35 Ein einstudiertes Grinsen

Olver vermisste Wind. Dabei war Bela, die stämmige, zottelige Stute, die er nun ritt, eigentlich gar nicht so übel. Sie war bloß langsam. Olver wusste das genau, weil er stets versuchte, sie anzutreiben, aber sie trottete einfach hinter den anderen Pferden her. Egal, was er auch tat, nichts konnte sie veranlassen, sich schneller zu bewegen. Olver wollte wie der Sturmwind reiten. Stattdessen bewegte er sich so schnell wie ein dicker Baumstamm auf einem gemächlich fließenden Fluss.

Er wischte sich die Stirn ab. Die Fäule war ganz schön furchterregend, und die anderen gingen daher – die meisten hatten keine Pferde –, als würde ihnen jeder Schritt tausend Trollocs auf den Hals hetzen. Der Rest der Karawane sprach nur in gedämpften Tönen und musterte jeden Hang misstrauisch.

Sie passierten eine Gruppe verkümmerter Bäume, aus deren aufgeplatzter Rinde Baumsaft rann. Dieser Saft sah viel zu rot aus. Fast wie Blut. In der Nähe trat einer der Kutscher darauf zu, um sich das näher anzusehen.

Schlingpflanzen peitschten von den Ästen – Schlingpflanzen, die braun und tot aussahen, sich aber wie Schlangen bewegten. Bevor Olver einen warnenden Schrei ausstoßen konnte, baumelte der Kutscher schon tot von einem der oberen Äste.

Entsetzt erstarrte alles an Ort und Stelle. Der Baum zog den Toten doch tatsächlich durch einen Riss in der Rinde in sein Inneres. Verdaute ihn. Vielleicht war dieser Pflanzensaft ja in Wahrheit Blut.

Olver sah fassungslos zu.

»Ganz ruhig«, sagte Lady Faile mit leicht zittriger Stimme. »Ich habe euch gesagt, kommt diesen Pflanzen nicht zu nahe! Fasst nichts an.«

Sie marschierten weiter. Eine ernste Horde. Der in der Nähe reitende Sandip murmelte leise: »Das ist der Fünfzehnte. Fünfzehn Männer tot in wenigen Tagen. Licht! Das überleben wir niemals.«

Wären es doch bloß Trollocs gewesen! Olver konnte nicht gegen Bäume und Insekten kämpfen. Wer vermochte das schon? Aber Trollocs, gegen die hätte er kämpfen können. Schließlich hatte er sein Messer, und Harnan und Silvic hatten ihm ein paar Dinge beigebracht. Er war nicht besonders groß, aber vermutlich würden Trollocs ihn deswegen unterschätzen. Er konnte einen tiefen Ausfall machen und nach ihren Eingeweiden zielen, bevor ihnen überhaupt klar war, wie ihnen geschah.

Das redete er sich zumindest ein, damit seine Hände nicht zitterten, als er Bela in der Hoffnung antrieb, es an die Seite von Lady Faile zu schaffen. In der Ferne ertönte ein Kreischen, als würde etwas auf schreckliche Weise sterben. Olver fröstelte. Den gleichen Laut hatte er schon früher an diesem Tag gehört. Klang er jetzt näher?

Setalle warf ihm einen besorgten Blick zu, als er sich der Spitze näherte. Die anderen versuchten alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um ihn von jeder Gefahr fernzuhalten. Er stählte sich und ignorierte den fürchterlichen Lärm in der Ferne. Alle hielten ihn für zerbrechlich, aber das war er nicht. Sie hatten nicht gesehen, was er in seiner Kindheit alles gesehen hatte. Tatsächlich dachte er nicht gern an diese Zeiten zurück. Es kam ihm so vor, als hätte er drei Leben geführt. Eines, bevor seine Eltern gestorben waren, eines, als er auf sich allein gestellt gewesen war, und jetzt das Leben, das er führte.

