27 Enthüllungen – und Betrug

Die Männer, die Anvar gefangengenommen hatten, fesselten ihm die Hände auf dem Rücken, und die Seile schnitten sich schmerzhaft in seine Handgelenke ein. Die Soldaten gingen alles andere als sanft mit ihm um und verpaßten ihm eine ganze Anzahl neuer Schrammen, die diejenigen ersetzten, die die Magusch gerade geheilt hatte, aber Anvar hatte schlimmere Sorgen als seine wachsende Unbequemlichkeit. Was hatten sie mit Aurian gemacht? Wie schwer war sie verletzt? Waren das die Wachen des Prinzen? Hatte er seine Gastfreundschaft schließlich doch bereut? Warum hatte er im Sklavenlager versucht, sie anzugreifen? Die Magusch hatte keine Zeit gehabt, ihm all das zu erklären. Anvar wünschte nur, sie hätte ihre Geschichte beenden können. So, wie die Dinge lagen, hatte er nicht die geringste Vorstellung davon, was eigentlich vor sich ging. Aber ihm blieb Zeit genug, um sich deswegen zu sorgen. Sie hatten ihn, bewacht von zwei schweigsamen Soldaten mit grimmigen Gesichtern, in Aurians Gemächern zurückgelassen, und dort blieb er über eine Stunde mit nichts anderem als seinen Ängsten zur Gesellschaft.

Xiang hielt königlichen Einzug in Harihns Audienzzimmer, Arm in Arm mit seiner Khisihn und umgeben von einem Gefolge von Wachen. Nachdem er sich auf den vergoldeten Stuhl des Prinzen gesetzt hatte, bedeutete er gerade einem Bediensteten, einen Stuhl für Sara herbeizuschaffen, als der Hauptmann seiner Garde sich mit einer tiefen Verbeugung näherte und seinen Bericht begann. »Der Palast ist abgesichert, Euer Majestät. Der Khisal befindet sich in unserem Gewahrsam, und seine Zauberin ist von unseren Bogenschützen kampfunfähig gemacht worden. Wir haben sie unten in den Kerkern eingesperrt, bewußtlos, aber trotzdem schwerbewacht.«

»Gut gemacht«, lächelte Xiang zustimmend. »Und den Dämon habt ihr auch gefangen?«

Der Hauptmann nickte. »Jawohl, Sir. Es hat uns mehrere Männer gekostet, ihn zu überwältigen, aber wir haben ihn nicht verletzt, ganz wie ihr es befohlen habt. Er ist ebenfalls unten eingesperrt und wartet auf seinen Transport in die Arena.«

»Wunderbar! Und der Sklave?«

»Meine Männer bringen ihn gerade her, Euer Majestät.«

»Sehr gut. Den Khisal könnt ihr jetzt ebenfalls bringen.«

Der Khisu lehnte sich auf dem Stuhl seines Sohnes zurück und lächelte triumphierend. Sobald er die Nachricht von seinem Sklavenmeister erhalten hatte, hatte er seinen Plan in die Tat umgesetzt. Diesmal war Harihn zu weit gegangen. Was für ein Narr der Junge doch war, die Zauberin von den Armreifen zu befreien und ihr zu gestatten, ihre bösen Künste zu praktizieren–noch dazu vor Zeugen. Und alles, um diesen Sklaven zu retten, der seine Khisihn Sara aus ihrer Heimat entführt hatte. So hatte sie es ihm erzählt. Das Ganze war zweifellos eine Verschwörung, um ihn zu stürzen. Harihn steckte mit den beiden Fremden unter einer Decke, aber er hatte seinen Vater unterschätzt, und jetzt würde er dafür zahlen. Indem er die Zauberin freigelassen hatte, hatte er sich automatisch selbst zum Tode verurteilt. Xiang fragte sich, ob er seinen Sohn noch eine Weile am Leben halten sollte, damit er ein wenig länger unter dem Entsetzen der über ihm schwebenden Drohung leiden konnte. Die Zauberin würde natürlich so bald wie möglich hingerichtet werden. Ohne ihre Fesseln war sie eine zu große Bedrohung, als daß man sie am Leben lassen konnte.

An den Türen des Gemachs bewegte sich etwas. Die Wachen zerrten Harihn in den Raum und warfen ihn zitternd und mit weißem Gesicht dem Khisu zu Füßen. Xiang lächelte mit grausamer Belustigung und kostete das Entsetzen in den Augen seines Sohnes voll aus.

Endlich waren die Soldaten gekommen, um ihn zu holen. Nachdem sie Anvar durch eine lange Reihe von Fluren geschleppt hatten, warfen sie ihn durch ein Paar gewaltiger, bronzegetäfelter Türen. Der riesige, hohe Raum dahinter schien voll von Soldaten zu sein. Der junge Mann, den Aurian Harihn genannt hatte, kauerte vor einem Mann, der auf einer niedrigen Plattform thronte. Wenn Harihn der Prinz war, konnte das nur der König sein.

Dann war alles andere plötzlich vergessen, als Anvar die goldhaarige Gestalt sah, die neben dem Thron saß, königlich und in strahlender Pracht, mit Juwelen geschmückt und in feine Seidengewänder gehüllt. »Sara!« rief er voller Freude. Er versuchte, sich freizukämpfen, um zu ihr zu gelangen, aber die Wachen hielten ihn fest. Die kalte Reserviertheit von Sara geriet keinen Augenblick ins Wanken, als man Anvar neben dem Prinzen zu Boden schleuderte. Mit auf dem Rücken gefesselten Händen war er unfähig, den Sturz abzufangen, und schlug mit der Stirn auf den marmornen Boden. Als er sich taumelnd auf die Knie erhob und blinzelnd versuchte, die explodierenden Lichter zu vertreiben, die seinen Blick verdunkelten, sprach der König Harihn an.

»Das hast du wirklich gut gemacht, mein Sohn«, höhnte Xiang. Seine Augen glitzerten triumphierend. »Man hat mich darüber informiert, daß du dich des Verrats schuldig gemacht hast, indem du eine bekannte Zauberin von den Fesseln befreit hast, die ihre Zauberkraft behinderten, und das verstößt gegen die Gesetze dieses Landes. Was hast du zu der Anklage zu sagen?«

Anvar gelang es, aus den Augenwinkeln einen Blick auf den Prinzen zu werfen, und er sah, wie sich das Gesicht des jungen Mannes vor Entsetzen und Panik verzerrte. »Nein!« heulte er. »Das ist nicht wahr! Ich habe sie nicht freigelassen. Sie ist ihren Fesseln ganz allein entkommen.«

»Du lügst.« Die Stimme des Khisus unterbrach die entsetzten Proteste seines Sohnes, und Anvar sah, wie sich die Schweißperlen auf Harihns Stirn bildeten.

