8 Versklavt

Wie immer sah Anvar den feigen Fuß nicht, der ihn zu Fäll brachte. Er trug gerade eine schwere Tonne voller Fleischabfälle und Gemüsereste zur Hoftür der Küche, als er den scharfen Schmerz an seiner Ferse spürte. Dann lag er, in einem Wust von Blut und stinkenden Abfällen, am Boden, lang ausgestreckt auf den Steinplatten, die er erst am Morgen gescheuert hatte.

Die wütende Stimme des Küchenmeisters brachte das Gekicher der restlichen Küchenmannschaft zum Verstummen. »Blöder Tölpel von einem Hornochsen!« Janoks schwerer Stiefel traf Anvar wuchtig in den Magen, in die Rippen und ins Gesicht. Janok nahm einen Besen von seinem Haken an der Wand und begann, auf den Jungen einzuschlagen, während er ihn ununterbrochen beschimpfte. Anvar schrie jedesmal auf, wenn der schwere Stiel des Besens auf seinen Rücken oder seine Schultern niederging. Er versuchte, fortzukriechen, um den Schlägen zu entgehen, aber seine Hände rutschten auf dem glitschigen Abfall aus, und er fiel mit dem Gesicht in die blutige Masse. Sein Kinn schlug hart auf dem Steinboden auf. Nur noch verschwommen hörte er jemanden lachen. Das rettete ihn. Rasend vor Zorn drehte sich Janok zu den anderen Knechten um, die ihm zusahen. »Was steht ihr da herum? Macht euch an eure Arbeit, bevor ich euch alle durchprügele. Es sind nur noch zwei Stunden bis zur Sonnenwendfeier!« Er warf Anvar den Besen hin und gab ihm zu guter Letzt noch einen Tritt. »Mach diesen Mist wieder sauber, du!«

Anvar richtete sich mühsam auf – getrieben von der Angst, was ihm bevorstand, falls er es nicht schaffte. Ihm war übel, und er bekam keine Luft; sein Körper krümmte sich in einem einzigen Schmerz zusammen. Vorsichtig betastete er die Hälfte seines Gesichtes, die Janoks Stiefel getroffen hatte. Es schien nichts gebrochen zu sein, aber sein Kiefer schmerzte, und zu den Verletzungen, die Janoks Faust gestern und vorgestern hinterlassen hatte, waren einige weitere hinzugekommen. Schließlich gelang es ihm, auf den Besen gestützt, zitternd aufrecht zu stehen. Niemand bot ihm Hilfe an. Steif und unter Schmerzen begann er, den Unrat aufzufegen. Er würde den Boden noch einmal schrubben müssen.

Die vier Monate, die Anvar bisher in der Küche der Akademie durchlitten hatte, waren wie ein einziger Alptraum gewesen. Die Magusch waren zwar nur noch zu acht, aber sie waren sehr eigen in ihren Eßgewohnheiten; sie aßen getrennt, jeder zu seiner bestimmten Zeit und in seinen eigenen Räumen, und die aufwendige Mahlzeit mußte für jeden anders beschaffen sein – gemeinsame Mahlzeiten in der Großen Halle, die an die Küche grenzte, gab es normalerweise nicht. Das bedeutete viel Arbeit für die Küche, und die unangenehmsten Aufgaben davon wies Janok stets Anvar zu. Der Küchenmeister war ein übellauniger Schinder, der das gesamte Küchenpersonal peinigte, aber auf Anvar hatte er es besonders abgesehen.

Jeden Tag scheuerte Anvar die schmierigen Steinplatten, schälte Wurzelgemüse und wusch einen endlosen Berg von Tellern ab, bis seine Hände rissig und rauh waren. Janok ließ ihn die geschwärzten Kupfertöpfe scheuern und polieren, bis sie glänzten. Anvar putzte das Silber, brachte die Abfälle hinaus und holte und zerkleinerte das Holz für die Ofen- und Küchenherde, bis sein Rücken schmerzte. Zu essen bekam er nichts außer Küchenabfällen. Wenn Anvar irgend etwas fallen ließ oder zerbrach, wurde er geschlagen. Wenn er es geschafft hatte, den Tag bis zum Abend durchzustehen, ohne Ungemach auf sich zu ziehen, dann fand Janok gewiß doch noch irgendeinen Grund, um ihn zu prügeln.

