3 Ein gefährlicher Ort

Lord Logain und Taim haben ihre Differenzen beigelegt«, sagte Welyn. Sie befanden sich im Gemeinschaftsraum der Großen Versammlung. Welyn trug Glöckchen in seinen schwarzen Zöpfen, und er lächelte breit. Er hatte schon immer zu viel gelächelt. »Beide waren wegen der Zwietracht besorgt, die sich unter uns verbreitete, und sie kamen zu dem Schluss, dass das der Moral schadet. Wir müssen uns auf die Letzte Schlacht konzentrieren. Jetzt ist nicht die Zeit für kleinliches Gezänk.«

Androl stand direkt neben der Tür, Pevara an seiner Seite. Es war überraschend, wie schnell sich dieses Gebäude, einst ein Lagerhaus, in eine Schenke verwandelt hatte. Lind hatte ihre Arbeit gut gemacht. Da waren ein vernünftiger Tresen und Hocker, und auch wenn die Tische und Stühle im Raum noch nicht zueinander passten, bot der Ort Platz für Dutzende. Lind besaß auch eine Bibliothek mit einer beträchtlichen Zahl Bücher, aber sie war sehr eigen, wem sie die Benutzung erlaubte. Im ersten Stock plante sie private Esszimmer und Schlafräume für Besucher der Schwarzen Burg. Vorausgesetzt, Taim ließ je wieder Besucher herein.

Der Raum war ziemlich voll, und die Menge schloss eine große Zahl frischer Rekruten ein, Männer, die sich noch für keine Seite des stetig ernster werdenden Disputs entschieden hatten – weder für Taim und seine Leute noch für diejenigen, die Logain loyal zur Seite standen.

Androl lauschte Welyns Worten und fröstelte. Welyns Aes Sedai Jenare saß neben ihm und hatte die Hand voller Zuneigung auf seinem Arm ruhen. Androl kannte sie nicht gut, aber er kannte Welyn. Und dieses Ding mit Welyns Gesicht und Stimme war nicht derselbe Mann.

»Wir haben uns mit dem Lord Drachen getroffen«, fuhr Welyn fort. »Haben uns in den Grenzlanden umgesehen und sie auf den Angriff der Menschheit auf den Schatten vorbereitet. Er hat die Heere sämtlicher Nationen zu seinem Banner gerufen. Es gibt niemanden, der ihn nicht unterstützt, natürlich ausgenommen die Seanchaner – aber sie sind zurückgetrieben worden.

Der Augenblick ist gekommen, und bald wird man uns rufen, damit wir zuschlagen. Wir müssen uns ein letztes Mal auf unsere Fertigkeiten besinnen. In den nächsten beiden Wochen werden Schwert und Drache großzügig verliehen. Arbeitet hart, und wir werden die Waffen sein, die den Würgegriff des Dunklen Königs um dieses Land sprengen.«

»Ihr habt angekündigt, dass Logain kommt«, rief eine Stimme. »Warum ist er noch nicht zurück?«

Androl drehte sich um. Jonneth Dowtry stand in der Nähe von Welyns Tisch. Mit verschränkten Armen und Welyn finster anblickend, bot Jonneth einen einschüchternden Anblick. Der Mann von den Zwei Flüssen war oft sehr umgänglich, und man vergaß schnell, dass er einen Kopf größer als man selbst war und die Arme eines Bären hatte. Er trug den schwarzen Mantel der Asha’man, hatte allerdings keine Anstecknadeln an dem hohen Kragen – und das trotz der Tatsache, dass er genauso stark in der Einen Macht wie jeder andere Geweihte war.

»Warum ist er nicht hier?«, wollte Jonneth wissen. »Ihr sagtet, Ihr wärt mit ihm zurückgekommen, dass er und Taim miteinander gesprochen hätten. Nun, wo ist er?«

Bedränge ihn nicht, Junge, dachte Androl. Lass ihn glauben, dass wir seine Lügen geschluckt haben.

»Er hat den M’Hael zu einem Besuch beim Lord Drachen mitgenommen«, sagte Welyn. »Beide müssten morgen zurück sein, spätestens übermorgen.«

»Warum brauchte Taim Logain, um ihm den Weg zu zeigen?«, sagte Jonneth stur. »Er hätte auch allein gehen können.«

»Der Junge ist ein Narr«, zischte Pevara.

»Er ist ehrlich«, erwiderte Androl leise, »und er will ehrliche Antworten.« Diese Jungs aus den Zwei Flüssen waren ein braver Haufen – geradeheraus und loyal. Aber sie waren nicht besonders in Ränken bewandert.

Pevara schwieg, aber Androl konnte fühlen, dass sie darüber nachdachte, die Macht zu lenken und Jonneth mit einem Strang Luft zum Schweigen zu bringen. Sie erwog es nicht ernsthaft, es war einfach nur so ein Gedanke, aber Androl konnte es fühlen. Beim Licht! Was hatten sie sich nur angetan?

Sie ist in meinem Kopf, dachte er. In meinem Kopf ist eine Aes Sedai.

Pevara erstarrte, dann sah sie ihn an.

Androl suchte das Nichts, diesen alten Soldatentrick, um vor einer Schlacht Klarheit zu erlangen. Natürlich war da auch Saidin. Er griff nicht danach.

»Was habt Ihr getan?«, flüsterte Pevara. »Ich kann Euch fühlen, aber Eure Gedanken zu ertasten ist schwerer.«

Nun, das war doch etwas.

»Jonneth«, rief Lind durch den Raum und unterbrach die nächste Frage des Jungen an Welyn. »Habt Ihr nicht gehört, wie weit der Mann gereist ist? Er ist erschöpft. Lasst ihn sein Ale trinken und sich eine Weile ausruhen, bevor Ihr ihm seine Geschichten entringt.«

Jonneth schaute in ihre Richtung und erschien verletzt. Welyn lächelte breit, als sich der Junge zurückzog und seinen Weg durch die Menge bahnte. Er fuhr damit fort, welche Fortschritte der Lord Drache doch machte und wie sehr jeder Einzelne von ihnen gebraucht werden würde.

