16 Eine Stille wie ein Schrei

Loial, Sohn von Arent, Sohn von Halan, hatte insgeheim schon immer einmal hektisch sein wollen.

Menschen faszinierten ihn, daraus hatte er nie ein Geheimnis gemacht. Er war sich ziemlich sicher, dass das die meisten seiner Freunde wussten, obwohl, so richtig sicher konnte er sich da nicht sein. Es war erstaunlich, was Menschen nicht mitbekamen. Den ganzen Tag konnte er mit ihnen sprechen, um dann herauszufinden, dass sie nur einen Teil davon mitbekommen hatten. Glaubten sie etwa, dass jemand einfach nur um des Redens willen redete?

Loial hörte zu, wenn sie sprachen. Jedes Wort aus ihrem Mund enthüllte mehr über sie. Menschen waren wie der Blitz. Ein flackerndes Aufleuchten, eine Explosion, Macht und Energie. Dann war alles verschwunden. Wie würde das wohl sein?

Hast. Aus Hast konnte man vieles lernen. Langsam fragte er sich aber, ob er diese besondere Lektion zu gut gelernt hatte.

Loial strich durch einen Wald, dessen Bäume zu still waren. Erith war an seiner Seite, andere Ogier umgaben sie. Alle hatten Äxte auf den Schultern oder trugen lange Messer, während sie zur Front marschierten. Eriths Ohren zuckten; sie war keine Baumsängerin, aber sie konnte spüren, dass sich die Bäume nicht wohlfühlten.

Es war in der Tat ganz schrecklich. Er konnte genauso wenig erklären, wie sich eine Gruppe gesunder Bäume anfühlte, wie er das Gefühl des Windes auf seiner Haut erklären konnte. Gesunde Bäume verbreiteten das Gefühl, dass alles richtig war. So wie der Geruch von morgendlichem Regen. Es war kein Laut, aber es fühlte sich wie eine Melodie an. Wenn er zu ihnen sang, dann schwamm er förmlich in diesem richtigen Gefühl.

Diese Bäume hatten nichts davon. Wenn er ihnen ganz nahe kam, glaubte er, etwas hören zu können. Eine Stille wie ein Schrei. Aber das war kein Laut, sondern nur ein Gefühl.

Vor ihnen im Wald tobte der Kampf. Königin Elaynes Streitkräfte zogen sich vorsichtig nach Osten zurück und ließen die Bäume hinter sich. Mittlerweile hatten sie fast den Rand des Braemwaldes erreicht; sobald sie ihn verlassen hatten, würden sie zu den Brücken marschieren, sie überqueren und hinter sich verbrennen. Dann würden die Soldaten Salven der Zerstörung auf die Trollocs herabregnen lassen, wenn diese versuchten, den Fluss hinter ihnen auf eigenen Brücken zu überqueren. Bashere hoffte, am Erinin dem Feind einen empfindlichen Schlag zu versetzen, bevor sie nach Osten gingen.

Loial war davon überzeugt, dass das alles faszinierendes Material für sein Buch bieten würde, sobald er es schrieb. Falls er es dann noch schreiben konnte. Er legte die Ohren flach an, als die Ogier ihr Kriegslied anstimmten. Er war froh um das schreckliche Lied – der Ruf nach Blut und Tod –, denn es füllte die von den Bäumen verbreitete Stille aus, und er sang mit.

Mit den anderen lief er los, Erith an seiner Seite. An der Front hob er die Axt hoch über den Kopf. Die Gedanken flohen ihn, als der Ärger über die Trollocs kam, nein, der Zorn. Sie töteten die Bäume nicht bloß. Sie raubten ihnen den Frieden.

Der Ruf nach Blut und Tod.

Loial brüllte sein Lied und ging mit der Axt auf die Kreaturen los; Erith und die anderen Ogier schlossen sich ihm an und brachten den Vorstoß der flankierenden Trolloc-Streitmacht zum Stehen. Er hatte nicht die Absicht gehabt, den Angriff der Ogier anzuführen. Er tat es trotzdem.

Er hieb auf die Schulter eines widdergesichtigen Trollocs ein und trennte seinen Arm ab. Das Ungeheuer brüllte auf und fiel auf die Knie, und Erith trat ihm ins Gesicht und schleuderte es zwischen die Beine eines hinter ihm befindlichen Trollocs.

Loial hielt nicht in seinem Lied inne, dem Ruf nach Blut und Tod. Sollten sie es hören! Sollten sie es hören! Schlag für Schlag. Totes Holz zu räumen, das war es, was sie hier taten. Totes, verrottendes, schreckliches Holz. Er und Erith kamen an die Seite des Ältesten Haman, der mit seinen angelegten Ohren schrecklich wild aussah. Der friedliche Älteste Haman. Auch ihn hatte der Zorn ergriffen.

Eine belagerte Reihe Weißmäntel – die die Ogier entsetzten – stolperte zurück und machte ihnen Platz.

Er sang und kämpfte und brüllte und tötete, schlug mit einer Axt auf die Trollocs ein, die eigentlich nur fürs Holzhacken bestimmt gewesen war und nie für den Einsatz gegen Fleisch. Mit Holz zu arbeiten war eine andächtige Sache. Das hier … das war bloß so etwas wie Unkrautjäten. Giftiges Unkraut. Alles erstickende Schlingpflanzen.

Er hackte weiter auf Trollocs ein und verlor sich in dem Ruf nach Blut und Tod. Die Kreaturen fingen an sich zu fürchten. In ihren kleinen Augen erblickte er Entsetzen, und er liebte es. Offensichtlich waren sie daran gewöhnt, nur gegen Menschen zu kämpfen, die kleiner als sie selbst waren.

