31 Ein Wassersturm

Egwene blickte über den Fluss zu dem verbissenen Kampf zwischen ihren Streitkräften und der sharanischen Armee. Sie war auf der arafelischen Seite der Furt wieder in ihrem Lager eingetroffen. Es juckte sie in den Fingern, sich erneut der Schlacht gegen den Schatten anzuschließen, aber sie musste unbedingt mit Bryne über die Geschehnisse am Hügel sprechen. Bei ihrer Ankunft war das Befehlszelt leer gewesen.

Das Lager füllte sich weiterhin mit Aes Sedai und überlebenden Bogenschützen und Pikenmännern, die von den Hügeln im Süden durch Wegetore eintrafen. Die Aes Sedai eilten umher und sprachen in drängendem Tonfall miteinander. Sie alle erschienen erschöpft, aber ihre häufigen Blicke zur Schlacht auf der anderen Grenzseite verrieten, dass sie genauso begierig wie Egwene waren, den Kampf gegen den Schatten fortzusetzen.

Egwene befahl den Boten zu sich, der vor dem Befehlszelt stand. »Sagt den Schwestern Bescheid, dass sie weniger als eine Stunde haben, um sich auszuruhen. Diese Trollocs, die wir bekämpft haben, werden bald zur Schlacht am Fluss stoßen, da wir jetzt die Hügel verlassen haben.«

Sie würde die Aes Sedai auf dieser Seite flussabwärts führen und den Feind dann über das Wasser hinweg angreifen, wenn er über die Felder kam, um über ihre Soldaten herzufallen. »Gebt den Bogenschützen Bescheid, dass sie ebenfalls mit uns marschieren werden«, fügte sie hinzu. »Sie können ihre restlichen Pfeile für einen guten Zweck benutzen, bis wir Nachschub bekommen.«

Als der Bote loseilte, wandte sie sich Leilwin zu, die mit ihrem Ehemann Bayle Domon in der Nähe stand. »Leilwin, das da auf der anderen Flussseite sieht doch wie seanchanische Kavallerie aus. Wisst Ihr irgendetwas darüber?«

»Ja, Mutter, das sind Seanchaner. Dieser Mann, der dort drüben steht …« – sie zeigte auf einen Mann mit rasierten Schläfen, der an einem Baum in Ufernähe stand; er trug weite Hosen und unbegreiflicherweise einen abgenutzten braunen Mantel, der aussah, als stammte er aus den Zwei Flüssen –, »… hat mir erzählt, dass eine von Generalleutnant Khirgan angeführte Legion aus dem Lager der Seanchaner gekommen ist und dass General Bryne darum gebeten hatte.«

»Er sagen auch, dass sie der Prinz der Raben begleitet haben«, warf Domon ein.

»Mat?«

»Er haben mehr als sie nur begleitet. Er haben eines der Kavallerie-Banner angeführt, und zwar das, das die Sharaner an der linken Flanke unseres Heeres ordentlich verprügelte. Er traf gerade noch rechtzeitig ein, unsere Pikenmänner wurden schwer bedrängt, bevor er auftauchen.«

»Egwene«, sagte Gawyn und zeigte mit dem Finger.

Ein paar Hundert Schritte südlich unterhalb der Furt schleppte sich eine kleine Zahl Soldaten aus dem Fluss. Sie hatten sich bis auf ihre Unterkleidung ausgezogen und die Schwerter auf den Rücken geschnallt. Sie waren zu weit entfernt, um sicher sein zu können, aber einer ihrer Anführer sah vertraut aus.

»Ist das Uno?« Egwene runzelte die Stirn und winkte nach ihrem Pferd. Sie stieg auf und galoppierte begleitet von Gawyn und ihren Leibwächtern den Fluss entlang zu der Stelle, an der die Männer keuchend am Ufer lagen und die Flüche eines Mannes die Luft erfüllten.

»Uno!«

»Es ist auch verflucht noch mal Zeit, dass jemand auftaucht!« Uno stand auf und salutierte respektvoll. »Mutter, wir sind in einem schlechten Zustand!«

»Ich habe es gesehen.« Egwene knirschte mit den Zähnen. »Ich war auf dem Hügel, als man Eure Abteilung angriff. Wir taten, was wir konnten, aber es waren einfach zu viele. Wie seid ihr entkommen?«

»Wie wir da rausgekommen sind, Mutter? Als die Männer um uns herum einer nach dem anderen fielen und uns klar wurde, dass wir so gut wie tot sind, galoppierten wir verflucht da raus, als hätte uns ein verdammter Blitz in den stinkenden Hintern getroffen! Wir kamen an den dreckigen Fluss, rissen uns die Klamotten herunter und sprangen rein, schwammen so gut wir verdammt noch mal konnten, Mutter, bei allem nötigen Respekt!« Unos Haarknoten wackelte, als er weiterfluchte, und Egwene hätte schwören können, dass sich das auf seine Augenklappe aufgemalte Auge rot verfärbte.

Uno holte tief Luft und fuhr fort, dieses Mal aber etwas beherrschter. »Ich verstehe es einfach nicht, Mutter. Ein ziegenköpfiger Bote teilte uns mit, dass die Aes Sedai auf den Hügeln in Schwierigkeiten stecken und wir den dreckigen Trollocs, die sie angriffen, in den haarigen Rücken fallen müssten. Und wer kümmert sich um die linke Flanke am Fluss, frage ich, und was das angeht, unsere eigene lichtverfluchte Flanke, wenn wir die Tiermenschen angreifen, und er sagt, General Bryne habe sich darum gekümmert, Kavalleriereserven würden unsere Position am Fluss übernehmen und die Illianer würden unsere verdammte Flanke schützen. Und das war ein großartiger Schutz, eine miese Schwadron, als würde eine stinkende Fliege einen verdammten Falken abwehren wollen! Oh, die haben auf uns gewartet, als wüssten sie, dass wir kommen. Nein, Mutter, das kann nicht die Schuld von Gareth Bryne sein, wir müssen von einem Milch trinkenden, Schafe küssenden Verräter hereingelegt worden sein! Bei allem nötigen Respekt, Mutter!«

»Ich kann das nicht glauben, Uno. Soeben habe ich erfahren, dass der General eine Legion seanchanischer Kavallerie hergeholt hat. Vielleicht sind sie einfach nur zu spät eingetroffen. Das klären wir alles, wenn ich den General finde. Schafft Eure Männer zurück ins Lager, damit sie sich ausruhen können. Das Licht weiß, dass ihr euch das verdient habt.«

Uno nickte, und Egwene galoppierte zum Lager zurück.


