17 Älter und ganz schön verbraucht

Das war alles nicht sehr fruchtbar, Euer Majestät«, unterbrach eine Stimme Mats Dösen.

Etwas stach in sein Gesicht. Das war die schlimmste Matratze, auf der er je geschlafen hatte. Er würde den Wirt so lange prügeln, bis er sein Geld zurückerhalten hatte.

»Der Attentäter ist sehr schwierig zu verfolgen«, fuhr diese nervtötende Stimme fort. »Leute, an denen er vorbeikommt, erinnern sich nicht mehr an ihn. Falls der Prinz der Raben weiß, wie man diese Kreatur aufspüren kann, würde ich das sehr gern hören.«

Warum ließ der Wirt nur diese Leute in sein Zimmer? Er trieb der wachen Welt entgegen und ließ diesen wunderschönen Traum hinter sich, in dem es um Tuon und keine Sorge auf der verdammten Welt gegangen war. Er öffnete das verschlafene Auge und schaute in einen wolkenverhüllten Himmel. Und keineswegs auf die Decke eines Gasthauses.

Verfluchte Asche, dachte er stöhnend. Sie waren im Garten eingeschlafen. Er setzte sich auf und entdeckte, dass er abgesehen von dem Tuch um den Hals völlig nackt war. Seine und Tuons Kleidung lag unter ihm ausgebreitet. Sein Gesicht hatte mitten im Unkraut gelegen.

Tuon saß neben ihm und ignorierte die Tatsache, dass sie völlig nackt war. Sie sprach mit einem Totenwächter. Musenge kniete auf einem Knie, hielt den Kopf gesenkt und starrte zu Boden. Trotzdem!

»Beim Licht!«, sagte Mat und griff nach seiner Kleidung. Tuon saß auf seinem Hemd und warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, als er versuchte, es unter ihr wegzuziehen.

»Höchsterlauchter«, wandte sich der Wächter mit noch immer abgewandtem Gesicht an Mat. »Ich grüße Euch, wo Ihr erwacht seid.«

»Tuon, warum sitzt du einfach da bloß rum?«, wollte Mat wissen und schaffte es endlich, sein Hemd von diesem knackigen Hintern freizubekommen.

»Als mein Gemahl dürft Ihr mich als Fortuona oder Majestät ansprechen«, sagte Tuon streng. »Es würde mich ausgesprochen ärgern, wenn ich Euch hinrichten lassen müsste, bevor Ihr mir ein Kind schenkt, denn Ihr wachst mir ans Herz. Was diesen Wächter angeht, er gehört zur Totenwache. Sie müssen mich ständig bewachen. Ich habe sie oft in meiner unmittelbaren Nähe, wenn ich bade. Das ist ihre Pflicht, und sein Gesicht ist abgewandt.«

Mat kleidete sich eilig an.

Sie fing ebenfalls an, sich anzuziehen, wenn auch nicht einmal annähernd schnell genug, soweit es ihn betraf. Er hielt nicht viel von einem Wächter, der seine Frau angaffte. Die Stelle, an der sie geschlafen hatten, wurde von niedrigen Blautannen umgeben – hier im Süden eine Seltenheit; möglicherweise hatte man sie ja gezüchtet, weil sie exotisch waren. Auch wenn die Nadeln langsam braun wurden, boten sie dennoch wenigstens ein gewisses Maß an Privatsphäre. Jenseits der Tannen gab es einen Kreis aus anderen Bäumen. Möglicherweise Pfirsichbäume, obwohl das ohne die Blüten schwer zu sagen war.

Mat konnte kaum etwas von der Stadt außerhalb des Gartens hören, die zu dieser Stunde ebenfalls erwachte, und die Luft roch leicht nach Tannennadeln. Sie war warm genug, dass das Schlafen unter freiem Himmel nicht unangenehm gewesen war, trotzdem war er froh, wieder angezogen zu sein.