Nun, sollten sie gegen jemanden von ihrer eigenen Größe kämpfen. Sie geiferten, als die Reihe der Ogier sie zurückdrängte. Loial landete Schlag auf Schlag, hackte Arme ab, hackte Oberkörper entzwei. Er bahnte sich seinen Weg vorbei an zwei Bären-Trollocs, schlug mit der Axt um sich, brüllte vor Zorn – und jetzt galt der Zorn dem, was die Trollocs den Ogiern angetan hatten. Sie hätten den Frieden des Stedding genießen sollen. Sie hätten singen und Dinge bauen oder wachsen lassen sollen.

Das war ihnen verwehrt. Nur wegen diesem … diesem Unkraut blieb ihnen das verwehrt! Die Ogier waren gezwungen, zu töten. Die Trollocs hatten Baumeister zu Zerstörern gemacht. Sie zwangen Ogier und Menschen, wie sie selbst zu sein. Der Ruf nach Blut und Tod.

Nun, der Schatten würde ja erleben, wie gefährlich Ogier sein konnten. Sie würden kämpfen, und sie würden töten. Und sie würden darin besser sein, als es sich jeder Mensch, Trolloc oder Myrddraal nur vorstellen konnte.

Der Furcht nach zu urteilen, die Loial in den ängstlichen Augen der Kreaturen lesen konnte, begriffen sie allmählich.

»Beim Licht!«, rief Galad aus und entfernte sich von dem Getümmel. »Beim Licht!«

Der Angriff der Ogier war schrecklich und glorreich zugleich. Die Kreaturen kämpften mit angelegten Ohren, weit aufgerissenen Augen und breiten Gesichtern so flach wie ein Amboss. Sie schienen sich zu verwandeln, und ihre sonstige Friedfertigkeit war verschwunden. Sie schnitten durch die Reihen der Trollocs und hackten die Bestien in Grund und Boden. Ihre zweite Reihe, die größtenteils aus Frauen bestand, zerteilte die Ungeheuer mit langen Messern und machten jeden nieder, der es durch die erste Reihe geschafft hatte.

Galad hatte die Trollocs mit ihrer abartigen Mischung aus menschlichen und tierischen Gesichtszügen für Furcht einflößend gehalten, aber die Ogier verstörten ihn noch mehr. Trollocs waren einfach nur entsetzlich … aber Ogier waren sanft, freundlich und bescheiden. Sie so in Wut zu sehen, wie sie ihr schreckliches Lied brüllten und mit Äxten von beinahe Mannslänge angriffen … beim Licht!

Galad winkte die Kinder zurück und duckte sich, als ganz in der Nähe ein Trolloc gegen einen Baum krachte. Ein paar der Ogier packten verwundete Tiermenschen bei den Armen und schleuderten sie aus dem Weg. Viele der anderen Ogier waren bis zur Taille blutgetränkt und hackten wie Fleischer, die ihre Ware für die Auslage vorbereiteten. Gelegentlich fiel einer von ihnen, aber auch wenn sie keine Rüstung trugen, schien ihre Haut doch sehr widerstandsfähig zu sein.

»Licht!«, sagte Trom und kam an Galads Seite. »Habt Ihr jemals so etwas gesehen?«

Galad schüttelte den Kopf. Das war die ehrlichste Antwort, die ihm einfiel.

»Hätten wir doch nur eine ganze Armee von ihnen …«, sagte Trom.

»Sie sind Schattenfreunde«, sagte Golever, als er sich zu ihnen gesellte. »Mit Sicherheit jedoch Schattengezücht.«

»Ogier sind genauso wenig Schattengezücht wie ich«, sagte Galad trocken. »Seht nur hin, sie schlachten die Trollocs.«

»Sie werden sich jeden Augenblick gegen uns wenden«, beharrte Golever. »Seht nur …« Er verstummte und lauschte dem Kriegslied der Ogier. Eine große Gruppe Trollocs hatte genug und strömte um einen fluchenden Myrddraal herum zurück. Die Ogier ließen sie nicht entkommen. Außer sich vor Wut jagten die Baumeister hinter den Bestien her, die langstieligen Äxte hackten nach ihren Beinen, brachten sie inmitten von Blutregen und Schmerzensschreien zu Boden.

»Nun?«, fragte Trom.

»Vielleicht …«, sagte Golever. »Vielleicht ist das ja ein hinterhältiger Plan. Um unser Vertrauen zu gewinnen.«

»Seid kein Narr, Golever«, meinte Trom.

»Ich bin kein …«

Galad hob die Hand. »Sammelt unsere Verwundeten ein. Begeben wir uns zur Brücke.«


Rand ließ den Farbenwirbel aus seinem Sichtfeld verschwinden. »Bald ist der Augenblick gekommen, dass ich gehe«, sagte er.

»In die Schlacht?«, fragte Moiraine.

»Nein, zu Mat. Er ist in Ebou Dar.«

Er war aus Elaynes Lager nach Merrilor zurückgekehrt. Noch immer spukte ihm die Unterhaltung mit Tam im Kopf herum. Lass los. Als wäre das so einfach. Und doch hatte das Gespräch mit seinem Vater etwas von ihm genommen. Lass los. Tams Worte schienen eine tiefer liegende Bedeutung zu haben, die weit über das Offensichtliche hinausging.

Er schüttelte den Kopf. Er konnte es sich nicht leisten, Zeit mit solchen Gedanken zu verschwenden. Die Letzte Schlacht … sie erforderte seine Aufmerksamkeit.

Ich konnte nahe herankommen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, dachte er und berührte den Dolch mit dem Hirschhorngriff an seinem Gürtel. Anscheinend stimmt es. Der Dunkle König kann mich nicht wahrnehmen, wenn ich ihn trage.

