Nachdem sich der große Regen endlich eingestellt hatte, ebbte die Gefahr von Unruhen in der Stadt rasch ab. Regelmäßige Lebensmittellieferungen nach Nexis wurden aufgenommen. Zuerst war es wenig, doch es wurde immer mehr. Die von Parric ausgesandten Kommandos zur Beschlagnahmung von Lebensmitteln fanden mehr, und mehr Gefallen an ihrer Aufgäbe, und die zunächst widerstrebenden Kaufleute (deren Kooperation Vannor praktisch erzwungen hatte) überwachten die gerechte Verteilung der Rationen. Endlich konnte die Bevölkerung von Nexis wieder essen – und obwohl es ihnen ganz und gar gegen ihre menschliche Natur ging, mußte sie anerkennen, daß sie die glückliche Wendung der Umstände der jungen, rothaarigen Magusch verdankten, die ihnen den Regen gebracht hatte.
Die Nachricht von Aurians Tat hatte sich wie ein Lauffeuer durch Nexis verbreitet, und überall, wo sie und Forral gesehen wurden, mußte die junge Magusch verlegen feststellen, daß sie viele neue Bewunderer gefunden hatte. Obwohl die Magusch aufgrund ihres auffälligen Äußeren und ihrer scharf geschnittenen Züge in einer Menge von Sterblichen niemals unerkannt bleiben konnte, war Aurian doch überrascht, daß die Leute sie wieder und wieder erkannten, zu ihr kamen, um ihr zu danken oder, wenn es sich um Handwerker handelte, ihr ihre besten Waren als Geschenk aufzudrängen. Der Höhepunkt allerdings war eine Frau, die sich auf einem überfüllten Marktplatz aus der Menge gelöst und ihr ein schmutziges, schreiendes und ziemlich feuchtes Baby gereicht hatte, das sie offensichtlich küssen sollte. Gott, war es schwierig gewesen, sich da mit Anstand aus der Affäre zu ziehen! Als sich Aurian später bei einem dringend benötigten Krug Ale bei Forral darüber beklagte, zuckte der Schwertkämpfer nur die Achseln. »Mach dir keine Sorgen, Liebes«, sagte er. »Es ist nur eine Eintagsfliege. Die Aufregung wird sich bald gelegt haben. Und bis dahin sei doch froh, daß sie zur Abwechslung einmal den Maguschleuten dankbar sind. Du hast deinem Volk einen guten Dienst erwiesen, und ich hoffe, daß Miathan das zu würdigen weiß.«
Ihre größte Wirkung, dachte Forral, hatte Aurian allerdings durch ihren Einfluß auf Miathan erzielt. Denn ihr Umgang mit dem Erzmagusch schien ihn positiv beeinflußt zu haben. Zur großen Überraschung der beiden hatte Miathan dem Schwertkämpfer und dem Kaufmann im Rat beigepflichtet, als die ersten Bauern in der Stadt erschienen und sich über den Besuch von Parrics Kriegern beklagten. Miathan hatte die Beschlagnahmungen sanktioniert, und nur wegen der Angst der Bauern vor dem Erzmagusch konnten sie erfolgreich sein. Nachdem sich die Haltung des Erzmagusch auf dem Lande erst einmal herumgesprochen hatte, stießen die Truppen kaum noch auf Widerstand. Miathan seinerseits war natürlich glücklich über den Gewinn an Ansehen, der den Magusch zugute kam, weil Aurian die Dürre beendet hatte, und Forral war sehr erleichtert gewesen, daß die junge Magusch und ihr Mentor wieder auf freundlichem Fuß miteinander zu stehen schienen.
Nach einiger Zeit stellte Aurian fest, daß Forral recht hatte. Das Volk von Nexis lebte sein eigenes Leben, und es dauerte nicht lange, bis sie aufhörte, das Opfer seiner lästigen Aufmerksamkeit zu werden. Ohne die unwillkommene Neugier der Leute und mit dem beruhigenden Wissen, daß die Garnison bei Maya in wohlvertrauter, sicherer Hand war, konnten Aurian – nicht länger Gefangene ihres frisch erworbenen Ruhms – und Forral endlich ihren unterbrochenen Urlaub fortsetzen.