Auf jeden Fall war er gewöhnt, gegen Leute zu kämpfen, die größer als er waren. Es war die Letzte Schlacht. Alle sprachen davon, dass jeder Mann gebraucht wurde. Nun, warum dann nicht auch er? Wenn die Trollocs kamen, würde er zuallererst von diesem langsamen Tier springen müssen. Er konnte ja schneller daherspazieren, als diese Stute galoppieren konnte! Nun, die Aiel brauchten keine Pferde. Er hatte bei ihnen noch keinen Unterricht genommen, aber das würde noch kommen. Er hatte es genau geplant. Er hasste alle Aiel, aber hauptsächlich die Shaido, und wenn er sie töten wollte, würde er vorher ihre Geheimnisse kennen müssen.

Also würde er zu den Aiel gehen und verlangen, dass sie ihn unterrichteten. Sie würden ihn aufnehmen und ihn schlecht behandeln, aber schließlich würden sie ihn respektieren und zusammen mit ihren Kriegern üben lassen. Darüber gab es Geschichten. So liefen die Dinge nun einmal.

Nachdem er ihre Geheimnisse erfahren hatte, würde er zu den Schlangen und Füchsen gehen und die Antwort auf die Frage erhalten, wie er die Shaido finden sollte, die seinen Vater ermordet hatten. Von da an würde die Jagd auf sie und ihr unausweichlicher Tod eine Suche sein, die selbst eine Geschichte wert sein würde.

Ich nehme Noal mit, dachte er. Er war schon überall. Er kann mein Führer sein. Er …

Noal war tot.

Schweiß rann Olvers Schläfen herunter, als er den felsigen Pfad vor ihnen anstarrte. Sie passierten weitere dieser schrecklichen Bäume, und jetzt machte jeder einen großen Bogen um sie herum. Aber neben dem Pfad zeigte einer der Männer auf eine große Fläche des tödlichen Schlamms. Er sah braun und dick aus, und Olver sah ein paar Knochen daraus hervorragen.

Dieser Ort war schrecklich!

Er wünschte sich, Noal wäre hier gewesen. Noal war überall auf der Welt gewesen, hatte alles gesehen. Er hätte gewusst, wie sie hier wegkamen. Aber Noal gab es nicht mehr. Er hatte das erst kürzlich erfahren, es war aus den Berichten herauszuhören gewesen, die Lady Moiraine über die Geschehnisse im Turm von Ghenjei erstattet hatte.

Jeder stirbt, dachte er, den Blick noch immer stur nach vorn gerichtet. Jeder …

Mat war zu den Seanchanern gelaufen, Talmanes kämpfte an der Seite von Königin Elayne. Jedes Mitglied dieser Gruppe wurde eines nach dem anderen von Bäumen, Schlamm oder Ungeheuern gefressen.

Warum ließen sie ihn alle bloß allein?

Er rieb den Armreif. Noal hatte ihn ihm kurz vor seinem Aufbruch geschenkt. Aus widerstandsfähigen Fasern geflochten, gehörte er zu der Art, die Krieger in einem fernen Land trugen, hatte Noal ihm erzählt. Er war das Zeichen eines Mannes, der in der Schlacht gewesen war und sie überlebt hatte.

Noal … tot. Würde Mat auch sterben?

Olver war schrecklich heiß, er war sehr müde und sehr ängstlich. Er trieb Bela an, und glücklicherweise gehorchte sie und trottete die Anhöhe ein Stück schneller hinauf, sodass er aufrückte. Die Wagen hatten sie zurückgelassen, dann waren sie zu einem Ort namens Verdorbenes Land aufgebrochen, wozu sie ein paar Hügel erklimmen mussten. Am Morgen hatten sie einen Pass zwischen den Bergen betreten. Obwohl es warm war, war die Luft deutlich kühler, als sie höher kamen. Olver störte das nicht. Trotzdem stank es noch immer. Nach verwesenden Leichen.

Ihre Gruppe hatte zu Anfang aus fünfzig Soldaten und fast noch einmal halb so vielen Kutschern und Arbeitern bestanden. Dann gab es noch eine Handvoll anderer, wie er selbst, Setalle und das halbe Dutzend Leibwächter von Lady Faile.

