32 Die Stadt des Drachenvolks

Aurian schwebte in dem milchigen Licht des Juwels, unerreichbar durch den dicken Kristall, der ihr Grab versiegelte; sie war wie zu einer Alabasterstatue erstarrt, und die einzige Farbe, die sie noch an sich hatte, war die tapfere Flamme ihres Haars. Ihre Augen waren wie im Schlaf geschlossen und ihre bleichen Lippen leicht geöffnet. Soviel konnte Anvar gerade noch sehen, bevor Tränen seinen Blick trübten. Er spürte kaum, wie Bohan ihn von dem Kristall wegzog, und sah nicht, daß Shia seinen Platz an dem Sichtfenster einnahm. Seine Knie gaben unter ihm nach, und er sank, von Schmerz überwältigt, zu Boden.

»Warte!« zuckte Shias Stimme durch seine Gedanken. »Sie atmet noch!«

Anvar drehte sich zu ihr um. »Sei nicht dumm«, rief er. »Sie ist tot, verdammt. Es ist nur ein Trick des Kristalls. Du hast die anderen gesehen – die Knochen.«

Shia versetzte ihm einen harten Schlag, und ihre Augen flammten vor Zorn. »Ich habe sie atmen sehen!« brüllte sie. »Hol sie da raus, Menschentier!«

Langsam raffte Anvar sich zusammen. »Wenn du dich in dieser Hinsicht irrst …«

»Sieh doch selbst. Und diesmal schau lange und gründlich hin. Schau mit deinem Kopf, nicht mit deinem Herzen.«

Der Anblick von Aurians bleichem, leblosem Gesicht war wie ein Messer durch Anvars Fleisch, aber er nahm sich zusammen und sah hin. Ein Augenblick verging und noch einer – er versteifte sich. Hatte er sich das nur eingebildet? Noch ein Augenblick, und er sah es wieder – ein leises Heben ihrer Brust, kaum wahrnehmbar, aber eindeutig vorhanden. »O ihr Götter«, flüsterte er. »Shia, du hast recht! Du hast recht!« Außer sich vor Freude, umarmte er die große Katze.

»Natürlich«, erwiderte Shia selbstgefällig. »Katzen sind klug, Anvar. Die anderen Überreste sind sehr alt – vielleicht sind die verhungert oder an ihren Verletzungen gestorben. Aber wir haben trotzdem noch ein Problem. Wie bekommen wir sie da raus?«

»Ja, wirklich, wie?«

Eine Stunde später hätte Anvar am liebsten vor Enttäuschung laut geschrien. Sie hatten auf den Kristall eingeschlagen, hatten ihm mit den Griffen ihrer Schwerter zugesetzt, und Shia hatte sich sogar mit Zähnen und Klauen dagegengeworfen. Der Kristall schüttelte ihre Bemühungen ab und blieb unversehrt und vollkommen uneinnehmbar.

Anvar trat zurück, keuchte und warf einen finsteren Blick auf den unnachgiebigen Edelstein. »Das hat keinen Sinn«, sagte er. »Er ist absolut unzerbrechlich, aber trotzdem hat es dieses Geschöpf geschafft, sie da hineinzubekommen. Irgendwie muß das Ding sich also öffnen lassen. Shia, kannst du hier irgendwelche Magie spüren?«

Die Katze hatte sich mutlos auf den Boden geworfen. »Ja, ich spüre etwas«, sagte sie, »aber es ist etwas anderes, nicht wie ein Zauber.« Sie kratzte mit ihren Klauen über den glatten Steinfußboden, als suche sie nach den richtigen Worten. »Es fühlt sich an, als wäre der Kristall selbst die Magie, und nicht, als mache er die Magie, wenn du verstehst, was ich meine.«

Anvar verstand sie nicht, und er hatte Angst, irgendwelche Zaubersprüche aus seinem geringen Kenntnisschatz auszuprobieren, denn er befürchtete, in seiner Unwissenheit etwas tun zu können, das der Magusch schadete. Er ließ seine Hände über die glatten Flächen des Juwels gleiten und zermarterte sich das Gehirn, um eine Möglichkeit zu finden, das Problem zu lösen. Dann zog er sie fluchend zurück, als seine Finger sich an einer scharfen Kante schnitten. »Bohan, hast du es geschafft, ein Stück aus dem Ding rauszuhauen?«

Der Eunuch schüttelte nachdrücklich den Kopf.