Ein Totenwächter näherte sich, gerade als Tuon fertig angezogen war. Er zertrat vertrocknete Tannennadeln, dann verneigte er sich tief vor ihr. »Kaiserin, wir haben vielleicht einen weiteren Attentäter gefangen genommen. Er ist nicht die Kreatur der vergangenen Nacht, denn er trägt keine Wunden, aber er versuchte, sich in den Palast zu schleichen. Wir dachten, Ihr würdet ihn gern sehen, bevor wir mit dem Verhör beginnen.«

»Bringt ihn her«, befahl Tuon und richtete ihr Gewand. »Und lasst nach General Karede schicken.«

Der Offizier zog sich zurück und passierte Selucia, die neben dem Pfad stand, der zu Lichtung führte. Sie eilte sofort zu Tuon. Mat setzte den Hut auf und trat an ihre andere Seite, stemmte den Knauf des Ashandarei in das tote Gras.

Der arme Narr, der sich beim Einbruch in diesen Garten hatte erwischen lassen, tat ihm leid. Vielleicht war der Mann ein Meuchelmörder, aber er konnte auch bloß ein Bettler oder ein Dummkopf auf der Suche nach einem Abenteuer sein. Oder er war …

Der Wiedergeborene Drache.

Mat stöhnte. Ja, es war Rand, den sie über den Pfad führten. Er sah deutlich älter als bei ihrer letzten Begegnung aus, älter und ganz schön verbraucht. Natürlich hatte er den Mann erst kürzlich in diesen verfluchten Visionen gesehen. Auch wenn er sich darin geübt hatte, nicht an ihn zu denken, um diese Farbenwirbel zu vermeiden, hatte er nicht immer damit Erfolg gehabt.

Aber wie dem auch sei, Rand persönlich zu sehen war etwas anderes. Es war … beim Licht, wie lange war das jetzt her? Das letzte Mal stand ich ihm gegenüber, als er mich nach Salidar schickte, um Elayne zu holen. Das schien eine ganze Ewigkeit her zu sein. Bevor er nach Ebou Dar gekommen war, bevor er zum ersten Mal den Gholam gesehen hatte. Vor Tylin, vor Tuon.

Mat runzelte die Stirn, als man Rand mit auf den Rücken gebundenen Armen zu Tuon brachte. Sie unterhielt sich gerade in ihrer schnellen Fingersprache mit Selucia. Rand schien nicht im Mindesten besorgt zu sein; seine Miene war völlig gelassen. Er trug einen hübschen Mantel in Rot und Schwarz, darunter ein weißes Hemd und schwarze Hosen. Kein Gold und kein Schmuck, und auch keine Waffe.

»Tuon«, sagte Mat. »Das ist …«

Tuon wandte sich von Selucia ab und erblickte Rand. »Damane!«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Holt meine Damane! Lauft, Musicar! LAUFT!«

Der Totenwächter stolperte rückwärts, dann rannte er los und brüllte nach den Damane und Bannergeneral Karede.

Rand sah ihm trotz seiner Fesseln ganz gelassen nach. Ehrlich gesagt sieht er wirklich irgendwie wie ein König aus, dachte Mat im Stillen. Natürlich war Rand völlig wahnsinnig, jedenfalls aller Wahrscheinlichkeit nach. Das würde zumindest erklären, warum er auf diese Weise bei Tuon hereinspazierte.

Entweder das, oder er wollte sie töten. Bei einem Mann, der die Macht lenken konnte, waren Fesseln völlig sinnlos. Blut und Asche, dachte er. Wie bin ich bloß wieder in diese Situation geraten? Er hatte doch alles nur Erdenkliche getan, um Rand aus dem Weg zu gehen!

Rand erwiderte Tuons starren Blick. Mat holte tief Luft, dann stellte er sich mit einem schnellen Schritt vor sie. »Rand. Also ehrlich. Ganz ruhig, verhalten wir uns alle ganz friedlich.«

»Hallo, Mat.« Seine Stimme klang freundlich. Beim Licht, er war verrückt! »Danke, dass du mich zu ihr geführt hast.«

»Zu ihr geführt …«

»Was hat das zu bedeuten?«, verlangte Tuon zu wissen.

Mat fuhr auf dem Absatz herum. »Ich … also ehrlich, das ist …«

Ihr harter Blick hätte Löcher in Stahl bohren können. »Ihr wart das«, sagte sie zu ihm. »Ihr kamt her, habt mich dazu verleitet, liebevoll zu sein, dann habt Ihr ihn zu mir geführt. Ist das wahr?«

»Macht ihm keine Vorwürfe«, sagte Rand. »Wir beide mussten uns wiedersehen. Ihr wisst, dass das die Wahrheit ist.«

Mat stolperte einen Schritt zurück und hob beide Hände, als wollte er sie voneinander trennen. »Schluss jetzt, ihr beide. Habt ihr mich verstanden?«

Etwas packte Mat und riss ihn in die Luft. »Hör auf mit dem Blödsinn, Rand«, rief er.