Es wäre vielleicht einfacher für ihn gewesen, wenn es ihm gelungen wäre, mit einem der anderen Küchenknechte Freundschaft zu schließen – aber die waren allesamt elende, mürrische Gestalten, denen es nur recht war, wenn ein anderer die Hauptlast der Launen des Küchenmeisters zu tragen hatte. Janok war es ein Vergnügen gewesen, ihnen zu erzählen, daß Anvar der Mörder seiner eigenen Mutter war – und wie es mit dem Klatsch in der Küche so geht, wurde die Geschichte von jedem, der sie weitererzählte, um einige Einzelheiten bereichert. Also sprach niemand mit ihm, außer um ihn zu schelten oder ihm Befehle zu erteilen, und alle bemühten sich nach Kräften, ihn mit grausamen Streichen in Schwierigkeiten zu bringen. Wenn er nicht hinschaute, schütteten sie kochendes Wasser in die Töpfe, die er spülte, so daß er sich die Hände verbrühte. Wenn er das Silber putzte, verschwanden regelmäßig einige der angelaufenen Stücke, um wieder zu erscheinen, sobald Janok den Raum betrat. Wenn er heiße Speisen oder Tabletts voller Teller trug, stellte man ihm ein Bein oder gab ihm hinterrücks einen Stoß, so daß seine Last zu Boden flog. Sie machten ihn auch für ihre eigenen Fehler verantwortlich. Wenn irgend etwas in der Küche falsch lief, dann war stets Anvar der Schuldige.

Das, was der Erzmagusch ihm angetan hatte, bereitete dem Jungen ständige Qualen. Wie war er hierhergekommen? Jedesmal, wenn er sich daran zu erinnern versuchte, was in Miathans Quartier geschehen war, wurden seine Gedanken durch den Schmerz ausgelöscht, der ihm den Schädel zu zerschneiden schien. Nach einer Weile erwies es sich als das einfachste für ihn, zu glauben, daß er die Strafe für Rias Tod erleide. Anvar verzehrte sich vor Trauer um seine Mutter, und er glaubte wirklich, daß es seine Schuld war. Wenn er nur pünktlich gewesen wäre, lebte sie noch. War es nicht das gleiche, als ob er sie umgebracht hatte? Seine Verzweiflung war so groß, daß nur der Gedanke an Sara ihn davon abhielt, sich das Leben zu nehmen. Was war aus ihr geworden? Er hatte sie im Stich gelassen, als sie ihn brauchte. Anvar machte es krank vor Sorge, was ihr wohl zugestoßen sein könnte – ihr und ihrem ungeborenen Kind. Aber er war hilflos – gefangen in der Akademie, das auffällige Sklavenmal der Magusch mit unauslöschlicher Farbe auf den Rücken seiner linken Hand tätowiert. Am Anfang, bevor sein Wille gebrochen war, hatte er überlegt, ob er in einer der Karren, die jeden Tag frische Produkte von den Märkten zur Akademie brachten, einen Fluchtversuch wagen sollte, aber es war hoffnungslos. Janok hielt ihn ständig unter Beobachtung, und selbst wenn er es geschafft hätte, herauszukommen – die Strafen für entlaufene Sklaven waren streng.

Nun stand die Wintersonnenwende bevor, aber der Festtag brachte Anvar keine Freude. Als sie endlich mit den Vorbereitungen für die Sonnenwendfeier der Magusch fertig waren, stand es dem Küchengesinde frei, ebenfalls das Fest zu feiern. Fässer mit Ale wurden angezapft, und bald war ein lärmendes Gelage im Gange. Es wurde gegessen, getrunken – sehr viel getrunken, und es gab jede Menge derber Spaße. Betrunkene Paare tanzten auf den Tischen herum, auf denen morgen wieder Speisen zubereitet werden sollten, und Janok legte sich gerade die jüngste der Wäscherinnen bäuchlings über die Mehlsäcke, die in einer Ecke aufgestapelt waren. Sein gerötetes, schweißüberströmtes Gesicht verzerrte sich zu einem boshaften Grinsen, als er ihre Röcke hochhob: Nach ihren erstickten Schreien zu urteilen, genoß sie die Erfahrung nicht gerade, aber Janok war der unumschränkte König seines kleinen Reiches und ließ ihr keine Wahl.

