35 Der Brunnen der Seelen

Die Tür war uralt, ihr dickes, wettergegerbtes Holz so grau und schwer wie Stein und die von der Zeit abgestumpfte Schnitzerei darauf im Laufe der Jahre verwittert. Als Anvar die Hand darauf legte, schienen vage Schatten und verschlungene Muster auf ihn zuzuspringen, beleuchtet von silbrigem Maguschfeuer – einem Feuer, das sich zischend aus seinen Fingern ergoß und seine Hand in eine lodernde Fackel verwandelte. Anvar zuckte zusammen, angewidert von dem Anblick seiner eigenen Knochen, die düster durch das weißglühende Fleisch hindurchschienen, aber er spürte kein Gefühl von Hitze oder Schmerz. Lautlos schwang die Tür auf, und er trat hindurch. Als er seine Finger vom schweren Holz der Tür nahm, verlöschte das Feuer in seiner Hand und tauchte seine Umgebung in schattenhafte Düsternis.

Grauschimmernder Nebel schlang sich um ihn und blockierte seine Sicht so wirkungsvoll wie ein Vorhang. Dann hob er sich – ebenfalls wie ein Vorhang – und enthüllte eine gebeugte, in einen grauen Kapuzenmantel gehüllte Gestalt. Die Erscheinung hielt einen Stab in der Hand und stützte sich auf eine Art und Weise darauf, die den Eindruck großen Alters erweckte. In der anderen Hand hielt sie eine Laterne, die einen einzelnen, silbernen Strahl auf die weißen, feuchtglänzenden Kieselsteine eines Weges warf. Als die Gestalt ihren Kopf drehte, fing Anvar das intelligente Glitzern eines durchdringenden, dunklen Auges und das Gewirr eines angegrauten Bartes im Schatten der Kapuze auf. In diesem Augenblick erschien Anvar der alte Mann sehr vertraut, als hätte er ihn schon immer gekannt, und doch konnte er sich nicht daran erinnern, ihm je begegnet zu sein oder überhaupt jemals in seinem Leben jemanden wie ihn getroffen zu haben. Um genau zu sein, stellte er mit einem Schaudern fest, konnte er sich an überhaupt nichts erinnern. Er runzelte die Stirn. Wie war er hierhergekommen? Wo war er hergekommen? Als könne er Anvars verwirrte Gedanken lesen, schenkte der alte Mann ihm ein ermutigendes Lächeln und bedeutete ihm, ihm zu folgen.

Zuerst führte der Pfad durch eine schmale Kluft in den steilen Felsen. Schlaff herabhängende Bäume überschatteten den Weg und bildeten einen Tunnel, und die hohen Ufer auf beiden Seiten waren mit runden, moosigen Felsbrocken und mit den federleichten, grünen Fontänen von Farnbüscheln übersät. Eine weiche, klebrige Feuchtigkeit und der Duft von vermoderten Blättern, wildem Knoblauch und nassem Laub hingen in der Luft. Anvar spürte, wie die Spannung in seiner Brust langsam nachließ; er atmete wieder tief durch. Die feuchte, duftende Luft war eine solche Erleichterung nach der sengenden Wüste …

Die Wüste! Anvar blieb abrupt stehen und versuchte mit aller Kraft, die flüchtige Erinnerung einzufangen. Er war in der Wüste gewesen … Der alte Mann griff mit einem warnenden Kopfschütteln nach seinem Arm. Schon die ungeheure Anspannung seines Körpers verriet eine verzweifelte Eile. Beeil dich, schien er zu sagen. Keine Zeit für solche Gedanken. Er ließ Anvar los und ging mit großen Schritten weiter; das schwache Glühen seiner Laterne verschwand schnell in der nebligen Dunkelheit. Anvar, der von Panik erfüllt war bei dem Gedanken, seinen Führer in dieser fremden, unheimlichen Welt zu verlieren, beeilte sich, ihn einzuholen.

Mit einer Plötzlichkeit, die Anvar den Atem raubte, öffnete sich der schmale Weg zu einem Tal. Der klebrige Dunst verschwand und ließ nur einen seidigen, silbernen Bodennebel zurück, der um seine Füße waberte, verdrängt und verschoben von seinen lautlosen Schritten und denen seines Führers. Ein kurzer Blick machte Anvar klar, daß der Pfad plötzlich verschwunden war und er auf einem Teppich von kurzgeschorenem Rasen ging. Über ihm funkelten Millionen von Sternen am samtschwarzen Nachthimmel, und links und rechts von ihnen erhoben sich die runden Wölbungen von eng aneinandergeschmiegten Hügeln wie schwarze Buckel. Die Stille wob einen fast körperlichen Zauber um das nebelverhüllte Tal, während Anvar ohne eine Erinnerung an die Vergangenheit oder einen Gedanken an die Zukunft der gebeugten, vermummten Gestalt mit der Laterne folgte, als sei er nur zu diesem einen Zwecke geboren worden.