Androl ließ das Nichts los und fühlte sich entspannter. Er blickte sich um und versuchte zu schätzen, auf wen er sich hier verlassen konnte. Viele dieser Männer mochte er, und viele standen auch nicht vollkommen auf Taims Seite, trotzdem konnte er ihnen nicht vertrauen. Taim hatte jetzt die völlige Kontrolle über die Burg, und sein Privatunterricht mit ihm und seinen Auserwählten war bei den Neuankömmlingen äußerst begehrt. Nur bei den Jungs von den Zwei Flüssen konnte man sich darauf verlassen, dass sie Androls Anliegen unterstützen würden – und abgesehen von Jonneth hatten die meisten von ihnen zu wenig Übung, um von Nutzen zu sein.

Auf der anderen Seite des Raums hatte sich Evin zu Nalaam gesellt, und Androl nickte ihm zu und bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, Jonneth hinaus in den Sturm zu folgen. Niemand sollte allein sein. Danach lauschte er Welyns Prahlereien und bemerkte, dass sich Lind einen Weg zu ihm suchte.

Lind Taglien war eine kleine dunkelhaarige Frau; ihr Kleid war mit wunderschönen Stickereien verziert. Sie war ihm immer wie ein Monument dessen erschienen, was die Schwarze Burg sein konnte. Zivilisiert. Gebildet. Wichtig.

Die Männer machten ihr Platz; sie hüteten sich, in ihrer Schenke Getränke zu verschütten oder Streit anzufangen. Kein kluger Mann wollte sich Linds Zorn aussetzen. Es war gut, dass sie die Zügel so straff hielt. In einer Stadt voller Machtlenker konnte ein schlichter Wirtshausstreit ausgesprochen schlimme Folgen haben.

»Beunruhigt Euch das so sehr, wie es mich beunruhigt?«, fragte Lind leise, als sie ihn erreicht hatte. »War nicht er es, der noch vor wenigen Wochen darüber sprach, dass man Taim für einige seiner Taten vor Gericht stellen und hinrichten sollte?«

Androl antwortete nicht. Was sollte er sagen? Dass er den Verdacht hegte, dass der Mann, den sie als Welyn gekannt hatten, tot war? Dass die ganze Schwarze Burg bald nur noch von diesen Ungeheuern mit den falschen Augen, dem falschen Lächeln und toten Seelen bevölkert sein würde?

»Ich glaube ihm nicht, was er über Logain sagte«, bemerkte Lind. »Hier geht etwas vor, Androl. Ich werde Frask bitten, ihm heute Nacht zu folgen, wollen wir doch einmal sehen, wo er …«

»Nein«, sagte Androl. »Nein. Macht das nicht.« Frask war ihr Mann, den man im Schwarzen Turm eingestellt hatte, um Henre Haslin beim Fechtunterricht zu unterstützen. Taim war der Ansicht, dass ein Asha’man kein Schwert brauchte, aber der Lord Drache hatte darauf bestanden, dass man den Männern den Schwertkampf beibrachte.

Sie kniff die Augen zusammen. »Ihr wollt doch nicht sagen, dass Ihr glaubt …«

»Lind, ich sage, dass wir im Augenblick in großer Gefahr schweben, und ich will nicht, dass Frask das noch schlimmer macht. Tut mir einen Gefallen. Merkt Euch, was Welyn heute noch zu sagen hat. Vielleicht nützt mir ja noch etwas davon.«

»Also gut«, sagte sie. Aber es klang skeptisch.

Androl nickte Nalaam und Canler zu, die aufstanden und zu ihm kamen. Regen prasselte auf das Dach und die Veranda. Welyn redete ununterbrochen weiter, und die Männer hörten zu. Ja, es war unglaublich, dass er seine Einstellung so schnell geändert hatte, und das würde einige mit Misstrauen erfüllen. Aber viele Leute respektierten ihn, und man musste ihn schon gut kennen, um zu bemerken, dass er sich nur um eine winzige Spur verändert hatte.

»Lind«, sagte Androl, als sie sich abwandte.

Sie schaute zu ihm zurück.

»Ihr … schließt den Laden später gut ab. Dann solltet Ihr und Frask mit ein paar Vorräten in den Keller gehen, ja? Habt ihr eine stabile Kellertür?«

»Ja«, sagte sie. »Was auch immer das nutzen wird.« Falls jemand mit der Einen Macht kam, spielte es nicht die geringste Rolle, wie stark eine Tür war.

Nalaam und Canler gesellten sich zu ihm, und Androl wollte gehen, rannte aber direkt in einen Mann, der hinter ihm in der Tür stand und dessen Eintreten er nicht bemerkt hatte. Regen tropfte von seinem Asha’man-Mantel mit Schwert und Drachen auf dem hohen Kragen. Atal Mishraile war von Anfang an Taims Mann gewesen. Ihm fehlte dieser leere Blick; er war von Natur aus bösartig. Er hatte langes blondes Haar und war von hohem Wuchs, und sein Lächeln schien niemals seine Augen zu erreichen.

Pevara zuckte zusammen, als sie ihn erblickte, und Nalaam fluchte und griff nach der Einen Macht.

»Aber, aber«, sagte eine Stimme. »Es gibt keinen Grund für Handgreiflichkeiten.« Mezar trat neben Mishraile aus dem Regen. Der kleine Domani hatte ergrauendes Haar und verbreitete eine Aura der Weisheit, die nicht von seiner Verwandlung beeinträchtigt wurde.

Androl sah Mezar in die Augen, und es war, als würde man in eine tiefe Höhle blicken. Ein Ort, der noch nie Licht kennengelernt hatte.

»Hallo, Androl«, sagte Mezar und legte Mishraile die Hand auf die Schulter, als wären die beiden schon seit einer Ewigkeit Freunde. »Warum sollte sich Frau Lind fürchten und in den Keller einschließen müssen? Sicherlich ist die Schwarze Burg einer der sichersten Orte der Welt.«

»Ich misstraue einer stürmischen dunklen Nacht«, sagte Androl.