Aber bevor er gegen den Dunklen König losschlagen konnte, musste er etwas wegen der Seanchaner unternehmen. Falls stimmte, was Thom erzählt hatte, war Mat möglicherweise der Schlüssel. Die Seanchaner mussten sich dem Drachenfrieden anschließen. Falls nicht …

»Das ist ein Ausdruck, an den ich mich gut erinnern kann«, sagte die leise Stimme hinter ihm. »Verwirrung. Das macht Ihr so gut, Rand al’Thor.«

Er wandte sich ihr zu. Hinter ihr auf dem Tisch lagen von Aviendha mit Boten geschickte Karten, die die Positionen zeigten, wo sich sein Heer in der Fäule sammeln konnte.

Sie trat einen Schritt vor. »Wisst Ihr eigentlich, dass ich stundenlang darüber nachgedacht habe, dass ich zu ergründen versuchte, was Euer Verstand ausbrütete? Es ist ein Wunder, dass ich mir vor Verzweiflung nicht jedes Haar ausgerissen habe.«

»Ich war ein Narr, dass ich Euch nicht vertraut habe«, sagte Rand.

Sie lachte. Ein leises Lachen, das Lachen einer Aes Sedai, die die Kontrolle hatte. »Ihr habt mir genug vertraut. Das hat es ja so frustrierend gemacht, dass Ihr Eure Gedanken nicht mit mir teilen wolltet.«

Rand atmete tief ein. In Merrilor war die Luft süßer als anderswo. Er hatte das Land hier zu neuem Leben hervorlocken können. Gras wuchs. Blumen sprossen. »Baumstümpfe und Männer«, sagte er zu ihr. »In den Zwei Flüssen gibt es beides, und das eine gibt so schnell nach wie das andere.«

»Vielleicht seid Ihr da zu streng. Euch trieb nicht allein Sturheit an; es war der Wille, Euch selbst und allen anderen zu beweisen, dass Ihr es allein schafft.« Sie berührte seinen Arm. »Aber Ihr schafft es nicht allein, oder?«

Rand schüttelte den Kopf. Er griff nach Callandor, das er sich auf den Rücken geschnallt hatte, und berührte es. Das letzte Geheimnis des Schwertes lag nun offen vor ihm. Es war eine Falle, und eine überaus geschickte dazu, denn diese Waffe war nicht bloß ein Sa’angreal für die Eine Macht, sondern ebenfalls für die Wahre Macht.

Den Zugangsschlüssel hatte er weggeworfen, aber er trug etwas so Verführerisches auf seinem Rücken. Die Wahre Macht, die Essenz des Dunklen Königs, war die verlockendste Sache, die er jemals gefühlt hatte. Mit Callandor vermochte er eine Kraft in sich zu ziehen, wie sie so noch nie ein Mann zuvor gespürt hatte. Weil Callandor aber die Sicherheitsmaßnahmen der meisten anderen Angreale und Sa’angreale fehlten, konnte man unmöglich sagen, wie viel Macht es eigentlich in sich aufnehmen konnte.

»Und da ist es wieder«, murmelte Moiraine. »Was habt Ihr vor, Rand al’Thor, Wiedergeborener Drache? Könnt Ihr endlich genug nachgeben, um es mir zu sagen?«

Er musterte sie. »Habt Ihr diese ganze Unterhaltung begonnen, um mir das Geheimnis zu entlocken?«

»Ihr habt eine hohe Meinung von meiner Konversation.«

»Eine nichtssagende Antwort«, meinte Rand.

»Ja«, sagte Moiraine. »Aber darf ich darauf hinweisen, dass Ihr es zuerst gemacht habt, indem Ihr von meiner Frage abgelenkt habt?«

Rand überdachte die bisherige Unterhaltung und erkannte, dass es stimmte. »Ich werde den Dunklen König töten«, sagte er. »Ich werde nicht bloß seinen Kerker versiegeln, ich werde ihm ein Ende bereiten.«

»Ich glaubte, Ihr wärt während meiner Abwesenheit erwachsen geworden.«

»Perrin ist der Einzige, der erwachsen wurde«, sagte Rand. »Mat und ich haben lediglich gelernt, wie man vorgibt, ein Erwachsener zu sein.« Er zögerte. »Mat war nur nicht ganz so erfolgreich darin.«

»Der Dunkle König kann nicht getötet werden«, sagte Moiraine.

»Ich glaube, ich schaffe das«, sagte Rand. »Ich erinnere mich, was Lews Therin gemacht hat, da gab es einen Augenblick … einen kurzen Augenblick … Man kann es schaffen, Moiraine. Ich bin zuversichtlicher, dass ich eher das zustande bringe, als den Dunklen König einzukerkern.« Das stimmte, obwohl er in Wahrheit befürchtete, dass ihm weder das eine noch das andere gelang.

Fragen. So viele Fragen. Hätte er mittlerweile nicht ein paar Antworten finden müssen?

»Der Dunkle König ist ein Teil des Rades«, sagte Moiraine.

»Nein. Der Dunkle König steht außerhalb des Musters«, hielt Rand dagegen. »Er ist kein Teil davon.«

»Natürlich ist der Dunkle König ein Teil des Rades, Rand«, sagte Moiraine. »Wir sind die Fäden, aus denen sich das Muster zusammensetzt, und der Dunkle König beeinflusst uns. Ihr könnt ihn nicht töten. Das ist das Vorhaben eines Narren.«

»Ich war auch schon in der Vergangenheit ein Narr«, sagte Rand. »Und ich werde es wieder sein. Manchmal fühlt sich mein ganzes Leben an, als wäre es eine Aufgabe für einen Narren, Moiraine, alles, was ich getan habe. Was bedeutet da schon eine unmögliche Herausforderung mehr? Allen anderen bin ich begegnet. Vielleicht schaffe ich ja auch diese hier.«

Sie verstärkte den Griff um seinen Arm. »Ihr seid so sehr gewachsen, aber eigentlich seid Ihr noch immer ein Jüngling, nicht wahr?«