Das Wäldchen ragte aus der Dunkelheit empor, als wäre es plötzlich aus einem Traum geschaffen worden, und für Anvar ging eine unheimliche Vertrautheit davon aus – aber gewiß hatte er nie zuvor diesen merkwürdigen, unirdischen Ort betreten – das Durcheinander uralter Bäume, die sich zueinander hinbeugten, als wollten sie ein Geheimnis verbergen, als flüsterten sie einander durch die endlose Nacht Geheimnisse ins Ohr. Einen Augenblick lang blitzte der Gedanke an die Wüste wieder in Anvars Erinnerung auf. Zu seinem Entsetzen begann die Szene vor ihm sich zu kräuseln und zu verzerren, als hätte er einen Stein in den machtvollen, unergründlichen Brunnen der Meditationen dieser Bäume geworfen. Er hielt eine Hand hoch und bemerkte, daß sie nebelhaft und körperlos wurde, daß die dunklen, skeletthaften Umrisse der Bäume durch sein dahinschwindendes Fleisch deutlich sichtbar waren.

Der alte Mann fuhr mit einem warnenden Zischen herum – das erste Geräusch, das Anvar von ihm gehört hatte. Sein Atem hing in einer Wolke vor seinem Gesicht und überzog seinen buschigen, ergrauten Bart mit Tröpfchen, die im Licht der silbernen Lampe wie Sterne funkelten. Der Anblick genügte, um Anvar von seinen Überlegungen abzubringen und seine umherirrenden Gedanken wieder auf dieses seltsame Hier und Jetzt zu konzentrieren; und zu seiner Erleichterung beruhigte sich das Bild vor ihm, und sein Heisch wurde wieder fest.

Der alte Mann ging weiter auf das Wäldchen zu und verbeugte sich dreimal tief. Zu Anvars Überraschung tauchte ein Pfad zwischen den uralten, moosbedeckten Baumstämmen auf, als hätten die Bäume sie akzeptiert und träten nun hastig zurück, um ihnen einen Durchgang zu ermöglichen. Anvar, der voller Ehrfurcht war und auch voller Angst, folgte seinem Führer und trat durch den Bogengang aus lebendem Holz in das Herz des Waldes ein.

Im Zentrum des Ringes aus Bäumen, geborgen in einem Kreis aus weichem Moos, lag ein Teich – der eigentliche Schoß dieses magischen Ortes. Obwohl schützende Zweige über ihm hingen, störte nicht ein einziges herabgefallenes Blatt die Ruhe seiner stillen, dunklen Oberfläche. Anvar folgte seinem seltsamen Führer an den Rand des Gewässers, blickte hinunter und prallte vor Erstaunen zurück. Statt sein eigenes, von dem Filigranmuster der darüberhängenden Zweige umrahmtes Gesicht zu reflektieren, spiegelte sich in den Wassern von unermeßlicher Tiefe nichts als strahlende Unendlichkeit. Anvar wurde schwindlig, sein Herz hämmerte, als wollte es sich seinen Weg aus seiner Brust heraus erkämpfen. Er war von der festen Überzeugung erfüllt, daß er, wenn er in dieses Wasser hineinfiel, für immer und ewig fallen würde.

Der alte Mann stieß einen langen, geduldigen Seufzer aus. Dann zeigte er zu Anvars Entsetzen entschlossen auf den furchterregenden Teich und begann endlich zu sprechen, wobei seine Stimme so trocken und tot war wie Friedhofsstaub, den der kühle Wind der Mitternacht aufrührt. »Glaube nie, der Tod sei gnadenlos. Dies ist der zweite Teil unseres Handels – vergiß nicht, daß es der dritte Teil sein wird, der über alles entscheidet.« Mit diesen Worten verschwand er.

Anvar wirbelte herum und blickte wild um sich, obwohl er tief in seinem Herzen wußte, daß es hoffnungslos war. Sein Führer war verschwunden. Das einzige, was er verstanden hatte, war der klare Befehl, zu dem Teich zurückzukehren. Er zögerte, denn er hatte Angst, sich dem schwindelerregenden Ufer zu nähern. Als hätten sie .seinen Widerwillen gespürt, begannen die Bäume vor Ärger zu zittern, und ein murmelndes Zischen hallte durch ihre Aste, die sich zu drehen und zu winden begannen und sich wie knochige, drohende Hände nach ihm ausstreckten.

Hastig kehrte Anvar zum Teich zurück, und der Tumult in den Bäumen erstarb. Als er näher kam, blitzten und flackerten Lichtstrahlen aus der Dunkelheit der glasigen Oberfläche auf und ließen ihn zusammenzucken und seine Augen beschirmen. Er ging mit zitternden Gliedern weiter und kniete am Rand des Teiches nieder, da er sich auf diese Weise etwas sicherer fühlte. Und es war eine gute Entscheidung gewesen. Das funkelnde Universum in den Wassern drehte sich in einem wilden Wirbel aus Licht und zog ihn hinunter in seinen schwindelerregenden Strudel …

Anvar spürte, wie er sich gefährlich weit über den Teich beugte und seine Nase diese wirbelnde Oberfläche beinahe berührte. Er verlor das Gleichgewicht … Unfähig, sich von dem hypnotischen Strudel zurückzuziehen, grub er seine Finger tief in das nachgiebige Moos am Ufer und preßte sich mit der ganzen Kraft seiner steifen Arme nach hinten. Er blinzelte, als aus den Tiefen ein feuriger Fleck, seltsam leuchtend inmitten des wirbelnden Weiß, auf ihn zuraste. Der Punkt wurde größer; teilte sich; nahm eine glühende Form an und schließlich eine Gestalt. Ein Schrei entrang sich Anvars Kehle. Er wurde mit ungeheurer Gewalt zurückgerissen, als eine Gestalt aus den Wassern hervorbrach und ihn mit kristallenen Tropfen übersäte, die wie Feuer brannten. Eine verzweifelnde Stimme rief seinen Namen, während Aurian in der Mitte des Teiches um sich schlagend kämpfte und sich mit aller Kraft dagegen wehrte, wieder hinunter in das wirbelnde Nichts gezogen zu werden.