»Das bin nicht ich«, erwiderte Rand und schien sich, nach seiner Miene zu urteilen, zu konzentrieren. »Ah. Ich wurde abgeschirmt.«

Als Mat in der Luft hing, tastete er seine Brust ab. Das Medaillon. Wo war sein Medaillon?

Er starrte Tuon an. Einen flüchtigen Augenblick sah sie beschämt aus und griff in die Tasche ihres Gewandes. Sie zog etwas Silbernes hervor, wollte das Medaillon vielleicht als Schutz gegen Rand benutzen.

Großartig, dachte Mat stöhnend. Sie hatte es ihm abgenommen, während er schlief, und er hatte es nicht einmal bemerkt. Einfach nur großartig.

Das Luftgewebe setzte ihn neben Rand ab; Karede war mit einer Sul’dam und einer Damane zurückgekehrt. Alle drei hatten gerötete Gesichter, als wären sie gerannt. Die Damane hatte die Macht gelenkt.

Tuon musterte Rand und Mat, dann gestikulierte sie Selucia mit scharfen Bewegungen.

»Vielen herzlichen Dank«, murmelte Mat Rand zu. »Du bist ein so verflucht guter Freund.«

»Es ist auch schön, dich zu sehen«, erwiderte Rand mit dem Hauch eines Lächelns.

»Und es geht los«, sagte Mat und seufzte. »Wieder einmal hast du mich in Schwierigkeiten gebracht. Das tust du immer.«

»Ich?«

»Ja. In Rhuidean und in der Wüste, im Stein von Tear … In den Zwei Flüssen. Dir ist schon klar, dass ich, statt Egwene zu deiner kleinen Feier in Merrilor zu begleiten, nach Süden gezogen bin, weil ich dir entkommen wollte?«

Rand lächelte. »Du glaubst, du könntest dich von mir fernhalten? Du glaubst allen Ernstes, das würde es zulassen?«

»Ich kann es verdammt noch mal versuchen. Nichts für ungut, Rand, aber du wirst den Verstand verlieren. Ich fand, ich sollte für einen Freund weniger in deiner Nähe sorgen, den du umbringen kannst. Du weißt schon, dir die Mühe ersparen. Was hast du übrigens mit deiner Hand gemacht?«

»Was hast du mit deinem Auge gemacht?«

»Ein kleiner Unfall mit einem Korkenzieher und dreizehn wütenden Schenkwirten. Die Hand?«

»Bei der Gefangennahme einer der Verlorenen eingebüßt.«

»Der Gefangennahme? Du wirst weich.«

Rand schnaubte. »Du hast bestimmt mehr erreicht.«

»Ich tötete einen Gholam«, sagte Mat.

»Ich befreite Illian von Sammael.«

»Ich heiratete die Kaiserin von Seanchan.«

»Mat, willst du wirklich mit dem Wiedergeborenen Drachen um die Wette prahlen?«, fragte Rand. Er schwieg kurz. »Außerdem habe ich Saidin gereinigt. Ich gewinne.«

»Ach, das ist nun wirklich nicht viel wert«, meinte Mat.

»Das ist nicht viel wert? Das ist das wichtigste Ereignis seit der Zerstörung der Welt!«

»Bah. Du und deine Asha’man seid doch schon verrückt«, erwiderte Mat, »also was spielt das noch für eine Rolle?« Er warf einen Blick zur Seite. »Übrigens siehst du wirklich nett aus. In letzter Zeit hast du etwas besser auf dich aufgepasst.«

»Also interessiert es dich doch«, sagte Rand.