Bis jetzt hatten sie fünfzehn Menschen an die Gefahren der Fäule verloren, fünf davon waren von einem entsetzlichen dreiäugigen Etwas getötet worden, das ihr Lager am vorigen Morgen angegriffen hatte. Er hatte Lady Faile sagen hören, dass sie Glück gehabt hatten, bis jetzt nur fünfzehn Leute zu verlieren, dass es viel schlimmer hätte kommen können.

Er konnte darin kein Glück erkennen. Dieser Ort war widerlich, und er wollte hier weg. Die Wüste würde doch nicht so schlimm wie hier sein, oder? Die Männer und Frauen von Cha Faile benahmen sich wie Aiel. Jedenfalls ein bisschen. Vielleicht hatten sie ja genau das getan, was er beabsichtigte, hatten sich in der Wüste unterweisen lassen. Er würde sie das fragen müssen.

Er ritt noch eine weitere halbe Stunde. Dann lenkte er Bela an die Spitze der Kolonne. Lady Failes Stute mit dem glänzenden schwarzen Fell sah schnell aus. Warum hatte er nicht so ein Pferd bekommen können?

Faile hatte Mats Truhe hinten auf ihrem Pferd festgeschnallt. Zuerst hatte Olver das gut gefunden, denn er ging davon aus, dass Mat dringend auf den Tabak wartete. Mat klagte immer darüber, keinen guten Tabak zu haben. Dann hatte er gehört, wie Faile jemandem erklärte, die Truhe hätte sich einfach dazu angeboten, ein paar ihrer Dinge zu verstauen. Hatte sie etwa den Tabak weggeworfen? Das würde Mat gar nicht gefallen.

Faile sah ihn an, und Olver grinste, legte so viel Selbstvertrauen hinein, wie er konnte. Sie durfte keinesfalls sehen, welche Angst er hatte.

Die meisten Frauen mochten dieses Grinsen. Er hatte es einstudiert, allerdings hatte er sich nicht Mats Grinsen zum Vorbild genommen. Mats Grinsen ließ ihn immer schuldig aussehen. Wenn man gezwungen war, sich selbst um sich zu kümmern, dann lernte man zu lächeln, und Olver brauchte ein Grinsen, das ihn unschuldig aussehen ließ. Und er war unschuldig. Meistens jedenfalls.

Faile erwiderte das Lächeln nicht. Trotz dieser Nase war sie eigentlich ganz erfreulich anzusehen, fand Olver. Aber sie war nicht gerade weich. Verdammte Asche, sie hatte ja einen Blick, der gutes Eisen hätte rosten lassen.

Faile ritt zwischen Aravine und Vanin. Obwohl sie leise sprachen, konnte Olver genau verstehen, was sie sagten. Er vergewisserte sich, dass er in die andere Richtung schaute, damit sie nicht auf die Idee kam, er würde lauschen. Und das tat er auch nicht. Er wollte bloß dem aufgewirbelten Staub der anderen Pferde entgehen.

»Ja«, flüsterte Vanin. »Es mag nicht den Anschein haben, aber wir sind ganz in der Nähe des Verdorbenen Landes. Soll man meine Mutter verbrennen, ich kann einfach nicht glauben, dass wir dort hinreisen. Aber fühlt Ihr die Luft? Sie wird kälter. Seit diesem dreiäugigen Ding gestern Morgen haben wir nichts wirklich Bösartiges mehr gesehen.«

»Wir sind nahe«, stimmte Aravine ihm zu. »Bald sind wir in der Nähe des Dunklen Königs. In einem Land, wo nichts wächst, ob nun verdorben oder nicht, wo es kein Leben gibt, nicht einmal die gefährlichen Dinge aus der Fäule.«

»Ich schätze, das sollte tröstlich sein.«

»Eigentlich nicht«, sagte Vanin und wischte sich die Stirn ab. »Weil das Schattengezücht hier oben noch gefährlicher ist. Wenn wir überleben, dann nur wegen des verdammten Krieges. Wenn wir Glück haben, ist das Verdorbene Land, die unmittelbare Umgebung um den Shayol Ghul ausgenommen, so leer wie die Geldbörse eines Mannes nach einem Handel mit dem Meervolk. Entschuldigt meine Ausdrucksweise, meine Lady.«

Olver spähte verstohlen zu dem sich nähernden Berggipfel.