Rand brachte auf der Stelle seine Gefühle unter Kontrolle und unterdrückte eine geharnischte Antwort. Die sicherste Methode, als Jüngling betrachtet zu werden, bestand darin, sich wie einer zu benehmen. Hoch aufgerichtet stand er da und sprach leise. »Ich habe vier Jahrhunderte lang gelebt«, sagte er. »Vielleicht bin ich ja noch ein Jüngling, so wie wir das alle verglichen mit dem zeitlosen Alter des Rades sind. Davon abgesehen bin ich einer der ältesten Menschen, die es auf der Welt gibt.«

Moiraine lächelte. »Sehr hübsch. Funktioniert das bei den anderen?«

Er zögerte. Dann musste er seltsamerweise grinsen. »Bei Cadsuane hat es ganz gut funktioniert.«

Moiraine schnaubte. »Ach die … So wie ich sie kenne, habe ich meine Zweifel, dass Ihr sie so gut getäuscht habt, wie Ihr glaubt. Ihr mögt die Erinnerungen eines vier Jahrhunderte alten Mannes haben, Rand al’Thor, aber das macht Euch nicht uralt. Andernfalls wäre Matrim Cauthon der Patriarch von uns allen.«

»Mat? Warum Mat?«

Moiraine winkte ab. »Nichts. Etwas, das ich nicht wissen soll. In Eurem Herzen seid Ihr noch immer ein über alles staunender Schafhirte. Anders würde ich es auch gar nicht haben wollen. Trotz seiner ganzen Weisheit und Macht konnte Lews Therin nicht das tun, was Ihr tun müsst. Und wärt Ihr jetzt so nett und holt mir einen Tee?«

»Ja, Moiraine Sedai«, sagte er und ging sofort auf den Teekessel über dem Feuer zu. Dann erstarrte er und sah sie an.

Sie blickte ihn durchtrieben an. »Ich wollte bloß sehen, ob das noch funktioniert.«

»Ich habe Euch nie Tee geholt«, protestierte Rand und ging zurück zu ihr. »Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich Euch in den letzten Wochen, die wir miteinander verbrachten, herumkommandiert.«

»Das habt Ihr«, sagte Moiraine. »Denkt über das nach, was ich Euch zum Dunklen König gesagt habe. Aber jetzt stelle ich Euch eine andere Frage. Was habt Ihr jetzt vor? Warum nach Ebou Dar gehen?«

»Die Seanchaner«, erwiderte Rand. »Ich muss versuchen, sie auf unsere Seite zu ziehen, so wie ich es versprochen habe.«

»Wenn ich mich richtig erinnere, habt Ihr nicht versprochen, es zu versuchen, sondern dass Ihr dafür sorgt.«

»Bei politischen Verhandlungen hat das Versprechen, etwas ›zu versuchen‹, keinen großen Wert«, meinte Rand, »ganz egal, wie ernst es auch gemeint ist.« Er streckte die Hand aus und sah an ihr entlang aus dem geöffneten Zelteingang. Als wollte er versuchen, das Land im Süden zu ergreifen. Es sich zu nehmen, es für sich zu beanspruchen, es zu beschützen.

Der Drache auf seinem Arm leuchtete in Gold und Blutrot. »›Einmal steht der Drache für die verlorene Erinnerung.‹« Er hielt den anderen Arm hoch, der kurz nach dem Handgelenk in einem Stumpf endete. »›Noch einmal … steht der Drache für den Preis, den er zu zahlen hat.‹«

»Was wollt Ihr machen, wenn sich die seanchanische Anführerin wieder weigert?«, fragte Moiraine.

Er hatte ihr gar nicht erzählt, dass die Kaiserin ihn beim ersten Mal abgewiesen hatte. Man musste Moiraine nichts erzählen. Sie entdeckte es einfach.

»Ich weiß es nicht«, sagte Rand leise. »Wenn sie nicht kämpfen, Moiraine, dann verlieren wir. Wenn sie sich nicht dem Drachenfrieden anschließen, dann haben wir nichts.«

»Ihr habt zu viel Zeit für diesen Pakt verwendet«, meinte sie. »Er hat Euch von Eurem Ziel abgelenkt. Der Drache soll keinen Frieden bringen, sondern Zerstörung. Das könnt Ihr nicht mit einem Stück Papier ändern.«

»Wir werden sehen«, sagte Rand. »Ich danke Euch für Euren Rat. Für jetzt und für immer. Ich glaube nicht, dass ich das oft genug gesagt habe. Ich schulde Euch etwas, Moiraine.«

»Nun«, sagte sie. »Ich hätte noch immer gern eine Tasse Tee.«

Rand blickte sie ungläubig an. Dann lachte er und setzte sich in Bewegung, um ihn ihr zu holen.


Moiraine hielt die warme Tasse in den Händen, die Rand ihr geholt hatte, bevor er gegangen war. Seit sich ihre Wege getrennt hatten, war er zum Herrscher über so vieles geworden, und er war noch immer so bescheiden wie bei ihrer ersten Begegnung in den Zwei Flüssen. Vielleicht sogar noch mehr.

Mir gegenüber vielleicht, dachte sie. Er glaubt, er kann den Dunklen König töten. Das ist nicht das Zeichen eines bescheidenen Mannes. Rand al’Thor, eine so seltsame Mischung aus Zurückhaltung und Stolz. Hatte er endlich das richtige Gleichgewicht gefunden? Trotz ihrer Worte hatte sein Benehmen ihr gegenüber heute bewiesen, dass er kein Junge mehr war, sondern ein Mann.

Trotzdem konnte ein Mann Fehler machen. Oft waren sie weitaus gefährlicher.

»Das Rad webt, wie es das Rad will«, murmelte sie und trank den Tee. Von Rand zubereitet und von keinem anderen schmeckte er so köstlich wie in besseren Tagen. Nicht im Geringsten vom Schatten des Dunklen Königs berührt.

Ja, das Rad webte, wie es wollte. Manchmal wünschte sie sich, dieses Gewebe wäre leichter zu verstehen.