Anvar, der von seinem feuchten und schmutzigen Schlafplatz hinter dem Abfluß aus zusah, wurde schlecht vor Ekel. Sie hatten ihn von der Feier ausgeschlossen, und diesmal war er froh darüber. Jetzt, da alle feierten, vermißte er sein Zuhause und seine Familie am stärksten. Anvar kauerte sich in seinem engen Versteck zusammen und überließ sich dem Schmerz seiner Prellungen und seinem Kummer. Wäre er an jenem Morgen nicht zu spät gewesen, dann lebte Ria jetzt noch! Er und Sara wären verheiratet und freuten sich auf die Geburt ihres Kindes im Frühjahr. Anvar fragte sich, wo sie heute abend wohl war und wie sie die Sonnenwendfeier verbrachte. Von Verzweiflung überwältigt, begann er zu weinen.

Er war am Ende. Sein Körper war geschwächt und schmerzte von der ständigen Schinderei und Janoks rohen Schlägen, und die Arbeit in der Küche war heute eine einzige Raserei gewesen. Trotz des Lärms fiel er schließlich in Halbschlaf. Als er wieder erwachte, herrschte Stille. Das Feuer war niedergebrannt und das Gesinde dort, wo es gesessen und gelegen hatte, eingeschlafen. Knechte und Mägde schnarchten und schliefen ihren Rausch aus. Anvar richtete sich auf; sein Schmerz und seine Müdigkeit waren vergessen. Das war seine Chance, zu entkommen! Wenigstens würde er Sara sehen können und wüßte, wie es ihr ginge. Vielleicht konnten sie zusammen fliehen!

Die Große Halle, dachte D’arvan, sieht in ihrem festlichen Schmuck großartig aus. Er liebte diesen weitläufigen, beeindruckenden Saal. Irgendwie hatte er sich hier immer am meisten zu Hause gefühlt. Die Doppelreihe tragender Säulen, sorgfältig aus dunklem Stein in Form von Bäumen geschnitten, deren Zweige sich ineinander verschlangen, um die Decke zu tragen, war dekoriert mit beerenbehangenem Immergrün, und in Kristallkugeln an den Wänden loderte goldenes Maguschlicht. Die tanzenden Flammen scharlachroter Kerzen spiegelten sich auf dem polierten Holz der Tische, und in dem massiven Kamin prasselte ein gewaltiges Holzfeuer.

Es war schon spät, und die meisten Magusch hatten sich bereits zurückgezogen. Elewin, der Haushofmeister der Akademie, war oben auf der Galerie und brachte den ermüdeten Musikern Glühwein, um sie für ihren Heimweg durch den Schnee zu stärken, während andere Bedienstete die Reste des Festbanketts abräumten. Obwohl aus Tradition zur Sonnenwendfeier nur wilde Früchte und Beeren gegessen wurden, hatte Janok sich dieses Jahr selbst übertroffen. Die Palette der Speisen war überwältigend gewesen: Hirschkeule und geröstetes Wildschwein, gefüllt mit Kräutern und wilden Äpfeln; geröstete Fasane und Schwäne, die in ihrem eigenen Gefieder serviert wurden; Pasteten aus Tauben und Kaninchen. Saftige Forellen aus den Bächen des Gebirges waren mit geraspelten Mandeln gebraten worden; dann gab es wilde Wurzelgemüse und Wintersalate, getrocknete Pilze in einer mit wildem Knoblauch gewürzten Soße, dazu einen ganzen Berg Trüffeln. Während der Vegetationsperiode hatte Janok seine besten Leute in die Wälder rings um die Stadt geschickt, um die Zutaten für diese Festmahlzeit zu sammeln, und er hatte die Früchte und Beeren in Sirup und Dessertweinen eingelegt, um daraus Kuchen, Torten und andere süße Leckereien zu bereiten. D’arvan ließ sich in seinem Sitz zurückfallen und löste seinen Gürtel. Was war das für ein Festschmaus gewesen!

Aurians Gähnen riß ihn aus seinen Gedanken. »Nun, das war es dann für mich«, sagte sie. »Ich bin erschöpft. Forral hat mich beim Schwerttraining heute morgen furchtbar durchgebleut, und morgen in aller Frühe steht mir wieder das gleiche bevor, Sonnenwendtag hin oder her. Gute Nacht, D’arvan.«

»Gute Nacht, Aurian und …« D’arvan verfluchte seine erbärmliche Schüchternheit, die ihm die Zunge lähmte. »Und ich danke dir dafür, daß du mir heute abend Gesellschaft geleistet hast«, sagte er schließlich leise.