Mit Voras Sa’angreal webte Egwene Luft und Wasser und verschmolz sie miteinander. Aus dem Fluss stieg ein wirbelnder Trichter aus Wasser in die Höhe. Sie lenkte ihn gegen die Trollocs, die auf der kandorischen Flussseite mit ihrem Angriff gegen die linke Flanke begannen. Der Wassersturm überflutete ihre Reihen. Er war nicht stark genug, um sie in die Luft zu schleudern – dazu fehlte Egwene die nötige Kraft –, aber es trieb sie zurück und ließ sie die Hände schützend vors Gesicht schlagen.

Hinter ihr und den anderen Aes Sedai, die auf der arafelischen Flussseite Aufstellung genommen hatten, schossen Bogenschützen Salven in die Luft. Sie verdunkelten nicht den Himmel, wie es Egwene gern gesehen hätte – so viele Männer waren es dann doch nicht –, aber sie erledigten jedes Mal mehr als hundert Trollocs.

An der Seite ließen Pylar und ein paar weitere Braune, die sich alle gut mit Erdgeweben auskannten, den Boden unter den anstürmenden Tiermenschen explodieren. Neben ihnen webten Myrelle und ein großes Kontingent grüne Feuerbälle, die sie über das Wasser in dicht beieinanderstehende Gruppen schleuderten. Viele der Ungeheuer rannten noch ein beträchtliches Stück weiter, bevor sie brennend zusammenbrachen.

Die Trollocs heulten und brüllten, stürmten aber weiterhin unermüdlich gegen die Verteidiger am Ufer an. Irgendwann verließen mehrere Reihen seanchanische Kavallerie die Verteidigungslinie und griffen den Trolloc-Sturm frontal an. Das geschah so schnell, dass viele der Bestien nicht einmal die Speere heben konnten, bevor die Reiter sie erreichten; ganze Schneisen gingen in den Frontreihen zu Boden. Die Seanchaner schwenkten zur Seite ab und kehrten zu ihren Linien am Fluss zurück.

Egwene lenkte die Macht weiter, zwang sich weit über jede Erschöpfung hinaus weiterzuarbeiten. Aber die Trollocs gaben nicht auf; sie gerieten in noch größeren Zorn und griffen die Menschen nur noch wilder an. Über dem Tosen von Wind und Wasser konnte Egwene deutlich ihr Gebrüll hören.

Die Trollocs gerieten also in Wut? Nun, sie würden gar nicht wissen, was Wut ist, bevor sie den Zorn des Amyrlin-Sitzes kennengelernt hatten. Egwene zog immer mehr von der Macht in sich, bis sie die Grenzen ihrer Fähigkeiten erreicht hatte. Sie erhitzte ihren Wasserstrom, damit das kochende Wasser die Augen, Hände und Herzen der Trollocs verbrannte. Sie schrie. Voras Sa’angreal war wie ein Speer ausgestreckt.

Stunden schienen zu vergehen. Schließlich erlaubte sie erschöpft, dass Gawyn sie für eine Weile zurückzog. Er holte ihr Pferd, und als er zurückkehrte, blickte Egwene über den Fluss.

Es gab nicht den geringsten Zweifel; die linke Flanke ihres Heeres war bereits weitere dreißig Schritte zurückgedrängt worden. Selbst mit Unterstützung der Aes Sedai verloren sie diese Schlacht.

Der Moment, mit Gareth Bryne zu sprechen, war lange überfällig.

Als Egwene und Gawyn das Lager erreichten, stieg sie vom Pferd und gab es an Leilwin weiter. Sie trug ihr auf, es für den Verwundetentransport zu benutzen. Es gab genügend Männer, die man über die Furt in Sicherheit hatte schleppen müssen, blutige Soldaten, die in den Armen von Freunden hingen.

Leider hatte sie nicht genug Kraft zum Heilen, geschweige denn für ein Wegetor, um die Verwundeten nach Tar Valon oder Mayene zu schicken. Die meisten der Aes Sedai, die nicht am Ufer kämpften, sahen nicht aus, als wären sie besser dran.

»Egwene«, sagte Gawyn leise. »Reiter. Seanchaner. Sieht nach einer Adligen aus.«

Eine Frau vom Blut? Egwene blickte quer durch das Lager in die Richtung, in die Gawyn zeigte. Wenigstens hatte er noch genügend Kraft, um alles im Blick zu behalten. Warum eine Frau freiwillig auf einen Behüter verzichten sollte, war ihr unverständlich.

Die sich nähernde Frau trug kostbare seanchanische Seide, und bei dem Anblick drehte sich Egwene der Magen um. Diese kostbare Kleidung gab es nur, weil alles auf einem Fundament versklavter Machtlenkerinnen ruhte, die vom Kristallthron zum Gehorsam gezwungen wurden. Die Frau gehörte mit Sicherheit dem Blut an, denn sie wurde von einer Abteilung Totenwächter begleitet. Man musste schon sehr wichtig sein, um …

»Beim Licht!«, rief Gawyn aus. »Ist das Min

Egwene starrte sie an. Sie war es tatsächlich.

Min zügelte ihr Pferd mit finsterer Miene. »Mutter«, sagte sie zu Egwene und neigte umgeben von ihren hartgesichtigen Wächtern in dunkler Rüstung den Kopf.

»Min … geht es … Euch gut?«, fragte Egwene. Sei auf der Hut, gib nicht zu viele Informationen preis. War Min eine Gefangene? Sicherlich konnte sie sich doch nicht freiwillig den Seanchanern angeschlossen haben, oder doch?

