14 Große Mengen Spaltwurzel

Beim Licht …«, flüsterte Perrin und betrachtete die Landschaft. »Alles stirbt.«

Der brodelnde, wogende schwarze Himmel des Wolfstraums war nicht neu, aber der Sturm, den er schon seit Monaten ankündigte, war endlich eingetroffen. Gewaltige Windstöße rasten in unnatürlichen Mustern erst in die eine und dann in die andere Richtung. Perrin schloss den Umhang, dann verstärkte er ihn mit einem Gedanken und stellte sich einfach vor, die Schnüre, die ihn zusammenhielten, seien widerstandsfähiger.

Vor ihm und Gaul erstreckte sich eine kleine Blase der Ruhe, die den schlimmsten Wind fernhielt. Das hatte sich als einfacher erwiesen als gedacht, als hätte er nach einem schweren Stück Eiche gegriffen und es so leicht wie Kiefer vorgefunden.

Die Landschaft erschien weniger real als sonst. Der tosende Strom glättete die Hügel, es war, als könnte man der Erosion mit bloßem Auge zuschauen. An anderen Stellen schwoll das Land an und bildete Felsformationen und neue Hügel. Erdklumpen flogen in die Luft und zerplatzten dort. Das Land selbst brach auseinander.

Perrin ergriff Gauls Schulter und versetzte sie beide an einen anderen Ort. Ihm war der Verdacht gekommen, dass sie einfach zu nahe bei Rand waren. Als sie dann auf der vertrauten Ebene im Süden erschienen – der Ort, an dem er mit Springer gejagt hatte –, erwies sich der Sturm in der Tat als weniger gewalttätig.

Sie verstauten ihre schweren Bündel mit dem Wasser und dem Proviant in einem dichten Gebüsch. Perrin wusste nicht, ob sie von dem Essen und Wasser, das im Traum zu finden war, existieren konnten, und er wollte es auch nicht herausfinden. Ihre Vorräte sollten für ungefähr eine Woche reichen, und solange ein Wegetor als Ausgang auf sie wartete, bereitete ihm das Risiko, das er hier einging, keine großen Sorgen.

Hier im Süden zeigte die Landschaft nicht solche Auflösungserscheinungen wie in unmittelbarer Nähe zum Shayol Ghul. Aber wenn er eine Stelle lange genug beobachtete, konnte er verfolgen, wie Teile von … nun eigentlich von allem dem Wind zum Opfer fielen. Abgestorbene Weizenhalme, Teile von Baumstümpfen und Felssplitter – das alles wurde unaufhörlich in die unersättlichen schwarzen Wolken gezogen. Wenn er wieder hinschaute, waren Dinge, die eben noch zerrissen worden waren, oft wieder unversehrt, wie es eben die Art des Wolfstraums war. Er verstand. Genau wie die wache Welt wurde auch dieser Ort langsam aufgefressen. Hier war das nur leichter zu sehen.

Der Wind peitschte auf sie ein, war aber nicht so stark, dass er ihn fernhalten musste. Es fühlte sich an wie zu Beginn eines Sturms, direkt bevor Regen und Blitze kamen. Der Bote der kommenden Zerstörung.

Gaul hatte sich die Shoufa vor das Gesicht gezogen und blickte sich misstrauisch um. Seine Kleidung hatte sich verändert und stimmte nun genau mit der Farbe des Grases überein.

»Du musst hier sehr vorsichtig sein«, sagte Perrin. »Harmlose Gedanken können zur Realität werden.«

Gaul nickte, dann nahm er zögernd den Schleier wieder ab. »Ich höre zu und tue, was befohlen wird.«

Es war ermutigend, dass die Kleidung des Aiel sich nicht sehr veränderte, als sie über das Feld gingen. »Versuch einfach, deinen Verstand klar zu halten«, sagte Perrin. »Nicht so viel denken. Einfach nach dem Instinkt handeln und meinem Beispiel folgen.«

»Ich werde wie ein Gara jagen«, erwiderte Gaul und nickte. »Mein Speer ist dein, Perrin Aybara.«

Perrin ging weiter und sorgte sich, dass sich Gaul aus Versehen an einen anderen Ort versetzte, indem er einfach nur daran dachte. Aber bis jetzt hatte der Mann kaum irgendwelche Nebenwirkungen des Wolfstraums gezeigt. Wenn er überrascht wurde, veränderte sich seine Kleidung etwas, sein Schleier hing plötzlich an Ort und Stelle, ohne dass er danach gegriffen hatte, aber das schien es auch eigentlich schon zu sein.

»Also gut«, sagte Perrin. »Ich bringe uns zur Schwarzen Burg. Wir jagen ein gefährliches Wild, einen Mann namens Schlächter. Erinnerst du dich noch an Lord Luc?«

»Der Lopinginny

Perrin runzelte die Stirn.

»Das ist ein Vogel«, erklärte Gaul. »Aus dem Dreifachen Land. Diesen Mann habe ich nicht oft zu Gesicht bekommen, aber er erschien wie eines dieser Großmäuler, die tief im Inneren feige sind.«

»Nun, das war nur gespielt«, sagte Perrin. »Außerdem ist er im Traum eine ganz andere Person – hier ist er ein Raubtier namens Schlächter, das Wölfe und Menschen jagt. Er ist sehr mächtig. Wenn er dich töten will, erscheint er im Zeitraum eines Wimpernschlages in deinem Rücken und stellt sich vor, du wärst von Schlingpflanzen eingehüllt und könntest dich nicht bewegen. Und du stündest gefangen da, während er dir die Kehle durchschneidet.«

Gaul lachte.

»Das ist witzig?«, fragte Perrin.

