24 Die Suche nach Anvar

Die Demütigung des Sklavenmarktes war Anvar erspart worden. Nachdem er mehrere Tage in dem Schmutz und der Verzweiflung des lärmenden Kellergewölbes verbracht hatte, wurde er mit etwa fünfzig weiteren Sklaven, in Gruppen von zehn Männern aneinandergekettet, bei Nacht durch die schmalen, gewundenen Gassen der Stadt hinunter zum Kai geführt. Als der Morgen dämmerte, wurden sie dann schließlich auf offene Kähne getrieben und in der Gluthitze des Tages einige Meilen flußaufwärts zu dem Platz gerudert, an dem der Khisu seinen Sommerpalast errichten ließ.

Dieser Ort war das reinste Bienenhaus. Das gewaltige neue Gebäude wurde auf einer Reihe von Terrassen erbaut, die von Hand in die hoch aufragenden roten Klippen hineingehauen worden waren und schon viele Menschenleben gekostet hatten. Die Luft war zum Schneiden dick von Staub, und überall hallten laute Befehle wider. Der Rhythmus von Hämmern und Meißeln, das Krachen von Peitschen und das Stöhnen der gequälten Sklaven bildeten eine endlose Kakophonie zwischen den Wänden der Schlucht, die alle Geräusche und alle Hitze in einem schimmernden Kelch des Leides gefangennahm.

Der Bau war bereits so weit vorangeschritten, daß man die massiven weißen Steinblöcke, die mit Lastkähnen von den Steinbrüchen im Oberland herbeigebracht wurden, an ihren Platz setzen konnte. Gruppen erschöpfter Sklaven zogen an den Seilen der großen Winden, die die Blöcke anhoben, während andere über die abgestuften Flächen der Holzgerüste schwärmten, die sich an den halbfertigen Mauern entlangzogen. Wieder andere waren damit beschäftigt, riesige Mengen Mörtel anzurühren, der in der glühenden Sonne ständig auszutrocknen drohte. Ganze Horden von Steinmetzen, Bildhauermeistern und Zimmerleuten gingen ihren Pflichten nach, und mit Pergamentrollen und einem gerüttelt Maß an Arroganz bewaffnete Architekten streiften überall umher. Auf dem flachen Boden beim Fluß war eine gewaltige Außenküche aufgebaut worden, um die Horden der Arbeiter mit Nahrung zu versorgen, und schwitzende Köche arbeiteten pausenlos, scheinbar unbeeindruckt von dem Gestank, dem Staub und der riesigen Wolke sie umschwärmender Fliegen.

Anvars Gruppe wurde auf einem der wackligen Holzstege abgesetzt, die in das schlammige Wasser hineinragten, und der örtliche Sklavenmeister kam herbeigeeilt, um sie mit mürrischem Gesichtsausdruck zu begutachten. »Ist das alles?« fragte er den Kapitän des Lastkahns. »Ich brauche dreimal so viele. Wenn das so weitergeht, wird der Palast nie fertig. Die Sklaven halten unter diesen Bedingungen einfach nicht lange.«

Der Kapitän spuckte auf den staubigen Boden. »Laß deinen Zorn nicht an mir aus«, brummte er. »Ich bringe sie nur her, egal, wie viele. Vielleicht würden sie sich ja besser halten, wenn du sie besser behandeln würdest.« Er warf einen verächtlichen Blick auf den staubigen, lärmerfüllten Arbeitsplatz.

»Sag mir nicht, wie ich meine Arbeit machen soll, du Hafentrottel. Wenn dieser verdammte Palast für den Khisu nicht rechtzeitig fertig ist, werden Köpfe rollen, und ich werde auf keinen Fall die Schuld auf mich nehmen. Wie soll ich denn mit diesem Abfall arbeiten, den ihr mir hier raufschickt … Guck dir doch bloß den da an!« Der Sklavenmeister zeigte mit dem Finger auf Anvar, dessen helle Haut und blondes Haar ihn sofort verdächtig machten. »Was, im Namen des Schnitters, soll das denn sein?«

Der Kapitän zuckte die Achseln. »Woher soll ich das wissen? Ich bringe sie nur her, erinnerst du dich? Zahn erzählt mit nicht, wo er seine Sklaven herbekommt, und ich stelle keine Fragen – so etwas ist ungesund. Solange er immer wieder welche schickt, wärst du gut beraten, sie einfach zu nehmen und deinen Mund zu halten. Wen schert schon die Farbe von so einem verdammten Sklaven? Zahn? Nicht, wenn da ein Gewinn drin ist. Und den Khisu? Alles, worüber Xiang sich Gedanken macht, ist, daß dieser verfluchte Palast endlich fertig wird. Tu einfach nur, was du sonst auch tust – laß den Bastard arbeiten, bis er umkippt, und begrab ihn irgendwo außer Sichtweite oder wirf ihn den Eidechsen im Fluß zum Fraß vor. Wenn irgend jemand fragen sollte, ich habe ihn nie gesehen. So, und jetzt muß ich wieder weg. Hier stinkt es!«

»Eine schöne Hilfe bist du«, brummte der Sklavenmeister. »Sag Zahn, daß ich mehr brauche – und die Qualität sollte sich lieber verbessern, sonst könnte vielleicht jemand dem Khisu ins Ohr flüstern, daß da irgendwer illegale Nordländer importiert.«

Der Kapitän spuckte noch einmal aus. »Ich werde Zahn überhaupt nichts sagen – und an deiner Stelle würde ich meine verdammte Zunge hüten. Da ich ihn kenne, würde ich sagen, daß es nicht unwahrscheinlich ist, daß du dich eines Tages unter deinen eigenen Grundmauern begraben wiederfindest.« Er drehte sich auf dem Absatz um und ging.