»Ach, mir geht es gut«, erwiderte Min mürrisch. »Man hat mich verhätschelt, in dieses Gewand gesteckt und mir alle möglichen Delikatessen angeboten. Ich sollte vielleicht hinzufügen, dass bei den Seanchanern Delikatessen nicht unbedingt schmackhaft sind. Du solltest sehen, was sie trinken, Egwene.«

»Ich habe es gesehen«, sagte Egwene und konnte die Kälte aus ihrer Stimme nicht heraushalten.

»Ach ja, richtig. Das hast du wohl. Wir haben ein Problem.«

»Was für ein Problem?«

»Nun, das kommt darauf an, wie sehr du Mat vertraust.«

»Ich vertraue darauf, dass er Ärger findet«, sagte Egwene. »Ich vertraue darauf, dass er, ganz egal, wo er auch ist, eine Würfelpartie und einen gefüllten Becher findet.«

»Würdest du darauf vertrauen, dass er ein Heer anführt?«

Egwene zögerte. Würde sie?

Min beugte sich vor und warf einen Blick auf die Totenwächter, die offensichtlich nicht zulassen würden, dass sie Egwene auch nur einen Zoll näher kam. »Egwene«, sagte sie leise. »Mat ist der Überzeugung, dass Bryne deine Armeen in den Untergang führt. Er sagt … er glaubt, dass Bryne ein Schattenfreund ist.«

Gawyn fing an zu lachen.

Egwene zuckte zusammen. Von ihm hätte sie eigentlich Zorn oder Empörung erwartet. »Gareth Bryne?«, fragte Gawyn. »Ein Schattenfreund? Da würde ich eher glauben, dass meine Mutter eine Schattenfreundin ist. Sag Cauthon, er soll die Finger vom kaiserlichen Branntwein seiner Frau lassen; offensichtlich hat er zu viel davon gehabt.«

»Ich bin geneigt, Gawyn zuzustimmen«, sagte Egwene langsam. Dennoch konnte sie die Unregelmäßigkeiten in der Führung des Heeres nicht ignorieren. Sie würde das durchdenken müssen.

»Mat passt immer auf Leute auf, auf die man nicht aufpassen muss«, sagte sie dann. »Er versucht lediglich, mich zu beschützen. Sag ihm, dass wir die Warnung … zu schätzen wissen.«

»Egwene«, sagte Min. »Er schien sich sicher zu sein. Das ist kein Scherz. Er will, dass du ihm deine Heere übergibst.«

»Meine Heere«, sagte Egwene tonlos.

»Ja.«

»In den Händen von Matrim Cauthon.«

»Äh … ja. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass die Kaiserin ihm den Befehl über sämtliche seanchanische Truppen übergeben hat. Er ist jetzt Generalmarschall Cauthon.«

Ta’veren. Egwene schüttelte den Kopf. »Mat ist ein guter Taktiker, aber ihm die Verbände der Weißen Burg zu übergeben … Nein, das ist einfach unmöglich. Davon abgesehen könnte ich ihm die Heere gar nicht überlassen – der Saal der Burg hat die Autorität darüber. Und nun, wie können wir diese Herren, die dich umgeben, davon überzeugen, dass du mich gefahrlos begleiten kannst?«

So ungern Egwene das auch zugab, sie brauchten die Seanchaner. Sie würde ihre Allianz nicht aufs Spiel setzen, um Min zu retten, vor allem, da es nicht den Anschein hatte, als befände sie sich in unmittelbarer Gefahr. Falls die Seanchaner allerdings entdecken sollten, dass Min ihnen damals in Falme den Treueid geleistet hatte und dann geflohen war …

»Mach dir um mich keine Sorgen.« Min schnitt eine Grimasse. »Ich schätze, ich bin bei Fortuona besser dran. Dank Mat hat sie von einem gewissen Talent meinerseits erfahren, und dadurch könnte ich ihr möglicherweise helfen. Und dir.«

Die Bemerkung war voller Andeutungen. Die Totenwächter waren zu stoisch, um ihr Missfallen zu zeigen, dass Min die Kaiserin beim Namen nannte, aber sie schienen steifer zu werden und ihre Mienen sich zu verhärten. Pass bloß auf, Min, dachte Egwene. Du steckst in einem Dornengebüsch.

Min schien das nicht zu kümmern. »Wirst du zumindest über Mats Worte nachdenken?«

»Dass Gareth Bryne ein Schattenfreund ist?«, sagte Egwene. Es war wirklich lächerlich. »Kehr um und sage Mat, er soll uns seine Vorschläge für die Schlachtordnung zukommen lassen, wenn er darauf besteht. Und jetzt muss ich meine Befehlshaber finden, um unsere nächsten Schritte zu planen.«

Gareth Bryne, wo steckst du?


Schwarze Pfeile erhoben sich beinahe unsichtbar in die Luft und fielen dann wie eine brechende Welle. Sie trafen Ituraldes Heer am Passeingang zum Tal von Thakan’dar und prallten von Schilden ab oder bohrten sich in Fleisch. Einer landete nur wenige Zoll entfernt von Ituraldes Standort auf einem Felsvorsprung.

Ituralde zuckte nicht zusammen. Aufrecht stand er da, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Aber er murrte: »Wir haben die Dinge etwas zu nahe herankommen lassen, was?«

Der Asha’man Binde, der an seiner Seite in der Nacht stand, verzog das Gesicht. »Tut mir leid, Lord Ituralde.« Es war seine Aufgabe, die Pfeile abzuwehren. Bis jetzt hatte er gute Arbeit geleistet. Aber manchmal trat ein gedankenverlorener Ausdruck auf sein Gesicht, und dann murmelte er etwas davon, dass »sie« versuchten, sich »seine Hände zu holen«.

»Aufmerksam bleiben«, mahnte Ituralde.

Sein Kopf dröhnte. Früher in dieser Nacht waren da wieder Träume gewesen, so schrecklich realistisch. Er hatte zugesehen, wie Trollocs seine Familienangehörigen lebendig fraßen, und er hatte sie nicht retten können. Er hatte gekämpft und geweint, als sie Tamsin und die Kinder verschlungen hatten, aber zugleich hatte ihn der Gestank des kochenden und brennenden Fleisches angezogen.