»Außerdem«, fuhr Xiang fort, »Hast du einen meiner Sklaven gestohlen – ein seltenes Exemplar der Nordländer. Meine Khisihn hat mir erzählt, daß dieses Geschöpf für ihre Entführung aus ihrer Heimat verantwortlich war, zusammen mit deiner Zauberin. Ich kann nur annehmen, daß du mit den Feinden der Khisihn gemeinsame Sache machst. Und dafür kann es nur einen Grund geben: Du willst sie und damit auch mich vom Thron stürzen.« Er wandte sich an Sara. »Ist das der Sklave, meine Königin?«

Die Worte trafen Anvar wie ein tödlicher Schlag. »Königin!« rief er, zu entsetzt, die Konsequenzen seines Handelns zu bedenken.

Eine der Wachen schlug ihm hart auf die Lippen und brüllte: »Ruhe!« Anvar lag wieder auf dem Boden und schmeckte Blut auf seinem geschundenen Mund. Saras Blick flackerte voller Verachtung über ihren früheren Liebhaber.

»Das ist er«, sagte sie kalt.

»Sehr gut«, erwiderte Xiang. »Was sollen wir mit ihm machen, meine Liebste? Die Wahl seiner Bestrafung liegt bei dir.«

Sara zuckte mit den Schultern. »Tötet ihn«, sagte sie gleichgültig. Anvar erstarrte bei ihren Worten. Er konnte nicht, wollte nicht glauben, daß sie so gefühllos seinen Tod befohlen hatte.

»Warte!« rief Harihn. »Das Sklave gehört mir.«

»Was hast du gesagt?« Xiangs Stimme war heiser und so kalt wie Stein.

»Euer Informant hat Euch belogen, Majestät«, sagte Harihn. »Der Sklave gehört mir.« Dann riß er einen Arm aus der Umklammerung der Wachen und holte ein zerknittertes Pergament hervor – die Besitzurkunde für einen Sklaven. »Ich habe ihn vor weniger als drei Stunden mit gutem Gold von deinem Sklavenmeister gekauft – und mit gutem Grund.«

»Du bist bereits als Verräter verurteilt«, fuhr der Khisu ihn an. »Deine Besitzurkunde ist nichts wert.«

»Vater, hör mich an«, rief Harihn, und seine Stimme brach beinahe. »Ich habe das doch nur zu deinem Besten getan. Der Sklave hier ist der lebende Beweis dafür, daß deine Khisihn dich betrogen hat und sterben muß! Sie ist seine Konkubine.«

Anvar keuchte.

»Nein!« kreischte Sara. »Er lügt.«

»Ruhe!« brüllte der Khisu. Sein Gesicht war vom Zorn verzerrt. »Jetzt«, knurrte er seinen Sohn an, »will ich die Wahrheit wissen, bevor ich dein elendes Leben beende. Woher hast du diese absurde Geschichte?«

Harihn zitterte, als er seinen Vater ansah. »Von Aurian, der Zauberin. Kam es dir nicht merkwürdig vor, daß die Khisihn* so dringend ihren Tod wollte, als sie in der Arena gekämpft; hat? Das lag daran, daß sie die Wahrheit kannte – was sie jawohl auch sollte. Dieser Mann ist immerhin ihr Ehemann.«

Anvar, dem von den Enthüllungen des Tages bereits ganz* schwindlig war, war maßlos erstaunt. Aurian hatte Harihn? erzählt, er sei ihr Ehemann? Warum hatte sie den Prinzen belogen?

Der Klang des hohen Gelächters der Khisihn hallte schrill durch den Raum. »Sie hat behauptet, er sei ihr Mann?«

»Du leugnest das?« Harihn schien plötzlich etwas weniger selbstsicher zu sein.

»Natürlich tue ich das«, erwiderte Sara gelassen. »Sie hat gelogen, um sich dem Todesurteil für Verräter zu entziehen. Der Mann ist nicht ihr Ehemann. Er ist ihr Leibeigener und ihr Komplize bei meiner Entführung. Glaubst du vielleicht, daß ich, die Khisihn, mich so weit herablassen würde, mich zu einem bloßen Diener zu legen?« Die Verachtung in ihrer Stimme fuhr wie ein Messer durch Anvars Herz, und dadurch entging ihm der entsetzte und zornige Blick auf Harihns Gesicht. Er wappnete sich gegen den Schmerz und redete sich ein, daß sie es nicht ernst meinen konnte – daß sie dem Khisu auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war und nur versuchte, sich zu retten.

Der Khisu richtete seinen funkelnden Blick auf Anvar und sprach mit ihm in der Sprache der Nordländer. »Nun, Sklave? Was hast du dazu zu sagen? Auf der einen Seite behauptet mein Sohn, die Khisihn sei deine Konkubine. Sie dagegen beschuldigt dich, ihr Entführer zu sein. Sei vorsichtig mit deiner Antwort, denn es hängen Leben davon ab – einschließlich deiner eigenen, miserablen Existenz!«

Anvar zögerte, so durcheinander gebracht von diesem Wirrwarr aus Betrug und Lügen, daß er nicht wußte, was er sagen sollte. Wenn er Saras Geschichte unterstützte, würde das seinen eigenen Tod bedeuten, ganz zu schweigen von dem Aurians und des Prinzen. Auf der anderen Seite stand Saras Leben auf dem Spiel … Er schwankte, gefangen in seinem Dilemma, da er nur die Hälfte der Tatsachen kannte und unfähig war, sich zu entscheiden.

»Seht Ihr?« kreischte Sara triumphierend. »Er kann nicht sagen, daß ich lüge. Er schweigt nur, um seine Herrin zu beschützen. Mein Fürst, glaubt mir. Ich würde Euch nie betrügen. Aber Euer Sohn würde es tun – ja, um genau zu sein, er hat es bereits getan, indem er sich mit der Zauberin gegen uns beide verschworen hat.«

Ein erleichterter Blick ging über das Gesicht des Khisu, und er lächelte seine Königin an. »Du bist ebenso weise, wie du schön bist, meine Geliebte. Wie konnte ich nur je an dir zweifeln?« Er winkte seine Wachen heran. »Tötet diese Verräter, dann werde ich mich um ihre Zauberin kümmern.«

Dunkelheit. Ein kalter, feuchter Boden unter ihr. Schmerz in ihrer rechten Schulter, der sich wie Feuer über ihren Arm und ihre Seite ausbreitete. Übelkeit, die ihr die Kehle zuschnürte. Aurian hielt den Atem an, um nicht laut aufzustöhnen. Es mußten Wachen in der Nähe sein. Besser, sie glaubten, daß sie noch immer bewußtlos war. Niemand konnte sie in diesem schwarzen Loch sehen – nicht ohne die Nachtsichtigkeit der Magusch. Sie hatte die Uniformen von Xiangs Soldaten wiedererkannt und konnte sich ziemlich gut ausmalen, was geschehen sein mußte. Sie lag ganz still da, mit dem Gesicht nach unten auf den harten Steinen, wo man sie sorglos hingeworfen hatte. Mit ihrem zusätzlichen Sinn einer Heilerin überprüfte sie als erstes das Kind in ihr. Zu ihrer Erleichterung schien alles gut zu sein. Das Würmchen mußte wahrhaftig kräftig sein, um all das zu überleben, was seiner Mutter in der letzten Zeit widerfahren war.