Bald verliefen ihre Tage nach einem bestimmten Muster. Manchmal spazierten sie einfach durch die Stadt und besuchten verschiedene Sehenswürdigkeiten. Aurian entdeckte eine neue Leidenschaft: das Herumstöbern auf den Ständen und in den Buden der Kaufleute, die Seide und Samt, Juwelen, Parfüm und Kämme feilhielten. Sie entwickelte in Forrals Gesellschaft plötzlich ein vorher nicht gekanntes Interesse an ihrem Äußeren. Zwar hielt sie die feingearbeiteten Gewänder, die gerade bei den Bürgersfrauen in Mode waren, für viel zu phantastisch und unpraktisch, aber der Besitzer des Flinken Hirschen war nur allzu beflissen, ihr die besten Schneider der Stadt zu empfehlen. Seine Frau, die für sich selbst in Anspruch nahm, etwas von Geschmack und Stil zu verstehen, stand Aurian gern mit Rat und Tat zur Seite und half ihr bei der Auswahl der Stoffe. Der graue Maguschkittel, den Aurian gewöhnlich getragen hatte, verschwand bald im hintersten Winkel ihres Schrankes und wurde durch leuchtende, gutsitzende Kleider ersetzt. Ihre Verwandlung verschlug ihr sogar selbst den Atem. Forral war sehr geduldig. »Gib aus, soviel du willst«, grinste er. »Letzten Endes bezahlt es ja alles der Erzmagusch.«
Obwohl Aurian mit dem Stolz der Maguschleute überreichlich gesegnet war, war sie nie besonders eitel gewesen. Die Reaktion des Schwertkämpfers auf ihren neuen Staat war befriedigend und beunruhigend zugleich. Ein ums andere Mal bemerkte sie, daß er sie anschaute, sich aber schnell abwandte, wenn sie seinen Blick auffing. Noch schlimmer war, daß Aurian sich selbst dabei ertappte, wie sie dieses Spiel mit Blicken spielte; sie entdeckte eine seltsame, neuartige Faszination, die von dem hellen Aufblitzen von Forrals Lächeln hinter seinem ergrauten Bart oder vom Spiel der Muskeln seiner kräftigen, von Schwertstreichen gezeichneten Glieder ausging, wenn er sich trotz seiner großen, kräftigen Statur mit der lautlosen Eleganz des geborenen Schwertkämpfers bewegte. Sie betrachtete seine kraftvollen, breitfingrigen, geschickten Hände und wunderte sich, wie solche Stärke mit solcher Zartheit vereint sein konnte. Sie stellte sich vor, wie diese Hände sie berührten, sie liebkosten, sie hielten … . um sich dann energisch zusammenzunehmen, verwirrt und bestürzt über ihre ungezügelten Phantasien.
Die enge, sorglose Kameradschaft, die Aurian seit ihren Kindertagen mit Forral verband, war dahin. Seit Forrals Rückkehr hatte sich eine Art Zurückhaltung zwischen ihnen herausgebildet. Eine Spannung, aufrechterhalten durch Gefühle der Schuld und durch eine Erregung, die ihrer Freundschaft jetzt eine andere Note verlieh. Und trotz alledem waren sie unzertrennlich, und jeder der beiden versuchte, so zu tun, als hätte sich nichts geändert – und das, obwohl es Aurian in höchst aufregender Weise leicht ums Herz wurde, wann immer Forral den Raum betrat, und ihre Sinne von einem schwindelerregenden, atemlosen Glücksgefühl überschwemmt wurden, wenn er in ihrer Nähe war. Aber sie war doch immer froh gewesen, ihn zu sehen … oder nicht? »Es ist schon in Ordnung«, beruhigte sich Aurian, wenn sie Nächte wachlag. »Wir waren eben sehr lange getrennt. Wir müssen uns wieder aneinander gewöhnen, das ist alles.« Und mit der Zeit begann sie beinahe selbst, daran zu glauben. Mit der Gewöhnung aneinander und der Vertrautheit, die sich einstellte, schien die Spannung zwischen ihnen nachzulassen – ein klein wenig.
Manchmal trafen sie abends Vannor oder Maya und Parric bei einem seiner kurzen Aufenthalte in der Stadt und verbrachten dann glückliche Stunden mit Reden und Zechen in einer der vielen Tavernen. Aurian fand mehr und mehr Gefallen an Mayas Gesellschaft, und die beiden waren auf dem besten Wege, enge Freundinnen zu werden.
An schönen Tagen liehen sich Aurian und Forral und manchmal auch Maya, wenn sie die Zeit erübrigen konnte, Pferde von der Garnison und ritten zu einem Picknick hinaus in das hügelige Umland von Nexis, oder sie mieteten sich ein Boot und fuhren damit das gute Dutzend Meilen flußabwärts bis zur Küste! Aurian hatte nie zuvor das Meer gesehen, aber sie liebte es vom ersten Augenblick an. Sie schwammen in dem belebenden, wunderbarerweise tragenden Wasser und lagen stundenlang im Sand. Nach und nach verlor sich die Blässe ihrer Haut, die ihr das jahrelange Lernen in den Übungsräumen der Akademie eingetragen hatte, und ihre Muskeln gewannen wieder ihre alte Spannkraft zurück. In der Hoffnung, dadurch ihre Freundschaft wieder auf ihre alte, vertraute Basis zu stellen, versuchte Aurian mit Mayas begeisterter Unterstützung, Forral dazu zu überreden, ihr Schwerttraining wiederaufzunehmen. Es widerstrebte ihm zuerst – wegen ihres Unfalls –, aber sie wußte, daß er sich insgeheim freute. Sie hatte noch ihr Schwert, das Miathan ihr inzwischen zurückgegeben hatte, und der Gedanke daran, es bald wieder zu benutzen, munterte sie etwas auf, als ihr Urlaub sich schließlich seinem Ende zuneigte.