»Vielleicht ist das klug«, erwiderte Mezar. »Und doch geht Ihr hinaus. Warum nicht hierbleiben, wo’s warm ist? Nalaam, ich würde gern eine Eurer Geschichten hören. Vielleicht könntet Ihr von der Reise erzählen, bei der Ihr und Euer Vater Shara besucht habt?«

»So gut ist diese Geschichte nicht«, sagte Nalaam. »Die meisten Einzelheiten habe ich ohnehin vergessen.«

Mezar lachte, und Androl hörte, wie Welyn hinter ihnen aufstand. »Ah, da seid Ihr ja! Ich habe den anderen schon gesagt, dass Ihr über die Verteidigung von Arafel sprechen werdet.«

»Hört besser zu«, sagte Mezar. »Das wird wichtig für die Letzte Schlacht.«

»Vielleicht kehre ich zurück«, erwiderte Androl mit kühler Stimme. »Sobald ich meine restliche Arbeit erledigt habe.«

Die beiden Männer starrten sich an. An der Seite hielt Nalaam noch immer die Eine Macht. Seine Stärke entsprach Mezars, aber er würde sich nicht ihm und Welyn stellen können – vor allen Dingen nicht in einem Raum voller Leute, die vermutlich die Partei der beiden vollwertigen Asha’man ergreifen würden.

»Verschwendet Eure Zeit doch nicht mit dem Pagen, Welyn«, sagte Coteren. Mishraile machte Platz für den dritten Neuankömmling. Der stämmige Mann mit den Knopfaugen legte eine Hand gegen Androls Brust und stieß ihn im Vorbeigehen zur Seite. »Halt, wartet. Ihr könnt den Pagen gar nicht mehr spielen, oder?«

Androl versenkte sich in das Nichts und ergriff die Quelle.

Sofort gerieten die Schatten im Raum in Bewegung. Wurden länger.

Hier gab es nicht genug Licht! Warum hatten sie nicht mehr Lampen? Die Dunkelheit lud nur diese Schatten ein, und er konnte sie sehen. Sie waren real, ein jeder ein Tentakel aus Finsternis, der nach ihm griff. Um ihn in sie hineinzuzerren und zu vernichten.

Beim Licht! Ich bin wahnsinnig. Ich bin wahnsinnig …

Das Nichts zerbrach, und die Schatten zogen sich gnädigerweise zurück. Er fand sich am ganzen Leib zitternd und keuchend an der Wand wieder. Pevara betrachtete ihn mit ausdrucksloser Miene, aber er konnte ihre Besorgnis fühlen.

»Ach, übrigens«, sagte Coteren. Er war einer von Taims einflussreichsten Speichelleckern. »Habt Ihr es schon gehört?«

»Was gehört?«, schaffte es Androl vorzustoßen.

»Ihr seid degradiert worden, Page«, sagte Coteren und deutete auf den Schwertanstecker. »Taims Befehl. Ab heute. Jetzt seid Ihr wieder Soldat, Androl.«

»O ja«, rief Welyn von der Raummitte. »Es tut mir leid, aber das vergaß ich zu erwähnen. Ich fürchte, das ist mit dem Lord Drachen abgeklärt worden. Ihr hättet niemals befördert werden dürfen, Androl. Tut mir leid.«

Androl griff zum Kragen, zu dem Anstecker. Er hätte ihm nichts bedeuten sollen; was bedeutete er schon?

Aber es spielte eine Rolle. Sein ganzes Leben hatte er mit einer Suche verbracht. Er hatte in einem Dutzend verschiedener Handwerke als Lehrling gearbeitet. Er hatte in Rebellionen gekämpft, war über zwei Meere gesegelt. Und hatte die ganze Zeit über gesucht, hatte nach etwas gesucht, das er selbst nicht benennen konnte.

Als er die Schwarze Burg betreten hatte, hatte er es gefunden.

Er verdrängte die Furcht. Verflucht sollten die Schatten sein! Erneut griff er nach Saidin, und die Macht flutete in ihn hinein. Er nahm Haltung an, erwiderte Coterens Blick.

Der größere Mann lächelte und ergriff ebenfalls die Eine Macht. Mezar folgte seinem Beispiel, und Welyn stand auf. Nalaam flüsterte besorgt mit sich selbst, und seine Blicke huschten hin und her. Canler griff mit resignierter Miene nach Saidin.

Was Androl halten konnte, floss in ihn hinein – so viel er von der Einen Macht ergreifen konnte. Verglichen mit den anderen war es eine lächerliche Menge. Er war der schwächste Mann im Raum; die jüngsten Rekruten konnten mehr bewältigen als er.

»Du willst es also versuchen?«, fragte Coteren leise. »Ich bat sie, dich in Ruhe zu lassen, weil ich wusste, dass du es irgendwann versuchst. Ich wollte die Befriedigung, Page. Komm schon. Schlag zu. Mach es.«

Androl griff aus sich heraus und versuchte, die eine Sache zu bewerkstelligen, die er konnte, ein Wegetor zu erschaffen. Für ihn war das etwas, das über die Gewebe hinausging. Da waren nur er und die Macht, etwas Intimes, etwas Instinktives.

Im Moment ein Wegetor zu machen fühlte sich wie der Versuch an, eine hundert Fuß hohe Glasmauer nur mithilfe der Fingerspitzen zu erklimmen. Er sprang, kraxelte, bemühte sich. Nichts geschah. Dabei war er so nahe dran: Falls er nur noch ein kleines bisschen stärker drückte, konnte er …

Die Schatten wuchsen. Wieder stieg die Panik in ihm auf. Mit zusammengebissenen Zähnen griff Androl zum Kragen und riss den Anstecker ab. Er ließ ihn vor Coteren auf den Boden fallen. Es klirrte leise. Niemand im Raum sagte ein Wort.

Dann begrub er seine Schande unter einem Berg Entschlossenheit, ließ die Eine Macht los und drängte sich an Mezar vorbei in die Nacht. Nalaan, Canler und Pevara folgten ihm eilig.

Der Regen tränkte Androl. Er fühlte den Verlust der Anstecknadel wie den Verlust einer Hand.

»Androl …«, sagte Nalaam. »Es tut mir leid.«

Donner grollte. Sie traten durch schlammige Pfützen und ließen auf der unbefestigten Straße Wasser aufspritzen. »Es spielt keine Rolle«, meinte Androl.