Mutter. Es war das erste Mal, daß sie dieses Wort benutzte, selbst in Gedanken. Trotz ihrer Schmerzen und ihrer unbequemen Lage, trotz der Gefahr, in der sie sich befand, wölbten Aurians Lippen sich zu einem Lächeln. Sie hatte das Kind endlich akzeptiert, und ihre Liebe und ihr Stolz auf diesen zähen, kleinen Überlebenskünstler gab ihr neuen Mut. Er kam ganz nach seinem unbeugsamen Vater, beschloß sie, und der Gedanke an Forral bestärkte ihren Entschluß. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit der Wunde an ihrer Schulter zu und begann, den sengenden Schmerz unter Kontrolle zu bekommen. Ohne die Schmerzen, die ihre Konzentration behinderten, machte Aurian sich nun daran, den Schaden zu reparieren. Sie würde diesen Arm schon bald brauchen; ihren Schwertarm, dachte sie grimmig.

Es war schwieriger, als sie erwartet hatte. Aurian hatte noch nie versucht, sich selbst zu heilen, aber sie wußte aus ihren Unterrichtsstunden bei Meiriel, daß dies mit einem beträchtlichen Risiko verbunden war. Das Heilen erforderte eine große Menge Energie, die zum Teil vom Heiler, zum Teil jedoch auch von dem Patienten kam. Das war der Grund, warum das magische Heilen beiden Beteiligten große Kraft kostete. Wenn sie sich selbst heilte, hatte sie nur ihre eigene Stärke zur Verfügung, und sie wußte, daß sie, wenn sie nicht sehr vorsichtig war, in größter Gefahr war, sich vollkommen auszubrennen und dabei zu töten. Solche Fälle hatte es bereits gegeben. Aber oh, es war wirklich schwierig, sich in Geduld zu üben, nur langsam und mit größter Vorsicht zu Werke zu gehen und immer wieder innezuhalten, um sich auszuruhen. Aurian war sich des Umstandes nur allzu bewußt, daß die Zeit gegen sie war. Was geschah da oben? Wie lange war sie bewußtlos gewesen? Nicht lange, tröstete sie sich. Das Blut aus ihrer Wunde war immer noch frisch und flüssig. Aber Harihn hatte gesagt, sein Vater wolle ihn töten, und wenn Sara damit zu tun hatte, waren Anvars Chancen zu überleben, ausgesprochen gering. Aurian zwang sich, nicht daran zu denken, und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Es war ihre einzige Chance, ihm zu helfen. Schritt für Schritt, während sie so schnell arbeitete, wie sie es nur wagen konnte, behob sie den Schaden und rekonstruierte mit größter Sorgfalt das zerrissene Fleisch und die Muskeln, denn sie wußte, daß ein Fehler, den sie in der Eile machte, sie für ihr ganzes Leben verkrüppeln konnte.

Endlich fertig! Aurian bewegte versuchsweise den verwundeten Arm und die Schulter und wünschte, sie hätte die Zeit, dem geheilten Gewebe ein wenig Ruhe zu geben. Aber egal. Es mußte reichen. Es war noch nicht ganz so gut wie neu, doch es würde seinen Zweck erfüllen und mit der Zeit schon richtig verheilen. Aber die Arbeit hatte zweifellos ihren Tribut gefordert. Sie fühlte sich schwach vor Erschöpfung und hatte nur den einen Wunsch, auf diesem schmutzigen, eiskalten Boden liegenzubleiben und zu schlafen, bis ihr Körper sich wieder erholt hatte. Nun, da hatte sie keine Chance.

Da sie wußte, daß immer das Risiko bestand, sich zu überschätzen und schließlich nicht mehr in seinen Körper zurückkehren zu können, tastete Aurians Wille sich nur ganz behutsam vor und suchte nach den Funken menschlichen Denkens, die auf Wachen schließen lassen würden.

Sie hatte noch so gut wie gar keine Entfernung zurückgelegt, als sie auf ein paar Gedanken traf, die ihr Herz vor Freude hüpfen ließen. Shia! Die große Katze war in der nächsten Zelle gefangen.

Shias Gedanken brannten vor Zorn. »Es waren zu viele! Sie hatten Netze!« Aurian konnte den Schmerz ihrer Freundin spüren, während sie gegen ihre Fesseln kämpfte.

»Geduld«, beschwichtigte Aurian sie. »Ich werde dich befreien – bleib nur ganz still und errege keine Aufmerksamkeit!«

»Na schön«, knurrte Shia widerwillig. »Aber wenn du mich befreist, nehme ich mir diese Männer zum Mittagessen!«

Aurian erhob keine Einwände.

Nun – wie sollte sie aus der Zelle herauskommen? Die Magusch bedauerte es, daß sie ihre Kräfte durch den Heilungsprozeß erschöpft hatte. Angetrieben von ihrem wachsenden Gefühl der Dringlichkeit, wäre ihr nichts lieber gewesen, als die schwere Tür mit einem einzigen Atemstoß wegzublasen. Jedoch … Wieder suchte sie nach den Wachen. Aha! Über ein Dutzend, aber nach wahrem Söldnerstil hatten sie sich alle in der oberen Etage im Wachraum versammelt, weit weg von der feuchten, unangenehmen Kälte der Kerker. Auf dieser Etage war nur ein einziger Wachposten, und zwar an der Biegung in dem Durchgang am Fuße der Treppe, bereit, jederzeit Alarm zu geben, wenn irgend etwas sich regte. Und, was sogar noch besser war, plötzlich konnte sie auch die zornige, ängstliche Gegenwart anderer Gefangener spüren – einer ganz hübschen Zahl von ihnen –, die in den anderen Zellen eingeschlossen waren. Aurian hoffte zutiefst, daß es sich um Harihns Garde handelte, die man aus Sicherheitsgründen ebenfalls eingesperrt hatte.