Aurian lächelte. »Ich danke dir, D’arvan. Ich wüßte nicht, was ich ohne dich hätte tun sollen. Bei unseren Göttern, sind diese Maguschfeste langweilig!« Die Wärme, mit der sie das sagte, tat ihm gut. Sie hatte fast den ganzen Abend an seiner Seite verbracht, ihm von ihrem Unterricht in der Heilkunde bei Meiriel und von ihren neuen Freunden bei den Sterblichen aus der Garnison erzählt – aber er hatte die ganze Zeit vermutet, daß sie ihm nur aus Mitleid Gesellschaft leistete, da Davorshan seine Gegenwart in so verletzender Weise ignorierte. Sein Zwillingsbruder hatte die ganze Nacht hindurch mit Eliseth getanzt, mit Eliseth gegessen, mit ihr gelacht und geflirtet. Er hatte Augen für niemanden außer für sie. Jetzt saß das Paar in der Nähe des Feuers über seine Weinkelche gebeugt und ins Gespräch vertieft.

Als wüßte sie, was ihn quälte, warf Aurian Eliseth und deren hingerissenem Gefährten einen finsteren Blick zu. »D’arvan«, sagte sie, »es geht mich ja eigentlich nichts an, aber vielleicht bringst du zu viel Zeit mit deinem Bruder zu. Wenn du möchtest, bis du herzlich eingeladen, mich ab und zu auf meinen Besuchen bei der Garnison zu begleiten. Es sind gute Leute dort, sie würden dir gefallen, und ich denke, du könntest etwas andere Gesellschaft gebrauchen.«

D’arvan starrte sie an, verblüfft und um eine Antwort verlegen. Sich mitten unter eine Meute Fremder begeben? Allein? Die Vorstellung erschreckte ihn. Er hatte niemals etwas ohne seinen Bruder getan! Aber dennoch genoß er die Freundlichkeit ihres Angebotes. Sie schien bemerkt zu haben, daß Davorshan während der letzten Monate mehr und mehr Zeit mit Eliseth und ihren Freunden verbrachte.

D’arvan rang unter dem Tisch die Hände und versuchte, seine Verzweiflung zu unterdrücken. Davorshan hatte ihm gesagt, daß die Wettermagusch ihm beibringen wolle, seine noch schlummernden Kräfte zu entwickeln. Wenn das zutraf – und sein Bruder log ihn niemals an –, dann war er, D’arvan, der einzige Magusch an der Akademie, dem keinerlei magische Kräfte zu eigen waren. Er erschauderte. Wie lange würde Miathan ihn noch dulden, wenn er nicht die den Magusch eigenen Fähigkeiten entwickelte? Wo sollte er hingehen, wenn der Erzmagusch ihn ausschloß?

»Geht es dir gut?« Aurian klang besorgt.

D’arvan hätte nichts lieber getan, als sich ihr anzuvertrauen und sie um Hilfe zu bitten. – Ja, bei den Göttern, er brauchte ihre Freundschaft, er brauchte sie sofort! Aber seine armselige Schüchternheit verdammte ihn zum Schweigen, und er wollte nicht, daß sie schlecht über seinen Bruder dachte. Er wußte nicht warum, aber sie hatte Davorshan nie gemocht. »Ich bin wohl müde«, gab er vor. »Ich denke, ich werde schlafen gehen.«

Aurian zog skeptisch eine Augenbraue hoch und zuckte dann leicht mit den Schultern. »Gute Idee – das werde ich ebenfalls. Aber überleg dir doch auf jeden Fall, was ich gesagt habe. Du kannst jederzeit auf das Angebot zurückkommen, und wenn du jemals jemanden brauchst, mit dem du sprechen kannst – nun, ich stehe zur Verfügung.«