Schließlich kam der Tag, an dem Forral seinen Posten als Kommandant der Garnison antreten und die junge Magusch an die Akademie zurückkehren mußte. Auf der Suche nach einem Vorwand dafür, einander noch ein wenig länger Gesellschaft leisten zu können, beschlossen sie, Aurians Rückkehr noch durch einen Einkaufsbummel in die Großen Arkaden zu verzögern, ein weitverzweigtes System von Säulengängen, das Hunderte kleiner Läden und Stände beherbergte und in dem der wohlhabende Teil der Bevölkerung von Nexis einkaufte. Man sagte, daß man dort praktisch alles bekommen konnte, wenn man nur genug Geld hatte. Die meisten der zahllosen angebotenen Waren, waren für Aurian und Forral unerschwinglich, aber sie genossen es, die hellerleuchteten Gänge hinauf- und hinabzugehen und sich zu überlegen, was sie kaufen würden, wenn sie jemals zu viel Geld kommen sollten.
Schließlich machten sie, fußlahm und hungrig, an einer Bäckerei halt, angelockt durch den wunderbaren Duft warmen, frischen Brotes. Forral wurde von einer Frau hinter der Theke bedient und kaufte Pasteten; währenddessen kam ein junger Mann mit einem Tablett Brotlaibe hinten aus dem Laden. Aurian sah, wie er stehenblieb und den Schwertkämpfer anstarrte, wie sich seine blauen Augen plötzlich weiteten. Als sie den Laden verlassen hatten, fiel Aurian auf, daß Forral seine Stirn runzelte. »Mach dir nichts draus«, sagte sie. »Der Urlaub ist zwar vorbei, aber wir können uns ja trotzdem oft sehen.«
Forral schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht«, erwiderte er. »Es war der Junge in der Bäckerei – ich weiß sicher, daß ich ihn irgendwoher kenne, aber mir fällt nicht mehr ein, woher.«
Anvar war enttäuscht. Er hatte auf irgendeine Anerkennung durch den Schwertkämpfer gehofft, aber Forral hatte sich offenbar nicht mehr an ihn erinnern können. Aber ein Mann, der sich mit einer von diesen arroganten Maguschleuten abgab – selbst wenn es diejenige war, die angeblich den Regen gebracht hatte (was er persönlich bezweifelte) –, konnte ohnehin kaum für den Sohn eines einfachen Bäckers Zeit haben. Er zuckte die Achseln und setzte das schwere Tablett ab. »Das wär’s dann wohl«, sagte er zu seiner Mutter. »Ich werde mich jetzt um den Laden kümmern, wenn du dich ausruhen möchtest.«
Ria lächelte. »Das ist lieb von dir, vielen Dank. Aber mir geht es gut. Willst du nicht gehen? Du willst dich doch heute abend mit Sara treffen.«
»Kommst du bestimmt zurecht?« Seit Torl den Laden gekauft hatte, war Rias Leben viel einfacher geworden, aber Anvar war noch wie vor bestrebt, seine Mutter zu entlasten, wann immer er konnte.
Ria drückte ihn an sich. »Natürlich. Es ist ja ohnehin bald Zeit zu schließen, und es ist so ein schöner Abend. Nutzt ihr beiden jungen Leute die schöne Zeit ruhig aus – ach, und grüß Sara recht herzlich von mir.«
»Danke Mutter.« Anvar erwiderte ihre Umarmung, nahm seine weiße Schürze ab und eilte aus dem Laden.
Auf seinem Weg, der ihn aus den Arkaden heraus und hinunter zum Fluß führte, dachte Anvar darüber nach, wie sehr sich sein Leben doch verändert hatte, seit er Forral zum ersten Mal begegnet war. Nach Großvaters Tod hatte Torl im Zimmer des alten Mannes eine Truhe voller feingearbeiteter, wunderbarer Schnitzereien von Vögeln, Tieren und Menschen gefunden. Wie so oft schnellte der Preis für die Arbeiten nach dem Tod des Künstlers in die Höhe, und die vollkommenen kleinen Kunstwerke aus Großvaters Hand kamen bei den reichen Leuten der Stadt schnell in Mode. Bei solcher Kundschaft hatte Torl bald genug Geld beisammen, um die nächste Phase seiner geschäftlichen Pläne Wirklichkeit werden zu lassen. Seine Grundidee war einfach und dennoch gerissen. Er kaufte den Laden in den Arkaden, und obwohl die einzigen Räumlichkeiten, die er sich dort leisten konnte, zu klein waren, um eine Bäckerei darin einzurichten, konnte er in deren Hinterzimmer wenigstens einen einzigen Backofen installieren. Darin wurden vorgebackene Brote fertig gebacken, die von der alten Bäckerei mit Pferdekarren herangeschafft wurden. Schon bald wehte der verführerische Duft frischgebackenen Brotes durch die Arkaden und lockte die Kunden in hellen Scharen an.