»Du tust, als wäre das neu«, erklärte Gaul. »Dabei bin ich im ersten Traum überall ständig von Frauen und Männern umgeben, die mich mit einem Gedanken mit Luft fesseln und zu jedem beliebigen Zeitpunkt töten könnten. Ich bin daran gewöhnt, in der Gesellschaft einiger Leute hilflos zu sein. So ist die Welt nun einmal, Perrin Aybara.«

»Trotzdem«, sagte Perrin streng, »wenn wir den Schlächter finden – er hat ein kantiges Gesicht mit Augen, die halb tot zu sein scheinen, und kleidet sich immer in schwarzes Leder –, will ich, dass du dich von ihm fernhältst. Ich kämpfe gegen ihn.«

»Aber …«

»Du hast gesagt, du gehorchst mir, Gaul«, beharrte Perrin. »Das ist wichtig! Er hat Springer getötet; ich will nicht, dass er auch noch dich tötet. Du kämpfst nicht gegen den Schlächter.«

»Also gut. Ich schwöre es. Ich tanze mit diesem Mann nicht den Tanz der Speere, es sei denn, du befiehlst es.«

Perrin seufzte und stellte sich vor, wie Gaul mit den Speeren im Köcher einfach nur dastand und sich wegen seines Eides von dem Schlächter töten ließ. Licht, Aiel konnten ja so schwierig sein. »Du kannst gegen ihn kämpfen, wenn er dich angreift«, sagte er, »aber nur, um die Flucht zu ergreifen. Jage ihn nicht, und wenn ich gegen ihn kämpfe, bleib aus dem Weg. Verstanden?«

Gaul nickte. Perrin legte ihm die Hand auf die Schulter, dann versetzte er sie in Richtung Schwarze Burg. Er selbst war noch nie dort gewesen, also musste er sie erst finden. Der erste Ortswechsel brachte sie in eine Gegend von Andor, in der grasige Hügel im stürmischen Wind zu tanzen schienen. Perrin hätte es vorgezogen, mit großen Schritten einfach von Hügel zu Hügel zu springen, aber er hielt Gaul noch nicht dafür geeignet. Stattdessen versetzte er sie immer wieder.

Nach vier oder fünf Versuchen brachte er sie zu einem Ort, wo sich in der Ferne eine durchsichtige, leicht purpurn schimmernde Kuppel erhob.

»Was ist das?«, fragte Gaul.

»Unser Ziel! Das ist das Ding, das Grady und Neald daran hindert, Wegetore zur Schwarzen Burg zu weben.«

»So wie es uns in Ghealdan ergangen ist.«

»Genau.« Diese Kuppel wühlte lebhafte Erinnerungen an sterbende Wölfe auf. Perrin unterdrückte sie. An diesem Ort konnten solche Erinnerungen zu unberechenbaren Gedanken führen. Tief in seinem Inneren gestattete er sich einen brennenden Zorn, der wie die Wärme seines Hammers war, aber das war auch schon alles.

»Gehen wir«, sagte er und versetzte sie direkt vor die Kuppel. Sie schien aus Glas zu bestehen. »Zieh mich dort weg, sollte ich zusammenbrechen«, bat er Gaul und trat in die Barriere hinein.

Als wäre er gegen etwas unglaublich Kaltes gestoßen. Es raubte ihm alle Kräfte. Er stolperte, konzentrierte sich aber weiter auf sein Ziel. Der Schlächter. Der Wolfsmörder. Springers Mörder.

Perrin richtete sich auf, als seine Kräfte zurückkehrten. Das war leichter als beim letzten Mal gewesen; sich im Fleisch im Wolfstraum aufzuhalten machte ihn tatsächlich stärker. Er brauchte sich keine Sorgen darüber zu machen, sich zu intensiv in den Traum zu ziehen, was zum Tod seines Körpers in der realen Welt geführt hätte.

Langsam wie durch Wasser bewegte er sich durch die Barriere und erreichte die andere Seite. Hinter ihm streckte Gaul mit neugieriger Miene den Zeigefinger aus und berührte die Kuppelwand.

Augenblicklich sackte er schlaff wie eine Puppe zu Boden. Speere und Pfeile fielen aus ihren Köchern, und er lag völlig reglos da; nicht einmal seine Brust hob und senkte sich. Perrin griff – wenn auch gegen einen Widerstand – durch die Barriere und nahm Gauls Fußknöchel, um ihn auf die andere Seite zu ziehen.

Dort keuchte Gaul sofort auf und rollte sich stöhnend auf die Seite. Er setzte sich auf und hielt sich den Kopf. Stillschweigend holte Perrin ihm seine Speere und Pfeile.

»Das wird eine gute Erfahrung werden, um an unserem Ji zu arbeiten«, meinte der Aiel. Er stand auf und rieb sich den Arm, mit dem er zuerst auf dem Boden aufgeprallt war. »Die Weisen Frauen bezeichnen die Art und Weise, auf die wir an diesen Ort gelangt sind, als böse? Ich glaube, es würde ihnen gefallen, Männer herzubringen, um ihnen hier Manieren beizubringen.«

Perrin musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass der Mann sein Gespräch mit Edarra über den Wolfstraum gehört hatte. »Was habe ich bloß getan, um deine Loyalität zu verdienen, Gaul?«, murmelte er, hauptsächlich an sich selbst gerichtet.

Gaul lachte. »Es geht nicht um das, was du getan hast.«

»Was meinst du? Damals habe ich dich aus diesem Käfig befreit. Darum folgst du mir.«

»Darum bin ich dir nur zu Anfang gefolgt«, erwiderte Gaul. »Darum bin ich aber nicht geblieben. Komm, gibt es hier nicht eine Gefahr, die wir jagen?«

Perrin nickte, und Gaul verschleierte sich. Unter der Kuppel setzten sie sich in Bewegung und näherten sich den Umrissen in der Ferne. Vom Rand einer solchen Kuppel bis zur Mitte war es immer ein ordentliches Stück Weg, aber Perrin wollte sich nicht versetzen und überrascht werden, also gingen sie zu Fuß weiter und durchquerten eine Landschaft aus wogendem Grasland, in dem sich gelegentlich Baumgruppen erhoben.

Sie marschierten ungefähr eine Stunde lang, bevor sie die Mauer erblickten. Hoch und eindrucksvoll erinnerte sie an die Mauer einer großen Stadt. Sie gingen direkt darauf zu, und Gaul behielt sie konzentriert im Auge, als erwarte er jeden Augenblick, beschossen zu werden. Aber im Wolfstraum würde diese Mauer nicht bewacht sein. Falls sich der Schlächter dort aufhielt, würde er im Herzen der Kuppel lauern, im genauen Zentrum. Und er würde vermutlich eine Falle gestellt haben.

Perrin berührte Gaul und beförderte sie auf die Mauer. Der Aiel setzte sich sofort in Bewegung, duckte sich und spähte in einen der überdachten Wachtposten.

Perrin trat an die andere Mauerseite und schaute nach unten. Die Schwarze Burg war bei Weitem nicht so imposant, wie die Mauer vermuten ließ. Einem nahe gelegenen Dorf aus Hütten und kleinen Häusern folgte ein großes, noch im Bau befindliches Gebäude.

»Sie sind ausgesprochen arrogant, findet Ihr nicht?«, sagte plötzlich eine weibliche Stimme.