»Natürlich interessiert es mich«, brummte Mat und sah wieder zu Tuon. »Ich meine, du musst dich am Leben erhalten, richtig? Dein kleines Duell mit dem Dunklen König, um uns alle zu retten? Gut zu wissen, dass du dem allem Anschein nach gewachsen bist.«

»Das höre ich gern«, sagte Rand und lächelte. »Keine dummen Bemerkungen über meinen schönen Mantel?«

»Was? Welche dummen Bemerkungen? Du bist doch wohl nicht mehr beleidigt, nur weil ich dich vor ein paar Jahren ein bisschen damit aufgezogen habe?«

»Mich damit aufgezogen? Du hast wochenlang kein Wort mehr mit mir gewechselt.«

»Also Moment mal«, protestierte Mat. »So schlimm war das nun auch wieder nicht. An diesen Teil erinnere ich mich ganz genau.«

Rand schüttelte ungläubig den Kopf. Verdammt undankbar, das war er. Mat war losgezogen, um Elayne zu holen, genau wie Rand ihn gebeten hatte, und das war der Dank. Sicher, danach war er etwas vom Weg abgekommen. Aber er hatte es trotzdem erledigt, oder etwa nicht?

»Also gut«, sagte er sehr leise und zog an den Fesseln aus Luft, die ihn hielten. »Ich hole uns hier raus, Rand. Ich bin mit ihr verheiratet. Lass mich reden und …«

»Tochter von Artur Falkenflügel«, wandte sich Rand an Tuon. »Die Zeit rast dem Ende aller Dinge entgegen. Die Letzte Schlacht hat begonnen, und die Fäden werden gewebt. Bald beginnt meine letzte Prüfung.«

Tuon trat vor. Selucia übermittelte ihr ein paar letzte Fingersprachenworte. »Wiedergeborener Drache, man wird Euch nach Seanchan bringen«, verkündete Tuon. Ihre Stimme war beherrscht und energisch.

Mat lächelte. Beim Licht, sie gab wirklich eine gute Kaiserin ab. Aber es war unnötig, mein Medaillon zu klauen. Darüber würden sie sich noch unterhalten müssen. Immer vorausgesetzt, er überlebte das hier. Sie würde ihn doch nicht wirklich hinrichten lassen, oder?

Wieder überprüfte er die unsichtbaren Fesseln.

»Tatsächlich?«, fragte Rand.

»Ihr habt Euch mir ausgeliefert«, sagte Tuon. »Das ist ein Omen.« Sie klang beinahe schon bedauernd. »Ihr könnt doch unmöglich geglaubt haben, ich würde Euch wieder gehen lassen, oder? Als Herrscher, der sich mir widersetzt hat, muss ich Euch in Ketten legen – wie ich es mit den anderen gemacht habe, die ich hier vorfand. Ihr zahlt den Preis für die Vergesslichkeit Eurer Vorfahren. Ihr hättet Eure Eide nicht vergessen sollen.«

»Ich verstehe«, sagte Rand.

Ehrlich gesagt klingt er auch ziemlich wie ein König, gar nicht schlecht, dachte Mat. Beim Licht, mit was für Leuten hatte er sich da bloß umgeben? Wo waren die schönen Schenkmägde und zechenden Soldaten geblieben?

»Verratet mir etwas, Kaiserin«, fuhr Rand fort. »Was hättet ihr Seanchaner eigentlich gemacht, wenn ihr an diese Küsten zurückgekehrt wärt und dann herausgefunden hättet, dass Artur Falkenflügels Armeen noch immer hier herrschen? Was, wenn wir unsere Eide nicht vergessen hätten, wenn wir noch immer treu gewesen wären? Was dann?«

»Wir hätten euch als Brüder willkommen geheißen«, sagte Tuon.

»Ach?«, erwiderte Rand. »Und Ihr hättet Euch vor dem Thron hier verneigt? Falkenflügels Thron? Hätte sein Reich noch Bestand, würden seine direkten Erben herrschen. Hättet Ihr versucht, sie zu dominieren? Hättet Ihr stattdessen ihre Herrschaft über Euch akzeptiert?«

»Das ist aber nicht der Fall«, meinte Tuon, aber sie schien seine Worte durchaus interessant zu finden.

»Nein, das ist es nicht«, sagte Rand.

»Also müsst Ihr Euch Eurem eigenen Argument zufolge uns fügen.« Sie lächelte.

»Es ist nicht mein Argument«, sagte Rand, »aber nehmen wir es einmal an. Warum beansprucht Ihr das Recht auf dieses Land?«

»Wir sind die einzigen legitimen Erben von Artur Falkenflügel.«

»Und warum sollte das eine Rolle spielen?«

»Das ist sein Reich. Er ist der Einzige, der es geeinigt hat, er ist der einzige Führer, der es in ruhmreicher Größe beherrscht hat.«

»Und da irrt Ihr Euch.« Rands Stimme wurde weich. »Ihr akzeptiert mich als den Wiedergeborenen Drachen?«

»Ihr müsst es sein«, antwortete Tuon langsam, als wittere sie eine Falle.