Trotz der zeitweiligen Entbehrungen wegen der Dürre hatte sich das Geschäft explosionsartig entwickelt und beanspruchte die Mitarbeit der ganzen Familie. Ria und Anvar arbeiteten in dem Laden unter den Arkaden, Bern und Torl in der alten Bäckerei. Bern liebte das Handwerk und war fest entschlossen, ein ebenso guter Bäcker zu werden wie sein Vater. Anvar wußte, daß sein Bruder ihn aus dem Weg haben wollte, damit er eines Tages das Geschäft übernehmen konnte, und das schien ihm ehrlicherweise nur fair zu sein. Er selbst wollte ein Spielmann werden und war an der Bäckerei nicht interessiert. Aber solange sein Vater lebte, hatte er in dieser Angelegenheit nichts zu entscheiden.
Abgesehen von der Musik war Sara die größte Freude in Anvars Leben. Jetzt, da die Sommerabende lang waren, trafen sie sich unten am Fluß und flanierten an den baumbeschatteten Ufern entlang, wo es nach feuchter Erde und wildem Knoblauch roch. Manchmal blieben sie mit einer Flasche Wein und einem von Torls Broten die ganze Nacht dort draußen und liebten sich unter dem Sternenhimmel.
Der Gedanke an seine Liebste ließ Anvars Füße noch schneller über den staubigen Treidelpfad fliegen. Welche Sehnsucht hatte er nach ihr! Während der Dürre hatte er seine Besuche in der Mühle schmerzlich vermißt. Sein Vater hatte ihn und Bern ständig zum Hamstern aufs Land oder zum Tauschen und Betteln auf die Märkte von Nexis geschickt, damit sie soviel Lebensmittel auftrieben, wie sie benötigten, um die Krise zu überleben. Auch als in der Stadt der Aufruhr tobte, war Anvar zum Organisieren von Lebensmitteln auf dem Land gewesen, und er hatte das sogenannte Wunder des Regenmachens verpaßt. Sara allerdings war dort gewesen – bei dem Gedanken, daß sie den Gefahren des Aufruhrs ausgesetzt gewesen war, gefror ihm das Blut –, aber er konnte sie nicht dazu bringen, davon zu erzählen.
Danach, als sie sich wieder trafen, war ihm Sara irgendwie verändert vorgekommen – launischer und unzufriedener, nicht mehr so glücklich, ihn zu sehen –, und oftmals verfiel sie in lange Phasen verschlossener Schweigsamkeit. Anvar war etwas besorgt deswegen, aber er sagte sich, daß die Veränderungen wahrscheinlich von den Schwierigkeiten bei ihr zu Hause herrührten. Er wußte, daß es ihrer Familie während der Dürre schlecht gegangen war, und hätte sich gewünscht, mehr für sie tun zu können.
Als er ihren gemeinsamen Treffpunkt an der alten Steinbrücke jenseits des Stadtrandes erreichte, wartete Sara schon auf ihn. Ein dünnes Sommerkleid umspielte ihren zarten, geschmeidigen und schlanken Körper, und ihr offenes, langes, goldenes Haar erinnerte an die Strahlen der Sonne. Anvar lief mit klopfendem Herzen auf sie zu, aber als er ihr Gesicht sah, blieb er betroffen stehen.
»Was ist denn los, Liebste?« Anvar legte seinen Arm um sie und versuchte, seine Enttäuschung und Verletzung darüber zu unterdrücken, daß sich ihr Körper versteifte und ihre Augen die seinen mieden.
»Ich bin schwanger. Ich bin schwanger, Anvar!«
»Aber das ist doch wunderbar!« Ihre Worte schockierten ihn zwar, aber dennoch überlief Anvar eine heftige, überwältigende Welle von Stolz.