Am Ende des Traums hatte er sich den Ungeheuern bei ihrem Festmahl angeschlossen.

Denk nicht mehr dran, sagte er sich. Das fiel nicht leicht. Die Träume waren so lebendig gewesen. Der Trolloc-Angriff hatte ihn geweckt, worüber er froh war.

Er war bereit dafür gewesen. Seine Männer zündeten die Holzstöße an den Barrikaden an. Die Tiermenschen hatten schließlich seine Dornenhindernisse überwunden, dafür aber einen gewaltigen Blutzoll bezahlt. Jetzt kämpften seine Soldaten am Passeingang und hielten den Strom davon ab, ins Tal zu schwappen.

Sie hatten die Zeit gut genutzt, die das Schattengezücht gebraucht hatte, um sich seinen Weg durch die beschwerlichen Barrieren zum Passende zu bahnen. Jetzt war der Taleingang mit einer Reihe brusthoher irdener Bollwerke versperrt. Sie würden Armbrustmännern ausgezeichnete Deckung bieten, sollten die Pikenformationen je so weit zurückgedrängt werden.

Für den Augenblick hatte Ituralde sein Heer in Gruppen von jeweils ungefähr dreitausend Männern aufgeteilt und sie dann in rechteckige Formationen aus Piken, Hippen und Armbrüste organisiert. Er setzte berittene Armbrustmänner als Plänkler an der Front und den Flanken ein und hatte eine sechs Reihen tiefe Nachhut aus Pikenmännern gebildet. Mit großen Piken, zwanzig Fuß lang. Maradon hatte ihn gelehrt, dass man Trollocs auf Abstand halten sollte.

Piken funktionierten großartig. Ituraldes Pikenhaufen konnten sich drehen und in allen Richtungen kämpfen, sollten sie umzingelt werden. Die Blassen konnten die Bestien dazu zwingen, in Reihen zu kämpfen, aber richtig eingesetzt waren diese Pikenhaufen in der Lage, ihre Linien aufzubrechen. Und sobald diese Reihen zerschmettert waren, konnten die Aiel die Kreaturen nach Herzenslust töten.

Hinter den vorderen Reihen Pikenmänner positionierte er Fußsoldaten mit Hippen und Hellebarden. Manchmal bahnten sich Trollocs einen Weg an den Piken vorbei, drängten die Waffen zur Seite oder zogen sie durch die Last der Leichen nach unten. Dann traten die Hippenmänner vor – schoben sich an den Pikenträgern vorbei und schnitten den vordersten Trollocs die Beinsehnen durch. Das verschaffte den vorderen Fußsoldaten die Zeit, sich zurückzuziehen und neu zu formieren, während die nächste Soldatenreihe mit Piken gegen die Tiermenschen vorrückte.

Bis jetzt klappte es. Ein Dutzend solcher Formationen standen in der Nacht den Tiermenschen gegenüber. Sie kämpften defensiv und taten, was sie konnten, um den Strom der Angreifer zu brechen. Der Gegner warf sich auf sie und versuchte die Pikenhaufen aufzubrechen, aber jeder von ihnen operierte unabhängig von den anderen. Ituralde hatte nicht die Befürchtung, dass die Trollocs diesen Spießrutenlauf erfolgreich bewältigten, denn die Aiel würden sich um sie kümmern.

Ituralde musste die Hände hinter dem Rücken verschränkt halten, um ihr Zittern zu verbergen. Nach Maradon war nichts mehr so, wie es gewesen war. Er hatte viel gelernt, aber er hatte teuer für diesen Unterricht bezahlt.

Diese verfluchten Kopfschmerzen. Und diese verfluchten Trollocs.

Dreimal hatte er beinahe den Befehl gegeben, seine Männer zu einem direkten Angriff loszuschicken und die rechteckigen Formationen zu verlassen. Er konnte sich vorstellen, wie sie den Feind abschlachteten. Schluss mit dem Abwarten. Er wollte Blut sehen.

Jedes Mal hatte er sich davon abgehalten. Sie waren nicht hier, um Blut zu sehen, sondern um die Stellung zu halten. Diesem Mann die Zeit zu geben, die er in der Höhle brauchte. Allein darum ging es doch … oder nicht? Warum fiel es ihm in letzter Zeit nur so schwer, sich daran zu erinnern?

Wieder flog eine Pfeilsalve auf Ituraldes Männer zu. Die Blassen hatten Schützen auf den Hängen über dem Pass stationiert, an Stellen, die zuvor Ituraldes Bogenschützen besetzt hatten. Es war bestimmt nicht leicht gewesen, die Kreaturen dort hinaufzubekommen; die Passwände waren ausgesprochen steil. Wie viele waren wohl bei dem Versuch zu Tode gestürzt? Trollocs waren im Grunde keine guten Schützen, aber das brauchten sie auch nicht zu sein, wenn man auf Heere schoss.

Die Hellebardenmänner hoben Schilde. Im Kampf konnten sie sie nicht halten, aber sie trugen sie auf den Rücken geschnallt. Für den Fall, dass sie sie brauchten. Die Zahl der Geschosse nahm zu; sie flogen durch die leicht nebelige Nachtluft. Oben am Himmel grollte der Sturm, aber die Windsucherinnen gaben acht und hielten ihn fern. Sie behaupteten, dass das Heer schon mehrmals nur Atemzüge von einem vernichtenden Sturm der Zerstörung entfernt gewesen war. In einem Fall war Hagel von der Größe einer Männerfaust eine Minute lang gefallen, bevor sie wieder die Kontrolle über das Wetter errungen hatten.

Falls sie das erwartete, wenn die Windsucherinnen ihre Schale nicht benutzten, überließ Ituralde sie nur zu gern ihrer Aufgabe. Dem Dunklen König würde es egal sein, wie viele Trollocs er mit einem Wirbelsturm vernichtete, der die Menschen töten sollte, die sie bekämpften.

»Sie versammeln sich am Passeingang für den nächsten Vorstoß!«, brüllte jemand in die Nacht hinein, und andere Rufe bestätigten es. Ituralde spähte in den Nebel, das Licht der Feuer half ihm, etwas zu erkennen. In der Tat formierten sich die Ungeheuer neu.