Während er an seinen blutenden Fingern saugte, sah Anvar sich die Stelle noch einmal genau an. Sie befand sich hoch oben an der Seite des Kristalls, aber er konnte keine Schramme in der makellosen Oberfläche entdecken. Dann lenkte ein kleiner Blutfleck seinen Blick auf die richtige Stelle. Er tastete sie noch einmal ab, vorsichtiger diesmal, und fand eine Aushöhlung: einen Platz, an dem eine einzige Facette fehlte, deren Fehlen jedoch von den inneren Reflexionen des Edelsteins verborgen wurde. Anvar runzelte die Stirn. »Da fehlt ein ganzes Stück. Ich frage mich …«

»Ein Schlüssel?« Shia hatte schnell begriffen, was er meinte.

»Wenn es so ist, müssen wir ihn finden, und zwar schnell. Wer weiß, wie lange Aurian da drin überleben kann.« Anvar erstarrte, als ihm ein entsetzlicher Gedanke kam. »Was ist, wenn die Kreatur ihn hatte?«

»Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Hör auf, das Schlimmste zu befürchten, und fang an zu suchen.« Mit diesen Worten war Shia verschwunden, um den Raum zu durchstreifen.

Es war Bohan, der das fehlende Stück schließlich hinter dem Kristall in einer Nische in der Mauer fand. Anvar riß es ihm aus der Hand. Es war größer als seine Faust und an einem Ende spitz; seine breiten Facetten fingen an ihren Kanten das Licht ein. Anvar hielt den Atem an, streckte sich, drückte den Stein in das Loch und drehte ihn so lange hin und her, bis er paßte. Mit einem Klicken fügte er sich an seinen Platz, und Anvar trat hastig zurück, als der Edelstein in einem schwindelerregenden weißen Licht zu flackern begann. Allmählich versiegte das Licht, um den Kristall durchsichtig zurückzulassen; alle Spuren seiner früheren Trübheit waren verschwunden. In seinem Inneren sah man nun verzerrte, gebrochene Spiegelbilder von Aurians Körper; dann bildete sich plötzlich ein Riß in der Vorderseite des Juwels. Es öffnete sich der Länge nach wie eine zusammenklappbare Muschel, so daß es sich in zwei ausgehöhlte Segmente mit dicken Wänden teilte. Anvar stürzte vor und fing die Magusch auf, als sie aus dem Edelstein herausfiel – um plötzlich festzustellen, daß er einen Dämon im Arm hielt.

Das Ungeheuer – dieses gräßliche Spinnengeschöpf –, es hatte Aurian wieder in seinem Griff! Die Magusch wehrte sich, so heftig sie konnte, und schlug mit Fäusten und Füßen um sich, wie Maya es ihr vor so langer Zeit beigebracht hatte. Als sie ihr Ziel traf, hörte sie ein seltsam menschlich klingendes Grunzen, und ihr Körper wurde losgelassen.

»Na wunderbar. Er macht sich solche Mühe, um dich zu retten, und du schlägst ihn.« Die Stimme in ihrem Kopf war beruhigend vertraut.

»Shia!« Aurian rollte sich herum und sah sich benommen um, während sie in das unheimliche rote Licht blinzelte. Sie hatte kaum Zeit genug, um die Gegenwart ihrer drei Freunde zu begreifen, da hatte Anvar sie auch schon wieder in seine Arme genommen und sie halb vom Boden aufgehoben, um sie so fest an sich zu drücken, daß sie keine Luft mehr bekam.