Mit wilden Blicken drehte sich Sara zu ihm herum. »Wunderbar?« schrie sie. »Was ist daran wunderbar, du Idiot? Was wird Vater sagen? Das ist alles deine Schuld!« Tränen rannen ihr die Wangen herunter. »Was soll ich bloß machen?«
Anvar führte sie das grasbewachsene Ufer zum Fluß hinunter, ließ sie sich vorsichtig setzen und legte den Arm um sie! »Mach dir keine Sorgen, Sara«, sagte er. »Ich werde mit deinem Vater sprechen. Ich verspreche dir, es wird alles gut werden. Es wird ein wenig Geschrei bei dir und bei mir zu Hause geben. Es wird gesagt werden, daß wir etwas vorsichtiger hätten sein können und daß die Leute über uns reden würden. Aber das wird alles vorübergehen. Unsere Familien wissen, wie die Dinge zwischen uns stehen, und sie haben es immer gebilligt. Wir werden unsere Zukunftspläne eben etwas vorverlegen müssen, das ist alles.«
»Aber ich wollte noch nicht heiraten! Ich hatte gehofft, daß … Ich meine, ich – ich habe noch nicht gelebt!«
Saras Worte verletzten ihn tief. Anvar starrte sie an; ihm wurde plötzlich sehr kalt. »Aber ich habe gedacht, du wolltest mich heiraten«, sagte er. Er holte tief Luft. »Sara, hast du deine Meinung geändert?« In ihren Augen sah er ein kurzes Aufflackern von Panik.
»Nein!« sagte sie schnell. »Nein – sieh mal, Anvar, es tut mir leid. Ich habe es nicht so gemeint. Ich bin einfach völlig aufgelöst, das ist alles. Und ich habe Angst.« Sie sah aus ihren großen violetten Augen zu ihm auf. »Anvar, bitte. Ich – ich brauche dich.«
Als sie sich in dieser Nacht liebten, war Sara von einer fast verzweifelten Wildheit. Wieder und wieder verlangte sie nach ihm, als wolle sie mit dem Akt körperlicher Liebe ihre Befürchtungen auslöschen. Anvar hatte nichts dagegen einzuwenden. Er glaubte, sie zu verstehen, und außerdem machte die Tatsache, daß seine Liebste jetzt ein Kind von ihm unter dem Herzen trug, sie um so kostbarer für ihn.
Als er am nächsten Morgen kalt und steif und durchfeuchtet vom Tau aufwachte, war es schon spät, und im grellen Licht des Tages begann er sich nun ebenfalls zu sorgen, was ihre Familien wohl sagen würden. »Weißt du«, sagte er zu Sara, »warum kommst du nicht jetzt gleich mit mir, damit wir mit meiner Mutter sprechen können. Es ist am besten, wenn wir ihr die Neuigkeit als erster mitteilen.«
Sara biß sich auf die Lippen. »Muß ich das? Kannst du es ihr nicht erzählen?«
»Nein.« Anvar drückte ihr fest die Hand. »Wir müssen es ja früher oder später doch tun. Komm mit – ich bin schon spät dran, und Mutter wird den Laden allein aufmachen müssen. Sie schafft es nie, den verdammten Ofen anzustecken.« Er machte sich – mit einer widerwilligen Sara im Schlepptau – eilig auf den Weg.
Als sie die Arkaden erreichten, hatte sich bereits eine Menge ungeduldiger Kinder vor ihrem Laden versammelt, und Anvar und Sara mußten sich mit der Schulter ihren Weg zur Ladentür bahnen. Als sie eintraten, sah Anvar Ria inmitten eines wüsten Haufens von Holzspänen und Zunder sitzen; wie gewöhnlich hatte sie ihre liebe Not damit, das Feuer im Ofen zu entzünden.
Was als nächstes geschah, grub sich für immer in Anvars Gedächtnis ein, um ihn wieder und wieder in seinen schlimmsten Alpträumen heimzusuchen. Als sie durch die Ladentür kamen, nahm seine Mutter gerade die Öllampe vom Regal und schüttete sie über dem Brennholz aus. »Nein!« schrie er, aber es war zu spät. Ria schlug einen Funken, und der Ofen explodierte in einer einzigen Stichflamme. Eine Feuerwand schloß Ria ein, ihr Haar und ihre Kleider brannten lichterloh.
Bis zum Ende seiner Tage hatte Anvar nicht die geringste Vorstellung, wie es zu dem kam, was dann folgte. Er konnte sich nachher lediglich erinnern, mit einer übermenschlichen Stimme ›Halt!‹ gebrüllt zu haben. Eine gewaltige Welle von Kraft kam aus dem Nichts und preßte ihn flach an die Wand; die Flammen erloschen. Augenblicklich. Vollständig. Anvar brach kraftlos und benommen zusammen. Er wandte seine Augen von dem geschwärzten, rauchenden Etwas ab, das einmal seine Mutter gewesen war, und blickte zu Sara hinüber, die ihn mit schreckgeweiteten Augen anstarrte, den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet.