Aurian schlich sich zur Tür ihrer Zelle. Statt sie einfach wegzublasen, was ihr im Augenblick nicht nur körperlich unmöglich war, sondern auch Xiangs Wachen zu ihr heruntergelockt hätte, verwandte sie ihre ganze restliche Kraft darauf, das Schloß zu beeinflussen. Sie tastete mit den Sinnen einer Heilerin nach den abgenutzten, steifen Bolzen, so wie sie in einer Wunde nach den Beschädigungen suchen würde. Aha! Hier ein wenig Druck – und dort –, die Magusch nahm ihren ganzen Willen zusammen und schob.

Das rostige Loch öffnete sich knirschend. Aurian erstarrte, und ihr Körper machte sich zum Kampf bereit. Hatte die Wache sie gehört? Offensichtlich nicht. Verachtung für seine Unaufmerksamkeit kämpfte kurz mit ihrer Erleichterung. Dann öffnete sie die Tür nur so weit, wie es notwendig war, um sich hindurchzuzwängen, damit die rostigen alten Angeln sie nicht mit ihrem Quietschen verrieten. Auf leisen Sohlen glitt Aurian durch den niedrigen, überwölbten Gang und mußte einen Augenblick lang ihre Sehnsucht nach ihrer Kriegskleidung unterdrücken. Dieses dünne Gewand würde im Kampf nicht nur hinderlich sein, sondern war außerdem auch vollkommen nutzlos gegenüber der schneidenden Kälte der Kerker, die bereits ihre Muskeln steif machte und sich bis in ihre Knochen hineinfraß.

Im gelben Fackellicht am Fuße der Treppe konnte Aurian das Profil der Wache sehen. Der Narr hatte den Blick von ihr abgewandt und schaute sehnsüchtig zu der Treppe hinüber, die in den warmen Wachraum führte, statt den Korridor im Auge zu behalten, den er eigentlich bewachen sollte. Aurians Arm schlang sich mit dem schnellen, tödlichen Würgegriff, den Maya ihr vor so langer Zeit beigebracht hatte, um seine Kehle. Aber sie hatte noch nie zuvor mit bloßen Händen getötet und schaffte es nicht, ihr Schaudern zu unterdrücken, als er lautlos zu Boden sank, seine Luftröhre zerdrückt und die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. Die Magusch biß jedoch die Zähne zusammen und durchsuchte schnell den zuckenden Leichnam nach Schwert, Messern und Schlüsseln, wobei sie versuchte, dem anklagenden Blick dieser schrecklichen Augen auszuweichen. Dann rannte sie, so schnell sie konnte, durch den Korridor zurück zu Shias Zelle, maßlos erleichtert darüber, ihr grausiges Werk hinter sich lassen zu können.

Als Aurian die strammen Fesseln der großen Katze durchtrennte, explodierte Shia wie eine entfesselte Feder und fiel schwer zur Seite, denn ihre tauben Glieder weigerten sich, sie zu tragen. Aurian kniete nieder, um die kalten Beine und Pfoten zu reiben. Obwohl Flüche nicht zu dem geistigen Vokabular der Katze zu gehören schienen, war Shias Tirade leiser, zornig fauchender Laute einem Strom menschlicher Schmähungen so ähnlich, daß die Magusch lächeln mußte.

»Hör mir zu«, sagte sie zu ihrer Freundin, »sobald du wieder auf den Beinen bist, geh zur Treppe und bewache diesen Korridor. Warte dort auf mich, während ich die anderen Gefangenen befreie.«

»Diese Männer!« In Shias Augen flackerte ein wildes Leuchten auf.

»Nein, nicht diese Männer«, sagte Aurian fest. »Sobald ich die guten Männer befreit habe, werden wir uns um die schlechten kümmern, das verspreche ich dir.«

»Was für gute Männer?« schmollte Shia.

»Vertrau mir.« Mit einer kräftigen Umarmung schickte Aurian sie weg und ging selbst in die entgegengesetzte Richtung zu den anderen Zellen.

Ein leises, nervöses Stimmengewirr gab die Anwesenheit der Männer in der Zelle preis. »Wer ist da drin?« rief Aurian vorsichtig, und das Geräusch hinter der Tür verstummte auf der Stelle.

»Yazour, Hauptmann der Garde des Khisal. Und wer bist du?« Die Stimme war jung, aber fest und stark, trotz der Tatsache, daß ihr Besitzer eingesperrt war und auf die zweifelhafte Gnade seines grausamen Königs wartete.

»Lady Aurian, die Zauberin des Khisal«, flüsterte Aurian zurück. Bei ihren Worten erhob sich ein erschrockenes Murmeln unter den Männern in der Zelle, und sie hörte Yazour, wie er sie hastig zum Schweigen brachte.

»Lady, kannst du uns befreien? Seine Hoheit braucht dringend unsere Hilfe.«

Aurian öffnete die Tür, ohne weitere Zeit zu verschwenden, mußte jedoch ein wenig mit dem schweren Schloß kämpfen. Erst jetzt fiel ihr ein, daß die Männer in dem dunklen Flur nichts würden sehen können, und sie suchte nach einem ausgebrannten Fackelstumpf, der in einem Halter an der Wand hing; mit einer sorglosen Handbewegung entzündete sie die Fackel.

»Wie hast du … Lady, das ist verboten«, schallt sie eine strenge Stimme. Der Hauptmann der Garde, den sie an seinen Schulterinsignien erkannt hatte, stand vor ihr, und seine Augenbrauen waren zu einem mißbilligenden Stirnrunzeln zusammengezogen.

»Wenn ihr den Khisal retten wollt, haben wir keine Zeit, wählerisch zu sein«, sagte Aurian knapp und war von ganzem Herzen dankbar für die Art, wie er ihre Worte mit einem brüsken Nicken akzeptierte. Dann zog er den Schlüsselbund aus dem Schloß und schickte einen seiner Männer den Korridor hinab, um die anderen Zellen zu öffnen. Ein praktisch veranlagter Mann also. Wie sein Prinz schien er noch recht jung für seine Verantwortung zu sein. In dem langen, schwarzen, sorgfältig nach hinten gebundenen Haar zeigte sich keine Spur von Grau, aber seine Ernsthaftigkeit und der ehrliche, gerade Blick in seinen dunklen Augen versprach Aurian einen Quell von Mut und gesundem Menschenverstand. Sie hatte keine Zeit, noch weitere Einzelheiten zu vermerken, denn in diesem Augenblick kämpfte sich eine riesige Gestalt nach vorn, die die Soldaten mühelos mit den Ellenbogen zur Seite schob.