Die Sklaven wurden sofort zur Arbeit eingeteilt. Einer nach dem anderen wurde von seinen Fesseln befreit und danach befragt, ob er irgendwelche besonderen Fähigkeiten besaß, wie zum Beispiel Kenntnisse in der Arbeit eines Steinmetz oder eines Zimmermanns. Wenn er solche Fähigkeiten hatte, konnte er sich glücklich schätzen, denn er wurde zu den Handwerkern geschickt, um ihnen zu helfen, und auf diese Weise blieb ihm viel grausame Knochenarbeit in dem brutalen, heißen Klima erspart. Als der Aufseher auf Anvar zukam, fand dieser sich plötzlich in einem Dilemma – sollte er so tun, als sei er der Landessprache nicht mächtig, in der Hoffnung, daß er auf diese Weise eine Chance haben würde, irgendwann zu fliehen, oder sollte er seine Fähigkeiten als Zimmermann, die er von seinem Großvater erworben hatte, ins Feld führen, damit er an diesem schrecklichen Ort vielleicht ein wenig länger überleben konnte? Aber die Entscheidung wurde ihm erspart. Als der Aufseher auf ihn zuging, trat der Sklavenmeister dazwischen. »Nicht den da«, fuhr er ihn an. »Den will ich nicht allzu lange hier haben. Schick ihn an die Hebewerke.« Die Hebewerke hielten, wie Anvar schon bald herausfand, die schlimmste Arbeit bereit. Zwanzig Sklaven zogen gleichzeitig an dicken Seilen, die die massiven Steinblöcke die halbfertigen Mauern hinaufzogen. Je mehr Blöcke hinaufkamen, um so höher wurden die Wände, und um so größer war der Arbeitsaufwand der sich abrackernden, erschöpften Sklaven. Die Zahl der Todesopfer war erschreckend hoch. Sobald ein Block seinen Weg nach oben begonnen hatte, gab es kein Zurück mehr, denn wenn der Schwung plötzlich nachließ, fiel der Stein zu Boden und konnte dabei möglicherweise zerspringen, was eine Verschwendung von Zeit und Arbeit zur Folge hatte – es würde ein neuer Stein herbeigeschafft werden müssen, und der Khisu wollte, daß sein Palast endlich fertig wurde. Wenn also ein Sklave das Pech hatte, seinen Halt zu verlieren oder vor Erschöpfung zusammenzubrechen, wurde er von denen, die hinter ihm standen, niedergetrampelt, die dann an seiner Stelle verzweifelt darum kämpften, daß ihre eigenen nackten Füße nicht auf der schleimigen, blutigen Masse ausrutschten, die einmal ein Mensch gewesen war.

Es war ein Alptraum ohne Ende. Vom Morgengrauen bis in die Abenddämmerung hinein gab es kaum einmal eine Pause. Das Essen war dürftig und wenig sättigend – ein dünner Brei aus gekochtem Korn, der am Morgen und am Abend ausgeteilt wurde. Auch das Wasser reichte für die Bedürfnisse der Sklaven unter dieser brennenden Sonne nicht aus, und viele brachen mit einem Hitzschlag zusammen. Brutale Aufseher gingen mit Peitschen in der Hand an den Reihen der Sklaven vorbei und ließen es nicht zu, daß das Tempo auch für einen Augenblick nachließ.

Wolken stechender Insekten umschwärmten die Arbeiter, und im Schatten der Steinblöcke lauerten Schlangen und Skorpione, deren Stiche oder Bisse in die nackten Füße und Beine der hilflosen Sklaven zu einem langsamen, qualvollen Tod führten.

Am Ende des ersten Tages war Anvars helle Haut von der grausamen Sonne verbrannt und mit Blasen überzogen. Seine Hände und Schultern waren blutig und aufgerissen von der Arbeit mit den rauhen Seilen; seine nackten Füße waren von dem unebenen, kiesigen Boden zerschnitten. Sein Rücken war mit Peitschenstriemen übersät, sein Kopf hämmerte von der erbarmungslosen Hitze, und seine Zunge war in seinem ausgedörrten Mund geschwollen. Seine von Schmerzen erfüllte Welt war zu einem einzigen Gedanken zusammengeschrumpft: Weitermachen. Überleben.

In der gesegneten Kühle des Abends ersetzte eine andere Gruppe die erschöpften Überlebenden an den Flaschenzügen, und die Arbeit ging im Schein von Fackeln weiter. Anvar und die andere Sklaven, die tagsüber gearbeitet hatten, wurden in einen von hohen Pfählen umrandeten Pferch getrieben. Es war nicht einmal der Versuch unternommen worden, den Pferch sauber zu halten, und er stank wie eine Jauchegrube und wurde von Fliegenschwärmen heimgesucht. Jedermann, der durchs Tor kam, erhielt eine Handvoll Haferschleim, und ein langer Steintrog innerhalb ihres Gefängnisses wurde schließlich mit schmutzigem Flußwasser gefüllt. Anvar erkämpfte sich einen Platz zum Trinken an dem Trog, an dem die Männer zusammenströmten und wie Tiere um das unappetitliche Wasser rangen. Dann entfernte er sich taumelnd von der Tränke und legte sich irgendwo in den Schmutz, zu erschöpft, um nachzudenken oder auch nur die Schmerzen seines geschundenen Körpers zu spüren. Es schien, als hätte er erst einen Augenblick geschlafen, da wurde er auch schon mit einem Tritt geweckt, um einen weiteren Weg voller Schinderei und Qualen zu beginnen.

Ohne Zweifel hätte Anvar, wäre er ein Sterblicher gewesen, an diesem schrecklichen Ort keine zwei Tage überlebt. Aber irgendwie arbeitete sein Maguschblut, während er schlief, automatisch daran, ihn zu heilen und ihn soweit wiederherzustellen, daß er einen weiteren Tag furchtbaren Leidens überstehen konnte. Mehr jedoch konnte es nicht tun. Anvar hatte keine Ausbildung in den heilenden Künsten genossen, und Miathan hatte ihm das aktive Element seiner Kräfte gestohlen. Nahrung und Ruhe waren nötig, um die Energie, die bei dem Heilungsprozeß verbraucht wurde, wiederherzustellen, und gerade das war hier verzweifelt knapp. Daher wurde er mit jedem schrecklichen Tag immer schwächer; der Heilungsprozeß verlor mehr und mehr an Wirkung und diente schließlich nur noch dazu, sein Elend in die Länge zu ziehen. Dennoch waren die Aufseher über seine Zähigkeit maßlos erstaunt, und es wurden bereits Wetten darüber abgeschlossen, wie lange sich dieser fremde, hellhäutige Nordländer wohl halten würde. Anvar wußte nichts von alledem. An Körper und Geist erschöpft und zu Tode gequält, wollte er nur noch überleben, und der Luxus des Nachdenkens war ein lange vergessener Traum für ihn. Alles, was übrigblieb, war ein schwacher Funke von Bewußtsein, ein sturer, unnachgiebiger Beweis seines Lebenswillens.

Das Mondlicht warf einen betörenden Glanz durch die Gitter der kunstvoll geschnitzten Fensterläden und bildete auf dem hellen, dünnen Laken, das ihr Bett bedeckte, ein filigranes Schattenmuster. Aurian war verwirrt – sie konnte sich nicht daran erinnern, wie sie hierhergekommen war, und sie schien immer noch halb zu schlafen. Aber irgend etwas hatte sie geweckt. Etwas stimmte nicht. Was? Hinten im Nacken spürte sie das Prickeln einer verschwommenen, gestaltlosen Angst, die ihr aus Kindertagen den unvernünftigen Drang zurückbrachte, ihren Kopf unter der Decke zu verstecken, in der Hoffnung, daß das unbekannte Entsetzen sie dort nicht finden würde. Aurian versuchte sich zusammenzureißen und rief sich ins Gedächtnis, daß sie schließlich eine Kriegerin war. Sie lag ganz still da und konzentrierte sich mit allen Sinnen darauf, die Quellen des Übels zu finden.