Da lebt also der verdammte Dunkle König, dachte er. Und da ist vermutlich auch Mat, und sicher nicht in Merrilor. Mat redete immer davon, sich von jeder Gefahr fernzuhalten, und trotzdem fand er immer den Weg hinein. Vermutlich wollte Mat bloß bescheiden sein und war einfach nicht gut darin. Warum sollte man sonst ständig verkünden, kein Held sein zu wollen, um am verdammten Ende dann doch geradewegs in die Gefahr zu galoppieren?

»Und dieser Weg?«, fragte Faile Vanin. »Ihr sagtet, hier wäre vermutlich erst kürzlich jemand vorbeigekommen. Würde das nicht darauf hinweisen, dass dieser Ort bei Weitem nicht so verlassen ist, wie Ihr so farbig beschrieben habt?«

Vanin grunzte. »Er sieht benutzt aus.«

»Also hat jemand Wagen durch die Gegend kutschiert«, sagte Aravine. »Ich weiß nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist.«

»Ich glaube nicht, dass es hier oben überhaupt gute Zeichen gibt«, meinte Vanin. »Vielleicht sollten wir uns einfach eine Stelle in der Nähe aussuchen, uns dort verschanzen und warten.« Er seufzte und wischte sich wieder die Stirn ab, obwohl Olver keinen Anlass dafür erkennen konnte. Es wurde ganz schön kalt – das war ihm nicht verborgen geblieben. Und es schien hier auch weniger Pflanzen zu geben. Das fand er gut.

Er blickte zurück in die Richtung der Baumgruppe, die dem armen Mann das Leben geraubt hatte. Es schienen keine mehr von ihnen in der Nähe zu sein, vor allem nicht auf dem vor ihnen liegenden Weg.

»Wir können es uns nicht leisten zu warten, Vanin«, sagte Faile. »Ich will zurück nach Merrilor, auf die eine oder andere Weise. Der Wiedergeborene Drache wird in Thakan’dar kämpfen. Dort müssen wir hin, wenn wir aus dieser vom Schöpfer verlassenen Gegend wollen.«

Vanin stöhnte, aber Olver lächelte. Er würde seinen Weg zu Mat finden und ihm zeigen, wie gefährlich er in der Schlacht sein konnte. Dann …

Nun, dann würde Mat ihn vielleicht nicht wie die anderen verlassen. Das würde gut sein, denn Olver würde seine Hilfe brauchen, um diese Shaido zu finden. Schließlich war er fest davon überzeugt, dass ihn nach allem, was er bei der Bande gelernt hatte, niemand mehr würde herumschubsen können. Und niemand würde ihm jemals wieder die Menschen wegnehmen, die er liebte.


»Es gibt Berichte in den Archiven, die Aufschluss darüber geben, was wir sahen.« Cadsuane nahm ihre Tasse Tee, um sich die Hände zu wärmen.

Das Aiel-Mädchen Aviendha saß auf dem Zeltboden. Was würde ich dafür geben, sie in die Burg zu bekommen, dachte Cadsuane. Diese Weisen Frauen … sie hatten richtig Biss. So wie die besten Frauen in der Weißen Burg.

Cadsuane kam immer mehr zu dem Schluss, dass der Schatten schon seit Jahren einen komplizierten Plan verfolgt hatte, um die Weiße Burg zu schwächen. Das ging tiefer als Siuan Sanches unglückliche Absetzung und Elaidas Herrschaft. Vielleicht würden Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte vergehen, bevor sie das Ausmaß dieses Plans in allen Einzelheiten begriffen. Allein schon die Anzahl an Schwarzen Schwestern – Hunderte und nicht nur die paar Dutzend, mit denen Cadsuane gerechnet hatte – verkündete lautstark, was dort geschehen war.

Im Augenblick musste sie mit dem arbeiten, was ihr zur Verfügung stand. Das schloss diese Weisen Frauen mit ein, die nur unzureichend im Umgang mit den Geweben ausgebildet waren, aber denen es niemals an Standhaftigkeit fehlte. Nützlich. So wie Sorilea, die trotz ihrer Schwäche in der Einen Macht weiter hinten im Zelt saß und zuhörte.