Perrin zuckte zusammen, fuhr herum und befahl seinen Hammer in die Hände, während er in Gedanken eine Ziegelmauer als Schutz um sich herum vorbereitete. Eine kleine junge Frau mit silbergrauen Haaren stand neben ihm auf der Mauer und bemühte sich um eine kerzengerade Haltung, als wollte sie größer erscheinen, als sie tatsächlich war. Ihr weißes Gewand wurde an der Taille von einem silbernen Gürtel gehalten. Perrin erkannte das Gesicht nicht, aber ihr Duft war ihm vertraut.

»Mondjägerin«, sagte er. Es war fast ein Knurren. »Lanfear.«

»Diesen Namen darf ich nicht länger benutzen«, sagte sie und klopfte mit einem Finger auf die Zinnen. »Er ist so streng, was Namen angeht.«

Perrin wich zurück, ließ die Blicke schweifen. Arbeitete sie mit dem Schlächter zusammen? Gaul verließ den Wachtposten und erstarrte, als er sie sah. Perrin streckte die Hand aus, um ihn fernzuhalten. Konnte er an seine Seite springen und mit ihm verschwinden, bevor sie angriff?

»Mondjägerin?«, fragte Lanfear. »Nennen mich die Wölfe so? Das stimmt nicht, nicht einmal annähernd. Ich jage den Mond nicht. Der Mond gehört mir bereits.« Sie beugte sich nach vorn und stützte die Arme auf die brusthohe Wehrmauer.

»Was wollt Ihr?«, wollte Perrin wissen.

»Vergeltung«, flüsterte sie. Dann sah sie ihn an. »Das Gleiche wie Ihr, Perrin.«

»Ich soll glauben, dass Ihr den Schlächter ebenfalls tot sehen wollt?«

»Der Schlächter? Moridins Waisenjunge, sein Laufbursche? Er interessiert mich nicht. Meine Vergeltung betrifft einen anderen.«

»Wen?«

»Der für meine Gefangenschaft verantwortlich ist«, sagte sie leise und voller Leidenschaft. Plötzlich blickte sie zum Himmel. Entsetzt riss sie die Augen weit auf und verschwand.

Perrin nahm den Hammer von der einen in die andere Hand, während Gaul angeschlichen kam und dabei versuchte, gleichzeitig in alle Richtungen zu blicken. »Wer war das?«, fragte er. »Aes Sedai?«

»Schlimmer.« Perrin verzog das Gesicht. »Haben die Aiel einen Namen für Lanfear?«

Gaul sog zischend die Luft ein.

»Ich weiß nicht, was sie will«, sagte Perrin. »Ich habe sie nie verstanden. Mit etwas Glück haben sich bloß unsere Pfade gekreuzt, und sie kümmert sich um ihre eigenen Angelegenheiten.«

Aber das glaubte er nicht, nicht, wenn er bedachte, was ihm die Wölfe zuvor verraten hatten. Mondjägerin wollte ihn. Beim Licht, als hätte ich nicht bereits schon genug Ärger.

Er versetzte sie zum Fuß der Mauer und sie gingen weiter.


Toveine kniete neben Logain. Androl musste zusehen, wie sie sein Kinn liebkoste und er sie dabei entsetzt anstarrte.

»Schon gut«, sagte sie zuckersüß. »Du kannst aufhören, dich zu wehren. Entspann dich, Logain. Gib einfach nach.«

Mühelos hatte man sie Umgedreht. Anscheinend fiel es mit dreizehn Halbmenschen verknüpften Machtlenkern leichter, Frauen Umzudrehen als Männer und umgekehrt. Darum hatten sie mit Logain auch solche Probleme.

»Nehmt ihn«, sagte Toveine und zeigte auf Logain. »Bringen wir das endlich zu Ende. Er verdient den Frieden, den die Belohnung des Großen Herrn bringt.«

Taims Gefolgsleute schleppten Logain fort. Androl sah verzweifelt zu. Offensichtlich betrachtete Taim ihn als eine ganz besondere Beute. Hatte man ihn erst Umgedreht, würde der Rest der Schwarzen Burg ein Kinderspiel sein. Viele der jungen Männer in der Burg würden sich ihrem Schicksal freiwillig ergeben, falls Logain es ihnen befahl.

Wie schafft er es nur, noch immer Widerstand zu leisten?, dachte Androl. Der stattliche Emarin war schon nach zwei Sitzungen ein wimmerndes Wrack, auch wenn er noch nicht Umgedreht war. Logain hatte das fast schon ein Dutzend Mal durchgemacht, und er widerstand noch immer.

Das würde sich ändern, da Taim jetzt Frauen zur Verfügung standen. Kurz nachdem Toveine Umgedreht worden war, waren weitere Frauen eingetroffen, Schwestern der Schwarzen Ajah, die von einer abstoßend hässlichen Frau angeführt wurden. Die anderen Roten, die mit Pevara gekommen waren, hatten sich ihnen angeschlossen.

Benommene Sorge floss durch Pevaras Bund mit ihm. Sie war wach, aber das Getränk, das sie vom Machtlenken abhielt, hielt sie fest im Griff. Androls Verstand hingegen war ziemlich klar. Wie lange war es her, dass sie ihn gezwungen hatten, den Rest des Becherinhalts zu schlucken, den sie Emarin verabreicht hatten?

Logain … hält nicht mehr lange durch. Pevaras Botschaft war durchtränkt von Erschöpfung und wachsender Resignation. Was sollen … Ihre Gedanken verschwammen, sie unterbrach sich. Soll man mich doch zu Asche verbrennen! Was sollen wir tun?

Logain schrie vor Schmerzen. Das hatte er noch nie getan. Gewiss ein böses Zeichen. Evin stand an der Tür und schaute zu. Plötzlich blickte er über die Schulter; etwas hatte ihn zusammenzucken lassen.

Licht, dachte Androl. Könnte es … sein vom Makel verursachter Wahnsinn sein? Ist er noch immer da?

Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass er abgeschirmt war, was sie sonst niemals taten, solange sie nicht die Spaltwurzel absetzten, damit sie jemanden Umdrehen konnten.

Das ließ ihn panisch zusammenzucken. War er als Nächster dran?

Androl?, übermittelte Pevara. Ich habe eine Idee.

Was?

Androl fing durch seinen Knebel an zu husten. Evin zuckte zusammen, dann kam er herüber, nahm seine Feldflasche und goss Wasser auf den Knebel. In der Nähe lümmelte sich Abors – einer von Taims Kumpanen – an der Wand. Er hielt die Abschirmung. Er warf Androl einen Blick zu, aber dann erregte etwas auf der anderen Seite des Raumes seine Aufmerksamkeit.