»Bohan! Dank den Göttern, daß mit dir alles in Ordnung ist.« Aurian stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu umarmen, und sah, wie sich ein erstauntes, aber erfreutes Lächeln auf Bohans Gesicht ausbreitete. Die Schwertschnitte auf seinem Körper und die Schrammen auf Armen und Beinen zeigten, daß er seine Freiheit teuer verkauft hatte, aber seine Kraft schien unverringert zu sein, als er ihre Umarmung mit knochenbrecherischer Stärke erwiderte.

»Da kommt jemand!« Shias warnender Gedanke hallte unüberhörbar in Aurians Kopf wider.

»Kümmere dich um ihn«, wies sie die Katze an. »Und bitte leise, wenn du kannst.«

»Mit Vergnügen!«

Einen kurzen Augenblick lang hörte man ein Schlurfen auf der anderen Seite des Durchgangs, dann war wieder alles ruhig. »Was war das?« erkundigte sich Yazour scharf.

»Der Dämon aus der Arena, der sich um eine von Xiangs Wachen gekümmert hat. Du solltest besser deine Männer warnen und ihnen erklären, daß sie auf unserer Seite ist.«

»Beim Schnitter!« murmelte Yazour mit weit aufgerissenen Augen.

Der Kampf im Wachraum war blutig, aber kurz. Aurian schickte zuerst Shia hinein, und die Katze wütete wie ein Wirbelwind aus Zähnen und Klauen unter Xiangs entsetzten Soldaten. Aurian folgte mit Yazour und seinen Männern, die sich schnell mit den Waffen der am Boden liegenden Leichen ausrüsteten. Dann bahnten sie sich ihren Weg durch die Flure des Palastes und strömten schließlich aus, um gnadenlos jeden Feind niederzumetzeln, der ihnen auf ihrem Weg entgegentrat. Es war lebenswichtig, daß niemand am Leben blieb, der Xiang warnen konnte. Schließlich erreichten sie die Hauptstockwerke und den langen Flur, der ins Audienzzimmer führte, wo sie auch herausfanden, warum sie bisher nur auf geringen Widerstand gestoßen waren. In dem Flur wimmelte es vor Wachen. »Xiang muß da drin sein«, flüsterte Yazour der Magusch ins Ohr, nachdem er einen kurzen Blick um die Ecke geworfen hatte.

»Und was jetzt? Da kommen wir niemals durch, ohne Alarm auszulösen«, stöhnte Aurian. Geschwächt wie sie war, war es kein Wunder, daß sie leicht zu entmutigen war. Das Blutvergießen der letzten Minuten hatte ihr übel zugesetzt, und der große, geschwungene Krummsäbel, mit dem sie sich bewaffnet hatte, erschien ihr schwierig und unhandlich nach den glatten, zweischneidigen Klingen, die man in ihrem eigenen Land bevorzugte. Es war keine Kleinigkeit, eine vollkommen neue Technik zu erlernen, wenn man gleichzeitig in Lebensgefahr war. Bohan zupfte nachdrücklich an ihrem Arm und zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Aurian runzelte die Stirn und versuchte, seine Gesten zu verstehen. »Du meinst, es gibt einen anderen Weg da rein?« fragte sie ihn. Der Stumme nickte energisch.

»Natürlich!« murmelte Yazour. »Die Küchen. Ein Flur führt von dort aus in das Audienzzimmer, damit man dort leichter das Essen servieren kann.«

Schnell schmiedeten sie ihre Pläne. Aurian sollte mit Bohan, Shia und einer kleinen Gruppe Soldaten von hinten kommen und das Zimmer stürmen. Yazour und seine Männer würden dann, sobald sie ihr Signal hörten, zu einem frontalen Angriff auf die Wachen vor der Tür übergehen. Aurian sammelte schnell ihre Leute um sich und machte sich mit Bohan an der Spitze auf den Weg.

In den Küchen wurden die zu Tode erschrockenen Diener von einem halben Dutzend Wachen des Khisu gefangengehalten. Wenn Aurian sich irgendwelche Hilfe von ihnen erhofft hatte, mußte sie sich diese Idee schnell aus dem Kopf schlagen. Sobald der Kampf begann, ergriffen die Diener die Gelegenheit zur Flucht, wobei sie die größtmögliche Entfernung zwischen sich und der großen, flammenhaarigen Kriegerin und ihrem wilden Dämon suchten. Da die Magusch ganz mit zwei Soldaten beschäftigt war, die sich alle Mühe gaben, sie in Stücke zu hacken, konnte sie nur hoffen, daß sie nicht in Richtung des Thronzimmers fliehen und ihren schönen Plan preisgeben würden. Keuchend ging sie rückwärts auf den Eingang zu und verteidigte sich mit dem sperrigen Krummsäbel, so gut sie es nur konnte. Dann tauchte hinter ihren Angreifern die hoch aufragende Gestalt Bohans auf, und eine große Hand schloß sich um jeden der beiden Hälse. Schließlich kam Shia dazu, um ihnen den Rest zu geben, und ihre Klauen arbeiten sich durch Fleisch und Eingeweide. »Das macht Spaß!« rief sie Aurian zu.

»Ich freue mich, daß du dich amüsierst«, erwiderte Aurian schwach, während sie eine kurze Pause machte – die sie dringend brauchte, um wieder zu Atem zu kommen. Um sie herum sah es aus wie auf einem Schlachtfeld, und das lächerliche hauchdünne Gewand, in das Harihn sie gehüllt hatte, war mit Blut durchweicht. Die Magusch verschaffte sich einen schnellen Überblick über die Leichen. Gut. Alle Feinde tot – und zwei von ihren eigenen Leuten, stellte sie traurig fest. Sie rief die übrigen Männer zusammen, und sie folgten Bohan durch den niedrigen Eingang, der in dem Schatten eines Alkovens im hinteren Teil der Küche verborgen war.

Am anderen Ende des Durchgangs gab es keine Tür – die Treppenflucht, die zum Thronraum führte, endete in einem Bogengang, der durch einen herabhängenden Vorhang von dem dahinterliegenden Raum abgetrennt war. Vorsichtig zog Aurian ihn beiseite, gerade weit genug, um durch einen schmalen Spalt hindurchzuspähen. Sie stand beinahe direkt hinter dem Thron und konnte Harihn ganz in der Nähe sehen, der von zwei Wachen festgehalten wurde und krank vor Angst zu sein schien. Sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen, daß man sie entdeckte, denn alle Augen waren auf den Platz vor Xiangs Füßen gerichtet. Dort kniete Anvar, gefesselt, die Augen fest verschlossen und sein Körper blutleer vor Entsetzen. Über ihm stand eine in Schwarz gehüllte Gestalt mit einem erhobenen Schwert.

»Jetzt!« schrie Aurian. Shia sprang an ihr vorbei und erreichte den Khisu mit einem einzigen Satz; ihr Gewicht preßte ihn zu Boden, und ihre machtvollen Kiefer schlössen sich um seine Kehle.