»Dann akzeptiert Ihr mich als den, der ich bin«, erwiderte Rand, und seine Stimme wurde laut und klar. Wie ein Kriegshorn. »Ich bin Lews Therin Telamon, der Drache. Ich beherrschte diese vereinigten Länder im Zeitalter der Legenden. Ich war der Anführer aller Armeen des Lichts, ich trug den Ring von Tamyrlin. Ich war der Erste unter den Dienern, der Höchste unter den Aes Sedai, und ich konnte die Neun Stäbe der Herrschaft herbeirufen.«

Rand trat vor. »Mir gehörten die Loyalität und die Lehnseide aller siebzehn Generäle des Tors der Morgendämmerung. Fortuona Athaem Devi Paendrag, meine Autorität hebt Eure auf!«

»Artur Falkenflügel …«

»Meine Autorität hebt die von Falkenflügel auf! Wenn Ihr die Herrschaft im Namen des Eroberers beansprucht, dann müsst Ihr Euch vor meinem Anspruch verneigen, denn er ist viel älter. Ich habe vor Falkenflügel erobert, auch wenn ich dafür kein Schwert brauchte. Ihr befindet Euch hier auf meinem Land, Kaiserin, durch meine Duldung!«

In der Ferne donnerte es. Mat ertappte sich dabei, dass er zitterte. Beim Licht, das war doch bloß Rand. Bloß Rand … oder etwa nicht?

Tuon wich mit weit aufgerissenen Augen und geöffnetem Mund zurück. Ihr Gesicht war eine Maske des Entsetzens, als hätte sie gerade die Hinrichtung ihrer Eltern miterlebt.

Um Rands Füße breitete sich grünes Gras aus. Die Wächter sprangen zurück und griffen nach den Schwertern, als sich vor ihm eine Schneise des Lebens ausbreitete. Die braunen und gelben Grashalme bekamen Farbe, als hätte man einen Farbeimer über sie ausgekippt, dann richteten sie sich auf – streckten sich wie nach einem langen Schlummer.

Das Grün füllte die ganze Gartenlichtung. »Er ist noch immer abgeschirmt!«, kreischte die Sul’dam. »Höchstgeborene, er ist noch immer abgeschirmt

Mat erschauderte, dann fiel ihm etwas auf. Es war so leise und so leicht zu überhören.

»Singst du?«, wisperte er Rand zu.

Ja … es war unverkennbar. Rand sang ganz leise, kaum hörbar. Mat stieß gegen seinen Fuß. »Ich könnte schwören, ich habe diese Melodie schon einmal gehört … Ist das ›Zwei Maiden am Uferrand‹?«

»Du bist nicht hilfreich«, flüsterte Rand zurück. »Sei still.«

Er sang weiter. Das Grün erreichte die Bäume, die Tannen hoben ihre Äste. Neue Blätter sprossen an den anderen Bäumen – es handelte sich in der Tat um Pfirsichbäume –, erblühten in rasender Geschwindigkeit, als neues Leben in sie hineinströmte.

Die Wächter drehten sich um die eigene Achse, versuchten, alle Bäume auf einmal im Auge zu behalten. Selucia war zusammengezuckt. Tuon blieb aufrecht, nahm keinen Augenblick den Blick von Rand. Die verschreckte Sul’dam und ihre Damane mussten ihre Konzentration eingebüßt haben, denn Mats Fesseln verschwanden.

»Sprecht Ihr mir dieses Recht ab?«, verlangte Rand zu wissen. »Bestreitet Ihr, dass mein Anspruch auf dieses Land dem Euren Tausende von Jahren vorausgeht?«

»Ich …« Tuon holte tief Luft und starrte ihn trotzig an. »Ihr habt das Land zerbrochen, ließt es im Stich. Ich kann Euch dieses Recht absprechen!«

Wie ein Feuerwerk explodierten weiße und dunkelrosa Blüten hinter ihr an den Bäumen. Die hervorbrechenden Farben umgaben sie. In allen Richtungen breiteten sich Blütenblätter in schnellem Wachstum aus, lösten sich von den Bäumen, wurden vom Wind eingefangen und trieben über die Lichtung.