Androl hustete noch schlimmer, also knüpfte Evin den Knebel auf und rollte ihn auf die Seite, damit er das Wasser ausspucken konnte.

»Still jetzt«, sagte Evin und warf Abors einen Blick zu, der zu weit entfernt stand, um ihre Worte verstehen zu können. »Errege nicht ihren Zorn, Androl.«

Die Verwandlung eines Mannes in einen treuen Diener des Schattens war nicht perfekt. Es veränderte zwar ihre Loyalität, aber es veränderte nicht alles an ihnen. Das Ding in Evins Kopf hatte seine Erinnerungen, seine Persönlichkeit und – wenn ihnen das Licht gnädig war – seine Schwächen.

»Habt Ihr sie überzeugen können?«, flüsterte Androl. »Mich nicht zu töten?«

»Das habe ich!« Evin beugte sich mit gehetztem Blick näher nach unten. »Sie sind noch immer der Ansicht, dass du nutzlos bist, weil du nicht stark in der Macht bist, aber keiner von ihnen webt gern Wegetore, um Leute von einem Ort an den anderen zu bringen. Ich habe ihnen gesagt, dass du das für sie tun wirst. Das wirst du doch, oder?«

»Natürlich«, sagte Androl. »Das ist besser als sterben.«

Evin nickte. »Sie haben bei dir die Spaltwurzel abgesetzt. Du kommst als Nächster dran, nach Logain. Der Große Herr hat M’Hael endlich neue Frauen geschickt, Frauen, die nicht erschöpft sind, weil sie ständig die Macht lenken müssen. Sie und Toveine und die Roten sollten dafür sorgen, dass es jetzt schneller geht. M’Hael sollte Logain am Ende des Tages endlich so weit haben.«

»Ich diene ihnen«, sagte Androl. »Ich leiste dem Großen Herrn meinen Treueid.«

»Das ist gut, Androl. Aber wir können dich nicht gehen lassen, bevor du Umgedreht worden bist. M’Hael verlässt sich nicht bloß auf einen Eid. Aber das ist schon in Ordnung. Ich habe ihnen gesagt, dass man dich mühelos Umdrehen kann. Das wirst du doch machen, oder? Keinen Widerstand mehr?«

»Ich leiste keinen Widerstand.«

»Dem Großen Herrn sei Dank«, sagte Evin und entspannte sich.

Ach, Evin. Du warst nie besonders helle.

»Evin«, sagte Androl leise. »Ihr müsst auf Abors aufpassen. Das wisst Ihr doch, oder?«

»Ich bin jetzt einer von ihnen. Ich brauche mir wegen ihnen keine Sorgen mehr zu machen.«

»Das ist gut«, flüsterte Androl. »Was er über Euch gesagt hat, hat also keine Bedeutung.«

Evin erschien plötzlich unruhig. Dieser Ausdruck in seinen Augen …

Es war Furcht. Der Makel war entfernt worden. Jonneth, Emarin und die anderen neuen Asha’man würden niemals irrsinnig werden.

Aber der Wahnsinn zeigte sich bei jedem der älteren Asha’man anders und in unterschiedlichem Ausmaß. Jedoch war Furcht am häufigsten. Sie kam in Wellen; zum Zeitpunkt der Reinigung hatte sie Evin gerade aufgefressen. Androl hatte mit ansehen müssen, wie man Asha’man töten musste, weil sie der Makel überwältigte. Er kannte diesen Ausdruck in Evins Augen nur zu gut. Auch wenn der Junge Umgedreht worden war, trug er noch immer den Wahnsinn in sich. Das würde sich auch niemals ändern.

»Was hat er gesagt?«, wollte Evin wissen.

»Er war nicht erfreut, dass man Euch Umgedreht hat. Er glaubt, Ihr wolltet seinen Platz einnehmen.«

»Oh.«

»Evin … möglicherweise will er Euch umbringen. Passt auf Euch auf.«

Evin erhob sich. »Danke, Androl.«

Er entfernte sich und ließ Androl ungeknebelt zurück.

Das kann … unmöglich funktionieren, dachte Pevara benommen.

Sie hatte nicht lange genug unter ihnen gelebt. Sie hatte nicht gesehen, was der Wahnsinn anrichten konnte, und sie konnte ihn auch nicht in den Augen der Asha’man erkennen. Verfiel einer von ihnen in diesen Zustand, packte man ihn für gewöhnlich und sperrte ihn ein, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. Falls das nicht funktionierte, schüttete ihnen Taim etwas in den Wein, und sie wachten nie wieder auf.

Hielt man sie nicht auf, verfielen sie am Ende in blinde Zerstörungswut. Sie würden jene umbringen, die ihnen am nächsten standen, würden zuerst auf die Menschen einschlagen, die sie geliebt hatten.

Androl kannte diesen Wahnsinn. Er trug ihn ebenfalls in sich, das wusste er. Das ist ein Fehler, Taim, dachte er. Du benutzt unsere Freunde gegen uns, aber wir kennen sie besser als du.

Evin schlug auf Abors ein. Mit einem gewaltigen Aufflammen der Einen Macht. Eine Sekunde später löste sich Androls Abschirmung auf.

Androl umarmte die Quelle. Er war nicht sehr stark darin, aber er hatte genug Macht, um die Fesseln wegzubrennen. Mit blutigen Händen rollte er sich aus den Seilresten und sah sich in dem Raum um. Zuvor hatte er nicht alles sehen können.

Der Raum war größer, als er angenommen hatte, wies beinahe die Größe eines Thronsaals auf, und das andere Ende wurde von einem breiten, kreisrunden Podest dominiert, auf dem ein Kreis aus Myrddraal und darin einer aus Frauen stand. Der Anblick der Blassen ließ ihn erschaudern. Beim Licht, dieser augenlose Blick war furchtbar.

Taims erschöpfte Männer, die Asha’man, die darin versagt hatten, Logain Umzudrehen, lehnten an der anderen Wand. Logain selbst saß auf dem Podest in der Mitte des doppelten Kreises auf einen Stuhl gefesselt. Fast schon ein Thron. Logains Kopf rollte zur Seite; seine Augen waren geschlossen. Anscheinend flüsterte er etwas.

Außer sich vor Wut war Taim zu Evin herumgewirbelt, der neben Abors qualmender Leiche mit Mishraile kämpfte. Beide Männer hielten die Eine Macht und wälzten sich auf dem Boden. Evin hielt ein Messer in der Hand.