»Vielleicht hätten wir kämpfen sollen«, sagte Nalaam. »Ein paar der Jungs dort drinnen hätten uns unterstützt; sie stecken nicht alle in seiner Tasche. Vater und ich haben mal gegen sechs Schattenhunde gekämpft – soll das Licht auf mein Grab leuchten, das taten wir. Wenn wir das überlebt haben, dann schaffen wir auch ein paar Asha’man-Hunde.«

»Sie hätten uns in Stücke gehauen«, sagte Androl.

»Aber …«

»Sie hätten uns in Stücke gehauen!«, wiederholte Androl. »Wir lassen sie nicht das Schlachtfeld bestimmen, Nalaam.«

»Aber es wird doch einen Kampf geben?«, fragte Canler und setzte sich an Androls andere Seite.

»Sie haben Logain«, sagte Androl. »Sonst hätten sie nicht diese Versprechen gemacht. Verlieren wir ihn, stirbt alles – unsere Rebellion, unsere Möglichkeit, eine geeinte Schwarze Burg zu schaffen.«

»Also …«

»Also retten wir ihn«, sagte Androl und ging weiter. »Noch heute Nacht.«


Rand arbeitete im weichen Licht einer Saidin-Kugel. Vor dem Drachenberg hatte er angefangen, diese alltägliche Benutzung der Einen Macht zu meiden. Sie zu ergreifen hatte Übelkeit verursacht.

Das hatte sich geändert. Saidin war ein Teil von ihm, und er musste sich nicht länger davor fürchten, wo es nun den Makel nicht mehr gab. Aber noch viel wichtiger war, dass er aufgehört hatte, Saidin – und damit auch sich – lediglich als Waffe zu betrachten.

Wann immer es möglich war, würde er nun im Licht der Lichtkugeln arbeiten. Er beabsichtigte, sich von Flinn im Heilen unterrichten zu lassen. Darin war er nicht sehr bewandert, aber selbst geringe Fähigkeiten konnten einem Verletzten das Leben retten. Viel zu oft hatte er dieses Wunder, dieses Geschenk, nur zur Zerstörung benutzt, um zu töten. War es da ein Wunder, dass man ihm voller Furcht begegnete? Was würde Tam dazu sagen?

Ich könnte ihn ja fragen, dachte er müßig, während er eine Erinnerungsnotiz auf ein Stück Papier schrieb. Die Vorstellung, dass sich Tam bloß ein Lager weiter befand, war immer noch ungewohnt. Rand hatte mit ihm zu Abend gegessen. Zuerst war es recht steif zugegangen, aber das war auch nicht anders zu erwarten gewesen, lud ein König doch seinen Vater aus einem Bauerndorf zum »Mahl« ein. Sie hatten darüber gelacht, und sofort hatte er sich besser gefühlt.

Rand hatte seinen Vater in Perrins Lager zurückkehren lassen, statt ihn mit Ehren und Reichtum zu überhäufen. Tam wollte nicht als der Vater des Wiedergeborenen Drachen betrachtet werden. Er wollte nur das sein, was er immer gewesen war – Tam al’Thor, ein nach jedermanns Maßstab verlässlicher Mann, aber kein Lord.

Rand konzentrierte sich wieder auf das vor ihm liegende Dokument. Sekretäre aus Tear hatten ihn in der richtigen Ausdrucksweise beraten, aber er hatte es mit eigener Hand geschrieben; dieses Dokument hatte er keiner anderen Hand und erst recht keinen anderen Augen anvertrauen wollen.

War er vielleicht zu vorsichtig? Was seine Feinde nicht voraussehen konnten, dagegen konnten sie auch nichts unternehmen. Nachdem ihn Semirhage um ein Haar hatte gefangen nehmen können, war er einfach zu misstrauisch geworden. Das war ihm bewusst. Aber er hatte diese Geheimnisse nun schon so lange bewahrt, dass es schwerfiel, sie herauszulassen.

Er fing wieder in der ersten Zeile des Dokuments an und las es erneut. Tam hatte ihn einmal losgeschickt, um einen Zaun auf Schwachstellen zu überprüfen. Er hatte gehorcht, aber nach seiner Rückkehr hatte ihn sein Vater erneut losgeschickt, um die Arbeit noch einmal zu tun.

Erst beim dritten Mal hatte Rand die lose Latte gefunden, die ersetzt werden musste. Bis heute wusste er nicht, ob sein Vater darüber vorher Bescheid gewusst hatte oder aber einfach nur vorsichtig gewesen war.

Dieses Dokument war viel wichtiger als ein Zaun. In dieser Nacht würde er es noch ein Dutzend Mal durchlesen und nach verborgenen Fallstricken suchen.

Leider fiel es schwer, sich zu konzentrieren. Die Frauen hatten etwas vor. Er konnte sie durch die Gefühlsknäuel in seinem Hinterkopf fühlen. Davon gab es vier – Alanna war auch noch da; sie hielt sich irgendwo im Norden auf. Die anderen drei hatten fast die ganze Nacht zusammengesteckt; nun hatten sie fast sein Zelt erreicht. Was hatten sie bloß vor? Es …

Moment. Eine hatte sich von den anderen getrennt. Sie war fast da. Aviendha?

Rand stand auf, ging zum Zelteingang und zog die Plane zur Seite.

Sie erstarrte auf der Stelle, als hätte sie beabsichtigt, sich in sein Zelt zu schleichen. Sie hob den Kopf und erwiderte seinen Blick.

Plötzlich schrillten Schreie durch die Nacht. Da fiel ihm erst auf, dass seine Leibwache nicht da war. Aber die Töchter kampierten ganz in der Nähe seines Zeltes, und sie schienen ihm etwas zuzurufen. Aber nichts Freundliches. Beleidigungen. Üble Beschimpfungen. Manche von ihnen schrien, was sie mit gewissen Teilen seiner Anatomie anstellen würden, sollten sie ihn erwischen.

»Was soll das denn?«, murmelte er.

»Sie meinen das nicht so«, erwiderte Aviendha. »Das ist für sie nur ein Symbol, dass du mich ihnen wegnimmst – dabei habe ich ihre Reihen längst verlassen, um mich den Weisen Frauen anzuschließen. Das ist ein … Brauch der Töchter. Tatsächlich ist es sogar ein Zeichen des Respekts. Würden sie dich nicht mögen, verhielten sie sich auch nicht so.«

Aiel. »Warte«, sagte er. »Wieso habe ich dich ihnen weggenommen?«

Aviendha schaute ihm in die Augen, aber ihre Wangen röteten sich dabei. Aviendha errötete? Das kam unerwartet.