»Aurian!« Mit einem erschreckenden Aufblitzen kehrte die Erinnerung zu Anvar zurück und mit ihr die Verwirrung. War das die Oase? Aber es blieb ihm keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Magusch wurde schwächer, wurde hinabgezogen von einer großen, schwarzen Last, die größer war als sie selbst – Shia. Anvar wußte irgendwie, daß es das Ende für sie alle bedeuten würde, wenn er ebenfalls in den Teich sprang. Er reckte sich, so weit er konnte, und beugte sich bis an die absolute Grenze seiner Reichweite über das Wasser. Aurians wilde, unkontrollierte Bewegungen machten es ihm schwer. Er verfehlte sie einmal, zweimal. Obwohl sie immer noch genau wie er ihre Wüstengewänder zu tragen schien, fand er nichts, woran er sie hätte festhalten können. »Deine Hand«, rief er ihr zu und betete darum, daß sie ihn hörte. »Gib mir deine Hand!«

Er sah, wie sie Shia mit dem einen Arm fester packte, sah das Weiß ihres anderen Arms, als sie ihn nach ihm ausstreckte. Er beugte sich gefährlich weit nach vorn, griff wild nach ihrer Hand und versuchte, sich zurückzuwerfen, als er spürte, wie seine Finger sich um ihr Handgelenk schlössen. Das vereinte Gewicht von Aurian und der Katze zog an ihm; er spürte, wie er ausglitt … Anvar legte sich flach auf den Boden und klammerte sich mit aller Kraft fest; die Muskeln seines Armes waren zum Zerreißen gespannt. Wenn er beide Hände hätte benutzen können – aber die andere klammerte sich noch immer an das weiche Moos, der einzige Halt, der ihn davor bewahrte, der Magusch in den Teich zu folgen. Obwohl das Moos tiefe Wurzeln hatte, konnte Anvar spüren, wie es sich unter seinen Fingern auflöste, wie es begann, vom Boden abzureißen …

Als das Moos schließlich ganz nachgab und Anvar nach vorn rutschte, kam eine Hand aus dem Nichts und umklammerte sein Handgelenk wie mit Adlerklauen. Lange gezackte Nägel bohrten sich in die dünne Haut, zerrissen Sehnen und Knochen und ließen ihn vor Schmerzen aufschreien, aber er lockerte keinen Augenblick lang den Griff, mit dem er die Magusch festhielt. Mit einem mühelosen Ruck zog die Hand ihn aus dem Teich herauf – und Aurian und Shia mit ihm. Dann ließ die Klaue ihn schließlich los; der Abdruck der gespenstischen Finger, die sein Fleisch versengt hatten, schmerzte höllisch. Dort, wo die Nägel tiefe, halbmondförmige Schnitte hinterlassen hatten, war seine Haut blutig und aufgerissen. Er biß sich auf die Lippen, um den Schmerz ertragen zu können, und rollte sich auf den Rücken. Sein Herz zog sich zu einer Kugel aus Eis zusammen, als er aufsah und in das vernarbte und verzerrte Gesicht blickte, in die ausgebrannten Augenhöhlen, die einstmals den furchterregenden Blick des Erzmagusch beherbergt hatten!

Miathan war ganz in Schwarz gekleidet, sein Gesicht gräßlich entstellt. Die Haut um seine leeren Augenhöhlen war geschwärzt und aufgerissen. Sie eiterte und entblößte übelkeiterregende Fetzen roten Fleisches und darunter den weißen Schädelknochen. Und mitten in den dunklen Tunneln beider Augenhöhlen saß je ein geschliffener Diamant. Die Edelsteine brannten mit einem flackernden Licht, bald weiß, bald rot, und sie gaben seinem schädelhaften Gesicht die seelenlose Bedrohlichkeit eines riesigen Insekts. Aber mehr als alles andere war es sein Lächeln, das tiefes Entsetzen in Anvars Herz senkte. Sprachlos, von Grauen erfüllt und wie gelähmt, blickte Anvar in dieses Gesicht mit seinem hämischen, bösartigen Ausdruck.

Eine Hand griff nach seiner Schulter. Aurian benutze ihn, um sich auf die Füße zu ziehen, und versuchte dann, ihn hinter sich in Sicherheit zu bringen. In ihren Augen brannte silberner Haß. Anvar konnte ihre Furcht an dem leichten Zittern ihrer Finger erkennen, aber in ihrem Gesicht war nichts davon zu sehen. Beschämt von ihrem Mut, versuchte er, sich zu erheben, aber der Erzmagusch machte eine verachtungsvolle, zuckende Handbewegung. Seine kristallenen Augen flackerten in einem unheiligen Licht, und ein Blitz sengender Schwärze schlug Anvar nieder, so daß er keuchend vor Schmerz auf dem Boden liegenblieb.