Irgend jemand holte den Bäcker. Anvar erinnerte sich blaß, daß sich die Hände seines Vaters um seine Kehle legten und daß Torls Stimme unentwegt schrie: »Du warst es! Du hast sie umgebracht!«
Immer noch unter Schock und krank vor Schuldgefühl rührte Anvar keinen Finger, um sich zu verteidigen. Vier Männer waren nötig, um den Bäcker von ihm wegzureißen. Selbst als Torl sich beruhigt hatte und man ihm genau erzählte, was geschehen war, sah er seinen Sohn mit kaltem Haß an. Vor dem Laden sammelte sich eine Menschenmenge. Jemand bot sich an, die weinende Sara zu ihrer Familie zurückzubringen, und der Käsehändler aus dem Nachbarladen brachte Anvar und seinen Vater nach Hause. Rias in Decken eingewickelte Leiche folgte auf einer anderen Karre. Ein freundlicher Nachbar brachte Anvar zu Bett und verabreichte ihm einen Trank, der ihn schlafen ließ.
Er wurde durch Stimmen geweckt. »Ich habe euren Bastard lange genug beherbergt«, sagte Torl mit haßerfüllter Stimme. »Es war die einzige Chance, eine Frau wie Ria dazu zu bringen, mit mir vorliebzunehmen. Sie hat nie verraten, wer der Vater war – ich dachte immer, es müsse sich um irgendeinen Kaufmann handeln, dem es nicht gut genug war, sie zu heiraten, nachdem ihre Familie ihr ganzes Vermögen verloren hatte. Aber so, wie Anvar dieses Feuer ausgelöscht hat – und ein Dutzend Zeugen werden mein Wort bestätigen –, ist es offenkundig, daß sein Vater einer von deinem Volk sein muß, Herr.«
»Tatsächlich?« Die andere Stimme war schroff und hart. »Das ist eine schwere Beschuldigung, Bäcker. Du weißt, daß Paarungen zwischen Sterblichen und Magusch von beiden nicht geduldet werden.«
»Ich weiß, Herr. Aber ich glaube, daß Ria aus diesem Grund verstoßen wurde, als sie ein Kind erwartete. Und was Anvar heute getan hat, ist der Beweis – also bist du jetzt dafür verantwortlich. Mir ist es gleichgültig, was du mit ihm machst, solange du ihn nur hier fortschaffst. Ich will nicht, daß er mir jemals wieder unter die Augen kommt!«
Es gab eine lange Pause, dann sprach wieder der andere. »Also gut – unter der Bedingung, daß du die ganze Angelegenheit verleugnest. Wenn es einen Fehltritt von einem der Maguschleute gegeben hat, dann will ich nicht, daß sich das herumspricht. Wirst du eine Urkunde unterzeichnen, die ihn für den Rest seines Lebens in meinen Dienst verpflichtet?«
»Ich werde alles unterschreiben, wenn ich ihn dadurch loswerde.«
»Dann werde ich ihn jetzt mitnehmen.« Eine Hand schüttelte roh an Anvars Schulter, und unversehens starrte er in das zerfurchte Adlerantlitz des Erzmagusch.
»Steh auf, Junge«, bellte er. »Komm mit!«
»Ein bißchen Bewegung, Schwachkopf!« In seiner Wut riß Miathan an dem Tau, an dem er seinen neuen Sklaven an den Handgelenken hinter sich herzog, und trieb sein Pferd zu schnellerer Gangart an. Mit einem Aufschrei fiel der junge Mann zu Boden und schürfte sich die zerschundenen Hände und Knie weiter auf – es war nicht sein erster Sturz auf diesem grausamen Gang durch die verlassenen Straßen der Stadt. Der Erzmagusch war schon ein Stück geritten, bevor ihm auffiel, daß der Junge diesmal nicht mehr aufstehen konnte und wie ein Sack Bohnen hinter ihm herschleifte.
Mit einem Fluch zügelte Miathan sein Pferd. Es brauchte nur eine von den lästigen Wachen vorbeizukommen, die sich in alles einzumischen pflegten, und schon wäre er der Mittelpunkt weit größerer Aufmerksamkeit, als ihm lieb sein konnte. Er stieg vom Pferd und dankte der Vorsehung, daß es schon so spät war und sich kaum noch jemand draußen herumtrieb. Anvar lag in der Gosse – wo er hingehörte, dachte der Erzmagusch gehässig – und schluchzte leise. »Hoch mit dir!« Miathan reagierte seine Wut mit einem brutalen Tritt ab, aber sein Opfer wimmerte nur und bewegte sich nicht. »Große Götter – das hat mir gerade noch gefehlt!« murmelte Miathan. Mit der magisch verstärkten Kraft seines Ärgers hob er Anvar auf und warf ihn grob über seinen Sattel. Er vermied es, das Gesicht des Jungen, das dem von Ria so ähnlich war, anzusehen. Sie ist jetzt tot, sagte er sich. Endlich tot.