»Eigentlich müsstest du das verstehen«, sagte sie. »Hättest du einmal bei dem aufgepasst, was ich dir über uns beibrachte …«

»Leider hattest du einen wollköpfigen Schüler.«

»Er hat Glück, dass ich mich entschieden habe, meinen Unterricht zu erweitern.« Sie trat einen Schritt näher. »Es gibt noch viele Dinge, die ich dich lehren muss.« Jetzt war sie knallrot.

Beim Licht. Sie war wunderschön. Aber das war Elayne auch … und Min … und …

Er war ein Narr. Ein vom Licht geblendeter Narr.

»Aviendha. Ich liebe dich, das tue ich wahrhaftig. Aber das ist verflucht noch mal ein Problem! Ich liebe euch alle drei. Ich glaube nicht, dass ich mich für jemanden entscheiden …«

Plötzlich lachte sie. »Du bist ein Narr, das bist du wirklich, oder, Rand al’Thor?«

»Oft. Aber was …«

»Rand al’Thor, wir sind Erstschwestern, Elayne und ich. Wenn wir Min besser kennen, wird sie sich uns anschließen. Wir werden alles teilen.«

Erstschwestern? Das hätte er sich eigentlich denken müssen, so wie sie damals mit ihm den Behüterbund eingegangen waren. Er hob die Hand an die Schläfe. Wir werden dich uns teilen, hatten sie ihm gesagt.

Vier durch den Behüterbund miteinander verbundenen Frauen Qualen zu bereiten, wenn er starb, war schon schlimm genug, aber drei Frauen, die ihn liebten? Licht, er wollte ihnen keine Schmerzen bereiten!

»Sie sagen, dass du dich verändert hast«, sagte Aviendha. »In der kurzen Zeit seit meiner Rückkehr haben so viele davon gesprochen, dass ich es beinahe schon leid bin, mir etwas über dich anzuhören. Nun, deine Miene mag ruhig sein, aber deine Gefühle sind es nicht. Ist diese Vorstellung denn so schrecklich, mit uns drei zusammen zu sein?«

»Ich will es, Aviendha. Ich sollte mich verstecken, weil ich es will. Aber die Schmerzen …«

»Du hast sie umarmt, nicht wahr?«

»Es sind nicht meine Qualen, die ich fürchte. Es sind eure.«

»Sind wir also schwach, dass wir nicht ertragen können, was du schaffst?«

Der Ausdruck in ihren Augen lud wirklich nicht dazu ein, sich darüber lustig zu machen.

»Natürlich nicht«, antwortete er. »Aber wie kann ich denen, die ich liebe, Schmerzen wünschen?«

»Wir müssen diese Qualen akzeptieren«, sagte sie und hob entschlossen das Kinn. »Rand al’Thor, deine Entscheidung ist ganz einfach, auch wenn du dich wirklich bemühst, sie schwer zu machen. Wähle Ja oder Nein. Aber sei gewarnt; entweder sind wir es alle oder keine von uns. Wir werden nicht zulassen, dass du zwischen uns kommst.«

Er zögerte, dann küsste er sie und kam sich dabei wie ein Wüstling vor. Hinter ihm brüllten Töchter, von denen er sich gar nicht bewusst gewesen war, dass sie zusahen, jetzt noch lauter ihre Beleidigungen, aber er hörte daraus eine unbändige Freude, die so gar nicht zu den Worten passte. Er beendete den Kuss, dann hob er die Hand und legte sie an Aviendhas Wange. »Ihr seid verdammte Närrinnen. Alle drei.«

»Dann ist es gut. Wir sind deinesgleichen. Du solltest wissen, dass ich jetzt eine Weise Frau bin.«

»Dann sind wir vielleicht doch nicht gleich«, erwiderte er, »denn ich fange jetzt erst an zu begreifen, wie wenig Weisheit ich doch habe.«

Aviendha schnaubte. »Genug geredet. Du wirst mich jetzt lieben.«

»Beim Licht!«, sagte er. »Du bist ein bisschen forsch, nicht wahr? Ist das bei den Aiel so üblich?«

»Nein«, erwiderte sie und errötete wieder. »Ich bin bloß … ich bin bloß nicht besonders erfahren darin.«

»Ihr drei habt das entschieden, stimmt’s? Wer von euch zu mir kommt?«

Sie zögerte, dann nickte sie.

»Ich habe da kein Mitspracherecht, oder?«

Sie schüttelte den Kopf.

Er lachte und zog sie an sich. Zuerst war sie ganz steif, aber dann schmiegte sie sich an ihn. »Also, muss ich zuerst mit ihnen kämpfen?« Er wies mit dem Kopf auf die Töchter.

»Das ist bloß bei der Hochzeit so, falls wir uns entscheiden, dass du eine Heirat wert bist, dummer Mann. Und dann wären es unsere Familien, nicht die Mitglieder unserer Gemeinschaft. Du hast deinen Unterricht wirklich versäumt, oder?«

Er schaute zu ihr hinab; Licht, sie war so wunderschön.

»Nun, ich bin froh, dass ich nicht kämpfen muss. Ich vermag nicht zu sagen, wie viel Zeit wir haben, und ich hatte gehofft, heute Nacht wenigstens etwas Schlaf zu bekommen. Aber …« Der Ausdruck in ihren Augen ließ ihn verstummen. »Ich … heute bekomme ich keinen Schlaf, richtig?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ach, auch gut. Wenigstens brauche ich mir dieses Mal keine Sorgen darüber zu machen, dass du erfrieren könntest.«

»Ja. Aber wenn du nicht aufhörst, törichtes Zeug zu plappern, Rand al’Thor, könnte es passieren, dass ich vor Langeweile sterbe.«

Sie nahm ihn am Arm und zog ihn sanft, aber energisch in das Zelt – und die Rufe der Töchter wurden noch lauter und noch beleidigender. Aber vor allem noch ausgelassener.