»Wie kannst du es wagen!« Aurian stand plötzlich vor Miathan, und ihre Stimme donnerte wie ein Erdrutsch. »Es ist verboten, an dem Ort zwischen den Welten Magie anzuwenden!«

Das Lachen des Erzmagusch war laut und voll grausamem Hohn. »Närrin! Du weist mich auf das Gesetz der Gramarye hin, mich, der ich dich alles gelehrt habe, was du weißt? Ich wage alles!« Seine knochige, klauenartige Hand stieß nach vorn und schoß einen Peitschenschlag aus Schwärze auf die Magusch. Sie stieß einen Schmerzensschrei aus und krümmte sich zusammen, bevor auch sie zu Boden fiel.

Obwohl seine Augen nicht mehr da waren, war es offensichtlich, daß der Erzmagusch die geheime Magie der Juwelen benutzte, um sehen zu können. Das kalte, gräßliche Glitzern eines leeren Blicks streifte über Aurian und Anvar, und sein gespenstisches Gesicht zeigte ein häßliches Höhnen. »So ist es schon besser«, sagte er. »Kriecht vor mir im Staub, wo ihr hingehört!«

Aurian zog sich auf die Knie und spuckte Miathan vor die Füße. »Ich werde nie vor dir kriechen, du Stück Dreck. Aber eines Tages werde ich dich töten, darauf hast du mein Wort.«

Miathan lachte wieder. »Wirklich?« höhnte er. »Das bezweifle ich – hilflos wie du bist, mit Forrals Brut in deinem Bauch. Du hättest dich besser mir unterworfen, Mädchen. An meiner Seite hättest du Macht gehabt, soviel du nur wolltest. Statt dessen bist du nichts – ein hoffnungsloser Flüchtling, verkrüppelt von einer halbsterblichen Abscheulichkeit. Ohne deine Kräfte bist du so hilflos wie eine Bettlerin; und wie jede Straßenhure wird dich jedermann nehmen können, der an dir vorüberkommt – einschließlich dieses feigen Bastards, dieses Abschaums hier!«

Er wandte sich Anvar zu, und seine Stimme bebte vor Verachtung. »Du hast jetzt wohl, was du wolltest, hm? Ihre Kräfte sind dahin, Anvar, und dein langes Warten ist vorüber. Wer weiß, es wird dir vielleicht sogar gefallen – sie scheint es zu genießen, sich mit sterblichem Abschaum, wie du es bist, zu besudeln!«

Miathans Stimme hatte die Kraft, seine Opfer in ihrem Bann zu halten. Anvar blickte zu Aurian auf, die hilflos vor ihm lag, und er spürte, wie sein lange unterdrücktes Verlangen sich wieder regte. Er hörte Aurian keuchen. Die Angst und die entsetzlichen Zweifel in ihren Augen schössen durch ihn hindurch wie ein Schwert, als er begriff, daß Miathan sie hereingelegt hatte. Er funkelte den Erzmagusch wütend an, und sein Verstand war durch das Aufflackern seines Zorns, der wie eine eisige Flamme brannte, plötzlich wieder klar geworden.

»Ich bin kein Sterblicher, Miathan«, sagte er gelassen, »wie du selber weißt. Ich habe meine Kräfte, die du mir gestohlen hast, wiedererlangt. Und du brauchst deine Gelüste nicht auf mich zu übertragen – Aurian weiß ganz genau, wer von uns beiden sie besudeln will und wer sie beschützen wird –, sie mag hilflos sein, aber wenn du ihr zu nahe kommst, wirst du es mit mir zu tun bekommen.« Aber Miathan hatte den Kessel, und Anvars Worte waren leer, und er wußte es. Trotzdem sah er, daß Aurian ihm einen dankbaren Blick zuwarf, der jedoch von einer Grimasse verzerrt wurde bei dem Gedanken daran, seinen Schutz zu brauchen. Das war so charakteristisch für sie, daß es ihm trotz der Gefahr, in der sie schwebten, neuen Auftrieb gab.

Miathan, ungerührt vom Fehlschlagen seines Plans, grölte vor Lachen und Hohn. »Du hättest bei deinem früheren Ehrgeiz, Sänger und Spielmann zu werden, bleiben sollen, mein Junge. Schon jetzt schenkst du mir die Belustigung, die ich erwartet habe. Denn wisse dies« – seine Stimme wurde plötzlich hart – »ich habe euch beide nicht aus Herzensgüte aus dem Brunnen der Seelen gerettet.«

»Das stimmt – denn du hast kein Herz!« fuhr Aurian auf.

»Still!« Seine ausgestreckte Hand ließ einen harten Hieb aus Schwärze über ihr Gesicht krachen. Sie taumelte, unterdrückte aber einen Aufschrei und biß sich vor Schmerz auf die Lippen.