»Zieht die Siebte und Neunte Infanteriekompanie zurück«, befahl Ituralde. »Sie sind zu lange im Feld. Holt die Vierte und Fünfte aus der Reserve und stellt sie an den Flanken auf. Bereitet mehr Pfeile vor. Und …« Stirnrunzelnd brach er ab. Was taten diese Trollocs da? Sie hatten sich weiter als erwartet in die Dunkelheit des Passes zurückgezogen. Sie konnten doch wohl nicht abrücken, oder?

Eine finstere Woge strömte aus dem Pass. Myrddraal. Aberhunderte von ihnen. Schwarze Umhänge, die sich nicht bewegten, obwohl der Wind wehte. Augenlose Gesichter. Hämisch grinsende Lippen, schwarze Schwerter. Die Halbmenschen bewegten sich geschmeidig wie Aale.

Sie ließen keine Zeit für Befehle, keine Zeit für eine Reaktion. Sie schlängelten sich in die Formationen der Verteidiger, wanden sich an den Piken vorbei und schlugen mit den tödlichen Klingen um sich.

»Aiel!«, brüllte Ituralde. »Bringt die Aiel! Sie alle, und Machtlenkerinnen! Alle bis auf die, die den Krater des Verderbens bewachen! Bewegt euch, los, los!«

Boten rannten los. Ituralde sah entsetzt zu. Eine Armee von Myrddraal. Beim Licht, das war genauso schlimm wie in seinem Albtraum!

Die Siebte Infanterie brach durch die Wucht des Angriffs zusammen, das Rechteck zerbrach. Ituralde öffnete den Mund, um den Befehl zu geben, dass die Hauptreserve – die seine Stellung verteidigte – zur Unterstützung ausrückte. Die Kavallerie musste losreiten und den Druck von der Infanterie nehmen.

Ihm stand nicht viel Kavallerie zur Verfügung; die meisten Reiter wurden an den anderen Fronten gebraucht, und dagegen hatte er auch nichts einzuwenden gehabt. Aber ein paar hatte er. Sie wurden jetzt dringend gebraucht.

Andererseits …

Er kniff die Augen zusammen. Beim Licht, er war so erschöpft. Das Denken fiel ihm schwer.

Zieh dich vor dem Angriff zurück, schien ihm eine Stimme zuzuraunen. Zieh dich zu den Aiel zurück, dann versammle dort alle und kämpfe.

»Zurückziehen …«, flüsterte er. »Zurückziehen …«

Etwas daran erschien falsch, sogar ausgesprochen falsch. Warum bestand sein Verstand darauf?

Hauptmann Tihera, wollte er flüstern. Ihr habt den Befehl. Die Worte wollten nicht über seine Lippen kommen. Etwas beinahe schon Körperliches schien ihm den Mund zuzuhalten.

Männer schrien. Was geschah dort? Dutzende Männer konnten im Kampf gegen einen einzigen Myrddraal sterben. In Maradon hatte er eine ganze Bogenschützenkompanie – einhundert Männer – an zwei Blasse verloren, die sich in der Nacht in die Stadt geschlichen hatten. Seine Verteidigungskompanien waren auf Trollocs eingestellt, sie sollten sie mit durchschnittenen Sehnen zu Boden werfen und dann töten.

Die Blassen würden die Pikenformationen wie ein Ei aufschlagen. Niemand tat, was getan werden musste.

»Mein Lord Ituralde?«, sagte Hauptmann Tihera. »Mein Lord, was habt Ihr gesagt?«

Wenn sie sich zurückzogen, würden die Trollocs sie einkreisen. Sie mussten standhalten.

Ituraldes Lippen öffneten sich, um den Befehl zum Rückzug zu geben. »Zieht die …«

Wölfe.

Wölfe erschienen wie Schatten im Nebel. Knurrend sprangen sie die Myrddraal an. Ituralde zuckte zusammen und fuhr auf dem Absatz herum, als ein in Felle gekleideter Mann sich nach oben auf den Felsvorsprung zog.

Tihera stolperte zurück und rief nach ihren Leibwächtern. Der Fremde in Fellen stürzte sich auf Ituralde und riss ihn vom Felsen.

Ituralde wehrte sich nicht. Wer auch immer dieser Mann war, Ituralde war ihm dankbar und verspürte einen Augenblick des Triumphs, während er stürzte. Den Befehl zum Rückzug hatte er nicht erteilt.

Nicht viel tiefer landete er auf dem Boden, und es trieb ihm die Luft aus den Lungen. Wölfe schnappten sanft nach seinen Armen und zerrten ihn in die Dunkelheit, während sein Bewusstsein langsam schwand.


Egwene saß im Lager, während die Schlacht um die Grenze von Kandor weiterging.

Ihr Heer wehrte die Trollocs ab.

Die Seanchaner kämpften direkt jenseits des Flusses an der Seite ihrer Truppen.

Egwene hielt eine kleine Tasse Tee in Händen.

Beim Licht, es war einfach zum Aus-der-Haut-Fahren. Sie war die Amyrlin. Aber sie hatte sich völlig verausgabt.

Gareth Bryne hatte sie noch immer nicht gefunden, aber das kam nicht unerwartet. Er war ständig unterwegs. Silviana machte Jagd auf ihn und würde sich bald melden.

Man hatte nach Aes Sedai geschickt, um die Verletzten nach Mayene zu bringen. Die Sonne stand niedrig am Himmel, wie ein Augenlid, das einfach nicht geöffnet bleiben wollte. Egwenes Hände mit der Tasse zitterten. Sie konnte die Schlacht noch immer hören. Anscheinend würden die Trollocs bis in die Nacht hinein kämpfen und die Soldaten gegen den Fluss drängen.

In der Ferne ertönten Rufe wie das Gebrüll einer wütenden Menge, aber die von den Machtlenkern erzeugten Explosionen waren weniger geworden.