Ah, da hatte sie sie! Die Stille. Jede Nacht, seit sie in dieses Land gekommen war, war die Dunkelheit mit dem rhythmischen, hohen Zirpen der Nachtinsekten angefüllt gewesen, mit diesem schrillen, nächtlichen Gesang der Zikaden, der kein Ende zu finden schien. Jetzt war alles ganz still. Aurian konnte sich selbst in flachen, ungleichmäßigen Stößen atmen hören, konnte das Hämmern ihres eigenen Herzens vernehmen. Trotz der Wärme des Zimmers bildete sich eisiger Schweiß auf ihrem Rückgrat. Was sonst noch? Etwas fehlte. Shia! Aurian konnte nur das Geräusch ihres eigenen Atems hören. Sonst war niemand im Zimmer. Shia war weg!

Aurian sah sich hektisch um, aber das Zimmer wurde immer dunkler. Etwas saugte das Mondlicht aus ihrem Fenster, verzehrte es, trank es aus, ließ es in einer überwältigenden Woge tiefster Dunkelheit verschwinden. Etwas regte sich dort in der Ecke – sie konnte spüren, wie es sich bewegte, wie es näher kroch – nein – es war ein Gleiten, das sich schweigend auf sie zubewegte. Es kam am Fenster vorbei, und ihr Blut war plötzlich zu Eis geronnen, als sie die Gestalt sah, die ihre alptraumhaftesten Erinnerungen heimsuchte. Nihilim! Miathan hatte die Todesgeister geschickt!

Aurian versuchte sich zu bewegen, versuchte ihr Schwert zu greifen – nein, das würde nichts nützen, die Todesgeister kamen näher und stießen ihr unheimliches, grausames, tiefes Kichern aus, an das sie sich so gut erinnern konnte. Eine Woge von allesumfassender Kälte und von Entsetzen spülte über sie hinweg. Der Zauber! Finbarrs Zauber! Wie ging er noch? Ihr Verstand war in einen Strom der Panik geraten – sie konnte nicht denken. Sie konnte sich auch nicht bewegen. Ihre Zunge war in ihrem Mund erstarrt, und ihre Glieder lagen reglos auf dem Bett. Der Nihilim fuhr auf sie herab, und von seinem gewaltigen Maul tropften lange Fäden schleimiger, klebriger Dunkelheit herab, mit denen er sie verschlingen wollte, so wie er Forral verschlungen hatte … »Forral! Forral!«

»Um des Erbarmens willen, Lady, wach auf!«

Aurian blinzelte, und plötzlich konnte sie wieder klar sehen. Sie saß in ihrem Bett, und das Zimmer erstrahlte im Lampenlicht. Vor ihr stand Harihn und schüttelte sie an den Schultern, sein gebräuntes Gesicht grau vor Schreck. Ihr linker Arm hing in einer Schlinge, und ihr Hals war vom Schreien wund. Shia stand neben ihrem Bett, ihr Gesicht eine Dämonenmaske von Angst und Zorn, und ihre geschlitzten, gelben Augen starrten etwas an, das nicht da war. Es war nicht da! Während Aurians Alptraum verblaßte, entspannte sich die große Katze plötzlich, schüttelte verwundert den Kopf, und während ihre Ohren noch immer flach an ihrem Kopf lagen, zuckte die Spitze ihres schwarzen Schwanzes hin und her. Als die bittere Woge der Reaktion auf ihren Traum sie überflutete, begann Aurian unkontrolliert zu zittern, geschwächt von ihren Wunden und zerschmettert von der lebhaften Erinnerung an Forrals gräßlichen Tod. Das, was sie gerade erlebt hatte, hatte die Narben in ihrem Herzen, die kaum zu heilen begonnen hatten, grausam aufgerissen. Unfähig, etwas dagegen zu tun, brach sie in einem Sturm hysterischen Weinens zusammen.

Sie hörte Harihn fluchen, hörte, wie er einen Diener rief, damit dieser den Arzt holte. Dann war er wieder an ihrer Seite und tätschelte ihr verlegen die Schulter, während sie immer weiter weinte. »Schsch, Lady, schsch«, versuchte er sie hilflos zu beruhigen. »Es war nur ein Traum – ein schlimmer Traum, der von dem Fieber herrührt. Ich bin hier – dein Dämon ist hier. Nichts kann dir etwas anhaben, das verspreche ich dir.«

Dann kam der Arzt. Aurian erinnerte sich vage an den zerknitterten alten Mann mit den runden Schultern, der die zerrissenen Muskeln an ihrer Wade genäht hatte, wobei er die ganze Zeit über unter dem haßerfüllten Blick Shias gezittert hatte, die sich nur mit Mühe davon abhalten konnte, dieses armselige Geschöpf anzugreifen, das ihrer Freundin solche Schmerzen bereitete. Jetzt war er trotz des komischen weißen Nachtgewandes, das er trug, ganz geschäftige Tüchtigkeit. Sein Anblick war so grotesk, daß Aurian am liebsten laut losgelacht hätte, aber sie konnte nicht aufhören zu weinen, und irgendwie vermischten sich Lachen und Schluchzen, bis sie keine Luft mehr bekam. Sie kämpfte sich aus Harihns Umarmung und umklammerte ihre bandagierten, schmerzenden Rippen. Während ihr die Tränen übers Gesicht strömten, konnte sie nur ein hilfloses Wimmern von sich geben.

Aurian hörte, wie der Arzt mißbilligend mit der Zunge schnalzte, dann wurde ihr eine Tasse zwischen die Lippen gezwungen, und hustend und spuckend würgte sie ein übel brennendes Gebräu herunter. »Tief durchatmen, Lady, wenn ich bitten darf«, gurrte der Arzt geduldig; er sprach mit ihr, als wäre sie ein kleines Kind. Dann hörte sie Shias Stimme in ihren Gedanken, vernünftig und tröstend.

»Genug, meine Freundin«, sagte die Katze, »sonst wirst du dir noch Schaden zufügen.«

Mit übermenschlicher Anstrengung bekam Aurian sich wieder unter Kontrolle, soweit jedenfalls, daß es ihr gelang, den Rest des Getränkes herunterzuschlucken. Der feste Knoten in ihrem Innern löste sich langsam, und sie konnte sich entspannen, obwohl sie immer noch zitterte, während sie sich in den Kissen zurücksinken ließ und sich über die Augen wischte.