Androl hastete auf Emarin zu und wäre beinahe auf das Gesicht gefallen, als seine Beine nachgaben. Licht! Er war sehr schwach, aber es gelang ihm, zuerst Emarins Fesseln und dann Pevaras abzubrennen. Sie schüttelte den Kopf, versuchte ihn klarzubekommen. Emarin nickte dankbar.

»Könnt Ihr weben?«, flüsterte Androl. Taims Aufmerksamkeit war noch immer auf Evins Kampf gerichtet.

Emarin schüttelte den Kopf. »Was sie uns da eingeflößt haben …«

Androl klammerte sich an die Eine Macht. Um ihn herum wuchsen die Schatten.

Nein!, dachte er. Nein, nicht jetzt!

Ein Wegetor. Er brauchte ein Wegetor! Androl sog die Eine Macht ein und erschuf das Gewebe zum Reisen. Und wie zuvor traf er gegen eine Art Barriere – sie war wie ein Wall und hinderte ihn daran, ein Wegetor zu öffnen. Frustriert versuchte er, eines in die unmittelbare Umgebung zu öffnen. Vielleicht spielte ja die Entfernung eine Rolle. Konnte er ein Tor in Canlers Lager auf dem Gelände über ihnen öffnen?

Gegen die Wand gelehnt kämpfte er mit jeder Faser seines Seins. Er strengte sich an, näherte sich Zoll für Zoll, schaffte es fast … Er hatte das Gefühl, dass sich etwas tat.

»Bitte«, flüsterte er. »Bitte, geh auf. Wir müssen hier weg …«

Evin fiel Taims Geweben zum Opfer.

»Was sollte das?«, brüllte Taim.

»Keine Ahnung«, sagte Mishraile. »Evin griff uns an! Er hat sich mit dem Pagen unterhalten und …«

Beide starrten in Androls Richtung. Er gab es auf, ein Tor zu machen, stattdessen schleuderte er Taim auf dem Podest verzweifelt ein Gewebe Feuer entgegen.

Taim lächelte bloß. Als Androls Flammenzunge ihn erreichte, löste sie sich einfach in einem Gewebe aus kalter Luft und Wasser auf.

»Du bist wirklich hartnäckig«, meinte Taim und schleuderte ihn mit einem Gewebe Luft gegen die Wand.

Androl keuchte schmerzerfüllt auf. Emarin stolperte benommen auf die Füße, aber ein zweites Gewebe Luft stieß ihn wieder zu Boden. Etwas stemmte Androl in die Höhe und zog ihn quer durch den Raum.

Die hässliche Frau in Schwarz verließ den Kreis aus Aes Sedai und begab sich an Taims Seite. »Interessant, M’Hael«, sagte sie. »Ihr habt nicht einmal annähernd die Kontrolle über diesen Ort, wie Ihr behauptet habt.«

»Ich habe minderwertige Werkzeuge«, erwiderte Taim. »Man hätte mir früher mehr Frauen geben sollen!«

»Ihr habt Eure Asha’man bis zur Erschöpfung angetrieben«, erwiderte die Frau. »Ihr habt ihre Kraft verschwendet. Ich übernehme jetzt hier den Befehl.«

Taim stand abseits von Logains zusammengesunkener Gestalt und den Frauen und den Blassen auf dem Podest. Offensichtlich betrachtete er diese Frau, die vermutlich zu den Verlorenen gehörte, als die größte Bedrohung in diesem Raum.

»Und Ihr glaubt, das geht einfach so?«, fragte er.

»Wenn der Nae’blis erfährt, wie Ihr hier versagt habt …«

»Der Nae’blis? Moridin ist mir völlig egal. Ich habe dem Großen Herrn bereits ein Geschenk gemacht und stehe in seiner Gunst. Ich halte die Schlüssel in meiner Hand, Hessalam.«

»Ihr meint … Ihr habt das tatsächlich getan? Sie gestohlen?«

Taim lächelte. Er wandte sich wieder Androl zu, der in der Luft schwebte und sich erfolglos wehrte. Abgeschirmt hatte man ihn nicht. Also schleuderte er ein weiteres Gewebe, das sein Gegner verächtlich blockierte.

Offensichtlich war er nicht einmal die Mühe wert, abgeschirmt zu werden. Taim ließ ihn los. Hart schlug er auf dem Boden auf und stöhnte.

»Wie lange bist du hier ausgebildet worden, Androl?«, fragte Taim. »Du beschämst mich. Mehr bringst du nicht zustande, um jemanden zu töten?«

Mühsam kam Androl auf die Knie. Hinter ihm lag die von Spaltwurzel benebelte Pevara und übermittelte ihm Schmerzen und Sorge. Vor ihm hockte Logain von seinen Feinden umzingelt zusammengesunken und gefesselt auf seinem Thron. Der Mann hielt die Augen geschlossen; er war kaum noch bei Bewusstsein.

»Wir sind hier fertig«, sagte Taim. »Mishraile, tötet die Gefangenen. Wir schnappen uns die oben in der Burg und schaffen sie zum Shayol Ghul. Der Große Herr hat mir dort bessere Möglichkeiten für meine Arbeit versprochen.«

Taims Komplizen näherten sich. Androl lag auf den Knien und schaute auf. Überall um ihn herum breitete sich Dunkelheit aus, und in den Schatten bewegten sich Umrisse. Die Dunkelheit … sie jagte ihm höllische Angst ein. Er musste Saidin loslassen, er musste es tun. Aber er konnte einfach nicht.

Er musste weben.

Taim warf ihm einen Blick zu, dann lächelte er und webte Baalsfeuer.

Überall sind Schatten!

Androl klammerte sich an die Macht.

Die Toten, sie kommen und holen mich!

Instinkt leitete ihn, er erschuf das beste Gewebe, das er kannte. Ein Wegetor. Er traf diesen Wall, diesen verfluchten Wall.

So müde. Die Schatten … die Schatten holen mich.

Ein weiß glühender Lichtstrahl löste sich von Taims Fingern und schoss direkt auf ihn zu. Er schrie auf, strengte sich noch mehr an, stieß unwillkürlich die Hände nach vorn und rammte sein Gewebe an Ort und Stelle. Er traf diesen Wall und stemmte ihn mit aller Kraft empor.

Vor ihm öffnete sich ein Wegetor von der Größe einer Münze. Das Baalsfeuer schoss direkt in die Öffnung.

Taim runzelte die Stirn, und Stille erfüllte den Raum, als die verblüfften Asha’man mit ihren Geweben innehielten. In diesem Augenblick zersplitterte die Tür.