»Ich habe ein paar Erkundigungen eingeholt, Kind«, sagte Cadsuane zu Aviendha. »Diese Frau Reist in der Tat. Aber es gibt leider nur bruchstückhafte Dokumente, die diese Methode erwähnen, und sie datieren zum Krieg der Macht zurück.«

Aviendha runzelte die Stirn. »Ich konnte keine Gewebe sehen, Cadsuane Sedai.«

Cadsuane unterdrückte ein Lächeln über den respektvollen Ton. Der junge al’Thor hatte dem Mädchen den Befehl übergeben – und ehrlich gesagt war es keine schlechte Wahl, da hätte es schlechtere gegeben. Aber natürlich hätte er sie nehmen sollen, und vermutlich war das Aviendha durchaus bewusst.

»Weil die Frau nicht mit der Einen Macht gewebt hat«, erwiderte sie.

»Was sollte es denn sonst sein?«

»Wisst Ihr, warum der Dunkle König ursprünglich befreit wurde?«

Aviendha sah aus, als erinnerte sie sich an etwas. »Ah … ja. Dann lenken sie die Macht des Dunklen Königs?«

»Man bezeichnet es als die Wahre Macht«, sagte Cadsuane. »Den Berichten zufolge funktioniert das Reisen mit der Wahren Macht auf die Weise, wie Ihr sie bei dieser Frau gesehen habt. Das konnten nur wenige beobachten. Im Krieg der Macht war der Dunkle König ausgesprochen sparsam mit seiner Essenz, und nur engen Favoriten wurde der Zugang gewährt. Aus dieser Tatsache schließe ich, dass das definitiv eine der Verlorenen gewesen ist. Nach Eurer Beschreibung, was sie mit der armen Sarene gemacht hat, vermute ich, dass es Graendal ist.«

»Die Geschichten haben nie erwähnt, dass Graendal so hässlich ist«, sagte Sorilea.

»Wärt Ihr eine Verlorene, die leicht anhand ihrer Beschreibung zu erkennen ist, würdet Ihr Euer Erscheinungsbild nicht verändern wollen, um unerkannt zu bleiben?«

»Vielleicht«, sagte Sorilea. »Aber dann würde ich nicht diese … Wahre Macht benutzen, wie Ihr sie nennt. Das würde jede Verkleidung zunichtemachen.«

»So wie Aviendha uns das beschrieben hat«, bemerkte Cadsuane, »hatte diese Frau keine große Wahl. Sie musste schnell entkommen.«

Cadsuanes und Sorileas Blicke trafen sich, und beide nickten. Sie würden diese Verlorene jagen, sie beide.

Ich lasse dich jetzt bestimmt nicht sterben, mein Junge, dachte Cadsuane und blickte über die Schulter zu der Stelle, an der al’Thor, Nynaeve und Moiraine mit ihrer Arbeit fortfuhren. Jede Machtlenkerin im Lager konnte dieses Pulsieren fühlen. Zumindest nicht, bis du getan hast, was du tun musst. Cadsuane hatte damit gerechnet, dass die Verlorenen hier sein würden. Darum war sie an diese Front gegangen.

Der Wind rüttelte am Zelt und ließ Cadsuane tief im Inneren frösteln. Dieser Ort war furchtbar, selbst wenn der feindliche Ansturm für eine Weile nachließ. Das Entsetzen, das hier in der Luft hing, war wie bei einem Kinderbegräbnis. Es erstickte jedes Gelächter, verhinderte jedes Lächeln. Der Dunkle König sah zu. Beim Licht, es würde so schön sein, diesen Ort wieder zu verlassen.

Aviendha trank ihren Tee. Die Frau sah noch immer betroffen aus, obwohl sie offensichtlich schon zuvor Verbündete in der Schlacht verloren hatte.

»Ich ließ sie zum Sterben zurück«, flüsterte sie.