Harihn sah sie erleichtert an. »Beim Schnitter, Lady, was hast du uns für einen Schrecken eingejagt!« sagte er.

»Unsinn!« sagte der Arzt energisch. »Es war nur das Fieber. Du warst sehr krank, Lady, und das schon seit mehreren Tagen.« Er beugte sich über sie, um ihr eine Hand auf die Stirn zu legen. »Das Fieber ist jetzt gebrochen, also dürftest du eigentlich keine schlimmen Träume mehr haben. Und es wird dich freuen, zu hören, daß dein Kind in Sicherheit ist.«

Das Kind! Das hatte sie ganz vergessen. Und er hatte von Tagen gesprochen. Und da war doch noch etwas, das sie tun sollte – etwas Dringendes –, aber die Erinnerung an Forral ließ sie nicht los, und sie fühlte sich schwach und von den Nachwirkungen ihres Traums verwirrt. O ihr Götter, dieses gräßliche Geschöpf! Aurian schauderte. »Wein?« keuchte sie und versuchte, die Erinnerung zu verdrängen.

Der Arzt lächelte. »Ich weiß, daß meine Patienten auf dem Weg der Besserung sind, wenn sie nach Wein fragen. Habt Ihr hier irgendwo Wein, Euer Hoheit?«

»Ist das auch wirklich gut für sie?« erkundigte der Prinz sich ängstlich. »Ich meine, wegen der Medikamente, die sie bekommen hat – und sie hat überhaupt nichts gegessen …«

»Nun, das läßt sich sicher schnell ändern.« Der Arzt ging zur Tür und gab einem Diener, der dort stand, Anweisungen.

Während sie wartete, versuchte Aurian, sich die Ereignisse der letzten Tage zusammenzureimen. »Wie schlimm sind meine Verletzungen?« fragte sie den Arzt.

Sein verhutzeltes Gesicht verzog sich zu einem Stirnrunzeln. »Lady, du hast mir ganz schön zu tun gegeben! Aber dein Arm heilt, und deine Rippen waren nur angerissen, nicht gebrochen. Bei einiger Pflege sollten sie bald wieder zusammengewachsen sein. Was dein Bein betrifft, da waren die Muskeln schlimm zerrissen. Ich fürchte, es werden Narben zurückbleiben.«

»Das ist nicht wichtig. Kommt es wieder in Ordnung?«

Der Arzt zögerte. »Das sollte es eigentlich«, sagte er endlich.

»Das heißt, wenn du ihm die Möglichkeit gibst, ganz zu heilen. Du darfst dieses Bein noch mindestens zehn Tage lang nicht benutzen, möglichst sogar länger.«

»Was!« Aurian hatte sich mit einem Ruck aufgerichtet und krümmte sich nun, als heißer Schmerz in ihre angebrochenen Rippen fuhr. »Soviel Zeit habe ich nicht.«

»Das mußt du aber.«

»Aber es gibt etwas, das ich tun muß – es ist wichtig!« Verzweifelt versuchte sie sich daran zu erinnern, was es war.

Der Arzt sah sie stirnrunzelnd an, als wäre sie ein ungeduldiges Kind. »Ganz wie es dir gefällt«, erwiderte er schließlich frostig. »Aber wenn diese Muskeln keine Chance haben, richtig zu heilen, wirst du vielleicht dein ganzes Leben lang ein Krüppel sein. Im besten Fall wird das Bein immer schwach bleiben. Du mußt im Bett bleiben, bis ich dir etwas anderes sage. Wenn nicht, trägst du allein die Verantwortung für die Konsequenzen.«

Aurian fluchte wild und hämmerte mit der Faust auf ihr Kissen; die engen Grenzen der Medizin dieser Sterblichen versetzen sie in Rage. Wenn sie doch nur ihre Kräfte hätte, dann könnte sie ihre Verletzungen im Nu heilen!

Gerade in diesem Augenblick kehrte der Diener mit einer Tasse warmer Suppe zurück. »Trink das, Lady«, wies der Arzt an, »dann bekommst du auch deinen Wein.« Trotz ihrer Enttäuschung stellte Aurian fest, daß ihr Magen sich zusammenkrampfte, und es hatte nichts mit ihren Gefühlen zu tun, sondern vielmehr mit Hunger. Eifrig trank sie die Brühe, und der Arzt gab ihr einen Kelch mit einem süßen, roten Wein. »Ihr braucht keine Angst zu haben, Hoheit«, erklärte er dem Prinzen. »Zusammen mit der Droge wird er ihr helfen, wieder zu schlafen, und genau das braucht sie. Vielleicht können wir anderen dann auch unsere verdiente Ruhe finden.« In seiner Stimme schwang ein eisiger Unterton mit. Aurians Hand klammerte sich in Panik fester um den Stiel des Kelches. Sie konnte nicht schlafen! Was, wenn Es in ihren Träumen zurückkäme? Aber es war bereits zu spät. Sie hatte schon das meiste von dem Wein getrunken und spürte, wie eine schläfrige Euphorie in ihr aufstieg. Es tat so gut, nach dem, was sie gerade durchgemacht hatte. Sie hört sich kichernd um noch mehr Wein bitten. Der Arzt schnalzte mißbilligend mit der Zunge, zuckte denn jedoch die Achseln. »Es ist vielleicht das beste so«, seufzte er und schenkte ihr noch mehr Wein ein. »Wovon auch immer sie geträumt hat, es hat ihr einen schweren Schock versetzt. Ihr solltet auch etwas trinken, Hoheit. Ihr seht sehr erschöpft aus. Warum laßt Ihr nicht einen Diener bei diesem undankbaren Frauenzimmer Wache halten? Ihr müßt doch wichtigere Dinge zu tun haben, und Ihr braucht Euren Schlaf.«

Harihn entließ den Arzt mit einigen schroffen Worten des Dankes. Dieser aufdringliche Kerl! Aber da er sich so gut auf seine Kunst verstand, gelang es ihm immer wieder, mit seinen Unverschämtheiten davonzukommen. Der Khisal rieb sich seine müden Augen und drehte sich wieder zu der mysteriösen Dame um, die er so impulsiv aus der Arena gerettet hatte. Sie schlief bereits friedlich, und das Entsetzen, das sich vor kurzer Zeit noch auf ihrem Gesicht abgemalt hatte, war wie weggewischt. Was hatte sie geträumt, das sie in solche Angst versetzen konnte? War es der Name ihres Mannes gewesen, den sie gerufen hatte? Seine Nachforschungen bei den Gebietern hatten ergeben, daß sie wahrscheinlich Witwe war, und der Arzt hatte ihm erzählt, daß sie ein Kind bekam. Das war ein ziemlicher Schock gewesen. In ihrem Zustand war die Vorstellung, die sie in der Arena geboten hatte, geradezu ein Wunder gewesen. Schweigend salutierte er vor ihrem Mut, beugte sich über sie und zog ihr die dünne Decke fester um die Schultern.