Als sie gegangen war, blieb D’arvan allein zurück und wartete auf seinen Bruder. Schließlich, nachdem ihm die Zeit zu lang geworden war, ging er hinüber, um seinem Zwillingsbruder eine gute Nacht zu wünschen. Davorshan saß neben Eliseth, den Arm um ihre Schulter gelegt. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und unterhielten sich leise. Die Magusch war in ihrem langen Kleid von glänzendem Eisblau eine geradezu atemberaubende Erscheinung. Sie hatte ihr langes Haar sorgfältig geflochten und mit einem dünnen, durchbrochenen Silberkettchen umschlungen. Als D’arvan sich zögernd näherte, sah Davorshan abweisend zu ihm auf. Wie immer mit den Gedanken seines Zwillingsbruders in Verbindung, spürte D’arvan dessen Verdruß, ein Aufflackern von Schuld – und noch etwas. Etwas Falsches. Bevor er es identifizieren konnte, schlug Davorshans Schild nieder und schloß ihn aus. Zum ersten Mal in ihrem Leben. D’arvan taumelte, als wäre er geschlagen worden. Niemals zuvor hatte er sich so allein gefühlt – als ob ein Teil seiner selbst ihm roh entrissen worden wäre. Die Isolation – der Verlust – die Unsicherheit – Schmerz und Verwirrung überwältigten ihn so sehr, daß er nicht mehr sprechen konnte.

»Wie kannst du es wagen, mir nachzuspionieren!« rief Davorshan, dessen Gesicht krebsrot anlief. »Es macht mich krank, wenn du mich ständig mit diesem pathetischen Gesichtsausdruck verfolgst! Laß mich in Ruhe, hörst du? Laß mich allein!« D’arvan war wie erstarrt über die bittere Feindseligkeit in der Stimme seines Bruders. Er hatte Mühe, ein Schluchzen zu unterdrücken, und floh. Der Klang von Eliseths silbrigem Lachen verfolgte ihn.

Anvar schlich sich auf Zehenspitzen durch die riesige Küche und versuchte vorsichtig, einen Weg um die schnarchenden Schläfer herum zu finden. Geräuschlos öffnete er die Tür; der Wind blies ihm feinen Schnee ins Gesicht. Er zog sich einen leeren Mehlsack als Schutz über Kopf und Schultern und schlüpfte hinaus. Leise schloß er die Tür hinter sich. Die Nacht war bitter kalt. Der finstere Innenhof lag verwaist, und auch im Maguschturm brannte kein Licht mehr. Die beiden Wachen am oberen Tor saßen im Torhaus über einen Ofen gebeugt bei einer wärmenden Flasche; sie spielten Würfel und hüteten sich, nach draußen in den eisigen Wind zu gehen, der an Anvars schmutzstarrenden, zerlumpten Kleidern zerrte, während er im Dunkeln wartete. In Abständen von ungefähr einer Minute sah eine der Wachen vom Spiel auf und blickte zum Tor hinüber. Anvar fluchte. Er mußte entkommen – er mußte! Aber wie? Der eisige Wind ließ seinen Körper schnell auskühlen, und mit jeder Minute, die er hier wartete, wuchs die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden.

Stimmen! Anvar sprang auf. Sein Herz hämmerte wild, während er vorsichtig um die Ecke des Gebäudes lugte. Er sah, wie das Tor der Großen Halle geöffnet wurde und sich goldenes Licht über den Schnee ergoß. Einige Gestalten kamen heraus, alle in Mäntel und Kapuzen gehüllt; sie trugen verschiedene, merkwürdig geformte Dinge mit sich, die alle gut gegen die Kälte eingewickelt waren. Natürlich! Anvar erinnerte sich, daß auch Musikanten zu dem Fest der Magusch kommen sollten. Und jetzt kehrten sie heim. Verließen die Akademie!

Ohne zu wagen, an die drohenden Gefahren zu denken, versteckte sich Anvar im Dunkel des engen Ganges zwischen der Krankenstation und der Küche, bis alle Musiker auf ihrem Weg zum Tor an ihm vorbei waren, wie ein Blitz überquerte er in gebückter Haltung den freien Raum zwischen sich und ihnen und schloß sich als letzter der Gruppe an. Er hoffte, daß der Sack über seinem Kopf in der Dunkelheit als Kapuze durchgehen würde. Die ermüdeten Musiker, die in ihre Mäntel eingemummt waren und nur den einen Gedanken hatten, schnell aus der Kälte heraus und nach Hause zu kommen, bemerkten nicht, daß sich ihre Anzahl vergrößert hatte. Und auch den beschwipsten Wachmännern fiel das nicht auf. »Fröhliche Sonnenwende«, riefen sie den passierenden Musikern zu. Als die Tore hinter der Gruppe vermummter Gestalten ins Schloß fielen, seufzte Anvar vor Erleichterung.