»Ich vermute, schuld daran ist eine Art Ter’angreal«, sagte Pevara. Sie hockte mit Androl im Hinterzimmer eines der Warenlager der Schwarzen Burg und fand ihre Stellung nicht gerade bequem. Der Raum roch nach Staub, Korn und Holz. Die meisten Gebäude der Schwarzen Burg waren neu, und das hier bildete keine Ausnahme; die Bodendielen aus Zedernholz waren noch frisch.

»Ihr kennt ein Ter’angreal, das Wegetore verhindern könnte?«, fragte Androl.

»Nicht direkt, nein«, erwiderte die Aes Sedai und verlagerte das Gewicht, um eine bessere Position zu finden. »Aber es ist allgemein akzeptiert, dass das, was wir über Ter’angreale wissen, nur ein Bruchteil dessen ist, was einst bekannt war. Es muss Tausende Arten von Ter’angrealen geben, und wenn Taim ein Schattenfreund ist, hat er Kontakt mit den Verlorenen – die ihm die Benutzung und Konstruktion von Dingen erklären können, von denen wir nur träumen können.«

»Also müssen wir dieses Ter’angreal finden«, sagte Androl. »Es abschalten oder zumindest herausfinden, wie es funktioniert.«

»Und entkommen?«, fragte Pevara. »Hattet Ihr nicht bereits entschieden, dass die Flucht eine schlechte Wahl wäre?«

»Nun … ja«, gestand Androl ein.

Sie konzentrierte sich und vermochte ein paar Gedankenfetzen von ihm aufzufangen. Sie hatte gehört, dass der Behüterbund eine empathische Verbindung erlaubte. Das hier schien tiefer zu gehen. Er war … ja, er wünschte sich wirklich, Wegetore machen zu können. Ohne sie fühlte er sich entwaffnet.

»Das ist mein Talent«, sagte er widerstrebend. Er wusste, dass sie irgendwann auf den Grund stoßen würde. »Ich kann Wegetore machen. Zumindest konnte ich es.«

»Wirklich? Mit Eurer Stärke in der Macht?«

»Mit meiner lächerlichen Stärke?«, fragte er. Sie konnte ein paar seiner Gedanken spüren. Obwohl er seine Schwäche akzeptierte, sorgte er sich, dass ihn das möglicherweise zu einem wenig geeigneten Anführer machte. Eine seltsame Mischung aus Selbstvertrauen und Hemmungen.

»Ja«, fuhr er fort. »Reisen erfordert große Stärke in der Einen Macht, aber ich kann große Wegetore erschaffen. Bevor das alles hier falschlief, war das größte Wegetor, das ich öffnete, dreißig Fuß breit.«

Pevara blinzelte. »Ihr übertreibt doch!«

»Wenn ich könnte, würde ich es Euch zeigen.« Er schien völlig ehrlich zu sein. Entweder sagte er die Wahrheit, oder sein Wahnsinn flüsterte ihm das nur ein. Sie erwiderte nichts, sich unsicher, wie sie das ansprechen sollte.

»Schon gut«, sagte er. »Ich weiß, dass da … etwas nicht mit mir stimmt. Mit den meisten von uns. Ihr könnt die anderen nach meinen Wegetoren fragen. Es gibt einen Grund, warum Coteren mich Page nennt. Denn das Einzige, in dem ich gut bin, ist, Leute von einem Ort zum anderen zu bringen.«

»Das ist ein erstaunliches Talent, Androl. Ich bin überzeugt, die Burg würde es mit Begeisterung studieren. Ich frage mich, wie viele Menschen damit geboren wurden und es niemals wussten, weil die Gewebe zum Reisen unbekannt waren.«

»Ich gehe nicht zur Weißen Burg, Pevara«, sagte er und legte die Betonung auf Weiße.

Sie wechselte das Thema. »Ihr sehnt Euch zu Reisen, und doch wollt Ihr die Schwarze Burg nicht verlassen. Also wieso spielt dieses Ter’angreal eine Rolle?«

»Wegetore wären … nützlich.«

Er dachte etwas, aber sie konnte es nicht verstehen. Ein schnelles Aufblitzen von Bildern und Eindrücken.

»Aber wenn wir nirgendwohin gehen …«, protestierte sie.

»Ihr wärt überrascht«, meinte er und hob den Kopf, um über den Fenstersims in die Gasse zu spähen. Draußen nieselte es; der Regen ließ endlich nach. Aber der Himmel war noch dunkel. Bis zur Morgendämmerung dauerte es noch ein paar Stunden. »Ich habe … experimentiert. Ein paar Dinge ausprobiert, die meiner Meinung nach noch nie zuvor jemand versucht hat.«

»Ich bezweifle, dass es Dinge gibt, die noch nie jemand versucht hat«, sagte sie. »Die Verlorenen hatten Zugang zu dem Wissen von Äonen.«

»Glaubt Ihr wirklich, einer von ihnen hat hier die Finger im Spiel?«

»Warum nicht? Wenn Ihr Euch auf die Letzte Schlacht vorbereiten würdet und sichergehen wolltet, dass Eure Feinde keinen Widerstand leisten können, würdet Ihr die besten Machtlenker zusammen üben lassen, sie stark werden lassen?«

»Ja«, sagte er leise. »Das würde ich, und dann würde ich sie stehlen.«

Pevara schloss den Mund. Vermutlich stimmte das sogar. Über die Verlorenen zu sprechen bereitete Androl Unbehagen; sie konnte seine Gedanken klarer als zuvor wahrnehmen.

Dieser Behüterbund war unnatürlich. Sie musste ihn loswerden. Danach würde es sie nicht stören, auf die richtige Weise mit ihm verbunden zu werden.

»Ich übernehme nicht die Verantwortung für diese Situation, Pevara«, sagte Androl und sah wieder hinaus. »Ihr habt mir zuerst den Behüterbund auferlegt.«

»Nachdem Ihr zuerst das Vertrauen verraten habt, das ich Euch anbot, indem ich mich mit Euch zu einem Zirkel verknüpfte.«

»Ich habe Euch nicht verletzt. Was habt Ihr denn erwartet? War es nicht der Zweck eines Zirkels, unsere Kräfte zu vereinen?«

»Diese Diskussion ist sinnlos.«

»Das sagt Ihr nur, weil Ihr darin unterliegt.« Er sagte es ganz ruhig, und er war innerlich auch ganz ruhig. Sie kam zu der Erkenntnis, dass Androl nur schwer zu reizen war.