Canler stürmte die Eine Macht haltend hinein. Ihm folgten ungefähr zwanzig der jungen Burschen von den Zwei Flüssen, die zur Schwarzen Burg gekommen waren, um dort zu lernen.

»Wir werden angegriffen!«, brüllte Taim.


Das Zentrum der Kuppel schien sich in dem unvollendeten Bau zu befinden, der Perrin aufgefallen war. Das war schlecht; der Schlächter würde in den Fundamenten und Gruben zahllose Möglichkeiten für einen Hinterhalt haben.

Sobald sie das Dorf erreichten, zeigte Perrin auf ein besonders großes Gebäude. Mit zwei Stockwerken und einem stabilen Holzdach erinnerte es an ein Gasthaus. »Ich bringe dich dort oben hin«, flüsterte er. »Halte deinen Bogen bereit. Rufe, wenn du jemanden entdeckst, der sich an mich anschleichen will, verstanden?«

Gaul nickte. Perrin versetzte sie auf das Dach, und Gaul nahm neben dem Schornstein seine Position ein. Seine Kleidung passte sich der Farbe der Lehmziegel an, und er blieb geduckt. Den Bogen hielt er in der Hand. Er würde nicht die Reichweite eines Langbogens haben, aber von hier oben würde er tödlich sein.

Perrin sprang zu Boden und schwebte die letzten Zoll, um keinen Lärm zu machen. Er ging in die Hocke und versetzte sich zur Seite des nächsten Gebäudes. Sofort versetzte er sich erneut, an die Ecke des letzten Gebäudes vor den Ausschachtungen, dann blickte er über die Schulter. Der nur schwer auszumachende Gaul hob die Finger. Er hatte ihn nicht aus den Augen gelassen.

Perrin erhob sich ein Stück und schlich zum Rand des riesigen Fundaments. Wo würde der genaue Mittelpunkt der Kuppel sein? Es war unmöglich zu sagen, alles war viel zu groß.

Seine Aufmerksamkeit war so auf die Löcher im Boden gerichtet, dass er um ein Haar in die Wächter hineingelaufen wäre. Ein leises Kichern alarmierte ihn, und er versetzte sich sofort, sprang auf die andere Seite des Fundaments und ging in die Knie, während ein Langbogen von den Zwei Flüssen in seinen Händen erschien. Er musterte die ferne Stelle, die er gerade verlassen hatte.

Narr, dachte er, als er sie endlich entdeckte. Die beiden Männer befanden sich in einer Bauhütte am Rand der Ausschachtung. Perrin ließ nervös die Blicke schweifen, aber der Schlächter erschien nicht irgendwo aus dem Nichts, um ihn anzugreifen, und die beiden Wächter schienen ihn nicht gesehen zu haben.

Einzelheiten waren nur mühsam auszumachen, also versetzte er sich vorsichtig wieder in die Nähe der Stelle, an der er sich zuvor befunden hatte. Mit einem Satz ließ er sich in die Grube fallen, erschuf aber einen Erdhügel, auf dem er landete und von dem aus er über den Grubenrand in die Hütte spähen konnte.

Ja, es waren zwei von ihnen. Männer in schwarzen Mänteln. Asha’man. Er glaubte sie von den Brunnen von Dumai zu kennen, wo sie Rand gerettet hatten. Sie standen loyal zu ihm, oder nicht? Hatte Rand ihm etwa Hilfe geschickt?

Das Licht verbrenne diesen Mann, dachte Perrin. Kann er nicht einmal alle Karten auf den Tisch legen?

Natürlich konnten auch Asha’man Schattenfreunde sein. Perrin zog in Betracht, aus der Grube zu steigen und sie sich vorzuknöpfen.

»Kaputte Werkzeuge«, sagte Lanfear gelangweilt.

Perrin zuckte zusammen und stieß einen Fluch aus, als er sie neben sich auf dem Vorsprung entdeckte, wie sie ebenfalls die beiden Männer betrachtete.

»Man hat sie Umgedreht«, sagte sie. »Ich habe das immer für eine solche Verschwendung gehalten. Man verliert etwas bei dem Prozess – sie werden niemals so gut dienen, als wären sie freiwillig gekommen. Keine Frage, loyal werden sie sein, aber das Licht ist erloschen. Die Selbstmotivation, der Funke, der Menschen erst zu Menschen macht.«

»Seid leise«, zischte Perrin. »Umgedreht? Was meint Ihr? Ist das …«

»Dreizehn Myrddraal und dreizehn Schattenlords.« Lanfear verzog verächtlich die Lippen. »So primitiv. So eine Verschwendung.«

»Ich verstehe nicht.«

Lanfear seufzte und wählte dann einen Tonfall, als müsste sie etwas einem Kind erklären. »Machtlenker können unter den richtigen Umständen mit Gewalt auf die Seite des Schattens geholt werden. M’Hael hat hier Probleme mit dem Prozess gehabt, es geht nicht so einfach, wie es hätte sein sollen. Er braucht Frauen, wenn er Männer müheloser Umdrehen will.«

Licht! Wusste Rand, dass man so etwas mit Menschen tun konnte? Hatten sie mit ihm das Gleiche vor?

»Ich wäre bei den beiden vorsichtig«, meinte Lanfear. »Sie sind mächtig.«

»Dann solltet Ihr etwas leiser sprechen«, flüsterte Perrin.

»Bah. Es ist einfach, an diesem Ort Laute zu verändern. Ich könnte so laut schreien, wie ich wollte, und sie würden es nicht hören. Sie trinken, seht Ihr? Sie haben den Wein mit auf diese Seite gebracht. Natürlich sind sie im Fleisch hier. Ich bezweifle, dass ihr Anführer sie vor den damit verbundenen Gefahren gewarnt hat.«

Perrin beobachtete die Wächter. Die beiden Männer tranken ihren Wein und kicherten. Plötzlich kippte der Erste zur Seite, gefolgt von dem anderen. Sie rutschten von ihren Stühlen und landeten mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden.

»Was habt Ihr getan?«

»Spaltwurzel im Wein«, erklärte Lanfear.

»Warum helft Ihr mir?«

»Ich mag Euch, Perrin.«

»Ihr gehört zu den Verlorenen!«

»Das ist vorbei«, sagte sie. »Dieses … Privileg wurde mir genommen. Der Dunkle König entdeckte, dass ich Lews Therin helfen wollte zu siegen. Jetzt bin ich …« Mitten im Wort erstarrte sie und sah wieder zum Himmel. Was sah sie bloß in diesen Wolken? Etwas, das sie blass werden ließ. Im nächsten Augenblick verschwand sie.