Anvar, der nun vor Wut kochte, obwohl er kurz zuvor noch eiskalt gewesen war, versuchte sich auf Miathan zu stürzen, aber der Erzmagusch ließ ihn mit einer beiläufigen Geste erstarren und sprach weiter, als sei nichts geschehen. »Ich hätte euch hier umkommen lassen können und mir damit eine Menge Ärger erspart, wenn ich euch als Bedrohung betrachtet hätte. Aber ich bin noch nicht fertig mit euch, mit keinem von euch. Es würde mich bekümmern, Anvar, wenn dein Tod schmerzlos und schnell wäre, und was dich betrifft, meine Liebe«, er wandte sich mit einem klaren Grinsen an Aurian, »habe ich ganz andere Pläne. Bis wir uns in Fleisch und Blut wieder gegenüberstehen, könnte ich euch damit unterhalten, euch euer jeweiliges Schicksal vorzustellen, aber für den Augenblick – lebt wohl!«

Als der Erzmagusch sein letztes Wort gesprochen hatte, begann die Szene zu schwanken und sich vor Anvars Augen aufzulösen. Er schloß sie für einen Augenblick, um den schwindelerregenden Strudel zu bremsen, und als er sie wieder öffnete, war er zurück in der Oase. Ein widerwärtiges, schwefliges Licht lag über den Dünen, und die Sonne bemühte sich nach Kräften, die unheilvollen Wolkenbänke am Horizont zu durchdringen. Ich muß eingeschlafen sein, dachte Anvar. Götter, was für ein Alptraum! Aber in diesem Augenblick öffnete auch Aurian die Augen, und in ihnen lagen Entsetzen und eine furchtbare, flaue Angst, die ein Ebenbild seiner eigenen Gefühle war.

Aurian konnte nicht erklären, was am Brunnen der Seelen vorgefallen war. Ihre erste Vermutung bestand darin, daß Anvar eingeschlafen war und sein verängstigter Geist, befreit von den Fesseln der Welt des wachen Bewußtseins, es geschafft hatte, in die Domäne des Todes einzudringen und sie zu erreichen. Aber seine Erzählung von seiner Begegnung mit dem Schnitter der Seelen erfüllte sie mit ungeheurer Unruhe. Irgendwie erschien es ihr so vertraut … Als sie Anvar in Taibeth den Klauen des Todes entrissen hatte, hatte der Schnitter da nicht auch etwas von einem Handel gesagt? Wenn sie sich doch nur daran erinnern könnte … Und wie war Miathan dorthin gekommen?

Aurian zog eine Grimasse, als sie das Stück trockenes Fleisch in ihrer Hand erblickte. Ihr Hunger wurde überlagert von Schuldgefühlen, weil sie sich und Anvar dem Erzmagusch preisgegeben hatte, und von eisiger Furcht, die an ihren Eingeweiden zerrte. Miathan hatte recht gehabt. Ihre Kräfte, die sie bis an die Grenzen ausgebeutet hatte, gerade als sie am verletzlichsten war, waren vollkommen verschwunden und hatten sie ohne Verteidigung zurückgelassen. »Fahr zur Hölle, Miathan!« murmelte sie. »Warum mußte er jetzt zurückkommen, zum schlimmstmöglichen Zeitpunkt?« Mit einem Fluch warf sie die widerwärtige Speise fort.

Anvar langte mit der Hand aus ihrem Schutzzelt und holte das Fleisch zurück. Dann staubte er es vorsichtig ab und legte es wieder zurück in ihre Hand. »Sei vernünftig, Aurian. Du mußt essen«, sagte er zu ihr. Die Magusch funkelte ihn wütend an und war kurz davor, eine heftige Erwiderung zu machen, aber die Schärfe seiner Stimme ließ sie einlenken. Sie zwang sich, noch einen Bissen zu nehmen. Unter Anvars Augen lagen dunkle Ringe, und die Anstrengung hatte sein staubiges Gesicht zerfurcht. Die Begegnung mit Miathan hatte die Freude über ihre sichere Rückkehr gedämpft – ein Streit war das letzte, was sie gebrauchen konnten. Und um fair zu sein, hatte Anvar ihr mit keinem einzigen Wort die Schuld gegeben. Es wäre besser gewesen, wenn er das getan hätte, dachte sie, statt es mir selbst zu überlassen. Und doch – sie sah Shia an, die jetzt schlief und langsam ihre Kraft wiedergewann. Die Katze erinnerte sich an nichts, was geschehen war, obwohl sie und Aurian im Brunnen der Seelen beide von ihren Gebrechen geheilt worden waren. Was sonst hätte ich tun können? dachte die Magusch. Hätte ich anders gehandelt, wäre Shia jetzt tot. Sie betete, daß der Preis, den Shias Leben sie gekostet hatte, sich nicht als zu hoch erweisen würde.

»Du hast getan, was du tun mußtest.« Anvars ruhige Stimme durchbrach ihre Gedanken, als hätte er darin gelesen.