Sie schaute Gawyn an. Er erschien überhaupt nicht müde, auch wenn er auf eine seltsame Weise blass war. Egwene trank kleine Schlucke von ihrem Tee und verfluchte Gawyn stumm. Das war ungerecht, aber im Augenblick war ihr das egal. Sie konnte sich über ihren Behüter ärgern. Dazu waren sie ja schließlich da, nicht wahr?

Ein Windstoß fuhr durch das Lager. Sie befand sich ein paar Hundert Schritte östlich von der Furt, aber sie konnte das Blut in der Luft riechen. In der Nähe spannte eine Abteilung Bogenschützen nach dem Befehl ihres Kommandanten die Bögen und schoss eine Salve ab. Augenblicke später trudelten zwei Draghkar mit schwarzen Schwingen zu Boden und schlugen direkt hinter der Lagergrenze mit einem dumpfen Laut auf. Es würden noch weitere kommen, denn es wurde dunkel, und zu dieser Zeit waren sie nicht mehr so einfach am Himmel auszumachen.

Mat. Der Gedanke an ihn bereitete ihr auf eine seltsame Weise Unbehagen. Er war so ein Aufschneider. Ein Säufer, der jede Frau lüstern anstarrte, die ihm über den Weg lief. Er behandelte sie wie ein Gemälde und nicht wie jemanden aus Fleisch und Blut. Er … er …

Er war eben Mat. Einmal – sie musste da so ungefähr dreizehn Jahre alt gewesen sein – war er einfach in den Fluss gesprungen, um Liem Lewin vor dem Ertrinken zu retten. Dabei war sie natürlich gar nicht in Gefahr gewesen, zu ertrinken. Eine Freundin hatte sie lediglich untergetaucht, und Mat war angerannt gekommen und hatte sich ins Wasser gestürzt, um zu helfen. Damit hatten ihn die Männer von Emondsfelde noch Monate später aufgezogen.

Im nächsten Frühling hatte Mat Jer al’Hune aus demselben Fluss gezogen und dem Jungen damit das Leben gerettet. Danach hatten die Leute eine Weile damit aufgehört, sich über ihn lustig zu machen.

So war Mat eben. Den ganzen Winter über hatte er sich darüber beklagt, dass man sich über ihn lustig machte und dass er sie beim nächsten Mal eben ertrinken lassen würde. Und in dem Augenblick, in dem er jemanden in Gefahr entdeckte, hatte er sich ohne zu zögern ins Wasser gestürzt. Egwene konnte sich noch genau daran erinnern, wie der schlaksige Mat aus dem Fluss gestolpert kam und sich der kleine Jer hustend und mit einem Ausdruck völligen Entsetzens in den Augen an ihm festklammerte.

Jer war untergegangen, ohne dabei den geringsten Laut zu machen. Egwene war bis dahin gar nicht klar gewesen, dass so etwas überhaupt möglich war. Dass Leute, die ertranken, gar nicht brüllten oder Wasser spuckten oder um Hilfe riefen. Sie glitten einfach unter die Wasseroberfläche, während alles andere friedlich erschien. Solange Mat nicht in der Nähe war und zusah.

Er ist für mich in den Stein von Tear geklettert, dachte sie. Natürlich hatte er auch versucht, sie vor den Aes Sedai zu retten, weil er einfach nicht hatte glauben wollen, dass sie die Amyrlin war.

Also was traf hier zu? Ertrank sie oder nicht?

Wie sehr vertraust du Matrim Cauthon?, hatte Min gefragt. Licht. Ich vertraue ihm. Sosehr mich das auch zu einer Närrin macht, aber das tue ich wirklich. Mat konnte sich irren. Er irrte sich häufig.

Aber wenn er recht hatte, rettete er Leben.

Egwene zwang sich auf die Beine. Sie schwankte, und Gawyn war sofort an ihrer Seite. Sie tätschelte ihm den Arm, dann löste sie sich von ihm. Sie würde ihr Heer seine Amyrlin nicht so schwach sehen lassen, dass sie sich auf jemanden stützen musste. »Welche Berichte haben wir von den anderen Kriegsschauplätzen?«

»Heute ist nicht viel hereingekommen«, sagte Gawyn. Er runzelte die Stirn. »Tatsächlich ist es ausgesprochen still gewesen.«

»Elayne sollte vor Cairhien kämpfen«, meinte Egwene. »Es war eine wichtige Schlacht.«

»Sie könnte zu beschäftigt sein, um uns zu unterrichten.«

»Ich will, dass du einen Boten durch ein Wegetor schickst. Ich muss wissen, wie es um ihren Kampf steht.«

Gawyn nickte und eilte los. Nachdem er weg war, ging Egwene ruhigen Schrittes durch das Lager, bis sie Silviana gefunden hatte, die gerade mit zwei Blauen Schwestern sprach.

»Bryne?«, fragte sie.

»Im Verpflegungszelt«, erwiderte Silviana. »Ich habe es eben erfahren. Ich habe einen Läufer losgeschickt, der ihm ausrichtet, dass er bis zu Eurer Ankunft dort warten soll.«

»Kommt.«

Sie begab sich zu dem Zelt, bei Weitem das größte im Lager, und entdeckte ihn beim Eintreten sofort. Er aß nicht, sondern stand am Reisetisch des Kochs, wo er seine Karten ausgebreitet hatte. Die Tischplatte stank nach Zwiebeln, die dort vermutlich unzählige Male geschnitten worden waren. Yukiri hatte ein Wegetor im Boden geöffnet, durch das man auf das Schlachtfeld blicken konnte. Als Egwene eintraf, schloss sie es gerade wieder. Sie öffneten sie nicht lange, nicht solange die Sharaner danach Ausschau hielten und Gewebe vorbereiteten, die sie durch die Öffnung schleudern konnten.

Egwene neigte den Kopf zu Silviana. »Holt den Saal der Burg zusammen«, flüsterte sie. »Bringt alle Sitzenden, die Ihr finden könnt. Schafft sie alle her, in dieses Zelt, und zwar so schnell Ihr könnt.«

Silviana nickte, und ihre Miene verriet keine Andeutung von der Verwirrung, die sie vermutlich empfand. Sie eilte los, und Egwene setzte sich.