Perrin versuchte sich zu entscheiden, was er tun sollte. Natürlich konnte er ihr nicht vertrauen. Aber sie war ausgesprochen gut im Wolfstraum. Sie erschien neben ihm, ohne dabei den geringsten Laut zu verursachen. Das war schwerer, als es aussah; sie musste die Luft anhalten, die sie bei ihrer Ankunft verdrängte. Sie musste ganz präzise erscheinen, damit sie keine Geräusche verursachte, und sie musste das Rascheln ihrer Kleidung dämpfen.

Überrascht wurde sich Perrin bewusst, dass sie dieses Mal auch ihren Duft maskiert hatte. Er hatte sie erst riechen können – sie duftete nach Nachtlilien –, nachdem sie das Wort an ihn gerichtet hatte.

Unsicher stieg er aus der Grube und näherte sich der Hütte. Beide Männer schliefen. Was geschah wohl mit Menschen, die im Traum schliefen? Normalerweise hätte sie das zurück in die wache Welt geschickt – aber sie waren leibhaftig hier.

Der Gedanke an das, was man mit ihnen gemacht hatte, ließ ihn frösteln. Umgedreht? Hatte sie es nicht so bezeichnet? Beim Licht. Es erschien ungerecht. Nicht, dass das Muster jemals gerecht wäre, musste er zugeben und durchsuchte schnell die Hütte.

Er fand den Traumnagel unter dem Tisch in den Erdboden getrieben. Das silbrige Metall erinnerte an einen langen Zeltnagel, an dessen Seiten sich seltsame Zeichen entlangzogen. Er ähnelte dem anderen, mit dem er es zu tun gehabt hatte, war aber nicht völlig gleich. Er zog ihn heraus, dann legte er die Hand auf den Hammer und wartete, rechnete mit der Ankunft des Schlächters.

»Er ist nicht hier«, sagte Lanfear.

»Licht!« Perrin riss den Hammer in die Höhe. Dann beruhigte er sich wieder und drehte sich zu ihr um. »Warum erscheint Ihr auf diese Weise, Frau?«

»Er sucht nach mir«, erklärte sie und blickte zum Himmel. »Eigentlich sollte ich nicht in der Lage sein, das hier zu tun, und er wird misstrauisch. Sollte er mich finden, weiß er Bescheid, und ich werde vernichtet, werde eine Ewigkeit lang gefangen sein und brennen.«

»Erwartet Ihr von mir, dass ich Mitleid mit Euch habe, mit einer der Verlorenen?«, fauchte Perrin.

»Ich habe meinen Meister gewählt«, erwiderte sie und musterte ihn. »Das ist mein Preis – es sei denn, ich finde eine Möglichkeit, mich davon zu befreien.«

»Was?«

»Ich glaube, Ihr habt noch die beste Chance«, sagte sie. »Ihr müsst siegen, Perrin, für mich, und ich muss an Eurer Seite sein, wenn das passiert.«

Er schnaubte. »Ihr habt keine neuen Tricks gelernt, oder? Macht einem anderen dieses Angebot. Ich bin nicht interessiert.« Er drehte den Traumnagel. Er hatte nie herausfinden können, wie der andere funktioniert hatte.

»Ihr müsst oben drehen.« Lanfear streckte die Hand aus.

Perrin sah sie bloß an.

»Glaubt Ihr nicht, ich hätte ihn mir selbst nehmen können, wenn ich gewollt hätte?« Sie klang amüsiert. »Wer hat denn M’Haels kleine Schoßtiere für Euch ausgeschaltet?«

Er zögerte, dann gab er ihn ihr. Mit dem Daumen fuhr sie von der Spitze bis hinauf zur halben Länge, und etwas klickte darin. Dann drehte sie den dicken Kopf herum. Draußen schrumpfte die violette Kuppel und löste sich auf.

Sie gab ihn zurück. »Dreht den Kopf wieder herum, um das Feld zu erschaffen, dann fahrt Ihr mit dem Finger in die entgegengesetzte Richtung als ich eben, um ihn zu verriegeln – je länger man dreht, umso größer wird das Feld. Seid vorsichtig. Wo auch immer Ihr ihn platziert, hat das Auswirkungen auf die wache Welt wie auch auf diese, und es wird auch Eure Verbündeten daran hindern, hinein- oder hinauszukommen. Mit einem besonderen Schlüssel könnt Ihr ihn passieren, aber ich weiß nicht, wo der für diesen Traumnagel ist.«

»Ich danke Euch«, sagte Perrin widerstrebend. Einer der schlafenden Männer zu seinen Füßen grunzte und drehte sich auf die Seite. »Gibt es … gibt es wirklich keinen Widerstand gegen die Verwandlung? Können sie denn gar nichts tun?«

»Man kann für kurze Zeit Widerstand leisten«, sagte sie. »Aber nur kurz. Am Ende fällt selbst der Stärkste. Falls man ein Mann ist, der Frauen gegenübersteht, haben sie einen im Handumdrehen bezwungen.«

»So etwas sollte nicht möglich sein«, sagte Perrin. »Niemand sollte einen Menschen zwingen können, sich dem Schatten zuzuwenden. Auch wenn man uns alles andere nimmt, diese Entscheidung sollten wir selbst treffen können.«

»Oh, sie haben ja die Wahl«, meinte Lanfear und stieß einen von ihnen mit dem Zeh an. »Sie hätten sich ja dämpfen lassen können. Das hätte ihnen diese Schwäche genommen, und man hätte sie niemals Umdrehen können.«

»Keine große Wahl.«

»So ist das Gewebe des Musters, Perrin Aybara. Nicht alle Möglichkeiten sind gut. Manchmal muss man eben das Beste aus einer schlimmen Situation machen und den Sturm abreiten.«

Er sah sie scharf an. »Wollt Ihr damit andeuten, dass Ihr genau das tut? Ihr habt Euch dem Schatten angeschlossen, weil es die ›beste‹ Wahl war? Das glaube ich nicht, Frau. Ihr habt ihm Euch um der Macht willen angeschlossen. Das weiß doch jeder.«

»Glaubt, was Ihr wollt, Welpe.« Ihr Blick verhärtete sich. »Ich habe für meine Entscheidungen leiden müssen. Für das, was ich in meinem Leben tat, musste ich Schmerzen, Qualen und unerträgliche Trauer erdulden. Was ich erlitten habe, geht weit über Eure Vorstellungskraft hinaus.«

»Und von allen Verlorenen habt Ihr Eure Stellung als Erste gewählt und sie akzeptiert.«

Sie schnaubte. »Glaubt Ihr wirklich dreitausend Jahre alte Geschichten?«

»Immer noch besser, als den Worten von jemandem wie Euch zu vertrauen.«

»Wie Ihr wollt«, sagte sie und blickte wieder auf die Schlafenden. »Falls Euch das hilft zu verstehen, Welpe, solltet Ihr wissen, dass viele der Meinung sind, Leute wie die hier würden beim Umdrehen getötet. Und dann würde etwas anderes in den Körper kriechen. Zumindest glauben das einige.« Sie verschwand.