»Laßt eure Waffen fallen! Bei der geringsten Bewegung stirbt der Khisu!« rief Aurian. Sie hörte die Geräusche eines wilden Kampfes draußen vor der Tür, als Yazour und seine Männer zur Tat schritten, und winkte ihren eigenen Soldatentrupp herbei, um die am Boden liegenden Waffen von Xiangs Garde aufzuheben.

Obwohl sie viel lieber zu Anvar hinübergegangen wäre, stellte sie sich neben den Prinzen und verbeugte sich, wobei sie aus den Augenwinkeln Yazour bemerkte, der kurz in der Tür erschienen war, um ihr zu signalisieren, daß alles unter Kontrolle war. »Euer Hoheit«, sagte Aurian mit klarer Stimme. »Vor kurzem habt Ihr den Einsatz von Magie, um auf den Thron zu gelangen, abgelehnt. Nun biete ich Euch den Thron durch sterbliche Mittel an. Ihr braucht nur ein Wort zu sagen, und Ihr seid Khisu.«

Harihn starrte sie einen Augenblick lang an und versuchte, die plötzliche Wendung der Ereignisse zu verarbeiten. Sie nickte bekräftigend, und der Prinz ging mit einem plötzlichen Lächeln zu seinem Vater hinüber. Aurian folgte ihm. Xiangs Gesicht war verzerrt vor Entsetzen. Alle Grausamkeit, die vorher in seinem Gesicht gelegen hatte, schien sich auf seinen Sohn übertragen zu haben, und die Magusch war angewidert von dem, was sie bewirkt hatte.

»Nun, mein Vater«, sagte Harihn. »Wie fühlt man sich, wenn man selbst das Opfer ist? Wie meine Mutter es genossen hätte, dich so zu sehen.«

»Mein Sohn, ich bitte dich …« Xiang hatte in seiner Angst die Kontrolle über seine Blase verloren, und ein dunkler Fleck breitete sich unter ihm auf dem Boden aus. »Bitte …«

Es war Aurian ganz klar, wieviel ihn dieses Wort gekostet hatte.

»Du bittest, Vater?« Harihns Augen glitzerten. »Oh, das gefällt mir. Bitte doch noch etwas mehr.«

»Mein Sohn … . bitte. Ich werde alles tun …« Harihn wandte sich angeekelt ab. »Nein!« Es war, als hätte sich das Wort den Tiefen seiner Seele entrungen. Nachdem er mit einiger Mühe seine Stimme wieder unter Kontrolle hatte, drehte er sich zu seinen Zuschauern um. »Ich will den Thron nicht haben«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme. »Heute habe ich nur allzugut gelernt, wie die Macht einen Menschen verderben kann. Die Macht der Zauberei« – sein Blick flackerte kalt zu Aurian hin – »die königliche Macht« – er warf einen verachtungsvollen Blick auf seinen Vater und schaute dann zu Sara hinüber – »und die Macht eines Menschen über einen anderen.« Er blickte hinunter auf die zerknüllte Schriftrolle, die ihm den Besitz Anvars bestätigte. »Vater, du magst deinen Thron und dein Leben behalten – wenn du schwörst, daß ich und meine Leute dieses Land ohne Gefahr verlassen können. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen – ich werde nicht zurückkommen. Bist du einverstanden, und wirst du mir dein Wort darauf geben?«

Der Khisu nickte – zu schnell, fand Aurian. Sie hatte die Verachtung in seinen Augen aufflackern sehen. »Du hast mein Wort«, sagte er.

»Laßt ihn frei«, befahl Harihn.

»Wartet.« Aurian, noch immer überrascht über Harihns Zurückweisung des Throns, baute sich vor dem Khisu auf. »Xiang«, sagte sie, »ich habe nicht das geringste Vertrauen zu deinem Wort.« Sein Blick wich ihren Augen aus, und sie wußte, daß sie recht gehabt hatte. Die Magusch dachte hastig nach und nahm schließlich den drohendsten Ausdruck an, zu dem sie fähig war. »Um die Sicherheit des Khisal zu garantieren, belege ich dich mit meinem Fluch, dich und alle Menschen in deinem Land.« Sie hörte ein entsetztes Aufkeuchen hinter sich.

»Was tust du da?« kreischte Harihn sie an.

»Nur das: Solange der Khisu seinen Schwur hält, wird alles gut sein. Aber sollte er ihn brechen, dann wird sein ganzes Königreich von Feuer verzehrt werden und mit ihm alle Menschen darin. Die Ernte wird auf den Feldern verbrennen. Augen werden ausdörren, und Fleisch wird schmelzen. Alles, was lebt, wird in Qualen umkommen. Hast du meine Worte gehört, Xiang?«

»Ja, das habe ich.« Aus seiner Stimme troff kalter Haß.

»Dann merke sie dir gut, damit das, was ich gesagt habe, nicht eintritt.«

Der Khisu nickte und funkelte sie wütend an, aber sie wußte, daß er ihr gehorchen würde. »Oh, und da ist noch etwas.« Sie konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen. »Ich habe das Gefühl, daß Ihr in Zukunft ein besserer Herrscher werden müßt. Es wird keine grausamen Spiele mehr geben, Xiang. Die Arena wird sofort geschlossen, und alle Sklaven werden auf der Stelle befreit.«

»Was?« brüllte Xiang und vergaß in seinem Zorn, in welch gefährlicher Lage er sich befand. Auf ein Nicken von Aurian hin schloß Shia fauchend ihre Kiefer – nur um einen winzigen Bruchteil. Der Khisu würgte und verfiel sofort wieder in tiefes Schweigen.

»Ich werde Euch beobachten, Xiang«, log Aurian. »Egal, wie weit ich von Eurem Reich entfernt bin. Denk daran. Der Fluch ist lediglich ausgesetzt. Wenn Ihr Euren Schwur brecht, wird er auf Euch zurückfallen. Laß ihn aufstehen, Shia«, fügte sie laut hinzu, so daß auch alle anderen Umstehenden ihre Stimme hören konnten. »Der Khisu hat jetzt eine Menge zu tun. Verschwindet, Xiang, und nehmt Eure Soldaten mit. Shia, begleite sie aus dem Haus.«

»Du meinst, ich darf ihn nicht umbringen?« Shias Gedanken klangen verdrossen.

»Ich fürchte, nein.«

»Das ist nicht fair!« Nur widerwillig lockerte die Katze den Zugriff ihrer Kiefer, doch ihre lodernden Augen wandten sich keine Sekunde lang von dem Gesicht des Khisu ab. Ein Mann aus Xiangs Garde half seinem Herrn, sich aus den Trümmern seines Stuhles zu erheben, obwohl er in der Nähe des schwarzen Dämons und der ausländischen Zauberin am ganze Leibe zitterte. Ein tapferer Mann, dachte Aurian.

