Aviendha kämpfte auf dem Hang des Tals von Thakan’dar und wehrte sich gegen die Abschirmung aus Geist, die Graendal an Ort und Stelle rammen wollte. Das Gewebe, das an ein Stück Spitzenstoff erinnerte, sollte verhindern, dass sie die Eine Macht hielt. Ihre zerschmetterten Füße ließen sie nicht stehen. Von Schmerzen gepeinigt, war sie kaum zu einer Bewegung fähig.
Sie konnte es gerade noch abwehren.
Die Verlorene lehnte sich gegen die Felswand, murmelte etwas vor sich hin; das tat sie jetzt schon eine Weile. Aus ihrer Seite quoll hellrotes Blut. Im Tal unter ihnen tobte die Schlacht. Ein silbrig weißer Nebel wogte über die Toten und einige Lebende.
Aviendha versuchte, auf ihr Wegetor zuzukriechen. Das stand noch immer geöffnet; auf der anderen Seite erblickte sie den Talboden. Etwas musste Cadsuane und die anderen weggeholt haben – entweder das, oder sie hatte das Tor an der falschen Stelle geöffnet.
Wieder hüllte Saidars Glühen Graendal ein. Neue Gewebe. Aviendha zerstörte sie, aber es hinderte sie daran, weiter auf das Tor zuzukriechen.
Graendal stöhnte, dann richtete sie sich auf. Sie stolperte in Aviendhas Richtung, obwohl sie durch die Verletzung benommen war.
Aviendha konnte kaum etwas zu ihrer Verteidigung tun, so sehr schwächte sie der Blutverlust. Sie war hilflos.
Es sei denn …
Das Gewebe ihres Tores, das sie verknotet hatte. Es hing noch immer da, hielt das Portal geöffnet. Spitzenschleifen.
Ganz vorsichtig und zögernd, aber von Verzweiflung getrieben, griff Aviendha mit den Gedanken zu und zupfte einen der Fäden im Wegetor heraus. Sie schaffte es. Sein Strom der Macht erbebte und verschwand.
Aiel taten so etwas, Aes Sedai hielten es für ungeheuer gefährlich. Das Resultat konnte unberechenbar sein. Eine Explosion, ein kleiner Funkenregen … Unter Umständen dämpfte sie sich selbst. Vielleicht geschah aber auch gar nichts. Elayne hatte bei ihrem Versuch eine verheerende Explosion ausgelöst.
Das würde sie nicht stören. Falls sie damit eine der Verlorenen zur Strecke brachte, würde es ein wunderbarer Tod sein.
Sie musste es versuchen.
Graendal blieb vor Aviendha stehen und murmelte etwas mit geschlossenen Augen. Dann öffnete sie sie und webte erneut. Zwang.
Aviendha arbeitete energischer, zog zwei, drei, ein halbes Dutzend Fäden aus dem Wegetor. Fast geschafft …
»Was tust du da?«, wollte Graendal wissen.
Aviendha arbeitete noch schneller, und in ihrer Hast erwischte sie den falschen Faden. Erstarrt verfolgte sie, wie ein Strom aus Macht erbebte und die anderen Fäden in seiner Umgebung auflöste.
Graendal zischte und setzte an, Aviendha mit dem Zwang zu belegen.
Das Tor explodierte mit einem grellen Blitz aus Licht und Hitze.
Shaisam nahm vom Schlachtfeld Besitz, sein Nebel drängte sich durch Wölfe und Männer, die glaubten, ihm den Weg zu al’Thor versperren zu können.
Ja, al’Thor. Den, den er töten, vernichten, verschlingen würde. Ja, al’Thor!
An der Grenze seiner Sinne bebte etwas. Shaisam zögerte, zog in Gedanken die Stirn kraus. Was stimmte hier nicht? Ein Stück von ihm … ein Stück von ihm hatte zu fühlen aufgehört.
Was war das? Er ließ seinen Körper durch den Nebel rennen. Seine Finger bluteten, zerschnitten von dem Dolch, den er trug, diesen wundervollen Samen, das letzte Stück seines alten Selbst.
Er kam zu einer Leiche, die sein Nebel getötet hatte. Shaisam runzelte die Stirn, beugte sich vor. Der Mann sah bekannt aus.
Die Hand der Leiche schoss in die Höhe und packte Shaisam bei der Kehle. Er keuchte, versuchte sich zu befreien, als der Tote die Augen öffnete.