»Ich sage das, weil es wahr ist. Stimmt Ihr mir darin nicht zu?«

Sie spürte seine Belustigung. Wieder übernahm sie die Führung dieser Unterhaltung. Und … es schien ihn nicht nur zu amüsieren, sondern tatsächlich auch zu beeindrucken. Er wollte lernen, wie sie das immer machte.

Die Tür zum Hinterzimmer öffnete sich quietschend, und Leish spähte herein. Sie war eine weißhaarige Frau, angenehm und korpulent, eine seltsame Wahl für den mürrischen Asha’man Canler, den sie geheiratet hatte. Sie nickte Pevara zu und signalisierte damit, dass die halbe Stunde vorbei war, dann schloss sie die Tür. Angeblich war Canler mit der Frau den Behüterbund eingegangen, was sie zu einer Art von … ja, was eigentlich machte? Zur Behüterin?

Bei diesen Männern war alles auf den Kopf gestellt. Pevara konnte sich vorstellen, warum man den Bund mit seiner Ehefrau teilte, und selbst wenn es nur um den Trost ging, zu wissen, wo der andere war, aber es schien einfach nicht richtig zu sein, den Bund für so banale Dinge zu benutzen. Das war eine Sache für Aes Sedai und Behüter, und nicht für Ehemann und Ehefrau.

Androl musterte sie und versuchte offensichtlich ihre Gedanken zu ergründen – auch wenn diese Gedanken komplex genug waren, um ihm Schwierigkeiten zu bereiten. Dieser Androl Genhald war ein so seltsamer Mann. Wie konnte er nur Entschlossenheit und Hemmungen so sehr miteinander vermischen, als wären es zwei miteinander verwobene Stränge der Macht? Er tat, was getan werden musste, und rang die ganze Zeit mit der Überzeugung, dass er doch in Wirklichkeit gar nicht der Richtige dafür war.

»Ich verstehe es selbst nicht«, sagte er.

Außerdem konnte er einen so wütend machen. Wie war er nur so gut darin geworden, ihre Gedanken zu verstehen? Sie musste noch immer förmlich nach seinen Gedanken fischen.

»Könnt Ihr das noch einmal denken?«, fragte er. »Ich habe das nicht verstanden.«

»Blödmann«, murmelte Pevara.

Androl lächelte, dann spähte er wieder über den Fenstersims.

»Es ist noch nicht Zeit«, sagte Pevara.

»Seid Ihr sicher?«

»Ja«, sagte sie. »Und wenn Ihr dauernd hinausschaut, könntet Ihr ihn verschrecken, wenn er tatsächlich kommt.«

Zögernd ging Androl wieder in die Hocke.

»Hört gut zu«, sagt Pevara. »Wenn er kommt, müsst Ihr mich die Führung übernehmen lassen.«

»Wir sollten einen Zirkel machen.«

»Nein.« Sie würde sich nicht wieder in seine Hände begeben. Nicht nach dem, was beim letzten Mal geschehen war. Sie erschauderte, und Androl sah sie stirnrunzelnd an.

»Es gibt sehr gute Gründe, nicht zu einem Zirkel verknüpft zu sein. Ich will Euch nicht beleidigen, Androl, aber Eure Fähigkeiten sind nicht groß genug, dass es das wert ist. Es ist besser, wenn es zwei von uns gibt. Das müsst Ihr akzeptieren. Was hättet Ihr lieber auf dem Schlachtfeld? Einen Soldaten? Oder zwei Leute, von denen der eine nicht ganz so viel kann, denen Ihr verschiedene Aufgaben zuweisen könnt?«

Er dachte darüber nach, dann seufzte er. »Also gut. Diesmal ergeben Eure Worte durchaus Sinn.«

»Meine Worte ergeben immer Sinn«, sagte sie und stand auf. »Es ist Zeit. Macht Euch bereit.«

Sie stellten sich zu beiden Seiten der Tür auf, die in die Gasse führte. Absichtlich stand sie einen Spaltbreit offen, das stabile Schloss an der Außenseite hing geöffnet, als hätte jemand vergessen, es zu schließen.

Stumm warteten sie, und Pevara begann sich schon zu sorgen, dass sie sich mit ihren Berechnungen getäuscht hatte. Das würde Androl Spaß machen, und …

Die Tür schwang zurück. Dobser schob den Kopf herein, angelockt von Evins wie zufällig erfolgter Bemerkung, dass er sich eine Flasche Wein aus dem Hinterzimmer geholt hatte, nachdem ihm aufgefallen war, dass Leish vergessen hatte abzuschließen. Laut Androl war Dobser ein allgemein bekannter Trinker, und Taim hatte ihn wegen Trunkenheit mehr als nur einmal bewusstlos geprügelt.

Sie spürte die Reaktion, die der Mann in Androl auslöste. Trauer. Tiefe, bis ins Mark gehende Trauer. Dobser hatte die Dunkelheit im Blick.

Pevara schlug schnell zu, fesselte Dobser mit Luft und rammte eine Abschirmung zwischen den ahnungslosen Mann und die Quelle. Androl hielt eine Keule in der Hand, aber sie war nicht nötig. Dobser riss die Augen weit auf, als er in die Luft gehoben wurde; Pevara verschränkte die Hände hinter dem Rücken und betrachtete ihn kritisch.

»Seid Ihr sicher, dass Ihr das tun wollt?«, fragte Androl leise.

»Dazu ist es nun sowieso zu spät«, erwiderte Pevara und verknotete die Luftströme. »Die Berichte scheinen sich einig zu sein. Je mehr eine Person vor ihrer Entführung dem Licht ergeben war, umso mehr ist sie nach ihrem Sturz dem Schatten ergeben. Also …«

Also sollte dieser Mann, der nie mit dem Herzen dabei gewesen war, einfacher zu brechen, bestechen oder überreden sein als andere. Das war wichtig, denn Taims Gefolgsleute würden vermutlich sofort erkennen, was geschehen war, sobald …

»Dobser?«, sagte da eine Stimme. Zwei Gestalten verdunkelten den Eingang. »Habt Ihr den Wein? Man brauchte vorn nicht aufzupassen; die Frau ist nicht …«

Welyn und ein anderer von Taims Lieblingen, Leems, standen in der Tür.