»Pff!«, machte Cadsuane. »Ihr seid nicht schuld an den Taten einer der Verlorenen, Kind.«

»Ihr versteht nicht. Wir waren zu einem Zirkel verknüpft, und sie versuchten sich davon zu befreien – ich fühlte sie, aber ich wusste nicht, was da geschieht. Ich hielt an ihrer Macht fest, darum konnten sie sich nicht gegen sie wehren. Ich ließ sie hilflos zurück.«

»Nun, dann lasst von nun an die Mitglieder Eures Zirkels eben nicht zurück«, sagte Cadsuane energisch. »Ihr habt nicht wissen können, was geschehen würde.«

»Wenn du den Verdacht hast, dass diese Frau in der Nähe ist, Aviendha«, sagte Sorilea, »dann wirst du Cadsuane, mir oder Amys Bescheid geben. Es liegt keine Schande darin zuzugeben, dass ein Gegner zu stark ist, um ihm allein gegenüberzutreten. Wir werden diese Frau gemeinsam besiegen und den Car’a’carn beschützen.«

»Also gut«, sagte Aviendha. »Aber das Gleiche gilt auch für Euch. Für euch alle.«

Sie wartete. Schließlich willigte Cadsuane zögernd ein, und Sorilea schloss sich ihr an.


Faile hockte in einem dunklen Zelt. Jetzt, wo sie nahe bei Thakan’dar waren, war die Luft sogar noch kälter geworden. Sie fuhr mit dem Daumen über den Messergriff, atmete langsam und gleichmäßig ein, um den Atem dann auf die gleiche Weise zu entlassen. Ohne zu blinzeln, starrte sie auf den Zelteingang.

Sie hatte die Truhe mit dem Horn dort so aufgestellt, dass eine Ecke in die Nacht hinausragte. Hier an der Grenze zum Verdorbenen Land fühlte sie sich umgeben von angeblichen Verbündeten mehr allein als damals im Lager der Shaido.

Vor zwei Nächten war sie aus ihrem Zelt gerufen worden, um sich ein paar seltsame Spuren anzusehen, die die Männer beunruhigten. Seit sie in die Nähe des Verdorbenen Landes gekommen waren, hatten sie niemanden mehr verloren – dieser Teil des Plans funktionierte also –, aber die Anspannung blieb dennoch hoch. Nur wenige Minuten war sie weg gewesen, aber bei ihrer Rückkehr war die Truhe mit dem Horn ein kleines Stück bewegt worden.

Jemand hatte versucht, sie zu öffnen. Licht! Glücklicherweise hatten sie das Schloss nicht aufbrechen können, und das Horn war immer noch da gewesen, als sie danach gesehen hatte.

Jeder konnte der Verräter sein. Einer der Rotwaffen, ein Kutscher, ein Mitglied der Cha Faile. Die vergangenen beiden Nächte hatte Faile damit verbracht, für alle sichtbar besonders aufmerksam auf die Truhe achtzugeben, um den Dieb herauszufordern. Heute Abend hatte sie über Kopfschmerzen geklagt und Setalle einen Tee brühen lassen, der ihr beim Einschlafen helfen sollte. Sie hatte den Tee mit ins Zelt genommen, keinen Schluck davon getrunken und wartete jetzt.

Die Ecke der Truhe würde deutlich sichtbar sein, wo sie doch in die Nacht hinausragte. Würden sie es wieder versuchen? Als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme hatte sie das Horn aus der Truhe geholt und mitgenommen, als sie dem Ruf der Natur folgte. Dann hatte sie es zwischen Steinen verborgen und bei ihrer Rückkehr die Cha Faile zum allgemeinen Wachdienst fern von ihrem Zelt eingeteilt. Es hatte ihnen nicht gefallen, sie ungeschützt zurückzulassen, aber Faile hatte ihnen klargemacht, dass sie sich wegen der Spannungen unter den Männern Sorgen machte.

Das würde reichen. Gebe das Licht, dass es reichte.

Stunden vergingen, in denen sie in der gleichen Stellung verharrte, dazu bereit, in dem Moment aufzuspringen und Alarm zu geben, in dem jemand in ihr Zelt eindringen wollte. Sicherlich würden sie es heute Nacht erneut versuchen, da es ihr angeblich nicht gut ging.