Die Dämonenkatze hob ihren Kopf und fauchte, so daß ihre langen, weißen Fangzähne sichtbar wurden. »Schscht«, beschwichtigte Harihn sie, während er sie vorsichtig im Auge behielt. »Du solltest mittlerweile doch wissen, daß ich deiner Freundin nichts Böses will.«

Die Katze ließ ihren Kopf wieder auf die ausgestreckten Pfoten fallen und gab sich damit zufrieden, dem Prinzen noch einen finstere Blick zuzuwerfen. Sie hatte Aurian während ihrer Krankheit die ganze Zeit bewacht und alle, die sich um ihre Freundin kümmerten, mit dem gleichen Argwohn betrachtet. Die meisten Diener hatten schon Angst davor, auch nur den Raum zu betreten.

Harihn, der beschlossen hatte, den Rat des Arztes doch anzunehmen, schenkte sich etwas Wein ein. Dann öffnete er die geschnitzten Fensterläden, die sich von der Decke bis zum Fußboden erstreckten, und nahm seinen Kelch mit hinaus in den wohlriechenden, vom Mond beschienenen Frieden des Gartens. Wie sehr er diesen Ort doch liebte! Der kleine, mit Mauern umgebene Park mit seinen grünen Rasenstücken und den blühenden Pflanzen und Bäumen war eine grüne Zuflucht in dieser ausgedörrten Stadt. Seine Mutter hatte diesen Garten geschaffen, nachdem man sie, eine gefangene Braut, in diesen kleinen aber exquisiten Palast am Südufer des Flusses gebracht hatte – die Arena und der luxuriöse Palast des Khisu lagen auf der anderen Seite. Ihre Weigerung, im selben Haus mit ihrem Herrn und seinem Harem zu leben, war einer der Gründe für ihre Ermordung gewesen. Xiang, der an die unterwürfigen Frauen seines Landes gewöhnt war, konnte mit ihrem Stolz nicht fertig werden, ebensowenig wie mit ihrem verachtungsvollen, niemals verborgenen Haß auf den Mann, der sie mit Gewalt von den Xandim, ihrem eigenen Volk entführt hatte.

Harihn überquerte den Rasen, um sich auf die niedrige, marmorne Mauerkappe zu setzen, die einen Teich umrandete, in dem in vergoldeter Pracht einige Karpfen schwammen. Der Duft der großen, weißen Blüten des Baumes, der über dem mondsilbernen Wasser aufragte, war berauschend, aber seine Gedanken waren anderswo. Nach all diesen Jahren vermißte er seine Mutter immer noch. Er konnte sich lebhaft an sie erinnern – an ihr langes, braunes Haar, ihre blitzenden Augen und den unbeugsamen Geist, den auch die Brutalität seines Vaters niemals hatte zerstören können. Harihn lebte aus den gleichen Gründen hier, wie sie es damals getan hatte – um sich seine Unabhängigkeit zu bewahren und um so weit wie möglich von Xiang entfernt zu sein. Aber es tat weh. Dieser Ort war voll von den Erinnerungen an seine Mutter, und vielleicht war das seine eigene Schuld, denn er hatte es nie zugelassen, daß irgend etwas verändert wurde. Als er die flammenhaarige Fremde in der alten Zimmerflucht seiner Mutter unterbrachte, hatte es unter den Dienern einige hochgezogene Augenbrauen gegeben, um es vorsichtig auszudrücken. Aber irgendwie hatte er das Gefühl gehabt, daß es das richtige war. Ihr Geist, ihr Mut, ihr Stolz und ihre Weigerung, in der Arena zu kapitulieren, hatten solch mächtige Erinnerungen an seine Mutter in ihm geweckt, daß er nicht anders konnte, als einzuschreiten, um dieser Frau zu helfen. Um seine Mutter zu retten, war er damals zu jung gewesen.

Seit diesem Augenblick hatte er jedoch genug Zeit gehabt, um sein übereiltes Handeln zu bedenken, und wieder einmal fragte er sich, was nur über ihn gekommen sein mochte. Alles, was er bisher aus ihr herausgebracht hatte, war ihr Name – Aurian. Woher war sie gekommen? Was war ihre Geschichte? Wie hatte sie – eine Frau – gelernt, so gut zu kämpfen? Die Tatsache, daß sie eine von den hexengeborenen nördlichen Zauberinnen war, machte ihn sehr nervös, trotz der Armreifen, die sie trug und die, wie man ihm fest versichert hatte, ihre Magie aufhoben. Nicht zum ersten Mal fragte Harihn sich, ob er da nicht einen größeren Bissen genommen hatte, als er schlucken konnte. Er hatte zum Beispiel keinen Augenblick daran gedacht, daß dies bedeuten würde, auch den furchterregenden Dämon bei sich aufzunehmen. Und der Khisu war natürlich schrecklich wütend auf ihn, aber das war nichts Neues.

Bei dem Gedanken an Xiang mußte Harihn allerdings zugeben, daß seine Tat auch ihre Vorteile hatte. Es war äußerst vergnüglich gewesen, diesen Ausdruck höchster Wut auf dem Gesicht seines Vaters und dem seiner Braut zu sehen. Warum hatte sie den Tod der Kriegerin gewünscht? Harihn war davon überzeugt, daß die beiden Frauen mit demselben Schiff gekommen sein mußten. Zwei Fremde, die gleichzeitig in der Stadt auftauchten? Das mußte mehr als nur ein Zufall sein. Er lächelte bei sich. Wenn seine geheimnisvolle Dame ihm Informationen geben konnte, die sich zum Nachteil der neuen Königin auswirken würden, dann hatte er damit vielleicht ein neues und dringend benötigtes Druckmittel gegen den Khisu. Harihns Mund verzog sich zu einer bitteren Grimasse. Der Haß, den sein Vater für ihn empfand, war kein Geheimnis. In der Hinsicht konnte sich diese Aurian tatsächlich als nützlich erweisen. Sie konnte kämpfen wie ein Dämon – das hatte er mit eigenen Augen gesehen –, und sie hatte überdies noch ihren eigenen Dämon, der ihr half. Zusammen waren die beiden ein unglaubliches Paar. Der Khisal lächelte. Vielleicht hatte er, als er sie aus der Arena gerettet hatte, doch die richtige Entscheidung getroffen.