Pevara reagierte blitzschnell, schleuderte Gewebe auf die beiden Männer, während sie einen Strang Geist webte. Die Asha’man wehrten den Versuch, sie abzuschirmen, ab – es war schwer, eine Abschirmung zwischen die Quelle und eine Person zu schieben, die die Eine Macht hielt –, aber ihre Knebel peitschten wie gewünscht an Ort und Stelle und ließen die Rufe verstummen.

Luft schlang sich um Pevara, eine Abschirmung versuchte sich zwischen sie und die Quelle zu schieben. Sie schlug mit Geist zu und zerschnitt die Gewebe, indem sie erahnte, wo sie waren.

Leems stolperte zurück und sah überrascht aus, als seine Gewebe verschwanden. Pevara warf sich nach vorn, webte eine weitere Abschirmung und drückte sie zwischen ihn und die Quelle, während sie mit ihm zusammenstieß und ihn gegen die Wand rammte. Die Ablenkung funktionierte, und ihre Abschirmung schnitt ihn von der Einen Macht ab.

Sie schleuderte eine zweite Abschirmung auf Welyn, aber er traf sie mit seinen Geweben Luft. Sie schleuderten sie quer durch den Raum. Sie webte Luft, während sie mit einem Grunzen gegen die Wand krachte. Ihre Sicht verschwamm, aber sie hielt diesen einen Strang Luft fest, ließ ihn instinktiv nach vorn peitschen und erwischte Welyns Fuß, als er aus dem Haus laufen wollte.

Etwas landete schwer auf dem Boden. Er war gestolpert, oder? Benommen konnte sie nicht richtig sehen.

Mit schmerzendem Körper setzte sie sich auf, hielt aber die Ströme Luft fest, die sie als Knebel gewebt hatte. Wenn sie die losließ, würden Taims Männer schreien können. Konnten sie schreien, starb sie. Starben sie alle. Oder ihnen stieß etwas noch Schlimmeres zu.

Sie blinzelte die Schmerzenstränen fort und sah Androl mit der Keule über den beiden Asha’man stehen. Anscheinend hatte er sie bewusstlos geschlagen, weil er der für ihn unsichtbaren Abschirmung nicht vertraute. Das war auch gut so, weil ihre zweite Abschirmung nicht richtig gesessen hatte. Sie korrigierte den Fehler.

Dobser hing noch immer dort in der Luft, wo sie ihn hatte schweben lassen, nur dass seine Augen jetzt noch weiter aufgerissen waren. Androl sah Pevara an. »Beim Licht!«, sagte er. »Pevara, das war unglaublich. Ihr habt zwei Asha’man besiegt, und das so gut wie allein!«

Zufrieden lächelnd akzeptierte sie noch immer benommen Androls Hand und ließ sich auf die Füße helfen. »Was habt Ihr denn gedacht, was die Rote Ajah mit ihrer Zeit anstellt? Herumsitzen und über Männer klagen? Wir üben den Kampf gegen andere Machtlenker.«

Sie fühlte Androls Respekt, während er sich nützlich machte, Welyn ins Haus zog und die Tür schloss, dann die Fenster überprüfte, um sich zu vergewissern, dass niemand zufällig zugesehen hatte. Er zog die Vorhänge zu, dann lenkte er die Macht, um Licht zu machen.

Pevara holte tief Luft und musste sich mit der Hand an der Wand abstützen.

Androl sah scharf auf. »Wir müssen Euch zu einem der anderen bringen, damit er Euch Heilen kann.«

»Mir geht es gut«, sagte sie. »Ich habe mir nur den Kopf gestoßen, und das lässt den Raum schwanken. Das vergeht wieder.«

»Lasst mich sehen«, sagte Androl und trat zu ihr – sein Licht schwebte neben ihm. Pevara erlaubte ihm, sie sich näher anzusehen, ihre Augen zu überprüfen und an ihrem Kopf nach Schwellungen zu suchen. Er bewegte das Licht näher an ihre Augen. »Tut es weh, da reinzusehen?«

»Ja«, gab sie zu und schaute weg.

»Übelkeit?«

»Etwas.«

Er grunzte, dann zog er ein Taschentuch aus der Tasche und goss etwas Wasser aus der Feldflasche darüber. Seine Züge wurden starr vor Konzentration, sein Licht verlosch. Das Taschentuch knisterte leise, und als er es ihr reichte, war es gefroren. »Haltet das gegen die schmerzende Stelle«, sagte er. »Sagt mir, falls Ihr anfangt, Euch schläfrig zu fühlen. Es könnte schlimmer werden, falls Ihr einschlaft.«

»Seid Ihr besorgt um mich?«, fragte sie amüsiert, folgte aber seinen Anweisungen.

»Ich … wie habt Ihr das noch einmal genannt? Auf unsere Vorteile aufpassen?«

»Ich glaube schon«, sagte sie und drückte das eisige Tuch gegen den Kopf. »Also kennt Ihr Euch auch in der Kunst des Feldschers aus?«

»Ich war mal der Lehrling einer Dorfheilerin«, sagte er abwesend, während er kniete, um die Männer zu fesseln. Pevara war froh, die Gewebe aus Luft lösen zu können, hielt allerdings die Abschirmungen aufrecht.

»Eine Dorfheilerin nahm einen männlichen Lehrling auf?«

»Nicht sofort«, erwiderte Androl. »Es ist … es ist eine lange Geschichte.«

»Ausgezeichnet. Eine lange Geschichte verhindert, dass ich einschlafe, bevor die anderen kommen.« Emarin und die anderen hatten den Befehl erhalten, sich für den Fall, dass Dobsers Verschwinden auffiel, sehen zu lassen und der Gruppe ein Alibi zu verschaffen.

Androl warf ihr einen Blick zu und ließ wieder sein Licht aufleuchten. Dann zuckte er mit den Schultern und machte mit seiner Arbeit weiter. »Es fing damit an, dass ich in Mayene während einer Fangfahrt einen Freund an das Fieber verlor. Als ich wieder an Land war, kam mir der Gedanke, dass wir Sayer hätten retten können, wenn auch nur einer von uns gewusst hätte, was zu tun war. Also suchte ich nach jemandem, der mir so etwas beibringen konnte …«

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