»Jeder weiß, was er zu tun hat?«, fragte Lan und drehte sich auf Mandarbs Sattel um.

Andere nickte. Er hatte den Herrschern die Botschaft persönlich überbracht, und von ihnen war sie an ihre Generäle und Kommandanten weitergegeben worden. Erst im letzten Augenblick war sie dann den Soldaten verkündet worden.

In ihrer Mitte würden sich Schattenfreunde befinden. Das taten sie immer. Es war unmöglich, eine Stadt von allen Ratten zu befreien, ganz egal, wie viele Katzen man holte. Wenn es das Licht wollte, würde diese Neuigkeit zu spät kommen, dass die Ratten den Schatten warnen konnten.

»Wir reiten«, sagte Lan und stieß Mandarb die Fersen in die Rippen. Andere hob sein Banner, die Flagge von Malkier, und galoppierte an seiner Seite. Die Ränge der Malkieri schlossen sich ihm an. Viele von ihnen hatten nur noch wenig Malkieri-Blut in den Adern und waren eigentlich Grenzländer anderer Nationen. Trotzdem hatten sie sich entschieden, unter seinem Banner zu reiten, und sie hatten den Hadori angenommen.

Abertausende Reiter ritten mit ihm, und die weiche Erde erbebte unter ihren Hufen. Für ihr Heer war es ein langer und harter Rückzug gewesen. Die Trollocs waren zahlenmäßig überlegen und stellten eine ernsthafte Bedrohung dar, Lans Männer einzukreisen. Seine berittene Armee war außerordentlich beweglich, aber es gab Grenzen, wie sehr man Soldaten antreiben konnte. Trollocs marschierten schneller. Schneller als Menschen, vor allem wenn die Blassen sie antrieben. Glücklicherweise behinderten die Feuersbrünste das Vorankommen der Schattenarmee. Ohne sie hätten Lans Männer nicht entkommen können.

Lan duckte sich im Sattel zusammen, als die Explosionen der Schattenlords begannen. Zu seiner Linken ritt der Asha’man Deepe, der wegen seines fehlenden Beines auf dem Sattel festgebunden war. Ein Feuerball heulte durch die Luft und senkte sich Lan entgegen, und Deepes Miene erstarrte vor Konzentration, während er die Hände nach vorn stieß. Das Feuer explodierte weit über ihnen in der Luft. Glühende Asche fiel wie blutroter Regen und zog Rauchfahnen hinter sich her. Eine Flocke traf Mandarb, und Lan wischte sie mit dem Panzerhandschuh fort. Das Pferd schien es nicht zu bemerken.

Hier war der Boden aus Lehm. Das Gelände bestand aus wogenden Hügeln voller verdorrtem Gras, Felsvorsprüngen und kleinen Wäldchen mit entblätterten Bäumen. Der Rückzug folgte dem Ufer des Mora; der Fluss würde die Trollocs daran hindern, ihnen von Westen in die Flanke zu fallen.

An zwei Stellen am Horizont stieg Rauch auf. Fal Dara und Fal Moran. Die beiden großartigsten Städte in Shienar, angezündet von der eigenen Bevölkerung. Genau wie ihre Bauernhöfe und Obstplantagen, wie alles, was den vordringenden Trollocs auch nur eine Handvoll Nahrung geben konnte.

Die Städte zu halten hatte nicht zur Debatte gestanden. Das bedeutete, dass man sie zerstören musste.

Es war Zeit, zurückzuschlagen. Lan führte einen Sturmangriff gegen das Zentrum des Trolloc-Heeres, und die Bestien hoben die Speere gegen die näher kommenden Malkieri und die schwere Kavallerie aus Shienar. Lan senkte seine Lanze und brachte sie über Mandarbs Hals in Position. Er beugte sich in den Steigbügeln nach vorn, hielt sich mit den Knien fest und hoffte, dass die Machtlenkerinnen – mittlerweile hatte er vierzehn, eine kleine Verstärkung von Egwene – ihren Teil leisteten.

Vor den Kreaturen brach der Boden auf. Ihre Frontlinie zersplitterte.

Lan wählte sein Ziel, einen riesigen Eber-Trolloc, der seine Gefährten anbrüllte, weil sie vor den Eruptionen zurückwichen. Die Lanze durchbohrte seinen Hals, und Mandarb schleuderte ihn zur Seite, während er eine der sich in der Nähe zusammenkauernden Bestien zertrampelte. Das Donnern der Kavallerie wurde zu einem ohrenbetäubenden Krachen, als die Reiter aufprallten und Schwung und Gewicht sie weit in die Masse der Trollocs hineintrugen.

Als sie langsamer geworden waren, warf Lan Andere die Lanze zu, der sie geschickt auffing. Seine Leibwache scharte sich um ihn, und er zog das Schwert. ›Der Holzfäller kappt den Schössling‹. – ›Apfelblüten im Wind‹. Vom Sattel aus boten die Tiermenschen leichte Ziele – ihre Größe präsentierte Hals, Schultern und Gesicht auf genau der richtigen Höhe.

Es war ein schnelles, brutales Werk. Deepe hielt Ausschau nach den Angriffen der feindlichen Schattenlords und wehrte sie ab. Andere setzte sich wieder an Lans Seite.

Lans Banner zog das Schattengezücht magisch an. Es fing an zu brüllen und zu wüten, und er hörte zwei Trolloc-Worte immer wieder. Murdru Kar. Murdru Kar. Murdru Kar. Er hieb mit dem Schwert um sich und vergoss kaltblütig ihr Blut, eingehüllt in das Nichts.

Nun hatten sie ihm Malkier zweimal genommen. Niemals würden sie sein Gefühl der Niederlage nachempfinden können, dass er seine Heimat abermals hatte verlassen müssen, diesmal aus eigener Entscheidung. Aber beim Licht, er konnte sie damit bekannt machen. Am besten mit seiner Klinge in ihrer Brust.