Als Aurian erwachte, war es bereits heller Tag. Der Prinz war verschwunden, und ein Fremder döste auf einem Stuhl neben ihrem Bett. Aurian keuchte. Der Mann war ein Riese. Aber Shia schlief am Fußende des Bettes. Sie hatte sich fest zusammengerollt und ihren Schwanz über die Augen gebreitet – ein eindeutiges Zeichen dafür, daß man ihrem neuen Wächter trauen konnte. Sie fragte sich, ob er ihr wohl etwas zu essen bringen konnte. Ihr Verstand war jetzt ganz klar, aber ihr Inneres zog sich vor Hunger zusammen. Sie streckte die Hand aus, um ihn am Arm zu berühren, und der große Mann schreckte mit schuldbewußtem Gesicht sofort auf. Aurian sah die Furcht in seinen Augen und versuchte instinktiv, ihn zu beruhigen. »Keine Angst«, sagte sie. »Es ist nicht schlimm, daß du geschlafen hast. Alle anderen haben das auch getan.« Sie warf lächelnd einen Blick auf die nichtsahnende Shia. »Nur – ich bin so schrecklich hungrig. Glaubst du, du könntest mir etwas zu essen besorgen? Und etwas Liafa.« Während sie in der Arena gelebt hatte, war sie diesem Zeug regelrecht anheimgefallen. Der Riese sprang auf seine Füße, nickte so kräftig, als wolle er sich seines kahlen Kopfes entledigen, und ein scheues Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. Aurians Augen weiteten sich. Er mußte beinahe sieben Fuß groß sein, und seine Schultern waren so breit, daß sie sich fragte, ob sie wohl durch die Tür passen würden. Er verbeugte sich und verließ das Zimmer mit einer Geschwindigkeit, die seinen gewaltigen Körper Lügen strafte. Er kehrte schon nach kurzer Zeit mit einen Tablett zurück, das beinahe ebenso breit war wie seine Schulter. Als sie sah, was er da hereintrug, wurde Aurian klar, daß, welche Tageszeit es auch sein mochte, es auf gar keinen Fall Frühstückszeit war. Aber das war ihr gleichgültig – das Wasser lief ihr bereits im Mund zusammen. Es gab eine kräftige Suppe, ein gebratenes Huhn, und abgerundet wurde die Mahlzeit von Früchten, Käse, Honig und dem gewohnten flachen Brot. Auf dem wenigen, was an freier Fläche auf dem Tablett noch übrig war, wetteiferten eine Flasche Wein und ein randvoller Krug Liafa um den letzten Platz. »Also wirklich, das ist ja ein Festessen!« rief Aurian. »Ich danke dir – vielen, vielen Dank!«

Shia, die das Essen gerochen hatte, regte sich, und ihre goldenen Augen hellten sich auf, als sie das Tablett erblickte. Aurian seufzte. Es war ja nicht so, daß sie etwas dagegen hatte, mit ihrer Freundin zu teilen, aber – aber ihr freundlicher Riese hatte sogar daran gedacht. Unter seinen Arm geklemmt, damit er beide Hände frei hatte, um das Tablett zu tragen, hatte er noch einen dicken, in einen Lappen gewickelten Gegenstand. Mit einer schwungvollen Gebärde packte er ihn aus und präsentierte ihn ohne ein Zeichen von Furcht der Katze. Es war eine Keule rohen Fleisches. Zu Aurians maßlosem Erstaunen schnurrte Shia laut und rieb sich das Gesicht an der Hand des Mannes.

»Vielen Dank«, sagte Aurian mit einem Lächeln zu ihm. »Das war sehr aufmerksam. Shia! Nicht auf dem Bett, bitte!«

»Warum nicht? Ich habe auch Hunger.« Shia warf ihr einen düsteren Blick zu und zog dann mit ihrem Fleisch in Richtung Garten ab.

Aurian konnte nicht länger warten und machte sich über das Essen her. »Wie heißt du?« fragte sie den riesigen Mann undeutlich, da sie mit vollem Mund sprach. Er sah sie nur an, schüttelte den Kopf und fuchtelte mit den Händen in der Luft.

»Sein Name ist Bohan. Er kann dir keine Antwort geben, denn er kann nicht sprechen.« Als Harihn eintrat, warf Bohan sich nieder und berührte mit der Stirn den Boden. Der Prinz machte eine lässige Handbewegung, und der Riese verließ den Raum. »Ich habe ihn dazu abgestellt, dir zu dienen und dich zu bewachen. Er ist ein Eunuch, wie es sich gehört.«

»Der arme Mann!« keuchte Aurian. »Wie grausam!«

Harihn machte ein überraschtes Gesicht. »Grausam? Warum? Alle Damen von Stand werden von Eunuchen bedient. Wie sonst könnte die Unantastbarkeit ihrer Person sichergestellt werden?«

Aurian schauderte und dachte an Anvar. Anvar! Großer Chathak, wie hatte sie ihn nur vergessen können?

Der Prinz zuckte mit den Schultern. »Es hat keine weiteren Konsequenzen. Ich denke, er ist zufriedenstellend?« Er machte es sich am Fußende ihres Bettes bequem und nahm sich beiläufig einen Schenkel von ihrem Huhn. Aurian schob sich schnell einen großen Bissen in den Mund, denn sie hatte keine Lust, noch mehr von dem Vogel einzubüßen.

»Wie fühlst du dich?« fragte Harihn, und Aurian würgte, um ihm eine Antwort zu geben. Sie nahm einen Schluck Wein und holte tief Luft.

»Hungrig«, erwiderte sie spitz, bedauerte ihre Grobheit jedoch noch im selben Augenblick. Schließlich hatte sie ihm viel zu verdanken, und im Augenblick war sie außerdem von seinem guten Willen abhängig.