»Ich habe Euch erlaubt weiterzuleben«, sagte Rand zu Tuon, »obwohl ich Euch in einem Wimpernschlag hätte vernichten können. Weil Ihr das Leben der Menschen unter Eurer Herrschaft besser gemacht habt, obwohl Ihr auch Schuld auf Euch geladen habt, so wie Ihr mit einigen umgegangen seid. Eure Herrschaft ist so hauchdünn wie ein Blatt Papier. Ihr haltet dieses Land allein mit der Kraft von Stahl und Damane zusammen, aber Eure Heimat steht in Flammen.

Ich komme nicht, um Euch zu vernichten oder zu verspotten. Ich komme, um Euch den Frieden anzubieten, Kaiserin. Ich komme ohne Armeen, ich komme ohne Gewalt. Ich komme, weil ich glaube, dass Ihr mich braucht, so wie ich Euch brauche.« Er trat vor und ließ sich erstaunlicherweise auf ein Knie nieder, senkte das Haupt und streckte die Hand aus. Auch die Fesseln der Soldaten waren verschwunden. »Ich strecke Euch meine Hand zu einem Bündnis entgegen. Die Letzte Schlacht ist da. Schließt Euch mir an und kämpft.«

Stille trat auf der Lichtung ein. Der Wind schlief ein, das Donnergrollen verstummte. Pfirsichblüten schwebten auf das jetzt grüne Gras. Rand blieb da, wo er war, die Hand ausgestreckt. Tuon starrte diese Hand wie eine Giftschlange an.

Mat trat vor. »Netter Trick«, zischte er Rand zu. »Ein wirklich netter Trick.« Er begab sich zu Tuon, fasste sie an den Schultern und zog sie zur Seite. Selucia sah völlig schockiert aus. Karede war keinesfalls in besserer Verfassung. Sie würden keine Hilfe sein.

»Seht doch«, sagte Mat sanft zu ihr. »Er ist ein anständiger Kerl. Sicherlich hat er ein paar raue Ecken und Kanten, aber Ihr könnt seinem Wort vertrauen. Wenn er Euch ein Bündnis anbietet, wird er es auch in die Tat umsetzen.«

»Das war ein sehr beeindruckendes Schauspiel«, sagte Tuon leise. Sie zitterte leicht. »Was ist er?«

»Soll man mich zu Asche verbrennen, wenn ich das weiß«, sagte Mat. »Tuon, hört mir zu. Ich bin zusammen mit ihm aufgewachsen. Ich bürge für ihn.«

»In diesem Mann lauert eine Dunkelheit, Matrim. Ich habe sie gesehen, bei unserer letzten Begegnung.«

»Seht mich an, Tuon. Sieh mich an.«

Sie schaute auf und erwiderte seinen Blick.

»Du kannst Rand al’Thor die Welt selbst anvertrauen«, sagte Mat. »Und wenn du ihm nicht vertrauen kannst, dann vertraue mir. Er ist unsere einzige Wahl. Wir haben keine Zeit, ihn nach Seanchan zu bringen, selbst wenn dort nicht das Chaos herrschen würde.

Ich bin lange genug in der Stadt gewesen, um einen kleinen Blick auf deine Streitkräfte werfen zu können. Wenn du in der Letzten Schlacht kämpfen und deine Heimat zurückerobern willst, brauchst du eine verlässliche Basis hier in Altara. Nimm sein Angebot an. Er hat dieses Land gerade für sich beansprucht. Nun, lass ihn deine Grenzen in ihrem augenblicklichen Verlauf sichern und verkünde das allen anderen. Sie könnten zuhören. Dir ein bisschen Druck nehmen. Es sei denn natürlich, du willst zugleich gegen die Trollocs, die Nationen dieses Landes und die Rebellen in Seanchan kämpfen.«

Tuon blinzelte. »Unsere Streitkräfte.«

»Was?«

»Ihr habt sie meine Streitkräfte genannt«, sagte sie. »Es sind unsere Streitkräfte. Ihr seid jetzt einer von uns, Matrim.«

»Nun, das bin ich wohl. Hör zu, Tuon. Du musst das tun. Bitte.«

Sie drehte sich um und sah Rand an, der inmitten eines Musters aus Pfirsichblüten kniete, die einen Kreis um ihn gebildet zu haben schienen.