Siuan war nicht anwesend – vermutlich half sie wieder beim Heilen. Das war gut. Egwene hätte das nicht gern versucht, während Siuan sie böse anstarrte. Tatsächlich machte sie sich auch Sorgen wegen Gawyn. Er liebte Bryne wie einen Vater, und seine Nervosität strömte bereits durch den Bund.

Sie würde das sehr vorsichtig angehen müssen, und sie wollte nicht damit anfangen, bevor der Saal eingetroffen war. Sie konnte Bryne unmöglich beschuldigen, aber sie konnte Mat auch nicht ignorieren. Er war ein Gauner und ein Narr, aber sie vertraute ihm. Das Licht stehe ihr bei, aber das tat sie. Sie hätte ihm ihr Leben anvertraut. Und auf dem Schlachtfeld war tatsächlich alles sehr seltsam gelaufen.

Es dauerte nicht lange, bis die ersten Sitzenden eintrafen. Sie hatten den Befehl über die Kriegsanstrengungen, und sie versammelten sich jeden Abend, um von Bryne und dessen Kommandanten die neuesten Berichte und taktischen Erklärungen zu bekommen. Bryne schien sich nichts dabei zu denken, dass sie jetzt zu ihm kamen; er arbeitete weiter.

Viele der Frauen warfen Egwene beim Eintreten neugierige Blicke zu. Sie nickte ihnen zu und versuchte die Würde des Amyrlin-Sitzes zu verbreiten.

Schließlich waren genug von ihnen da, dass sie entschied, endlich anzufangen. Sie verschwendete Zeit. Entweder musste sie Mats Beschuldigung für immer aus ihren Gedanken streichen, oder sie musste danach handeln.

»General Bryne«, sagte sie. »Geht es Euch gut? Wir hatten Schwierigkeiten, Euch zu finden.«

Er schaute auf und blinzelte. Seine Augen waren gerötet. »Mutter«, sagte er. Den Sitzenden nickte er zu. »Ich bin müde, aber vermutlich nicht mehr als Ihr auch. Ich war überall auf dem Schlachtfeld und kümmerte mich um alle möglichen Einzelheiten; Ihr wisst ja, wie das ist.«

Gawyn eilte herein. »Egwene«, sagte er blass. »Es gibt Ärger.«

»Was?«

»Ich …« Er holte tief Luft. »General Bashere hat sich gegen Elayne gewandt. Licht! Er ist ein Schattenfreund! Die Schlacht wäre verloren gegangen, wären die Asha’man nicht eingetroffen.«

Bryne schaute von seinen Karten auf. »Was soll das heißen? Bashere, ein Schattenfreund

»Ja.«

»Ausgeschlossen«, sagte Bryne. »Er war monatelang der Gefährte des Lord Drachen. Ich kenne ihn nicht gut, aber … ein Schattenfreund? Das kann unmöglich sein.«

»Es ist irgendwie unvorstellbar …«, sagte Saerin.

»Wenn Ihr wollt, könnt Ihr selbst mit der Königin sprechen«, erwiderte Gawyn mit hocherhobenem Haupt. »Ich hörte es aus ihrem eigenen Mund.«

Im Zelt breitete sich Stille aus. Besorgt sahen sich die Sitzenden an.

»General«, ergriff Egwene das Wort. »Warum habt Ihr zwei Kavallerieeinheiten losgeschickt, um uns auf dem Hügel südlich von hier vor den Trollocs zu beschützen, habt sie in eine Falle geschickt und die linke Flanke des Hauptheers entblößt gelassen?«

»Warum, Mutter?«, fragte Bryne. »Es war offensichtlich, dass man Eure Stellung jeden Augenblick überrennen würde, das konnte jeder sehen. Ja, ich zog sie von der linken Flanke ab, aber ich schickte die Reserven von Illian in diese Position. Als ich sah, wie sich diese sharanische Kavallerieeinheit löste, um Unos rechte Flanke anzugreifen, schickte ich die Illianer los, um sie abzufangen; das war genau die richtige Maßnahme. Ich wusste nicht, dass es so viele Sharaner sein würden!« Seine Lautstärke war ständig gestiegen, und am Ende brüllte er, aber er hielt inne. Seine Hände zitterten. »Ich habe einen Fehler begangen. Ich bin nicht perfekt, Mutter.«

»Das war aber mehr als ein Fehler«, sagte Faiselle. »Ich habe vorhin mit Uno und den anderen Überlebenden dieses Kavalleriemassakers gesprochen. Uno sagte, er hätte die Falle schon in dem Augenblick riechen können, in dem er und seine Männer zu den Schwestern losritten, aber Ihr hättet ihm Hilfe versprochen.«

»Ich sagte doch, ich schickte ihm Verstärkung. Ich rechnete nur nicht damit, dass die Sharaner eine so große Streitmacht in den Kampf werfen. Dennoch hatte ich alles unter Kontrolle. Ich hatte eine seanchanische Kavallerielegion herbefohlen, um unsere Truppen zu verstärken; sie sollten sich um diese Sharaner kümmern. Ich hatte sie auf die andere Flussseite befohlen. Ich habe nur nicht damit gerechnet, dass sie so spät eintreffen!«

»Ja«, sagte Egwene, und ihr Tonfall wurde härter. »Diese Männer, es waren Tausende, wurden zwischen Schattengezücht und Sharanern aufgerieben, ohne dass sie die geringste Chance zur Flucht hatten. Ihr habt sie verloren, und das ohne guten Grund.«

»Ich musste die Aes Sedai dort wegschaffen!«, erwiderte Bryne. »Sie sind unsere wertvollste Waffe. Entschuldigung, Mutter, aber das habt Ihr mir gesagt.«

»Die Aes Sedai hätten warten können«, sagte Egwene. »Ich war dabei. Ja, wir mussten dort weg – der Feind bedrängte uns –, aber wir hielten stand, und wir hätten auch noch länger standgehalten.