Der Prinz schenkte ihr ein tolerantes Lächeln. Er sah sehr gut aus, dachte Aurian, mit seinem schwarzen, gelockten Haar, den dichten, geraden Brauen und den dunklen, strahlenden Augen. Sein Gesicht war sanfter, weniger eklig und wölfisch als das seines Vaters, aber es zeigte denselben Stolz, und sein Körper war genauso geschmeidig und stark. Dennoch begann sie langsam, sein herablassendes Verhalten äußerst ärgerlich zu finden, und sie mußte sich zwingen, ihr Temperament zu zügeln. »Ich möchte mich entschuldigen, Euer Hoheit«, sagte sie. »Ich fürchte, so kurz nach dem Aufstehen bin ich immer etwas ungenießbar.«

»Du kannst mich Harihn nennen«, sagte er mit dem Tonfall eines Menschen, der einem anderen eine einzigartige Ehre zuteil werden ließ, »und ich habe keine Einwände dagegen, daß du ißt, während wir uns unterhalten.«

Na, vielen Dank, dachte die Magusch säuerlich. »Ich danke Euch sehr«, sagte sie laut. »Ihr dürft mich Aurian nennen.«

Harihn hob eine Augenbraue. »Aber natürlich.«

Mit Mühe gelang es Aurian, ihm nicht ihr Frühstück in sein selbstgefälliges, dümmliches Gesicht zu werfen. Und das war auch gut so, denn sie brauchte das Essen dringend. Statt dessen sah sie ihn mit einem sehr direkten Blick an. »Harihn, warum habt Ihr mich gerettet?«

Der Prinz lächelte. »Lady, du hast nichts von mir zu befürchten. Du bist für mich lebendig viel wertvoller als tot. Verstehst du, ich brauche dich – und deinen Dämon, wenn er bereit ist, uns zu helfen. Ich habe dich in der Arena kämpfen sehen, und ich brauche deine Fähigkeiten, um mich zu schützen. Mein Leben ist bedroht – von seiten meines königlichen Vaters und erst recht von seiten seiner neuen Frau. Falls sie ihm einen weiteren Erben schenkt …« Er fuhr sich mit einer eindeutigen Handbewegung über die Kehle.

Nach einem Augenblick bemerkte Aurian, daß ihr der Mund offenstand, und hastig schob sie sich etwas zu essen zwischen die Zähne, um sich Zeit zum Nachdenken zu verschaffen. Sie hätte um ein Haar begonnen, ihm zu erzählen, warum sie unmöglich bleiben konnte, begriff jetzt aber, daß der ganz mit sich selbst beschäftigte junge Prinz ihre Probleme kaum beachten würde. Außerdem konnte sie nicht gehen, bevor sie Anvar gefunden und, was noch wichtiger war, eine Möglichkeit entdeckt hatte, diese Armreifen, die ihre magischen Kräfte lähmten, zu entfernen.

Der Prinz runzelte die Stirn und war offensichtlich verwundert darüber, daß sie nicht außer sich vor Freude war, zu seiner Leibwächterin auserkoren zu sein. »Entschuldigt mich, Euer Hoheit«, sagte Aurian hastig und brachte es gerade rechtzeitig fertig, von irgendwoher noch ein Lächeln hervorzuzaubern. »Ich bin beinahe sprachlos angesichts der Ehre, die Ihr mir erweist, aber … Der Arzt muß Euch doch sicher von meinem Zustand erzählt haben. Wie kann ich Euch angemessen verteidigen, wenn ich wegen des Kindes, das ich erwarte, dick und rund geworden bin?«

Harihn zuckte mit den Schultern. »Ich weiß die Offenheit, mit der Ihr über diese delikate Angelegenheit sprecht, natürlich sehr zu schätzen.« Die abschätzige Art, wie er seine Lippen verzog, strafte seine Worte jedoch Lügen. »Das sollte kaum ein Problem sein. Du hast deinen Dämon, der dir hilft, und außerdem würde dein Zustand jeden, der es auf mich abgesehen hat, in einem falschen Gefühl der Sicherheit wiegen. Wer würde schließlich erwarten, daß eine schwangere Konkubine die Fähigkeiten eines Kriegers besitzt?«

Wieder mußte Aurian würgen. Als sie endlich wieder Luft bekam, schob sie das Tablett von sich; ihr Appetit war plötzlich verschwunden. »Habt Ihr Konkubine gesagt?«

Harihns Augen weiteten sich. »Aber du hast doch gewiß nicht von mir erwartet, daß ich dich heiraten würde? Mein Volk würde niemals eine ausländische Zauberin als seine Khisihn dulden!«

»Natürlich habe ich das nicht erwartet! Ich dachte, Ihr wolltet mich als Leibwächterin und nicht …« Aurian begann vor Zorn zu stottern, und alle Zurückhaltung, die sie sich auferlegt hatte, war dahin. »Ihr müßt vollkommen von Sinnen sein!«

Harihn nahm eine solche Pose geduldiger Nachsicht ein, daß Aurian ihn am liebsten erwürgt hätte. »Der Arzt hat mich gewarnt, daß du vielleicht so reagieren würdest«, sagte er. »Da du schwanger bist, hast du im Augenblick keine Kontrolle über dich, und von den Gebietern habe ich deine Geschichte erfahren. Ich weiß, daß deine Gefühle, da du gerade erst verwitwet bist, wahrscheinlich noch sehr leicht verletzbar sind – aber es ist einer Frau nicht gestattet, ohne einen Mann zu sein, der sie beherrscht und bewacht. Wie könnte es auch anders sein. Du brauchst den Schutz eines Mannes, ein Zuhause und eine Zukunft für dein Kind. Wenn du von hier weggehst, bist du der Gnade des Gesetzes ausgeliefert, und das Beste, was du hoffen kannst, ist Sklaverei – oder eine Rückkehr in die Arena. Würde dein Kind einen zweiten Kampf dieser Art überleben? Würdest du es überleben? Ich glaube nicht. Ich habe keine Ahnung, wie die Dinge in deinem eigenen Land geregelt werden, aber hier würde der Bruder deines Mannes oder irgendein Verwandter, ja, vielleicht sogar sein engster Freund dich als Konkubine in seine Familie aufnehmen, nachdem du verwitwet bist – oder vielleicht sogar als Ehefrau, wenn er das wünschen sollte. Du bist hier eine Fremde und hast niemanden, der dir diesen Dienst erweisen könnte. Du kannst doch gewiß nicht unempfänglich für die Ehre sein, die ich dir erweise?«

Große Götter! Er bildete sich auch noch etwas darauf ein! Aurian verfluchte ihre Phantasie, die ihr diese idiotische Geschichte über einen verlorengegangenen Ehemann eingegeben hatte. Sie verfluchte die lächerlichen Gesetze dieses Landes, die Frauen wie Besitztümer herumschubsten, und sie verfluchte diesen arroganten jungen Narren, der glaubte, ihr einen solchen Gefallen zu tun. Was für eine Frechheit! Dann riß sie sich jedoch wieder zusammen und begann mit verzweifelter Hast nachzudenken. Vielleicht würde sich ihre Behauptung, Anvar sei ihr Mann, doch noch als hilfreich erweisen, wenn man ihn fand … Sie holte tief Luft und verkreuzte unter der Decke ihre Finger. »Aber Euer Hoheit«, stieß sie hervor, »was ist mit meinem Mann?«