»Merkwürdige Sache, die ich mal über Krankheiten gehört habe, Fain«, flüsterte Matrim Cauthon. »Fängt man sich eine schwere Krankheit ein und überlebt, kann man sie nicht noch einmal bekommen.«
Shaisam wand sich voller Panik. Nein. Nein, so sollte ein Wiedersehen mit einem alten Freund nicht ablaufen! Er krallte nach der Hand, die ihn hielt, dann durchzuckte ihn ein Stich des Entsetzens, als ihm bewusst wurde, dass er den Dolch fallen gelassen hatte.
Cauthon zog ihn nach unten, schleuderte ihn zu Boden. Shaisam rief nach seinen Drohnen. Zu spät! Zu langsam!
»Ich bin gekommen, um dir dein Geschenk zurückzugeben, Mordeth«, flüsterte Cauthon. »Ich betrachte unsere Schuld als beglichen.«
Cauthon rammte ihm den Dolch zwischen die Rippen, direkt in Shaisams Herz. Gefesselt an diese erbärmliche sterbliche Gestalt, schrie Mordeth auf. Padan Fain heulte auf und erlebte, wie sein Fleisch von den Knochen schmolz. Der Nebel erzitterte, wirbelte wild durcheinander.
Sie starben zusammen.
Perrin versetzte sich in den Wolfstraum und spürte Gaul am Blutgeruch auf. Er hatte sich gesträubt, Mat mit Mashadar zurückzulassen, aber nach dem Blick, den sein Freund ihm zugeworfen hatte, nachdem er auf dem Boden gelandet war, war er zuversichtlich, dass er den Nebel überleben konnte und wusste, was er da tat.
Gaul hatte sich gut versteckt, hatte sich wenige Schritte außerhalb des Kraters des Verderbens in eine Felsspalte gedrängt. Er trug noch immer einen Speer und hatte seine Kleidung dunkel genug gemacht, damit sie zu den Felsen um ihn herum passte.
Als Perrin ihn fand, war er am Einnicken. Gaul war nicht nur verletzt, er war viel zu lang im Wolfstraum. Wenn schon Perrin eine quälende Erschöpfung verspürte, musste es für Gaul viel schlimmer sein.
»Komm, Gaul«, sagte Perrin und half ihm aus dem Felsen.
Der Aiel sah benommen aus. »An mir ist niemand vorbeigekommen«, murmelte er. »Ich habe aufgepasst, Perrin Aybara. Der Car’a’carn ist sicher.«
»Das hast du gut gemacht, mein Freund«, erwiderte Perrin. »Besser, als jeder hätte erwarten können. Du hast viel Ehre errungen.«
Gaul lächelte, als er sich an Perrins Schulter lehnte. »Ich sorgte mich … als die Wölfe verschwanden, sorgte ich mich.«
»Sie kämpfen in der wachen Welt weiter.« Perrin hatte ein tiefes Bedürfnis zur Rückkehr verspürt. Gaul zu finden war ein Teil davon gewesen, aber da war noch etwas anderes, ein Drang, den er nicht erklären konnte.
»Halt dich fest«, sagte er und legte Gaul den Arm um die Hüfte. Er versetzte sie zum Feld von Merrilor und dann aus dem Wolfstraum mitten ins Lager der Zwei Flüsse.
Blicke richteten sich auf Perrin, Rufe ertönten. »Licht, Perrin!«, sagte ein Mann in der Nähe. Grady eilte herbei, tiefe Tränensäcke unter den Augen. »Ich hätte Euch beinahe zu Asche verbrannt, Lord Goldauge. Wie seid Ihr auf diese Weise erschienen?«
Perrin schüttelte den Kopf, dann setzte er Gaul ab. Grady betrachtete die Wunde in der Seite des Aiel, dann rief er nach einer Aes Sedai, um sie zu Heilen. Um sie herum herrschte großes Gedränge – einige der Männer riefen, dass Lord Goldauge zurückgekehrt sei.
Faile. Faile war hier in Merrilor mit dem Horn gewesen.
Ich muss sie finden.
Rand war allein, ungeschützt im Wolfstraum.
Verflucht, das spielt keine Rolle!, dachte er. Wenn ich Faile verliere …
Falls Rand starb, würde er Faile verlieren. Und alles andere. Dort draußen schlichen noch immer Verlorene herum. Perrin schwankte. Er musste nach ihr suchen, oder nicht? War das nicht seine Pflicht als Ehemann? Konnte jemand anders auf Rand aufpassen?