Im Torhaus am Fuß des Hügels hatte ein neuer Wachmann Dienst, jünger als der, den Anvar vor Jahren gesehen hatte. Er machte sich gerade über seinem kleinen Feuer einen Krug Ale heiß, als die Musikanten näher kamen, und interessierte sich mehr für seinen dampfenden Krug als für alles andere. Er öffnete die mit Eisenspitzen versehen Tore, ohne recht hinzuschauen, und winkte sie ungeduldig durch. Frei! Anvars Herz jubilierte. Die Musikanten nahmen ihren Weg über den Damm und dann über die baumbestandene Straße zu der Brücke, die zurück in die Stadt führte. Anvar trennte sich von der Gruppe und versteckte sich, bis die anderen in sicherer Entfernung waren, bevor er selbst auf der schmalen, steinernen Bogenbrücke den Fluß überquerte. Dann schlug er einen großen Bogen durch dunkle Hintergassen, um von den Lagerhäusern sicheren Abstand zu halten. Die ganze Zeit war er auf der Hut vor den Patrouillen der Garnison. Er vermied auch die Gruppen betrunkener Nachtschwärmer und kam schließlich auf den Treidelpfad, dem er flußabwärts folgte.

Der Weg kam ihm länger vor, als er ihn in Erinnerung hatte. Der Schnee fiel nun in dichteren Flocken und lag in Wehen quer über dem Weg. Die Sicht war schlecht, und Anvar mußte sich wohl oder übel an das dornige Uferdickicht halten, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, in den Fluß zu stürzen. Die Anstrengungen seiner Flucht hatten die Schmerzen seines geschundenen Körpers noch verstärkt, und er zitterte vor Kälte und Müdigkeit, während ihm der Wind ins Gesicht blies und ihm im Schneegestöber die Sicht nahm. Entschlossen stapfte er weiter, vorwärtsgetrieben durch den Gedanken, Sara wiederzusehen.

Gegen den Hintergrund des hellen Schnees erkannte er an der Mühle den dunklen Umriß einer Frau in Mantel und Kapuze. Die Frau blickte in das schäumende, glänzende Wasser auf dem Mühlrad. Anvar schlug das Herz bis zum Halse. »Sara?« flüsterte er.

Die Frau fuhr mit einem scharfen Schrei herum. Es war Verla, Saras Mutter. »Anvar!«

»Bitte«, bat Anvar sie und ignorierte die Feindseligkeit in ihrer Stimme, »ich muß Sara sehen. Geht es ihr gut?«

»Wie kannst du fragen? Wie kannst du es wagen, hierherzukommen, nach all dem Leid, das du über uns gebracht hast?«

»Was sagst du?« Er nahm sie bei den Schultern. »Was ist geschehen? Erzähl es mir!«

»Also gut!« stieß Verla hervor. Sie machte sich aus seinem Griff frei. »Nach dem, was geschehen war«, sagte sie grimmig, »hat Jard nicht zugelassen, daß Sara dein Kind zur Welt bringt. Er hat sie zu einer Kurpfuscherin von Hebamme in der Stadt gebracht.«

»Nein!« schrie Anvar entsetzt auf.

»O ja. Die Frau hat das Baby wegbekommen, aber etwas ist schiefgegangen, und jetzt kann Sara nie wieder ein Kind haben.«

Anvar fiel auf dem schneebedeckten Pfad auf die Knie und barg seinen Kopf in den Händen. »O ihr Götter«, flüsterte er. Sara! Sein Kind!

»Danach«, fuhr Verla gnadenlos fort, »hat Jard sie als Ehefrau an Vannor verkauft.«

»Was?« stöhnte Anvar. Dem mächtigsten Kaufmann der Stadt durfte keiner in die Quere kommen – und jeder vermied das auch geflissentlich, vor allem, wenn er von den dunklen Gerüchten über Vannors Vergangenheit in den Docks gehört hatte.