Die Schlacht versank im Chaos, wie es so oft geschah. Die Trollocs verfielen in Raserei; sein Heer hatte sie die letzten vier Tage nicht angegriffen. Es war nur zurückgewichen und hatte schließlich eine gewisse Kontrolle über den Rückzug errungen, zumindest genug, um Scharmützel zu vermeiden, was die Brände ermöglicht hatten.

Vier kampflose Tage, jetzt dieser Frontalangriff. Das war der erste Teil des Plans.

»Dai Shan!«, rief jemand. Prinz Kaisel. Er zeigte auf die Stelle, wo es den Trollocs gelungen war, einen Keil zwischen Lans Wache zu treiben. Sein Banner fiel.

Andere. Das Pferd das Mannes stürzte, während Lan Mandarb zwischen zwei Trollocs trieb. Prinz Kaisel und eine Handvoll Soldaten schlossen sich ihm an.

Lan konnte nicht vom Pferderücken aus weiterkämpfen, wenn er seinen Freund nicht aus Versehen niedertrampeln wollte. Er sprang aus dem Sattel, landete am Boden und duckte sich unter dem Schlag einer Bestie hinweg. Kaisel trennte ihr Bein oberhalb des Knies ab.

Lan rannte an dem stürzenden Trolloc vorbei. Neben ihm entdeckte er sein Banner und einen Mann. Er vermochte nicht zu sagen, ob er lebendig oder tot war, aber über ihm stand ein Myrddraal, der eine schwarze Klinge hob.

Lan kam wie ein Wirbel aus Stahl heran. Er parierte die Thakan’dar-Klinge und zertrampelte sein eigenes Banner, als er kämpfte. Im Nichts gab es keine Zeit für Gedanken. Da gab es nur Instinkt und Handeln. Da gab es nur …

Hinter Anderes totem Pferd erhob sich ein zweiter Myrddraal. Also war es eine Falle. Holt das Banner herunter und erregt Lans Aufmerksamkeit.

Die beiden Blassen griffen an, einer auf jeder Seite. Das Nichts wurde nicht erschüttert. Ein Schwert konnte keine Angst empfinden, und für diesen Augenblick war Lan das Schwert. ›Der Reiher spreizt die Schwingen‹. Er hieb um sich, wehrte die Klingen ab. Die Myrddraal waren wie fließendes Wasser, aber Lan war der Wind selbst. Er wirbelte zwischen ihren Schwertern umher, schlug den Angriff von rechts zurück, dann den von links.

Die Blassen fluchten vor Zorn. Der auf der linken Seite warf sich auf Lan, ein hämisches Lächeln auf den blutlosen Lippen. Lan glitt zur Seite, parierte den Stoß der Kreatur und schlug den Arm am Ellbogen ab. In einer flüssigen Bewegung raste sein Hieb weiter zu der Stelle, wo er wusste, dass der andere Blasse angreifen würde, und trennte ihm die Hand am Gelenk ab.

Beide Thakan’dar-Klingen schlugen klirrend auf dem Boden auf. Die Blassen erstarrten, einen Moment wie gelähmt. Lan köpfte den einen, dann fuhr er herum und stieß dem anderen die Klinge durch den Hals. ›Schwarze Kiesel auf dem Schnee‹. Er trat zurück und schüttelte das giftige Blut von der Klinge. Beide Blasse stürzten, hieben dabei unkontrolliert aufeinander ein.

Mindestens hundertfünfzig Trollocs stürzten in unmittelbarer Nähe zuckend zu Boden. Sie waren mit den Blassen verknüpft gewesen. Lan zerrte Andere aus dem Schlamm. Der Mann sah benommen aus und blinzelte, sein Arm hing in einem seltsamen Winkel vom Körper. Lan wuchtete ihn sich auf die Schulter und beförderte sein Banner mit einem gezielten Tritt mit der Stiefelspitze nach oben in seine freie Hand.

Er rannte zurück zu Mandarb – das Gebiet um ihn herum war mittlerweile von Trollocs gesäubert worden – und drückte einem von Prinz Kaisels Männern das Banner in die Hand. »Kümmert Euch darum, dass es gesäubert wird, dann hebt es wieder.« Er legte Andere vor seinen Sattel, stieg auf und wischte das Schwert an der Satteldecke sauber. Der Mann schien nicht tödlich verletzt zu sein.

Irgendwo hinter sich bekam er Prinz Kaisels Stimme mit. »Bei meinen Vätern!«, sagte der Mann. »Ich hatte ja gehört, dass er gut ist, aber … Licht!«

»Das reicht«, sagte Lan nach einem Blick über das Schlachtfeld. Er ließ das Nichts los. »Deepe, gebt das Signal.«

Der Asha’man gehorchte und schickte einen roten Lichtstrahl in den Himmel. Lan drehte Mandarb und zeigte mit seinem Schwert zurück zum Lager. Seine Streitmacht sammelte sich um ihn. Der Angriff war von vornherein nur als kurze Attacke mit anschließendem sofortigem Rückzug geplant gewesen. Sie hatten keine kompakte Schlachtlinie aufgebaut. Das war bei einem Kavallerieangriff eher schwer zu bewerkstelligen.

Seine Truppen zogen sich zurück, und die Saldaeaner und Arafeler trafen in kurzen, aufeinanderfolgenden Wellen ein, um die Linien der Tiermenschen aufzubrechen und den Rückzug zu decken. Mandarb troff vor Schweiß; nach einem Sturmangriff zwei gepanzerte Männer zu tragen war für ein Pferd eine große Anstrengung. Lan reduzierte das Tempo, jetzt, da sie aus der direkten Kampfzone heraus waren.