Aurian nahm seine Hand. »Danke, daß du das gesagt hast. Aber wir sind jetzt in so großen Schwierigkeiten mit dem bevorstehenden Sturm, und Miathan ist wieder auf freiem Fuß, und meine Kräfte sind verschwunden …« Sie konnte das Zittern in ihrer Stimme nicht mehr beherrschen. »Anvar, ich habe Angst. Ohne meine Magie bin ich so verletzlich. Jetzt, da Miathan sich von meinem Angriff erholt hat, könnte alles mögliche passieren.« Aurian schauderte. »Und was ist mit dem Stab? Ich glaube nicht, daß er weiß, daß wir ihn haben, aber wenn er es herausfinden sollte … Anvar, erinnerst du dich an den Schiffbruch, als er von meinem Körper Besitz ergriffen und versucht hat, dich zu töten?«

Anvar nickte und schien über ihren abrupten Themenwechsel verwirrt zu sein.

Aurian holte tief Luft, denn sie fürchtete das, was sie zu sagen hatte. »Und wenn es wieder passiert, jetzt, da Miathan sich erholt hat? Anvar – wenn er die Kontrolle über den Stab bekommen …«

»Nein!« Er stand jetzt direkt vor ihr. »Sprich es nicht aus, Aurian.«

»Ich muß. Wenn ich – wenn Miathan die Kontrolle über mich gewinnen sollte, mußt du mich töten, Anvar. Du hast dann keine andere Wahl – so, wie ich keine Alternative hätte, wenn es mit dir passieren würde.«

»Ich werde dich nicht töten. Nein, das werde ich nicht.«

Anvars Stimme erstarb zu einem entsetzten Flüstern. »Ich kann nicht.«

Aurians Herz flog ihm zu, aber sie begegnete seinem Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. »Es tut mir leid, Liebster, aber du mußt. Wenn Miathan den Stab bekommt, wird es das Ende von allem sein. Und besser, wir sterben, als daß wir es zulassen, daß er uns benutzt. Du hast gehört, was er am Brunnen der Seelen gesagt hat.«

Anvar hatte ihre letzten Wort kaum wahrgenommen. Er wußte, daß der Kosename ihr entschlüpft war, ohne daß sie es bemerkt hatte, aber … Er mußte alle Willenskraft aufbieten, damit der Jubel sich nicht auf seinem Gesicht zeigte, denn er wollte nicht, daß sie sich von ihm zurückzog, was sie in einem solchen Falle gewiß getan hätte. Was immer sie für ihm empfinden mochte, sie trauerte nach wie vor um Forral, und der Gedanke, die große Liebe ihrer Jugend durch einen neuen Mann zu ersetzen, würde sie mit Schuldgefühlen erfüllen. Es ist zu früh – gib ihr Zeit, sagte er zu sich selbst und betete zu allen Göttern, daß der Erzmagusch ihnen diese Zeit lassen würde.

Miathans Gemach war kalt und trostlos. Das flammende Feuer, das er in dem gewaltigen Kamin zurückgelassen hatte, war zu träger, mit bleicher Asche bedeckter Glut niedergebrannt, und die Lampen waren schmutzig und dunkel. Düsteres Licht floß durch die Vorhänge und kündigte die Dämmerung eines neuen, grimmigen Tages über Nexis an. Der Körper des Erzmagusch lag auf dem Bett – genauso, wie er ihn hinterlassen hatte – und sah in dem dämmrigen, freudlosen Licht bleich und eisig aus wie eine Leiche. Sein schwebendes Bewußtsein schauderte und schrak davor zurück, in diese kalte, von Schmerzen geschüttelte Behausung zurückzukehren, aber es mußte sein. Miathan wappnete sich gegen das Kommende und stürzte hinab, um mit der Leichtigkeit des Vielgeübten zurück in seine leibliche Hülle zu schlüpfen.

Der Eintritt in seinen Körper war schlimmer als ein Sturz in einen eisigen Teich. Miathan fluchte heftig und sträubte sich gegen den Schmerz. Seit Aurian ihn angegriffen hatte, hatte er unter schrecklichen Schmerzen in seinen ausgebrannten Augen gelitten, und er wußte, daß diese Schmerzen ihn nie verlassen würden. Mit Eliseths Unterstützung hatte er genug von der Magie des Drachenvolkes entschlüsselt, um mit Hilfe von Kristallen eine Form der Sehkraft zurückzuerlangen, aber die scharfen Ränder der Edelsteine scheuerten und reizten die gequälten Augenhöhlen, so daß seine Schmerzen noch schlimmer wurden. Trotzdem war das immer noch besser, als blind zu sein. Er verfluchte diese wahnsinnige Hündin von Meiriel, die sich geweigert hatte, ihn zu heilen, und diesen verräterischen Wurm von Elewin, der ihr zur Flucht verholfen hatte …

Miathan sagte sich, daß es ihn seiner Rache nicht näher bringen würde, wenn er einfach nur dort lag und sich seinem Zorn hingab. Er zog sein Gewand fester um sich und zwang seine knirschenden Knochen vom Bett auf, obwohl er furchtbar zitterte, zum einen wegen der Kälte und zum anderen wegen der Reaktion auf seine ausgedehnte Reise zwischen den Welten, die seine Energien so sehr erschöpft hatte. Der Erzmagusch stützte sich auf seinen Stab und humpelte zum Feuer, um einen Armvoll Holzscheite hineinzuwerfen. Er beschloß, sie aus eigener Kraft brennen zu lassen, statt den letzten Rest seiner Energie darauf zu verwenden, sie mit Hilfe von Magie zu entzünden. Er entzündete die Lampen von Hand, erfüllt von machtlosem Zorn über die Unbeholfenheit seines geschwächten Körpers.