Perrin seufzte, dann steckte er den Traumnagel ein und versetzte sich zurück auf das Dach. Bei seinem Eintreffen fuhr Gaul herum und spannte den Bogen. »Bist du das, Perrin Aybara?«

»Ja.«

»Ich frage mich, ob ich einen Beweis verlangen sollte«, sagte Gaul und hielt den Pfeil weiter eingespannt. »Ich habe den Eindruck, dass an diesem Ort jeder mühelos sein Aussehen verändern kann.«

Perrin lächelte. »Das Erscheinungsbild ist nicht alles. Ich weiß, dass du zwei Gai’shain hast, die eine willst du, die andere nicht. Keine von ihnen scheint sich damit zufriedenzugeben, sich wie eine richtige Gai’shain zu benehmen. Falls wir das hier überleben, heiratet dich eine von ihnen vielleicht.«

»Vielleicht«, gab Gaul ihm recht und senkte den Bogen. »So wie es aussieht, werde ich wohl beide oder keine von ihnen nehmen müssen. Vielleicht ist das die Strafe dafür, dass man sie gezwungen hat, die Speere wegzulegen, obwohl das nicht meine Entscheidung war, sondern ihre.« Er schüttelte den Kopf. »Die Kuppel ist verschwunden.«

Perrin zog den Traumnagel hervor. »Das ist sie.«

»Was ist unsere nächste Aufgabe?«

»Warten.« Perrin setzte sich auf das Dach. »Sehen wir, ob das Entfernen der Kuppel die Aufmerksamkeit des Schlächters erringt.«

»Und wenn das nicht passiert?«

»Dann begeben wir uns an den nächsten Ort, wo er vermutlich zu finden ist«, meinte Perrin und rieb sich das Kinn. »Und das ist jeder Ort, an dem man Wölfe töten kann.«


»Wir haben Euch gehört!«, brüllte Canler Androl während des Kampfes zu. »Ich will verbrannt sein, wenn das nicht stimmt! Wir waren in meinem Lager, und wir haben Euch sprechen hören, betteln hören! Wir entschieden, dass wir angreifen mussten. Jetzt oder nie.«

Gewebe explodierten in dem unterirdischen Saal. Der Boden platzte auf, Feuer flog von Taims Leuten auf dem Podest auf die Männer von den Zwei Flüssen zu. Blasse schlichen mit Umhängen, die sich nicht bewegten, durch den Raum und zogen Schwerter.

Mit eingezogenem Kopf kroch Androl zu Pevara, Jonneth und Emarin, die noch immer an der Wand lagen. Canler hatte ihn gehört? Das Wegetor, das er gemacht hatte, kurz bevor Taim ihn in die Luft gestemmt hatte. Es musste sich geöffnet haben, war aber wohl so klein gewesen, dass er es nicht gesehen hatte.

Er konnte wieder Wegetore weben. Aber nur ganz kleine. Was nützte das schon? Immerhin hat es Taims Baalsfeuer gestoppt, dachte er und erreichte Pevara und die anderen. In ihrem Zustand konnte keiner von ihnen kämpfen. Er webte ein Wegetor, traf den Wall, drückte dagegen …

Etwas veränderte sich.

Der Wall löste sich auf.

Für einen kurzen Moment saß Androl wie betäubt da. Die lauten Explosionen dröhnten in seinen Ohren. Canler und die anderen schlugen sich tapfer, aber die Jungen von den Zwei Flüssen standen ausgebildeten Aes Sedai und vielleicht sogar einer Verlorenen gegenüber. Einer nach dem anderen fiel.

Der Wall war weg.

Langsam richtete sich Androl zu seiner vollen Größe auf, dann ging er zurück zur Mitte des Raumes. Taim und seine Leute kämpften auf dem Podest; die Gewebe von Canler und seinen Verbündeten wurden schwächer.

Androl sah Taim an und spürte einen mächtigen, überwältigenden Zorn in sich aufsteigen. Die Schwarze Burg gehörte den Asha’man und nicht diesem Mann.

Es war Zeit, dass die Asha’man sie sich zurückholten.

Androl brüllte auf, hob die Hände und webte ein Tor. Die Macht durchströmte ihn. Wie immer schnitt sich sein Wegetor viel schneller in die Luft als bei anderen Machtlenkern, wurde viel größer, als einem Mann seiner Stärke hätte möglich sein sollen.

Dieses Tor hatte die Länge eines großen Wagens. Er öffnete es genau vor Taims Machtlenkern und hielt es fest, als sie ihre nächste Salve todbringender Gewebe schleuderten.

Dieses Wegetor überbrückte nur wenige Schritte. Sein Ausgang öffnete sich genau hinter ihnen.

Die von Taims Männern und Frauen gestalteten Gewebe trafen das offene Tor – dessen Rückseite wie ein Hitzeflimmern genau vor Androl hing – und schossen aus der Öffnung in ihrem Rücken.

Gewebe trafen ihre eigenen Schöpfer, verbrannten Aes Sedai, töteten Asha’man und die paar noch verbliebenen Myrddraal. Am ganzen Leib vor Anstrengung zitternd, brüllte Androl noch lauter und öffnete winzige Wegetore in Logains Fesseln, zerfetzte sie. Ein weiteres öffnete er direkt unter seinem Stuhl, ließ ihn aus dem Raum an einen weit von der Schwarzen Burg entfernten Ort fallen – ein Ort, der hoffentlich sicher war, wenn es dem Licht gefiel.

Die Frau namens Hessalam ergriff die Flucht. Während sie sich durch ein eigenes Wegetor stürzte, folgten ihr Taim und einige der anderen. Der Rest war nicht so klug – denn nur einen Augenblick später öffnete Androl ein Wegetor so breit wie den Raum und ließ Frauen und Asha’man irgendwo Hunderte Fuß in die Tiefe stürzen.

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