrelle. »Aber wie Ihr bereits erwähntet, werden die Asha’man an der Front gebraucht. Wir haben keine Zeit. Wir werden die siebenundvierzig Mächtigsten nehmen.«

Pevara seufzte, enthielt sich aber jedes weiteren Kommentars, als sie mehrere Männer in schwarzen Mänteln mit zwei Anstecknadeln an den hohen Kragen passierten. Lyrelle fröstelte, als würden sich Insekten einen Weg unter ihrer Haut graben. Männer, die die Macht lenken konnten.

Lelaine war der Ansicht, dass die Schwarze Burg für die Pläne der Weißen Burg von entscheidender Bedeutung war. Nun, Lyrelle gehörte der Blauen Sitzenden nicht. Sie war eine unabhängige Frau und außerdem ebenfalls Sitzende. Falls sie eine Möglichkeit fand, in der Schwarzen Burg die Autorität zu erringen, dann konnte sie sich vielleicht endlich von Lelaine befreien.

Dafür lohnte es sogar, den Bund mit einem Asha’man einzugehen. Aber sie würde es beim Licht nicht genießen. Irgendwie mussten sie alle diese Männer unter ihre Kontrolle bringen. Der Drache würde den Verstand verlieren, denn der Dunkle König hatte Saidin mit seinem Makel beschmutzt; mittlerweile musste er unzuverlässig sein. Ob man ihn wohl so weit manipulieren konnte, dass man auch den Rest dieser Männer in den Behüterbund zwingen konnte?

Durch den Bund keine Kontrolle zu haben … das wird gefährlich sein. Sie stellte sich vor, mit Reihen aus zwei oder drei Dutzend Asha’man in die Schlacht zu ziehen, die alle mit ihr verbunden waren und ihrem Willen unterlagen. Wie konnte sie das zustande bringen?

Am Dorfrand wartete bereits eine Reihe Männer in schwarzen Mänteln. Lyrelle und die anderen näherten sich ihnen, und sie zählte schnell. Siebenundvierzig Männer, jener eingeschlossen, der vor den anderen stand. Was für eine Hinterlist führten sie denn jetzt im Schilde?

Der, der ganz vorn stand, trat vor. Er war ein stämmiger Mann in den mittleren Jahren, und er sah aus, als hätte er kürzlich schlimme Dinge erlitten. Seine Haut war ganz fahl, unter den Augen zeichneten sich dicke Tränensäcke ab. Aber sein Schritt war energisch und sein Blick schwankte nicht, als er ihren Blick erwiderte und sich dann vor ihr verneigte.

»Willkommen, Aes Sedai«, sagte er.

»Und Ihr seid?«

»Androl Genhald«, sagte er. »Man hat mir den Befehl über Eure siebenundvierzig übergeben, bis sie den Bund eingegangen sind.«

»Meine siebenundvierzig? Wie ich sehe, habt Ihr die vereinbarten Bedingungen bereits vergessen. Wir bekommen jeden Soldaten oder Geweihten, den wir wollen, und sie können sich nicht verweigern.«

»Ja, nun«, erwiderte Androl. »Das ist richtig. Leider sind sämtliche Männer in der Schwarzen Burg mit Ausnahme von denen hier entweder vollwertige Asha’man oder wegen dringender Dinge abberufen worden. Die anderen würden natürlich den Befehlen des Drachen folgen, wären sie anwesend. Wir haben dafür gesorgt, dass Euch siebenundvierzig zur Verfügung stehen. Eigentlich sind es sechsundvierzig. Ihr müsst wissen, dass ich bereits von Pevara Sedai dem Bund zugeführt wurde.«

»Wir warten, bis die anderen zurück sind«, erwiderte Lyrelle kalt.

»Ich glaube nicht, dass das so bald geschieht«, sagte Androl. »Falls Ihr an der Letzten Schlacht teilnehmen wollt, müsst Ihr Euch schnell entscheiden.«

Lyrelle starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an, dann blickte sie zu Pevara hinüber, die bloß mit den Schultern zuckte.