Als er fertig war, war das Zimmer schon etwas gemütlicher. Das Feuer krachte und zischte, zerstreute das unfruchtbare Schweigen und warf orangefarbene Flammenzungen über die harzigen Feuerscheite, um die naßkalte Luft mit dem prickelnden Geruch von Kiefern zu füllen. Ein warmes Lampenglühen machte das unangenehme Tageslicht weicher und vergoldete den silbernen Teller mit Brot und Früchten, der auf dem Tisch stand. Der Erzmagusch wandte sich dem Essen zu, das er für seine Rückkehr von einer Reise jenseits seines Körpers stets in seinen Gemächern bereithielt. Er schenkte sich Wein ein und bemerkte mit einer Spur Gereiztheit, daß die Flasche beinahe leer war. Solange Elewin noch hier gewesen war, hatte es so etwas nicht gegeben. Aber der Haushof meister war weg, rief er sich verbittert in Erinnerung; er hatte sich, genauso wie Aurian, als Verräter erwiesen.

Aurian! Mathian fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, als er daran dachte, wie sie vor ihm zu Boden gefallen war, um sich unter den Schmerzen, die er ihr verursacht hatte, zu winden. Wenn er sie wieder in seiner Gewalt hatte, würde er sie die wahre Bedeutung von Schmerz lehren! Sobald er sie seinem Willen unterworfen hatte, würde er sie sich nehmen – und endlich hatte er die Mittel dazu … Miathan lächelte bei sich und schickte einen geistigen Ruf aus, um Eliseth herbeizuzitieren. Er haßte es, sie in sein Vertrauen ziehen zu müssen, aber es gab da einige Dinge, die sie wissen mußte.

Eliseth war in den Archiven, als sie den Ruf des Erzmagusch hörte. Sie fluchte und schob sich das Haar mit einer staubgeschwärzten Hand aus dem Gesicht. Was wollte der alte Narr jetzt schon wieder? Seit dieser Parasit Elewin verschwunden war, schien Miathan zu glauben, daß sie nichts Besseres zu tun hatte, als ihn von hinten bis vorne zu bedienen. Und war er vielleicht dankbar? Kein bißchen – und das, obwohl sie eine Heilung für seine Blindheit gefunden hatte. Nur sie hatte daran gedacht, in den vermodernden Unterlagen, die unterhalb der Bibliothek aufbewahrt wurden, nach Antworten zu suchen, nachdem die Flucht von Meiriel und Elewin ihre Aufmerksamkeit auf Finbarrs vernachlässigte Katakomben gelenkt hatte. Bragar war natürlich zu dumm, um auf den Gedanken zu kommen, sich die uralte Weisheit, die dort lagerte, zunutze zu machen, aber Eliseth hatte begriffen, daß alles Wissen, das sie dort fand, ihr einen Vorteil verschaffen würde – nicht nur Bragar, sondern auch Miathan gegenüber.

Eliseths Suche in den kalten, schmutzigen Tunneln war alles andere als erfreulich gewesen, aber die Ergebnisse hatten sie für die Unbequemlichkeiten mehr als entschädigt. Während sie nach einer Möglichkeit geforscht hatte, Miathans Augenlicht wiederherzustellen, hatte sie noch viele andere Dinge entdeckt – dunkle und geheimnisvolle Lehren, die noch auf die Zeit vor der Verheerung zurückgingen. Dinge, von denen der Erzmagusch keine Ahnung hatte – und sie hatte nicht die Absicht, ihn darüber aufzuklären. Sie hatte keine Lösung für das Problem der Todesgeister gefunden, aber sie hatte eine Menge Informationen bezüglich des Kessels ausgegraben, und sie würde nun besseren Nutzen aus ihm ziehen können als Miathan. Sie brauchte nur herauszufinden, wo der alte Tattergreis ihn versteckt hatte … Eliseth lächelte, als sie sich daranmachte, der Aufforderung des Erzmagusch zu folgen. In seiner Gedankenstimme hatte großer Triumph mitgeschwungen, und sie war neugierig, herauszufinden, was er vorhatte und wie es zu ihren eigenen Plänen passen würde.

Sie hörte ungläubig zu, als der Erzmagusch ihr erzählte, wie er die Gegenwart von Aurian zwischen den Welten gespürt und sie und Anvar bis zum Brunnen der Seelen verfolgt hatte. Die Existenz eines weiteren Magusch war ein beträchtlicher Schock für Eliseth. »Aurians Diener? Einer von uns?« keuchte sie. »Hast du davon gewußt?«

»Nein.« Miathan schüttelte den Kopf, aber sie wußte, daß er log. »Ich hatte einen gewissen Verdacht«, sagte er. »Ich wußte, daß sie von irgendwoher Hilfe bekommen haben mußte. Aber ich habe es kaum für erwähnenswert gehalten – die Sache schien einfach zu weit hergeholt.«

»Das ist eine Untertreibung! Wie konnte er hier in der Akademie sein, ohne daß wir davon wußten? Wo kommt er überhaupt her? Wer waren seine Eltern?«

Miathan zuckte mit den Schultern, und seine Stimme klang verdächtig gleichgültig. »Wer kann das sagen? Er kam als Sterblicher zu uns, als Sohn eines Bäckers, aber es scheint, als wäre sein wirklicher Vater aus einem anderen Holz geschnitzt gewesen. Anvar ist ein Bastard – ein Halbblut mit einer sterblichen Mutter –, aber was die Frage angeht, wer von den Magusch ihn gezeugt hat …« Er zuckte abermals mit den Schultern, ein Bild reiner Unschuld.