»Deepe«, fragte Lan, als sie die wartenden Linien erreichten. »Wie geht es Andere?«

»Er hat ein paar gebrochene Rippen, einen gebrochenen Arm und eine Kopfverletzung. Es würde mich überraschen, wenn er im Augenblick bis zehn zählen könnte, aber ich habe schon Schlimmeres gesehen. Ich werde die Kopfwunde Heilen, der Rest kann warten.«

Lan nickte und zügelte den Hengst. Einer seiner Leibwächter – ein mürrischer Mann namens Bensih, der einen tarabonischen Schleier trug, obwohl er darüber einen Hadori hatte – half, Andere von Mandarb zu nehmen; sie hielten ihn vor Deepes Pferd aufrecht. Der einbeinige Asha’man beugte sich in seinem Riemengeflecht, das ihn im Sattel hielt, nach vorn, legte Andere die Hand auf den Kopf und konzentrierte sich.

Der ziellose Blick verschwand aus Anderes Augen, und er nahm seine Umgebung wieder wahr. Dann fing er an zu fluchen.

Er wird wieder, dachte Lan und sah zurück zum Schlachtfeld. Das Schattengezücht wich zurück. Bald würde die Abenddämmerung hereinbrechen.

Prinz Kaisel trabte heran. »Die saldaeanische Flagge trägt den roten Streifen der Königin«, sagte er. »Sie reitet wieder mit ihnen, Lan.«

»Sie ist ihre Königin. Sie kann tun, was sie will.«

Kaisel schüttelte den Kopf. »Ihr solltet mit ihr reden. Lan, das ist einfach nicht richtig. Im Heer der Saldaeaner haben auch andere Frauen angefangen mitzureiten.«

»Ich habe Saldaeanerinnen beim Übungskampf zugesehen«, sagte Lan, der noch immer das Schlachtfeld betrachtete. »Müsste ich bei einem Zweikampf zwischen ihnen und einem Mann aus einer Armee des Südens eine Wette platzieren, würde ich jeden Tag auf die Saldaeanerin setzen.«

»Aber …«

»Dieser Krieg geht um alles oder nichts. Falls ich jede Frau in den Grenzlanden zusammenholen und ihnen ein Schwert in die Hand drücken könnte, dann würde ich das tun. Im Augenblick beschränke ich mich darauf, nichts Dummes zu tun – so wie ausgebildeten und leidenschaftlichen Soldaten den Kampf zu verbieten. Falls Ihr jedoch nicht so besonnen sein wollt, könnt Ihr ihnen gerne sagen, was Ihr davon haltet. Ich sorge auch für ein anständiges Begräbnis, sobald sie mich Euren Kopf von dem Pfahl abnehmen lassen, versprochen.«

»Ich … ja, Lord Mandragoran«, sagte Kaisel.

Lan nahm das Fernrohr und musterte das Feld.

»Lord Mandragoran?«, sagte Kaisel. »Glaubt Ihr wirklich, dass der Plan funktioniert?«

»Da sind zu viele Trollocs«, erwiderte Lan. »Die Anführer der Armeen des Dunklen Königs haben sie seit Jahren wie Unkraut gezüchtet. Die Tiermenschen fressen eine ganze Menge; jeder von ihnen braucht am Tag mehr Essen als ein Mensch.

Mittlerweile müssen sie die Fäule vollkommen leer gefressen haben. Der Schatten hat jeden Krümel Nahrung verbraucht, der da war, um diese Armee zu erschaffen, und sich darauf verlassen, dass die Trollocs die Leichen der Gefallenen fressen können.«

Und in der Tat, jetzt, da die Schlacht unterbrochen war, schwärmten die Trollocs auf ihrer widerwärtigen Nahrungssuche über das Feld. Sie zogen Menschenfleisch vor, aber sie würden auch die eigenen Toten nicht verschmähen. Lan war vier Tage vor ihrem Heer zurückgewichen und hatte ihnen nichts zum Fressen übrig gelassen.

Das war ihnen nur gelungen, weil Fal Dara und Fal Moran und die anderen Städte im westlichen Shienar niedergebrannt worden waren. Trollocs kannten keine Nachschublinien; sie fraßen, was sie fanden. Sie würden rasenden Hunger haben. Lan betrachtete sie durch das Fernrohr. Viele von ihnen warteten nicht auf die Kochtöpfe. Sie waren bedeutend mehr Tier als Mensch.

Sie sind viel mehr Schatten als die beiden anderen zusammen, dachte Lan und senkte das Fernrohr. Sein Plan war morbid, aber er würde sehr effektiv sein, wenn es dem Licht gefiel. Seine Männer würden kämpfen, und es würde Verluste geben. Diese Verluste würden der Köder für die eigentliche Schlacht sein.

»Jetzt«, flüsterte er.

Lord Agelmar sah es auch. Die Hörner ertönten, und ein gelber Lichtstreifen stieg in die Luft. Lan drehte Mandarb, und das Pferd schnaubte. Es war müde, aber das war Lan auch. Sie beide konnten eine weitere Schlacht durchstehen. Sie mussten es.

»Tai’shar Malkier!«, brüllte Lan, senkte das Schwert und führte seine Streitmacht zurück aufs Feld. Alle fünf Grenzländerarmeen kamen bei der auseinandergerissenen Horde Schattengezücht zusammen. Die Trollocs hatten ihre Linien völlig aufgelöst, um sich um die Leichen zu streiten.

Als Lan ihnen entgegendonnerte, hörte er die Myrddraal in dem Versuch herumbrüllen, die Tiermenschen erneut Aufstellung nehmen zu lassen. Dazu war es viel zu spät. Viele der ausgehungerten Bestien schauten erst auf, als die Armeen sie fast erreicht hatten.

Als Lans Streitkräfte dieses Mal zuschlugen, erzeugten sie eine ganz andere Wirkung. Zuvor war der Angriff von den dichten Reihen der Trollocs verlangsamt worden, und sie waren nur ein Dutzend Schritte eingedrungen, bevor sie gezwungen gewesen waren, mit Schwertern und Äxten weiterzumachen. Dieses Mal hatten sich die Tiermenschen verteilt. Lan signalisierte den Shienarern, als Erste zuzuschlagen; ihre Reihen waren so eng, dass man Mühe gehabt hätte, einen größeren Abstand als zwei Schritte zwischen den Pferden zu finden.