Nichts. Ihre Muskeln schmerzten, aber sie bewegte sich nicht. Der Dieb konnte dort draußen in der Dunkelheit warten. Sich fragen, ob das der richtige Augenblick zum Zuschlagen war, um sich das Horn zu schnappen und zu seinem oder ihrem Herrn zu rennen. Es …

Ein Schrei zerschnitt die Nacht.

Faile schwankte. Ein Ablenkungsmanöver?

Dieser Schrei, dachte sie und versuchte die Richtung zu bestimmen, aus der er gekommen war. Er kam … von direkt westlich von hier.

Aus der Nähe, wo sie das Horn versteckt hatte. Sie fluchte und traf blitzschnell eine Entscheidung. Die Truhe war leer. Falls sie den Köder schluckte und es sich wirklich nur um ein Ablenkungsmanöver handelte, würde sie nichts verlieren. Falls der Dieb jedoch ihre Züge vorausgesehen hatte … Sie eilte aus dem Zelt, während die anderen sich hektisch aus ihrem Bettzeug befreiten. Angehörige der Cha Faile rannten durch das Lager. Erneut hallte der Schrei.

Begleitet wurde er von einem furchtbaren Kreischen von der Art, das sie in der Ferne verfolgt hatte.

Faile raste mitten durch ein paar dünne, von der Fäule verdorbene Büsche. An einem Ort, wo schon ein Zweig töten konnte, war das mehr als nur dumm, aber sie dachte nicht klar.

Sie erreichte den Ort als Erste, die Stelle, wo sie das Horn versteckt hatte. Dort stand nicht nur Vanin, sondern auch Harnan. Vanin hielt das Horn von Valere mit seinen dicken Armen umklammert, während Harnan gegen irgendeine Bestie mit dunklem Fell kämpfte, dabei brüllte und sein Schwert schwang.

Vanin erblickte Faile und wurde so weiß im Gesicht wie das Hemd eines Weißmantels.

»Dieb!«, brüllte Faile. »Haltet ihn! Er hat das Horn von Valere gestohlen!«

Vanin schrie auf und warf das Horn von sich, als hätte es ihn gebissen, dann rannte er blitzartig los. Beim Licht, er war wirklich schnell für seine Masse! Er schnappte sich Harnan an der Schulter und riss ihn zur Seite, während die Bestie dieses bis ins Mark gehende Heulen ausstieß.

Aus der Ferne kam eine Antwort. Faile kam rutschend zum Stehen, schnappte sich das Horn und drückte es an den Leib. Diese Männer waren keine gewöhnlichen Diebe. Nicht nur hatten sie ihren Plan durchschaut, sondern genau vorausgesehen, wo sie das Horn versteckt hatte. Sie kam sich vor wie ein Bauernmädchen, das gerade auf das betrügerische Hütchenspiel eines Städters reingefallen war.

Jene, die hinter ihr angerannt kamen, blieben verblüfft stehen, entweder durch den Anblick des Horns oder der Bestie. Die Kreatur kreischte – sie sah aus wie ein Bär mit zu vielen Armen, aber sie war größer als jeder Bär, den Faile je zu Gesicht bekommen hatte. Sie taumelte zurück. Es blieb keine Zeit, sich um die Diebe zu kümmern, denn das Ungeheuer warf sich auf ihre Leibwächter. Kreischend riss es einem Cha Faile den Kopf vom Rumpf.

Faile schrie auf und schleuderte ein Messer auf das Monstrum, während Arrela mit dem Schwert auf eine seiner Schultern einhieb. Genau in diesem Augenblick kam eine zweite Kreatur direkt neben Faile über die Felsen gestolpert.

Fluchend machte sie einen Satz zur Seite und schleuderte ein Messer. Sie traf – oder zumindest stieß das Ding einen Laut aus, der sich nach Schmerz und Zorn anhörte. Als Mandevwin mit einer Fackel in der Hand angeritten kam, enthüllte das Licht, dass die schrecklichen Kreaturen Insektengesichter mit einer Unmenge Fangzähne hatten. Failes Messer ragte aus einem vorgewölbten Auge.