Während er sein Pferd die steil abfallende Straße zur Brücke hinunterlenkte, wunderte er sich noch einmal, wie sie es hatte fertigbringen können, sich selbst und ihren Sohn all diese Jahre über zu verbergen. Hatte sie geahnt, daß er ihr nie gestattet hätte, diesen halbblütigen Abschaum eines Abkömmlings zur Welt zu bringen? Große Götter, was für ein Dummkopf war er doch gewesen, sich überhaupt von einer Sterblichen verführen zu lassen!
Es gehörte zur Arroganz von Miathans Maguschgeschlecht, daß er für die Sterblichen, mit denen er seine Welt und seine Stadt teilte, nichts als Verachtung übrig hatte und sie für nicht viel mehr als Tiere hielt. Es war ein besonderes Unglück für Anvar, gerade jetzt entdeckt worden zu sein, da in dem Erzmagusch noch die frische Wunde von Aurians Abtrünnigkeit und ihrer unglückseligen, unvorhergesehenen Freundschaft mit der verachteten, niedrigen Rasse brannte. Weil er darauf bedacht war, ihre Achtung und ihre Zuneigung wiederzugewinnen, um seine zukünftigen Pläne für sie weiterverfolgen zu können, war er in die ärgerliche und demütigende Lage geraten, Forral und Vannor Zugeständnisse machen zu müssen, die er andernfalls nie gutgeheißen hätte.
Der Erzmagusch bedauerte es bereits, den Schwertkämpfer wieder mit Aurian zusammengebracht zu haben – den gleichen Mann, der seinen früheren Freund Geraint mit diesen lächerlichen Ideen angesteckt hatte, daß es irgendwelche Rechte für die Sterblichen gab. Doch wenigstens war Aurian jünger und leichter zu beeinflussen, grübelte Miathan. Und sie mußte beeinflußt werden! Gerade heute hatten seine Pläne eine neue und unerwartete Wendung genommen, als die junge Magusch an die Akademie zurückgekehrt war. Während ihrer Abwesenheit von nur einem Monat war aus dem Kind eine Frau geworden. Miathan war überrascht gewesen durch Aurians Veränderung, die nicht nur ihren neuen Kleidern zuzuschreiben war. Er hatte alles gesehen: ihre plötzliche Wachheit; den neuen unschuldigen Hauch von Reife; das Bewußtsein ihrer weiblichen Natur, das sie in einer Aura unbewußter Sinnlichkeit umfing und in ihm Gefühle wachrief, mit denen er schon lange zugunsten kalten Ehrgeizes fertig geworden zu sein glaubte.
Wie hatte es ihn verbittert, daß so ein Stück von einem Sterblichen und obendrein noch eines, das er selbst auf den Plan gerufen hatte – es gewesen war, das diese Verwandlung ausgelöst hatte. Jetzt entdeckte er plötzlich, daß er Aurian für sich selbst wollte – und bei allen Göttern, sie gehörte zu ihm und nicht zu diesem nichtswürdigen, niedriggeborenen Tier von einem Schwertkämpfer. Aber noch waren ja Wille und Gelegenheit vorhanden, sie für sich zurückzugewinnen, und bis es soweit war, hatte er einen anderen Sterblichen, an dem er seinen Zorn kühlen konnte – einen, dem er ebenfalls noch eine Rache schuldig war, dafür, daß er gewagt hatte, unter Mißachtung seiner Wünsche zu existieren.
Der Turm der Magusch war von dunkler Nacht umgeben. Anvar stand blinzelnd im warmen Lampenlicht der prachtvollen Gemächer des Erzmagusch, immer noch halb betäubt und ohne klares Bewußtsein dessen, was mit ihm geschah. Nachdem er brutal durch die Straßen geschleift worden war, war sein Körper jetzt vom Scheitel bis zur Sohle von Schürfwunden und Blutergüssen bedeckt, und seine Beine schmerzten vom langen Aufstieg über die endlose Spirale von Stufen, die in Miathans Räume geführt hatte. Da, wo Miathans Fesseln unbarmherzig an ihm gezerrt hatten, brannten seine Arme und Handgelenke vor Schmerz. Anvar war verängstigt und verwirrt. Was tat er hier? Warum hatte der Erzmagusch ihn von Zu Hause fortgeholt? Wollten die Maguschleute ihn für den Tod seiner Mutter bestrafen? Anvar erstickte einen Seufzer. Warum, warum war er heute morgen nicht pünktlich gewesen? Es war alles seine Schuld. Aber warum hatte sein Vater ihn Miathan übergeben? Haßte Torl ihn wirklich so sehr?
Miathan drückte ihn grob auf einen Sitz und blickte mit der Kälte von tausend Wintern in den Augen auf ihn herab. Anvar begann zu zittern.