Das ließ den Trollocs keinen Platz, um wegzulaufen oder sich zu ducken. Die Reiter trampelten sie mit donnernden Hufen und klirrenden Pferderüstungen nieder, spießten die Kreaturen mit ihren Lanzen auf, schossen Reiterbögen ab, schlugen mit Bihändern um sich. Der Angriff der Shienarer mit ihren offenen Helmen und Plattenrüstungen schien eine ganz besondere Grausamkeit zu haben.

Hinter ihnen führte Lan seine Malkieri heran. Sie ritten quer über das Feld, um jedes der Ungeheuer zu töten, das den ersten Ansturm überlebt hatte. Sobald die Shienarer durch waren, brachen sie nach rechts aus, um sich für einen weiteren Ansturm zu formieren, aber nun kamen die Arafeler hinter ihnen und töteten weiteres Schattengezücht, das sich zu sammeln versuchte. Nach ihnen kam eine Welle Saldaeaner, die wie zuvor die Malkieri quer über das Feld rasten, dann kamen die Kandori aus der anderen Richtung.

Schwitzend und mit müdem Schwertarm bereitete sich Lan erneut vor. Da wurde ihm erst bewusst, dass Prinz Kaisel das Banner von Malkier trug. Er war kaum mehr als ein Junge, aber sein Herz saß auf dem richtigen Fleck. Auch wenn er irgendwie dumme Ansichten über Frauen hatte.

Licht, aber auf die eine oder andere Weise haben wir die alle, dachte Lan. Nynaeves ferne Gefühle spendeten ihm durch den Bund Trost. Bei der Entfernung konnte er nur wenige Einzelheiten ausmachen, aber sie erschien entschlossen.

Als Lan mit seinem zweiten Sturmritt begann, explodierte plötzlich der Boden unter seinen Männern. Die Schattenlords hatten endlich begriffen, was geschehen war, und waren zurück zur Frontlinie gekommen. Lan lenkte Mandarb um einen Krater herum, der direkt vor ihm im Boden explodierte und Erde gegen seine Brust schleuderte. Das Auftauchen der Schattenlords war sein Signal, die Sturmangriffe einzustellen; er wollte in die feindlichen Linien reiten, hart zuschlagen und sich wieder vom Feind lösen. Um die Schattenlords zu bekämpfen, hätte er alle seine Machtlenker einsetzen müssen, was er aber nicht wollte.

»Blut und verdammte Asche!«, fluchte Deepe, als Lan eine weitere Explosion umrundete. »Lord Mandragoran!«

Lan warf einen Blick über die Schulter. Deepe zügelte sein Pferd.

»Bleibt in Bewegung, Mann«, rief Lan und zügelte Mandarb. Er signalisierte seinen Leuten weiterzureiten, obwohl Prinz Kaisel und seine persönliche Schlachtfeldleibgarde mit ihm zusammen anhielten.

»Oh, beim Licht!«, stieß Deepe hervor und konzentrierte sich.

Lan ließ Mandarb sich drehen. Überall um sie herum lagen tote oder sterbende Trollocs, die heulten oder einfach nur noch wimmerten. Zu seiner Linken formierte sich verspätet eine Horde Schattengezücht. Die Tiermenschen würden bald eine geschlossene Linie haben, und wenn er und die anderen nicht in Bewegung kamen, würden sie bald ganz allein auf dem Feld sein.

Deepe hielt den Blick auf eine Gestalt gerichtet, die oben auf einem Gefährt stand, das an eine große Belagerungsmaschine erinnerte; sie hatte eine flache Ladefläche und war vielleicht zwanzig Fuß hoch. Eine Gruppe Trollocs zog sie auf großen Holzrädern.

Ja, dort oben war eine Gestalt. Sogar mehrere. Feuerbälle fielen auf die wegreitenden Grenzländer, Blitze zuckten vom Himmel. Plötzlich kam sich Lan wie ein Ziel auf einem Schießplatz vor.

»Deepe!«

»Es ist der M’Hael!«, erklärte Deepe.

Ungefähr die ganze letzte Woche war Taim nicht bei der Feindesarmee gewesen – aber anscheinend war er nun zurückgekehrt. Wegen der Entfernung war das unmöglich genau zu sagen, aber wenn man betrachtete, wie der Mann mit Geweben der Macht um sich warf, schien er wirklich wütend zu sein.

»Lasst uns reiten!«, rief Lan.

»Ich kann ihn erwischen«, sagte Deepe. »Ich kann …«

Ein Lichtblitz blendete Lan, Mandarb stieg auf die Hinterbeine. Fluchend blinzelte Lan und versuchte, seinen Blick zu klären. Mit seinen Ohren stimmte auch etwas nicht.

Mandarb bockte zitternd. Es brauchte einiges, um den Hengst aus der Fassung zu bringen, aber ein Blitzeinschlag in dieser Nähe würde jedes Pferd durchgehen lassen. Ein zweiter Blitz schleuderte Lan zu Boden. Grunzend rollte er herum, aber etwas tief in ihm wusste er, was zu tun war. Als sich seine Sinne klärten, stand er bereits mit dem Schwert in der Hand auf den Beinen, auch wenn ihm schwindlig war. Er stöhnte und stolperte.

Hände packten ihn, zogen ihn auf einen Sattel. Prinz Kaisels Gesicht war vom Kampf blutverschmiert, aber er hielt Mandarbs Zügel. Lans Leibwächter sorgten dafür, dass er aufrecht im Sattel saß, als sie die Pferde antrieben.

Als sie flohen, konnte er einen Blick auf Deepes Leiche werfen, die verstümmelt und in mehrere Stücke zerfetzt auf dem Boden lag.

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