»Genau das«, sagte Verla bitter. »Ihm war es egal, daß sie unfruchtbar ist. Er hat Kinder von seiner ersten Frau. Er wollte Sara fürs Bett, und er war bereit, dafür zu zahlen. Ich weiß nicht, ob sie glücklich ist – wir sehen sie nie. Ich hoffe, dir gefällt, was du getan hast. Und jetzt verschwinde von hier. Ich will nicht, daß du mir noch einmal unter die Augen kommst!«

Anvar wollte seinen Mund öffnen, um zu protestieren, als ihn ein schwerer Schlag auf den Hinterkopf traf. Sprachlos und halb blind vor Schmerz brach er im Schnee zusammen. Das letzte, was er hörte, war Jards Stimme. »Gut gemacht, Verla! Fessle ihn, während ich die Wachleute hole.« Der Müller griff seine Hand und besah sich das Mal darauf im Licht der Laterne, die er bei sich trug. »Für einen entlaufenen Sklaven gibt es bestimmt eine hübsche Belohnung.«

Es war die Nacht der Wintersonnenwende, die längste des Jahres; D’arvan lag wach, hatte viele dunkle Stunden gezählt, bevor Davorshan mit dem Morgengrauen in die Räume kam, die er zusammen mit seinem Bruder bewohnte. D’arvan hatte keinerlei Zweifel mehr, wie sein Zwillingsbruder die Nacht verbracht hatte. Davorshans Schild war durchlässig geworden, als Leidenschaft seine Konzentration geschwächt hatte; die Verbindung zu seinem Bruder war zu stark, um sich in ihrer Wechselseitigkeit ohne weiteres abbrechen zu lassen. Es war eine einzige, lange Qual für D’arvan gewesen: diese Gedanken – diese Gefühle – dieser Anblick von Eliseth, die nackt auf einer weißen Felldecke lag – ihr silberhell klingendes Lachen – die brennende Hitze ihrer Berührung, die er auf seiner Haut spürte, als wäre es die seines Bruders – der seidige Griff der kühlen Satinlaken – und seine eigene, einsame und schamvolle Verausgabung als Echo auf den Höhepunkt von Davorshans rasender Lust, die ihn befleckt und mit Schuldgefühlen und mit wundem Herz zurückgelassen hatte.

Selbst nachdem der Sturm von Davorshans Leidenschaft gnädigerweise verklungen war, fühlte D’arvan sich nicht besser. Immer noch aufgewühlt durch den Schock der brutalen, jähen Isolation von der Gedankenwelt seines Zwillings und vom Mahlstrom der Lust, in dessen Sog er danach geraten war, wurden seine Gedanken zwischen Trauer und Ärger und Schuld hin- und hergeworfen – mal gab er seinem Bruder, mal Eliseth und mal sich selbst die Schuld. Davorshan ist alles, was ich habe – dieser Gedanke verwob sich mit den anderen zu einer endlosen Litanei der Verzweiflung. So ist es immer gewesen, aber jetzt hat er jemand anderen … Was soll ich ohne ihn tun?

Soweit ihr Gedächtnis zurückreichte, waren die Zwillinge gezwungenermaßen aufeinander angewiesen. D’arvan konnte sich kaum an seinen Vater und seine Mutter erinnern – Bavordran und Adrina hatten sich entschieden, aus dem Leben zu scheiden, als er noch sehr klein war, aber die Tatsache, daß sie sich entschlossen hatten, zwei Kinder zur Welt zu bringen und sie dann so überstürzt im Stich zu lassen, hatte der junge Magusch nie verstanden. Die älteren Magusch sprachen nie davon, aber D’arvan war sich sicher, daß seine Eltern miteinander nicht glücklich gewesen sein konnten – und genauso sicher war er sich, daß zumindest seine Mutter ihn nicht hatte verlassen wollen. Er hatte eine vage, ungenaue Erinnerung an einen heftigen Streit, an Adrinas Gesicht, das von Tränen überströmt war, während sie ihn in Schlaf wiegte. Er hatte sie nie wiedergesehen. Die verwaisten Zwillinge waren danach in nachlässiger Weise von Meiriel und Finbarr und den Dienstboten der Akademie aufgezogen worden und hatten natürlicherweise den Mangel an elterlicher Liebe durch ihre Hingabe aneinander ausgeglichen – ein Band, das Eliseth nun plötzlich und ungestüm zerrissen hatte.

Schon bevor Davorshan ihre gemeinsamen Räume betrat, konnte D’arvan seine bevorstehende Rückkehr spüren. Er wußte immer, wenn sein Bruder in der Nähe war. Und obwohl er den Anblick seines Zwillingsbruders fürchtete, war er für jede Unterbrechung seiner beängstigenden Gedanken dankbar – bis der Bruder seiner Seele selbstgefällig grinsend hereingeschlichen kam und den Gestank von Wein und Eliseths schwerem Parfüm um sich verbreitete. Auf Zehenspitzen ging er an D’arvans Bett vorbei, ohne ihm auch nur einen Blick zu schenken.