Aber … wenn nicht er, wer dann?
Obwohl es ihn innerlich zerriss, trat Perrin ein letztes Mal in den Wolfstraum.
Moridin schnappte sich Callandor vom Boden. Grell blitzte die Eine Macht in der Klinge auf.
Rand taumelte zurück, drückte die schmerzende Hand an die Brust. Moridin lachte und streckte die Waffe in die Höhe. »Du gehörst mir, Lews Therin. Endlich gehörst du mir! Ich …« Er verstummte, dann richtete er den Blick auf das Schwert, vielleicht vor Ehrfurcht. »Es kann die Wahre Macht verstärken. Ein Sa’angreal für die Wahre Macht? Wie? Warum?« Er lachte noch lauter.
Um sie herum wogte ein Mahlstrom.
»Hier die Wahre Macht zu lenken bedeutet den Tod, Elan!«, brüllte Rand. »Es wird dich zu Asche verbrennen!«
»Es ist das Vergessen!«, rief Moridin. »Meine Befreiung, Lews Therin. Dich nehme ich mit.«
Das Glühen des Schwertes verfärbte sich zu einem wilden Scharlachrot. Rand konnte die von Moridin ausgehende Stärke fühlen, als er die Wahre Macht in sich zog.
Das war der gefährlichste Teil des Plans. Min hatte es herausgefunden. Callandor wies so viele Mängel auf, so unglaubliche Fehler. Auf eine Weise erschaffen, dass ein Mann, der es gefahrlos benutzen wollte, dazu Frauen brauchte, die ihn kontrollierten, so erschaffen, dass, wenn Rand es benutzte, andere die Kontrolle über ihn erringen konnten …
Warum sollte Rand eine Waffe mit solchen Fehlern brauchen? Warum beharrten die Prophezeiungen nur so darauf? Ein Sa’angreal für die Wahre Macht. Warum sollte er jemals ein derartiges Ding brauchen?
Die Antwort war so einfach.
»Jetzt!«, schrie Rand.
Nynaeve und Moiraine lenkten zusammen die Macht, nutzten den Fehler in Callandor aus, als Moridin es gegen Rand einsetzen wollte. Wind peitschte durch den Tunnel. Der Boden erbebte, und Moridin schrie auf.
Sie zwangen ihn unter ihre Kontrolle. Callandor war fehlerhaft. Jeder Mann, der es benutzte, konnte gezwungen werden, sich mit Frauen zu verknüpfen, ihrer Kontrolle unterworfen werden. Eine Falle … die er bei Moridin anwandte.
»Eine Verknüpfung!«, befahl Rand.
Sie fütterten ihn damit. Mit Macht.
Saidar von den Frauen.
Die Wahre Macht von Moridin.
Saidin von Rand.
Moridins Lenken der Wahren Macht an diesem Ort drohte sie alle zu vernichten, aber sie benutzten Saidin und Saidar als Puffer, dann richteten sie alle drei Mächte auf den Dunklen König.
Rand schlug in das schwarze Nichts hinein und erschuf einen Kanal aus Licht und Dunkelheit, richtete die Essenz des Dunklen Königs gegen ihn selbst.
Er fühlte seinen Gegner auf der anderen Seite, sein Ausmaß. Raum, Größe, Zeit … Rand verstand, warum diese Dinge nun irrelevant sein konnten.
Drei Mächte strömten durch seinen Körper, während Blut über seine Seite floss. Mit einem Aufschrei hob der Wiedergeborene Drache eine Hand aus Macht und packte den Dunklen König durch die Bohrung – wie ein Mann, der ins Wasser langte, um den Schatz vom Grund des Flusses zu holen.
Der Dunkle König versuchte zurückzuweichen, aber Rands Griff trug einen Überzug aus der Wahren Macht. Der Feind konnte Saidin nicht wieder verderben. Der Dunkle König wollte Moridin die Wahre Macht nehmen, aber im Kanal floss es zu ungestüm, zu gewaltig, um ihn jetzt schließen zu können. Das schaffte nicht einmal Shai’tan.
Und so benutzte Rand die Essenz des Dunklen Königs, lenkte sie in ihrer vollen Stärke. Er hielt den Dunklen König fest umklammert, wie eine Taube im Griff eines Falken.
Und Licht explodierte aus ihm.