»Das ist ein Trick«, sagte sie zu Androl. »Und zwar ein recht kindischer.«

»Ich fand ihn eigentlich recht schlau«, erwiderte Androl mit kühler Stimme. »Einer Aes Sedai wert, könnte man sagen. Euch wurde versprochen, dass jeder Angehörige der Schwarzen Burg Eurer Bitte entspricht, ausgenommen die vollwertigen Asha’man. Sie werden gehorchen. Jeder von ihnen, an den Ihr die Bitte richten könnt.«

»Zweifellos habt Ihr die Schwächsten unter Euch ausgesucht.«

»Tatsächlich haben wir die genommen, die sich freiwillig gemeldet haben«, sagte Androl. »Das sind gute Männer, jeder Einzelne von ihnen. Sie alle wollten Behüter werden.«

»Der Wiedergeborene Drache wird davon hören!«

»Soweit ich informiert bin«, erwiderte Androl, »begibt er sich in Kürze zum Shayol Ghul. Wollt Ihr Euch dort zu ihm gesellen, nur um Euch zu beschweren?«

Lyrelles Lippen verzogen sich zu einem schmalen Strich.

»Folgendes, Aes Sedai«, fuhr Androl fort. »Der Wiedergeborene Drache hat uns eine Botschaft geschickt, gerade erst heute. Er hat uns angewiesen, eine letzte Lektion zu lernen: Wir sollen uns nicht als Waffen betrachten, sondern als Menschen. Nun, Menschen können ihr Schicksal wählen, Waffen können das nicht. Hier sind Eure Menschen, Aes Sedai. Respektiert sie.«

Androl verneigte sich erneut und ging. Pevara zögerte, dann wendete sie ihr Pferd und folgte ihm. Lyrelle erkannte etwas im Gesicht der Frau, als sie diesen Mann ansah.

So ist das also, dachte Lyrelle. Sie ist nicht besser als eine Grüne. Von jemandem ihres Alters hätte ich doch mehr erwartet.

Sie war versucht, sich nicht auf diese Manipulation einzulassen, sich auf direktem Weg zur Amyrlin zu begeben und zu protestieren. Aber … die Nachrichten vom Schlachtfeld der Amyrlin waren ungenau. Etwas über das Eintreffen einer Armee, mit der niemand gerechnet hatte; Einzelheiten waren nicht verfügbar.

Mit Sicherheit würde sich die Amyrlin nicht darüber freuen, sich zu diesem Zeitpunkt irgendwelche Klagen anhören zu müssen. Und außerdem musste sie zugeben, dass sie diese Schwarze Burg schnell und weit hinter sich lassen wollte.

»Jede von euch sucht sich zwei aus«, sagte Lyrelle zu ihren Begleiterinnen. »Ein paar von uns nehmen nur einen. Faolain und Theodrin, damit seid auch ihr gemeint. Macht schnell, ihr alle. Ich will diesen Ort so schnell wie möglich verlassen.«


Pevara holte Androl ein, als er eine der Hütten betreten wollte.

»Beim Licht«, sagte sie, »ich hatte ganz vergessen, wie kalt einige von uns sein können.«

»Ach, ich weiß nicht«, erwiderte er, »ich habe gehört, dass einige von euch gar nicht so schlimm sein sollen.«

»Nehmt Euch vor ihnen in Acht, Androl«, sagte sie und blickte zu ihnen zurück. »Viele werden Euch bloß als Bedrohung oder nützliches Werkzeug sehen.«

»Wir haben Euch überzeugt«, sagte er und betrat den Raum, in dem Canler, Jonneth und Emarin mit Tassen heißen Tees warteten. Die Männer fingen an, sich von dem Kampf zu erholen, Jonneth am schnellsten. Emarin trug die meisten Narben, viele davon tief in seiner Seele. Er war wie Logain dem Prozess des Umdrehens ausgesetzt worden. Pevara war nicht entgangen, wie er manchmal ins Leere starrte und sein Gesicht dabei einen Ausdruck tiefen Entsetzens annahm, als würde er sich an etwas Schreckliches erinnern.