»Wie lautet Euer Angebot?«, fragte sie.

»Frieden«, erwiderte Rand und stand mit noch immer ausgestreckter Hand auf. »Hundert Jahre Frieden. Länger, wenn ich dafür sorgen kann. Ich habe die anderen Herrscher überredet, einen Vertrag zu unterzeichnen und für den Kampf gegen die Armeen des Schattens zusammenzuarbeiten.«

»Meine Grenzen wären gesichert«, sagte Tuon.

»Altara und Amadicia sollen Euch gehören.«

»Und Tarabon und die Ebene von Almoth! Ich halte sie zurzeit besetzt. Euer Vertrag wird mich dort nicht vertreiben. Ihr wollt Frieden? Dann gebt Ihr mir das.«

»Tarabon und die Hälfte der Ebene von Almoth«, erwiderte Rand. »Die Hälfte, die Ihr bereits kontrolliert.«

»Ich verlange alle Frauen auf dieser Seite des Aryth-Meeres, die die Macht lenken können, als Damane

»Übertreibt es nicht, Kaiserin«, sagte Rand trocken. »Ich … ich erlaube Euch, in Seanchan zu tun, was Ihr wollt, aber ich verlange von Euch, jede Damane zurückzugeben, die Ihr Euch bei Eurem Aufenthalt in diesem Land genommen habt.«

»Dann gibt es keine Vereinbarung«, sagte Tuon.

Mat hielt den Atem an.

Rand zögerte und senkte die Hand. »Das Schicksal der Welt selbst könnte davon abhängen, Fortuona. Bitte.«

»Wenn das so wichtig ist«, sagte sie fest, »dann könnt Ihr meine Forderung erfüllen. Unser Besitz gehört uns. Ihr wollt einen Vertrag? Dann bekommt Ihr ihn mit dieser Klausel: Wir behalten die Damane, die wir bereits haben. Im Gegenzug erlaube ich Euch, ungehindert zu gehen.«

Rand verzog das Gesicht. »Ihr seid so schlimm wie eine vom Meervolk.«

»Ich hoffe, ich bin schlimmer«, sagte Tuon völlig ungerührt. »Die Welt ist Eure Verantwortung, Drache, nicht die meine. Ich kümmere mich um mein Kaiserreich. Ich werde diese Damane dringend brauchen. Entscheidet Euch jetzt, denn wie Ihr schon sagtet, Eure Zeit ist begrenzt.«

Rands Ausdruck verfinsterte sich, dann streckte er die Hand aus. »So soll es sein. Das Licht sei uns gnädig, so soll es sein. Ich werde auch diese Last tragen. Ihr dürft die Damane behalten, die Ihr bereits habt, aber Ihr werdet Euch nicht eine Einzige bei meinen Verbündeten holen, solange wir die Letzte Schlacht schlagen. Sich danach eine zu nehmen, die sich nicht in Eurem Land befindet, wird als Vertragsbruch und Angriff auf die anderen Nationen betrachtet.«

Tuon trat vor, dann ergriff sie Rands Hand. Mat stieß die angehaltene Luft aus.

»Ich habe Dokumente, die Ihr Euch ansehen und unterschreiben müsst«, sagte Rand.

»Selucia wird sich darum kümmern«, erwiderte Tuon. »Matrim, Ihr kommt mit mir. Wir müssen das Kaiserreich für den Krieg vorbereiten.« Tuon setzte sich auf dem Pfad mit kontrollierten Schritten in Bewegung, aber Mat vermutete, dass sie einfach nur so schnell wie möglich von Rand fortkommen wollte. Er konnte das durchaus verstehen.

Er folgte ihr, blieb dann aber doch noch einmal neben Rand stehen. »Anscheinend hast du auch etwas vom Glück des Dunklen Königs«, murmelte er ihm zu. »Ich kann einfach nicht glauben, dass das geklappt hat.«

»Ganz ehrlich?«, erwiderte Rand leise, »ich auch nicht. Danke, dass du ein gutes Wort für mich eingelegt hast.«

»Sicher«, sagte Mat. »Übrigens, ich habe Moiraine gerettet. Darauf kannst du ja herumkauen, während du überlegst, wer von uns beiden vorn liegt.«

Mat folgte Tuon, und hinter ihm erscholl das Gelächter des Wiedergeborenen Drachen.

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