Eliseths Augen wurden schmal. Das ist zu glatt, dachte sie. Und du weißt zuviel. Nun, das ist eine Überraschung! Der große Erzmagusch, wie der Rest von uns allen ganz versessen darauf, eine Sterbliche zu seinem Vergnügen zu benutzen! Aber so unvorsichtig zu sein, ein Kind zu zeugen – kein Wunder, daß du dich über Aurians Schwangerschaft aufgeregt hast! Aber im Augenblick hatte sie keine Zeit, darüber nachzudenken, welchen Vorteil ihr das bringen mochte. Sie wandte sich wieder an Miathan, bevor er spüren konnte, in welche Richtung ihre Gedanken gingen. »Und was hat uns das gebracht? Ich verstehe dich nicht, Erzmagusch. Warum hast du sie nicht getötet und die Sache ein für allemal erledigt?«

Miathans Faust fuhr krachend auf den Tisch. »Wie viele Male habe ich es dir schon gesagt – ich will Aurian lebendig!«

Eliseth schluckte ihren Zorn herunter. Trotz allem, was diese Hündin ihm angetan hat, wollte er sie immer noch. Aber sie verbarg ihre Wut und griff nach der Waffe des gesunden Menschenverstandes. »Bei allem Respekt, Erzmagusch, du verlangst das Unmögliche. Aurian ist zu weit von uns entfernt, um sie einzufangen, und wenn du abwartest, bis sie herkommt – nun, du hast selbst gesagt, daß dieses Risiko zu groß ist. Und wird sie, solange sie lebt, nicht immer eine Bedrohung für uns sein?«

»Ihrer Starrköpfigkeit wird ein Ende bereitet werden.« Die Juwelen in Miathans Augen flackerten rot auf und zeigten seinen Zorn. »Außerdem«, fuhr er mit einem frostigen Lächeln fort, »ist Aurians Gefangennahme bereits in die Wege geleitet. Sie und Anvar waren nicht die einzigen, deren Geist ich in den Südländern aufgesucht habe. Ich habe jemanden gefunden, der sich wegen seiner eigenen Ziele problemlos meinem Willen beugen wird.«

»Was?« Eliseth war entsetzt. Sie hatte die Entwicklung von Miathans neuen Kräften schlimm unterschätzt, wenn er jetzt bereits die Gedanken von Sterblichen mit solchem Selbstbewußtsein kontrollieren konnte.

»Unser Experiment mit den Menschenopfern hat schneller Früchte getragen, als ich erwartet hatte.« Miathan lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Wir können auf alle Fälle Fortschritte machen, Eliseth – aber ich brauchte mehr Kraft, um meine Schachfigur aus dem Südland fest an die Kandare zu nehmen. Sag Angos, daß wir heute abend noch mehr Sterbliche benötigen werden.«

»Aber Erzmagusch«, protestierte Eliseth, »es gibt bereits beträchtliche Unruhe bezüglich dieser ›Vermißten‹. Wir müssen vorsichtiger sein.«

»Du hast deine Befehle! Sag Angos, er soll auf der Stelle weitermachen.« Miathans Facettenaugen glitzerten. »Ich wünschte nur, ich hätte das hier schon früher gewußt. Mit der Macht, die wir durch das rituelle Vergießen des Blutes Sterblicher erlangen, ist uns nichts unmöglich. Und ich brauche diese Macht, Eliseth. Aurian ist im Augenblick in der südlichen Wüste – aber wenn sie diese verläßt, habe ich eine Überraschung für sie. Sie wird dann herausfinden, was es heißt, dem Erzmagusch trotzen zu wollen!«

Eliseth stürmte auf den Flügeln des Zorns aus dem Turm hinaus und beauftragte den ersten zu Tode erschrockenen Sklaven, der ihr über den Weg lief, Angos zu holen, den Hauptmann der Söldner. Sie blickte dem flüchtenden Diener mit geballten Fäusten hinterher. So weit würde sie Miathans Befehlen gehorchen – aber weiter auch nicht.

»Du bist also fest entschlossen, sie zurückzuholen, ja, Miathan?« murmelte sie. »Nun, vielleicht habe ich eine Überraschung für dich!« Mit schnellen Schritten überquerte sie den Hof zu dem Kuppelbau, von dem aus sie das Wetter kontrollierte. Aurian war also in der Wüste? Hervorragend. Sie würde dort nicht mehr lebend herauskommen. Mit einem grimmigen Lächeln machte Eliseth sich daran, die Sandstürme zu entfesseln.

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