Harihn runzelte die Stirn. »Aurian, dein Mann ist tot.«

»Und was ist, wenn er nicht tot ist? Wir wissen es doch nicht genau.« Bei ihren Worten stieg das Bild von Forrals Gesicht vor ihrem inneren Auge auf – mit einer so schmerzhaften Klarheit, daß sie ein Schluchzen unterdrücken mußte. O Forral, vergib mir, dachte sie. »Was geschieht, wenn er hierherkommt, nur um herauszufinden, daß ich die Konkubine eines anderes Mannes geworden bin?« Sie war unfähig, ein Schaudern in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Bitte, Euer Hoheit, Ihr könnt doch gewiß eine Suche veranlassen? Ich bitte Euch … Als eine Frau und allein in diesem fremden Land werfe ich mich Euch zu Füßen.« Nun, ein wenig Mitleidheischen hatte ihr bei den Gebietern gute Dienste geleistet. Wenn der Prinz doch nur auf denselben Köder hereinfiele … Aber während Aurian die Tränen in ihre Augen zwang, sah sie, wie sich Harihns Gesichtsausdruck verhärtete.

»Lady«, sagte er ausdruckslos. »Es ist unmöglich, denjenigen zu finden, den du suchst.«

Ich habe mich selbst überlistet. Er hat nicht die geringste Absicht, Anvar zu finden, dachte Aurian, denn er will mich für sich. Sie hatte keine andere Wahl, als hartnäckig zu bleiben. »Was, bei dieser hellen Haut und diesem hellen Haar und den blauen Augen? Ich hätte gedacht, er würde jedem in der Stadt sofort auffallen. Wenn er zusammen mit Sara hierhergebracht worden ist, muß sich doch bestimmt jemand daran erinnern, ihn gesehen zu haben?«

»Genau! Und in dieser ganzen Zeit war nicht ein einziges Mal die Rede von einem solchen Mann … Was hast du gesagt? Er war mit Sara zusammen? Der Khisihn? Warum?« Harihn beugte sich vor, und seine Augen blickten plötzlich interessiert. Was war nur in diesen Mann gefahren, fragte Aurian sich. Konnte sie sein plötzliches Interesse irgendwie zu ihrem Vorteil nutzen?

»Hat Sara ihn nicht erwähnt?«

»Nein, das hat sie bestimmt nicht. Hätte sie es denn tun sollen? Waren sie zusammen? Warum hat sie nichts von ihm gesagt? Ist das etwas, das ich benutzen könnte, um meinen Vater zu blamieren?« Harihns Fragen überstürzten sich in seinem Eifer.

Also das war’s! Aurian mußte sich anstrengen, ihre Erleichterung zu unterdrücken. Wenn sie diese Sache richtig handhabte … Sie versuchte, ein schockiertes Gesicht zu machen. »Es überrascht mich nicht, daß sie Anvar dem Khisu gegenüber nicht erwähnt hat. Sie ist seine Konkubine. Das ist auch der Grund, warum sie mich tot sehen will, Harihn – damit ich ihr Geheimnis nicht verraten kann. Wenn der arme Anvar tot ist, spielt es natürlich keine Rolle mehr, aber wenn er noch immer lebt, dann würde es Euren Vater in eine sehr peinliche Situation bringen …«

Der Prinz stieß eine Salve triumphierenden Gelächters aus. »Ah!« sagte er. »Du zahlst mir meine Investition bereits zurück. Ich habe mich, als ich dich gerettet habe, schon gefragt, ob ihr beide, du und Sara euch kennt. Zwei Fremde, die so kurz nacheinander hier eintreffen – das konnte einfach kein Zufall sein. Ich frage mich, was mein Vater sagen wird, wenn er hört, daß seine kostbare neue Khisihn die Konkubine eines anderen Mannes ist.«

Aurian seufzte. Was für ein Unschuldslamm! »Sara wird sagen, ich sei eine Lügnerin, oder sie wird behaupten, Ihr lügt, und der Khisu wird natürlich seiner Frau glauben, und dann werden wir beide in Schwierigkeiten kommen«, sagte sie ausdruckslos, und Harihn zog ein langes Gesicht. »Was er braucht, sind Beweise. Wenn Ihr doch nur Anvar finden könntet …«

Das Gesicht des Prinzen hellte sich auf. »Beim Schnitter, Lady, du bist wirklich klug! Daran hätte ich nie gedacht. Wie schade, daß du eine fremde Zauberin bist. Du würdest eine viel bessere Königin abgeben als diese Eselin, die mein Vater geheiratet hat! Du bist wahrhaftig wert, mit den Schätzen der Wüste aufgewogen zu werden.« Es schien ein merkwürdiges Kompliment zu sein, aber Aurian ließ es ihm durchgehen. Harihn sprang auf die Füße. »Ich werde sofort einen Mann zum Hafen hinunterschicken – wenn es überhaupt eine Spur gibt, dann kann sie nur dort beginnen.«

»Harihn, ich weiß gar nicht, wie ich Euch danken soll«, sagte Aurian, und Erleichterung malte sich auf ihren Zügen ab. »Sobald ich wieder auf den Beinen bin, werde ich Euch Eure Freundlichkeit zurückzahlen, das verspreche ich. Mit Eurer Erlaubnis werde ich beginnen, Eure persönliche Wache in den nördlichen Kampfkünsten zu unterweisen. Dann habt Ihr den bestmöglichen Schutz, falls Euer Vater jemals einen Schritt gegen Euch unternehmen sollte.« Und wenn ich gehe, dachte sie, hast du immer noch jemanden, der dich beschützt.

»Lady, ich bin dir aus ganzem Herzen dankbar.« Harihn sah sie an, und Dankbarkeit war an die Stelle der alten Arroganz getreten. Aurian begriff, daß er große Angst vor seinem Vater hatte – und daß er sehr allein war. Und nun hatte sie auch noch die Absicht, ihn zu hintergehen, sein Vertrauen zu gewinnen und alle Hilfe anzunehmen, die er ihr bieten konnte – und ihn dann, sobald es möglich war, zu verlassen. In diesem Augenblick haßte sie sich selbst. Wie weit würden sich die Wellen von Miathans Bosheit noch ausbreiten? War es jetzt soweit, daß auch sie, Aurian, von ihnen verschlungen wurde? Aurian zwang sich zu einem Lächeln, aber sie schauderte innerlich und verachtete sich für das, was sie tat.

»Euer Hoheit«, sagte sie, »Es wird mir eine Ehre sein, Euch zu helfen.« Und mögen die Götter mir helfen, dachte sie.

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