Sara, die während des ganzen Tumultes geschwiegen hatte, erhob sich, um ihm zu folgen, und schoß Aurian noch einen Blick giftigen Hasses zu. Aber Bohan hatte Anvar von seinen Fesseln befreit, und jetzt lauerte er ihr mit flehendem Blick auf. »Sara, warte! Du mußt nicht mit ihm gehen. Du bist jetzt frei. Du kannst mit uns kommen.« Seine Stimme zitterte vor Hoffnung, sie könne sich immer noch und trotz allem, was er mit angesehen hatte, als unschuldig erweisen. O ihr Götter, kann er denn noch nicht einmal jetzt akzeptieren, wie die Dinge liegen? dachte Aurian verzweifelt.

Sara wandte sich mit einem Blick tiefster Verachtung an Anvar. »Du Narr«, höhnte sie. »Glaubst du wirklich, ich würde mit dir gehen – mit einem bloßen Diener – einem Sklaven –, wenn ich Königin sein kann?«

Anvar zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen. »So«, sagte er sanft, »ich hatte also recht, dir nicht zu trauen. Du hast gelogen, als du sagtest, daß du mich noch immer liebst.«

Saras Lachen hallte laut und schneidend durch den Raum; mit grausamem Hohn begann sie zu sprechen: »Und du hast mir geglaubt, du Trottel, ganz wie ich es erwartet habe! Ich habe es so geplant, weil es meinen Zwecken diente und weil du es verdient hast – dafür, daß du mich einer Pfuscherin von Hebamme überlassen hast und diesem Tölpel von einem Händler. Mit dir kommen, wahrhaftig! Du bist wirklich mitleiderregend, Anvar. Geh und verkriech dich hinter den Röcken deiner Herrin. Sie weiß dich zu schätzen. Was mich betrifft, werde ich dich verachten bis zu dem Tag, an dem ich sterbe.«

Anvars Augen nahmen das harte, kalte Eisblau eines Winterhimmels an. »Warte!« Das Wort war wie ein Peitschenschlag, hart und befehlend. Sara drehte sich langsam um und starrte ihn erstaunt an.

»Da hast du einen schlimmen Fehler gemacht, Sara.« Anvars Ton war kalt und spöttisch. »In deiner Arroganz scheinst du eine wichtige Kleinigkeit vergessen zu haben. Xiang hat keinen Erben mehr – und er wird erwarten, daß du ihm einen neuen Sohn schenkst.«

Saras Gesicht erbleichte zu einem geisterhaften, grünlichen Weiß. Auf der Stelle begann sie zu zittern und schien in sich selbst zusammenzuschrumpfen, während ihr hochmütiges Verhalten zerrann. Plötzlich biß sie sich auf die Lippe und streckte flehend ihre Hände aus. »Anvar, ich …«

»Nein, Sara – diesmal nicht. Und niemals mehr. Du hast bekommen, was du dir wünschtest, und nun mußt du selbst sehen, wie du damit fertig wirst.« Anvars Stimme war wie Stahl. »Verschwinde, Sara. Geh zu dem König, den du so sehr wolltest. Und fang an, über eine Möglichkeit nachzudenken, wie du ihn übertölpeln kannst – so, wie du Vannor und mich übertölpelt hast. Aber du solltest dich besser beeilen!«

Saras Gesicht wurde häßlich vor Zorn. Sie zog den Kopf zurück wie eine Schlange und spuckte ihm ins Gesicht, bevor sie sich in einem Wirbel goldener Röcke umdrehte und Xiang folgte. Als sie hinauseilte, fiel Anvar auf die Knie, und sein Gesicht war eine Maske der Trauer. Aurian war sowohl verwirrt als auch überwältigt von seinem Gespräch mit dem Mädchen, aber sie wußte, daß dies nicht der richtige Augenblick war, um nachzufragen. Statt dessen eilte sie zu ihm hin, um ihn zu trösten, und ihr Herz krampfte sich bei der trostlosen Leere in seinen Augen zusammen.

Anvar riß sich von ihr los. »Bitte«, sagte er unglücklich, »laß mich allein.« Er wandte sich von ihr ab und barg sein Gesicht in seinen Händen. Aurian zog sich zurück, denn sie respektierte seine Gefühle. Als er Sara zurückgewiesen hatte, wäre sie beinahe geplatzt vor Stolz auf ihn, aber sie wußte, wieviel ihn seine Worte gekostet haben mußten. Sie setzte sich neben ihn auf den Boden und spürte nun auch, wie erschöpft sie selbst war.

Eine Hand fiel auf ihre Schulter. »Aurian!« Harihn stand über ihr, und sein Gesichtsausdruck war genauso kalt wie seine Stimme.

»Was?« seufzte sie und stand mit dem Gefühl, grausam miß^ braucht worden zu sein, wieder auf. In Anbetracht der Tatsache, daß sie gerade sein Leben gerettet hatte, schien er nicht gerade überwältigt von Dankbarkeit. Harihn hatte die Fäuste geballt, und sein Gesicht war dunkelrot vor Zorn.

»Du verlogenes Miststück. Dank deiner Machenschaften habe ich heute den Thron verloren. Du undankbare Schlange! Wie konntest du es wagen, mir einzureden, dieser niedrige Sklave sei dein Ehemann?«

Aurian keuchte. Wie hatte er das herausgefunden?

»Beim Schnitter, dafür wirst du leiden!« Harihn griff nach ihr, um sie zu packen, hatte schon eine Hand zum Schlag erhoben.