»So«, sagte der Erzmagusch schroff. »Nach all diesen Jahren bist du also schließlich aufgetaucht, um mich zu plagen. Nach meinen Plänen hättest du eigentlich vernichtet sein sollen, bevor du geboren warst. Wäre deine elende Mutter doch nur nicht weggelaufen. Aber immerhin, vielleicht bist du noch zu etwas nutze.«
Er nahm Anvars Kopf in beide Hände. Anvar stöhnte vor Schmerz. Ihm war, als würde ihm das Gehirn ausgewrungen. Er fiel vornüber und erbrach sich über den Boden. »Kretin!« Der Faustschlag des Erzmagusch warf ihn wieder zurück in seinen Sitz.
Anvar versuchte, sich wegzuducken, aber Miathan bekam ihn an den Haaren zu fassen und hängte ihm eine silberne Kette mit einem glänzenden, flachen Kristall um den Hals. »Ich werde nicht zulassen, daß sich ein Bastard den Rang der Maguschleute anmaßt«, sagte er. »Du magst Kräfte haben – aber damit werde ich gleich fertig sein!« Er hob seinen Stab und stieß schreiend in einer merkwürdigen und verzerrten Sprache einige Worte hervor.
Der Kristall an der Kette erstrahlte plötzlich in einem überirdischen Licht. Anvar schrie vor Schmerz und wurde zu Boden geschleudert, schlug mit dem Kopf auf und hatte das Gefühl, als würde das Leben selbst aus seinem Leib gesaugt. Undeutlich nahm er wahr, daß Miathan ihm die Kette mit dem Kristall abnahm, und als der Schmerz nachließ und er wieder klarer sehen konnte, hatte der Erzmagusch sich selbst die Kette mit einem selbstgefälligen Lächeln umgehängt. »Das waren also deine Kräfte«, sagte er. »Jetzt sind sie mein. Aber noch eine Feinheit, bevor wir dich dahin schicken, wo du hingehörst, du Bastard von einem Halbblut!« Noch einmal legte er seine Hände auf Anvars Kopf und sah den schreckensstarren Jungen mit brennenden Augen an. Anvar hatte das Gefühl, als ob sich ein Band von eisigem Stahl fest um seine Stirn legte.
»Kannst du es spüren?« fragte der Erzmagusch. »Du wirst es für den Rest deines Lebens behalten, Anvar. Normalerweise wirst du gar nicht merken, daß es da ist – aber wenn du versuchst, irgend jemandem davon zu erzählen, was du heute getan hast, oder davon, daß du von einem Magusch abstammst – selbst wenn du bloß versuchst, daran zu denken –, dann wird sich dieses Band straffen und dir unaussprechliche Schmerzen bereiten. Und wenn du nicht aufhörst, wird es dich umbringen. Mach also keinen Fehler.«
Es klopfte an der Tür. »Herein«, rief Miathan.
Ein großer Mann mit fettigem, schwarzem Haar und einer brutalen Fratze kam herein. Er verbeugte sich ehrerbietig vor dem Erzmagusch und warf Anvar, der sich immer noch stöhnend auf dem Boden wandt, einen flüchtigen, verwunderten Blick zu. »Du hast nach mir geschickt, Herr?«
»Das habe ich in der Tat, Janok«, strahlte Miathan. »Ich habe von deinen Klagen gehört, daß du zuwenig Hilfe in der Küche hast – denn eurem Erzmagusch bleiben selbst solche unbedeutenden Dinge nicht verborgen. Ich habe einen neuen Dienstsklaven für dich. Er kommt aus einer Bäckersfamilie, so daß er dir vielleicht von Nutzen sein kann. Sein Vater hat ihn mir übergeben, nachdem der Bursche seine Mutter umgebracht hat.«
Janok runzelte die Stirn. »Herr, du willst, daß ich einen Mörder in meiner Küche beschäftige?«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Miathan unbekümmert. »Es ist bestenfalls ein feiges kleines Scheusal. Behandle ihn so, wie er es verdient, dann wird es keine Probleme geben. Wenn es allerdings zu schwierig für dich ist, mit ihm fertig zu werden, dann kannst du dich natürlich an mich wenden.« Von seinen . stahlharten Augen ging eine unausgesprochene Drohung aus.
»Sehr wohl, Herr«, murmelte Janok. Er war offensichtlich nicht besonders glücklich, aber ihm blieb keine Wahl. »Komm her, du!« Er ging auf Anvar zu und hob ihn an seinem Hemd vom Boden auf. Das letzte, was Anvar sah, während er aus dem Raum gezerrt wurde, war ein höhnisches Grinsen grausamer Befriedigung auf Miathans Gesicht. Der Erzmagusch weidete sich an seiner Schadenfreude.