Ihr habt Tausende guter Männer sterben lassen, General Bryne. Und wisst Ihr, was das Schlimmste daran ist? Es war unnötig. Ihr habt diese vielen Seanchaner auf dieser Seite der Furt gelassen, sie sollten den Tag retten und warteten auf Euren Angriffsbefehl. Aber dieser Befehl kam nie, nicht wahr, General? Ihr habt sie im Stich gelassen, so wie Ihr unsere Kavallerie im Stich ließet.«

»Aber ich gab ihnen den Befehl zum Angriff; schließlich griffen sie auch an, oder nicht? Ich schickte einen Boten. Ich … ich …«

»Nein, wäre Mat Cauthon nicht gewesen, würden sie noch immer auf dieser Flussseite warten, General!« Egwene wandte sich von ihm ab.

Gawyn griff nach ihr. »Was sagst du denn da? Nur weil er …«

Bryne hob eine Hand an den Kopf. Dann sackte er in sich zusammen, als hätten ihn sämtliche Kräfte verlassen. »Ich weiß nicht, was nicht mit mir stimmt, Mutter«, flüsterte er. Er klang völlig leer. »Ständig mache ich Fehler, Mutter. Es sind die Art von Fehlern, die man wieder bereinigen kann, und ich sage mir das immer wieder. Dann begehe ich den nächsten Fehler, und es wird immer schwieriger, sie ungeschehen zu machen.«

»Ihr seid bloß erschöpft«, sagte Gawyn gequält. »Das sind wir doch alle.«

»Nein«, sagte Bryne leise. »Nein, es ist mehr als nur das. Ich war auch schon früher erschöpft. Das ist, als würden … plötzlich lassen mich meine Instinkte im Stich. Ich gebe die Befehle, und erst dann erkenne ich die Lücken, die Fährnisse. Ich …«

»Es ist Zwang«, sagte Egwene. Unvermittelt war ihr eiskalt. »Man hat Euch mit einem Zwang belegt. Sie greifen unsere Großen Hauptmänner an.«

Mehrere Frauen im Raum umarmten die Quelle.

»Aber wie sollte das möglich sein?«, protestierte Gawyn. »Ständig überwachen Schwestern das ganze Lager nach Anzeichen, dass jemand die Macht lenkt!«

»Ich weiß nicht, wie man es gemacht hat«, sagte Egwene. »Vielleicht ist es schon vor Monaten erfolgt, bevor die Schlacht begann.« Sie wandte sich den Sitzenden zu. »Ich schlage vor, dass der Saal Gareth Bryne von seinem Posten als Befehlshaber unseres Heeres entbindet. Es ist eure Entscheidung, Sitzende.«

»Beim Licht!«, sagte Yukiri. »Wir … beim Licht!«

»Es muss sein«, behauptete Doesine. »Es ist ein kluger Spielzug, unsere Truppen auf diese Weise zu vernichten, ohne dass wir die Falle erkennen. Wir hätten es erkennen müssen … Die Großen Hauptmänner hätten besser beschützt werden müssen.«

»Licht!« Faiselle schüttelte den Kopf. »Wir müssen Lord Mandragoran und Thakan’dar augenblicklich benachrichtigen! Das könnte auch sie betreffen – ein Versuch, unsere vier Fronten auf einmal in einem koordinierten Angriff zu zerschlagen.«

»Ich erledige das«, sagte Saerin und eilte zum Ausgang. »Und ich stimme der Mutter zu. Bryne muss abgelöst werden.«

Eine nach der anderen nickte. Es war keine formelle Abstimmung wie im Saal der Burg, aber es würde reichen. Gareth Bryne ließ sich neben dem Tisch auf einen Stuhl sacken. Der arme Mann. Zweifellos war er erschüttert und besorgt.

Dann lächelte er unerwartet.

»General?«, fragte Egwene.

»Vielen Dank«, sagte Bryne und sah entspannt aus.

»Wofür?«

»Ich fürchtete schon den Verstand zu verlieren, Mutter. Ich sah, was ich da anrichtete … ich ließ Tausende Männer sterben … aber das war nicht ich. Ich war es nicht.«

»Egwene«, sagte Gawyn. Er überspielte seinen Schmerz gut. »Die Armee. Wenn Bryne gezwungen wurde, uns ins Verderben zu führen, müssen wir sofort unsere Kommandostruktur ändern.«

»Holt meine Kommandanten«, sagte Bryne. »Ich übergebe ihnen die Befehlsgewalt.«

»Und wenn sie ebenfalls beeinflusst wurden?«, fragte Doesine.

»Dieser Meinung bin ich auch«, sagte Egwene. »Das riecht nach einer der Verlorenen, vielleicht Moghedien. Lord Bryne, solltet Ihr in diesem Kampf fallen, wüsste sie, dass Eure Kommandanten den Befehl übernehmen würden. Sie könnten die gleichen fehlerhaften Instinkte wie Ihr haben.«

Doesine schüttelte den Kopf. »Wem können wir vertrauen? Jeder, dem wir den Oberbefehl übergeben, jeder verdammte Mann oder Frau, könnte unter einem Zwang leiden.«

»Möglicherweise müssen wir selbst führen«, meinte Faiselle. »Sich einen Mann zu holen, der die Macht nicht lenken kann, wäre einfacher als jede Schwester, die das Machtlenken spürt und eine Frau mit dieser Fähigkeit bemerken würde. Es ist viel wahrscheinlicher, dass wir nicht betroffen sind.«

»Aber wer von uns kennt sich schon mit Schlachtfeldtaktik aus?«, fragte Ferane. »Ich halte mich für gebildet genug, um Pläne zu überwachen, aber sie zu schmieden?«

»Wir werden besser sein als jemand, der beeinflusst wurde«, sagte Faiselle.

»Nein.« Egwene zog sich an Gawyns Arm in die Höhe.

»Was dann?«, wollte er wissen.

Egwene biss die Zähne zusammen. Was dann? Sie kannte nur einen einzigen Mann, bei dem sie sich darauf verlassen konnte, dass er nicht mit einem Zwang belegt worden war, zumindest nicht von Moghedien. Ein Mann, der gegen die Gewebe aus Saidar und Saidin immun war. »Wir werden unsere Heere dem Befehl von Matrim Cauthon unterstellen müssen«, verkündete sie. »Das Licht stehe uns bei!«

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