»Ihr drei solltet nicht hier sein«, sagte Pevara, stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete Emarin und die anderen beiden. »Ich weiß, dass Logain euch die Beförderung versprochen hat, aber ihr tragt nur das Schwert am Kragen. Hätte eine dieser Frauen euch gesehen, könnten sie euch als Behüter nehmen.«

»Sie werden uns nicht sehen«, sagte Jonneth mit einem Lachen. »Androl hätte uns durch ein Wegetor geschickt, bevor wir fluchen könnten!«

»Und was tun wir jetzt?«, fragte Canler.

»Was auch immer Logain von uns will«, erwiderte Androl.

Logain hatte sich seit der Tortur … verändert. Androl hatte ihr zugestimmt, dass er jetzt finsterer war. Er sprach weniger. Er war noch immer fest entschlossen, in die Letzte Schlacht zu ziehen, aber im Augenblick sammelte er seine Männer und brütete über Dingen, die sie in Taims Räumen gefunden hatten. Pevara sorgte sich, dass ihn die Verwandlung innerlich gebrochen hatte.

»Er glaubt, auf den in Taims Räumen gefundenen Schlachtplänen könnte etwas zu entdecken sein«, meinte Emarin.

»Wir gehen, wenn Logain entscheidet, dass wir am nützlichsten sind«, erwiderte Androl. Eine direkte Antwort, die aber auch nicht unbedingt viel aussagte.

»Und was ist mit dem Lord Drachen?«, fragte Pevara vorsichtig.

Sie spürte Androls Unsicherheit. Der Asha’man Naeff hatte sie besucht und Neuigkeiten und Befehle überbracht – und daraus hatten sich einige Schlussfolgerungen ergeben. Der Wiedergeborene Drache hatte gewusst, dass die Dinge in der Schwarzen Burg nicht zum Besten standen.

»Er hat uns absichtlich im Stich gelassen«, sagte Androl.

»Er wäre hergekommen, wäre ihm das möglich gewesen!«, erwiderte Jonneth. »Das versichere ich Euch.«

»Er wollte, dass wir aus eigener Kraft entkommen oder allein untergehen«, sagte Emarin. »Er ist ein brutaler Mann geworden. Vielleicht sogar hartherzig.«

»Es spielt keine Rolle«, sagte Androl. »Die Schwarze Burg hat gelernt, ohne ihn zu überleben. Beim Licht! Sie hat immer ohne ihn überlebt. Er hatte noch kaum etwas mit uns zu tun. Es war Logain, der uns Hoffnung gab. Logain erhält meine Gefolgstreue.«

Die anderen nickten. Pevara erkannte, dass hier gerade etwas Wichtiges geschah. Sie hätten sich sowieso nicht für alle Zeiten auf ihn stützen können, dachte sie. Der Wiedergeborene Drache wird in der Letzten Schlacht sterben. Ob absichtlich oder nicht, er hatte ihnen die Gelegenheit gegeben, auf eigenen Füßen zu stehen.

»Allerdings werde ich mir seinen letzten Befehl zu Herzen nehmen«, sagte Androl. »Ich werde nicht bloß eine Waffe sein. Der Makel ist bereinigt. Wir kämpfen nicht, um zu sterben, sondern um zu leben. Wir haben einen Grund, um zu leben. Verbreitet die Nachricht unter den anderen Männern, und lasst uns Eide ablegen, Logain als unseren Anführer anzunehmen. Und dann geht es zur Letzten Schlacht. Nicht als Handlanger des Wiedergeborenen Drachen, nicht als Marionetten des Amyrlin-Sitzes, sondern als die Schwarze Burg. Wir stehen auf eigenen Beinen.«

»Wir stehen auf eigenen Beinen«, flüsterten die anderen drei und nickten.

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