»Beschützt die Lady!«, rief Mandevwin und warf in der Nähe stehenden Rotwaffen Speere zu, die damit auf das erste Ungeheuer losgingen und es von Arrela vertrieben, die blutend zurückstolperte. Aber die Frau hatte ihr Schwert nicht verloren.

Faile fiel zurück, während sich Cha Faile um sie herum formierte, dann schaute sie auf den Gegenstand in ihren Händen. Das Horn von Valere, aus dem Beutel genommen, in dem sie es versteckt hatte. Sie konnte es ertönen lassen …

Nein! Es ist an Cauthon gebunden. Für sie würde es bloß ein ganz gewöhnliches Horn sein.

»Ganz ruhig!«, befahl Mandevwin und ließ sein Schlachtross zurücktänzeln, als eine der Kreaturen darauf losging. »Verdin, Laandon, wir brauchen mehr Speere! Geht! Die Ungeheuer kämpfen wie Eber. Lockt sie heran und durchbohrt sie!«

Die Taktik funktionierte bei einem der Schrecken, aber der andere warf sich wieder auf Mandevwin und erwischte sein Pferd am Hals. Dabei stieß die Bestie die Soldaten zur Seite, die zustechen wollten, und Mandevwin krachte stöhnend zu Boden.

Das Horn noch immer fest an den Leib gedrückt, eilte Faile an der Stelle vorbei, wo eine Gruppe Rotwaffen die andere Bestie gerade erfolgreich durchbohrt hatte. Sie schnappte sich eine frisch entzündete Fackel und schleuderte sie auf das andere Ungeheuer, setzte sein Fell in Brand. Das Ding brüllte auf, als das Feuer seinen Rücken hinaufstieg, denn das Fell brannte wie Zunder. Es ließ Mandevwins Pferd mit seinem fast abgerissenen Kopf fallen und schlug kreischend und heulend um sich.

»Nehmt die Verletzten!«, befahl Faile. Sie packte ein Mitglied der Bande am Arm. »Kümmert Euch um Mandevwin!«

Der Mann starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das Horn in ihrem Arm, dann schüttelte er sich und nickte, rief zwei andere Männer herbei, die ihm helfen sollten, den Offizier aufzuheben.

»Meine Lady?«, fragte Aravine, die in der Nähe der Büsche stand. »Was geschieht denn hier?«

»Zwei Rotwaffen wollten stehlen, was ich befördere«, sagte Faile. »Und jetzt reiten wir in die Nacht hinein.«

»Aber …«

»Hört doch!«, sagte Faile und zeigte in die Dunkelheit.

In der Ferne ertönte ein Dutzend verschiedener Kreischlaute, die den Schreien der sterbenden Bestie antworteten.

»Die Schreie locken weitere Schrecken an, genau wie der Geruch von vergossenem Blut. Wir gehen. Wenn wir heute Nacht weit genug in das Verdorbene Land hineinkommen, könnten wir in Sicherheit sein. Weckt das Lager, und schafft die Verletzten auf Pferde. Jeder soll sich auf einen schnellen Gewaltmarsch einstellen. Rasch!«

Aravine nickte und eilte los. Faile erübrigte einen Blick in die Richtung, die Harnan und Vanin genommen hatten. Sie verspürte das große Verlangen, beide Männer zur Strecke zu bringen, aber um sie in der Nacht zu verfolgen, würden sie sich langsam bewegen müssen, und das würde den Tod bedeuten. Davon abgesehen, wer vermochte schon zu sagen, welche Möglichkeiten zwei Schattenfreunden zur Verfügung standen?

Sie würden fliehen. Und Faile hoffte beim Licht, dass man sie nicht noch mehr getäuscht hatte, als es jetzt den Anschein hatte. Sollte Vanin irgendwie dazu in der Lage gewesen sein, ein Duplikat des Horns herzustellen, das er dann passenderweise bei der Flucht fallen ließ, damit sie es »retten« konnte …

Sie würde es niemals wissen. Sie würde mit einem falschen Horn zur Letzten Schlacht kommen und sie vielleicht alle zum Untergang verurteilen. Diese Möglichkeit setzte ihr schwer zu, während die Leute der Karawane in die Dunkelheit eilten und Licht und Glück beschworen, den Gefahren der Nacht zu entkommen.

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