»Laßt sie in Ruhe!« Anvar trat zwischen sie. »Sie hat Euch nicht belogen, Euer Hoheit. Ich bin ihr Ehemann.«

»Was!« Harihn stockte. »Du meinst … Es ist die Wahrheit?«

Aurians Erstaunen war nicht geringer als das seine. In verwunderter Dankbarkeit suchte sie Anvars Blick. Er legte besitzergreifend einen Arm um ihre Schultern. »Natürlich stimmt es«, erklärte er dem Prinzen. »Sara hat alle belogen. Habt Ihr erwartet, sie würde Xiang erzählen, daß sie ihn betrogen hat? Außerdem hat Aurian Euch keineswegs den Thron gekostet – im Gegenteil, sie hat ihn Euch angeboten, und Ihr habt ihn abgelehnt! Ich glaube, Ihr schuldet meiner Lady eine Entschuldigung – und Euren Dank dafür, daß sie Euch das Leben gerettet hat.«

Der Prinz schien am Boden zerstört zu sein. »Ich – ich bitte um Entschuldigung«, murmelte er mit gesenktem Blick. »Ich hätte es wissen müssen. Die bloße Tatsache, daß du unsere Sprache sprichst so wie Sie … Heißt das, daß du auch ein Zauberer bist?«

Aurian keuchte. Es war soviel geschehen, daß sie keine Zeit gehabt hatte, sich über Anvars Fähigkeiten zu wundern. Aus den Augenwinkeln sah sie Anvar erbleichen. »Nein«, sagte er hastig, »und ich weiß auch nicht, warum ich Eure Sprache sprechen kann. Ich denke, die Lady hat mir das Talent zusammen mit dem Zauber weitergegeben, den sie benutzt hat, um mich dem Tod zu entreißen. Aber was werdet Ihr jetzt tun, Hoheit? Aurian mag Euren Vater für den Augenblick erschreckt haben, aber wir können nicht erwarten, daß das lange anhält!«

Aurian sah ihn neugierig an, aber er wich ihrem Blick gewissenhaft aus. Sie runzelte die Stirn. Warum hatte er so schnell das Thema gewechselt? Und doch … Anvar war kein Magusch! Die Erklärung, die er dem Prinzen gegeben hatte, mußte doch die einzig mögliche sein, oder?

Harihn sah sie an. »Wollt Ihr wirklich die Khazalim mit Eurem Fluch strafen, Zauberin?« stieß er hervor, und Furcht schwang in seinen Worten mit. »Ich habe dem Thron entsagt, aber es ist trotzdem immer noch mein Volk. Wenn – wenn mein Vater sich geweigert hätte, zuzustimmen, hättet Ihr diese Menschen getötet?«

»Bei den Göttern, nein!« sagte Aurian. »Ich wüßte nicht einmal, wo ich da anfangen sollte. Aber Xiang wußte das nicht.« Sie warf ihm ein böses Grinsen zu.

Der Prinz schien erstaunt zu sein, und plötzlich flutete Erleichterung über sein Gesicht. Er brach in Gelächter aus. »Wirklich, du … du bist absolut unmöglich!«

»Genau das sage ich auch immer zu ihr«, meinte Anvar schulterzuckend, »aber was soll ich tun?«

»Hör auf meinen Rat und schlag sie öfter. Sie hat eine Angewohnheit, die Kontrolle über die Dinge zu ergreifen, die einer Frau ausgesprochen schlecht zu Gesicht steht!«

»Ja, das scheint mir auch eine gute Idee zu sein«, knurrte Anvar und ignorierte Aurians empörten Blick. Sie war sogar noch wütender, als sie sah, daß der Prinz es vollkommen ernst meinte.

»Sehr gut«, sagte er. »Ich habe noch viel zu erledigen, wenn wir vor dem Einbruch der Nacht aufbrechen wollen. Ich glaube, daß ich nach Norden reisen Werde. Die Leute meiner Mutter werden mich vielleicht aufnehmen, falls es mir gelingt, durch das Land des Himmelsvolkes hindurchzukommen. Werdet ihr mit mir kommen oder nicht? Allein werdet ihr es nie schaffen, die Wüste zu durchqueren.«

»Ich denke, das paßt uns gut, nicht wahr, Liebes?« Anvar wandte sich an Aurian, und seine Augen glitzerten. Ihr war klar, daß er ihr die Lüge, die sie über ihn verbreitet hatte, heimzahlen wollte.

»Natürlich, mein Liebster«, erwiderte sie honigsüß, obwohl sie nur mit Mühe dem Drang, nach ihm zu treten, widerstehen konnte. Innerlich war sie jedoch erleichtert. Jetzt, da sie Anvar gefunden und ihre Kräfte wiedererlangt hatte, konnte sie es sich nicht leisten, länger in diesem Land zu verweilen. Aber sie brauchte Harihns Hilfe noch und war sich unbehaglich der Tatsache bewußt, daß sie ihre Schuld bei ihm noch nicht beglichen hatte.

Als Harihn gegangen war, wandte Aurian sich an Anvar. »Danke, daß du mich unterstützt hast.«

Er zuckte mit den Schultern. »Das war das mindeste, was ich tun konnte. Du mußt deine Gründe gehabt haben, warum du den Prinzen belogen hast.«

»Und ob ich die hatte. Harihn hatte beschlossen, mich zu seiner Konkubine zu machen, in Übereinstimmung mit den hiesigen Gesetzen für Frauen ohne Begleitung. Ich bin in der Arena schwer verwundet worden, und er hat mir das Leben gerettet. Ich war hilflos, meiner magischen Kräfte beraubt, und ich brauchte Harihns Unterstützung, um dich zu finden. Ich war gezwungen zu lügen. Er hat mir keine andere Wahl gelassen.«

Anvar machte ein finsteres Gesicht. »Du meinst … Ich kann es nicht glauben! Hat er – hat dieser Bastard …« Er bekam vor Zorn kaum noch Luft.

Aurian legte ihm eine Hand auf den Arm. »Nein«, sagte sie sanft. »Er hat mich nicht angerührt, nachdem ich ihm von dir erzählt hatte. Ich glaube allerdings nicht, daß es ihm gefallen hat.«

»Nun, er sollte sich besser daran gewöhnen, und zwar schnell!«

Aurian konnte nicht umhin, Anvars wilden Gesichtsausdruck zu belächeln. »Danke, Anvar«, sagte sie gerührt, »aber wir müssen vorsichtig sein. Um zurück nach Norden zu kommen, brauchen wir Harihns Hilfe zur Durchquerung der Wüste. Wir sind hoffnungslos in der Minderheit, wenn du an die Soldaten denkst, die hinter ihm stehen.«

»O ihr Götter, was für eine Situation, aber …« Plötzlich sah Anvar sehr krank aus. »Heißt das, daß Sara gezwungen war, sich – sich …«

»Anvar, es tut mir leid.« Um seinetwillen mußte sie jetzt mit brutaler Offenheit zu Werke gehen. »Du hast sie heute gesehen. Du hast gehört, was sie gesagt hat. Was Sara hier tut, ist ihre eigene Wahl. Ich habe Harihn benutzt, um dich zu finden – sie hätte dasselbe durch Xiang tun können, aber sie war zu sehr damit beschäftigt, ihre ehrgeizigen Pläne in die Tat umzusetzen. Und wenn sie heute ihren Willen durchgesetzt hätte, wärst du jetzt tot. Was für eine Frau würde das dem Mann antun, der sie liebt?«

Anvar schauderte, und sein Gesicht wurde hart und grimmig. »Ja, das ist es, was ich mir auch gedacht habe«, sagte er.

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