»Es ist schon gut, ich bin wach. Du brauchst dir keine Mühe zu geben, leise zu sein!« Der Abscheu in seiner eigenen Stimme überraschte D’arvan, aber der Ärger hatte letzten Endes die Oberhand gewonnen. Davorshan machte sich noch nicht einmal die Mühe, schuldbewußt dreinzuschauen. Seine selbstgefällige Miene änderte sich nicht einmal für einen Augenblick. Achselzuckend setzte er sich an den Fuß von D’arvans Bett, ganz Offenheit und Charme; von seiner feindseligen Abschirmung war scheinbar nichts mehr zu spüren.

»Du hast guten Grund, über mich verärgert zu sein«, sagte er. »Hör zu, Dar – es tut mir leid, was heute geschehen ist auf dem Fest. Es ging nur darum, daß ich mit Eliseth allein sein wollte – du wirst schon merken, wie das ist, wenn du selbst jemanden für dich findest. Es war nicht meine Absicht, dich so plötzlich auszuschließen, aber es gibt einige Dinge, die man einfach nicht teilen kann – noch nicht einmal mit dem eigenen, geliebten Bruder.«

Noch vor einigen Stunden hätte D’arvan ihm Glauben geschenkt. Hätte ihm vertraut und sich gefreut, daß sich ihre Differenzen geklärt hatten und beigelegt waren. Davorshans Geist war wieder offen für ihn. In all seiner alten, beruhigenden Vertrautheit, außer … Aus reinem Instinkt nahm D’arvan all die Bitterkeit und den Verrat und den Schmerz zusammen, die die Verzweiflung dieser entsetzlichen Nacht hinterlassen hatte, und formte daraus eine lanzenartige Sonde des Willens, mit der er suchend den Sinn seines Bruders ergründete. Davorshan war durch nichts gewarnt – er hatte keine Zeit zu reagieren. »Fluch über dich!« schrie er, während er zurückprallte und den Angriff mit all seiner Kraft abzublocken versuchte. Aber es war schon zu spät. D’arvans Sonde war bereits auf den harten, dunklen, pulsierenden Kern der Geheimnisse gestoßen, die sein Bruder so geflissentlich hinter seiner Maske der Offenheit verborgen hatte.

Zitternd ließ D’arvan seine Sonde zurückschnellen, als hätte er sich verbrannt. Götter! Warum habe ich das getan? dachte er verzweifelt. Warum konnte ich ihn nicht in Frieden lassen? Dieser zweite Verrat verletzt mich noch mehr als der erste!

»Warum hast du das getan?« Davorshans bekümmertes Flüstern war ein Widerhall seiner Gedanken. »Ich will es – ich will sie, und nichts – noch nicht einmal du – wird mich davon abhalten! Aber es ist wirklich wahr, Bruder, daß ich dich nicht verletzen wollte!«

Es mag wohl die Wahrheit gewesen sein – jedenfalls machte Davorshan jetzt einen ehrlichen Eindruck –, aber D’arvans Bedarf an Lügen und Verrat war inzwischen reichlich gedeckt. Ein drittes Mal wollte er nicht riskieren.

»Laß mich allein – laß mich einfach allein!« Zum ersten Mal in seinem Leben verschloß er sich vor seinem Bruder und wandte sein Gesicht ab, starrte unverwandt mit tränenüberströmten Augen an die Wand, bis er hörte, daß Davorshan zu Bett gegangen war. Es war das Schwerste und Schmerzhafteste, das er jemals getan hatte. Um seinen Sinn von der niederdrückenden Last der Einsamkeit abzulenken, richtete er die innere Energie seiner Enttäuschung darauf, seinen sinkenden Mut zu stärken und neu aufzubauen. Er zwang sich, an Aurian und ihr Angebot zu denken. Wahrscheinlich hatte sie recht – wenn er nicht länger auf seinen Bruder zählen konnte, dann mußte er andere Menschen kennenlernen. Nach der Sonnenwende würde er sie bitten, ihn mit zur Garnison zu nehmen. Bis dahin würde er trauern.

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