»O ihr Götter, Aurian, ich bin so glücklich, dich lebendig wiederzusehen!«

Da sie ihren Kopf an Anvars Schulter geborgen hatte, war die Magusch nicht in der Lage, sein Gesicht zu sehen, aber seine Stimme klang rauh und erstickt. Aurian versuchte, ihm zu antworten, aber ihre Kehle war zu ausgedörrt, um zu sprechen. Anvar löste seine Umarmung gerade lange genug, um in einem Bündel neben ihm zu stöbern und einen Wasserschlauch herauszuziehen. Er stützte sie, während sie trank, und zwang sie – sehr zu ihrem Ärger –, nur kleine Schlucke zu nehmen. Als er den Wasserschlauch wegzog, versuchte, sie, ihn wieder in ihre Gewalt zu bekommen.

»Einen Augenblick.« Seine Stimme war jetzt fester geworden. »Du hast drei Tage lang nichts getrunken. Wenn du das Wasser so schnell hinunterstürzt, wird dir übel werden.«

»Tage?« Aurian versuchte vergeblich, sich zu erinnern. Es war schwer, in dem dämmrigen roten Licht in Anvars Gesicht zu lesen, aber sie glaubte, die Spuren von Tränen auf seinen Wangen zu entdecken. »War ich krank? Habe ich von diesem schrecklichen Spinnenwesen nur geträumt?« Sie stöhnte. »Ich fühle mich, als hätte ich ein dreitägiges Trinkgelage mit Parric hinter mir.« Ihr Mund fühlte sich noch immer trocken an, ihr Kopf hämmerte, ihr Magen brannte, und sie hatte dieselben beunruhigenden Gedächtnislücken, die für gewöhnlich das Ergebnis von zu reichlichem Biergenuß waren.

»Ich denke, du kannst das hier vielleicht gebrauchen.« Anvar fischte ihr Wüstengewand aus seinem Bündel. Aurian stöhnte und wurde sich plötzlich ihrer Nacktheit bewußt. In diesem Augenblick überfluteten sie auch die Erinnerungen wieder. Sie erinnerte sich daran, wie sie in dem Becken gebadet hatte und was anschließend mit ihr geschehen war. Anvar half ihr in ihr Gewand und gab ihr noch etwas Wasser und ein kleines, flaches Stück von Nerenis Brot. Auch während sie aß, ließ er sie keinen Augenblick lang los. Langsam knabberte sie an ihrem Brot und hatte Angst, daß ihr jeden Augenblick schlecht werden würde, aber als das Brot erst einmal unten war, blieb es unten, und sie begann langsam, sich besser zu fühlen und nach mehr zu verlangen.

Während sie aß, erzählte die Magusch ihren Freunden, was ihr geschehen war. Nachdem das Portal sie gefangen hatte, hatte sie dieselbe zufällige Entdeckung gemacht wie Anvar: daß man mit Maguschlicht die Kammer mit dem juwelenartigen Leuchten dazu bringen konnte, sich rasend schnell nach oben zu bewegen. Als sie oben angekommen war, hatte sie lange Zeit damit zugebracht, einen Zauber zu finden, um irgendwie zu den anderen zurückzukehren. Als ihre Bemühungen erfolglos blieben, hatte sie beschlossen, die Kristallkammer zu verlassen und einen anderen Weg nach unten zu suchen. »Ich bin ungefähr auf demselben Weg herausgekommen, wie ich hineingekommen bin«, fuhr sie fort. »Es hat mich direkt durch seine Mauern gesogen – und dann habe ich dieses Spinnenwesen getroffen. Ihr habt ja keine Ahnung, was das für ein Ungeheuer ist.«

»Und ob wir das haben«, versicherte Shia ihr grimmig. »Wir sind ihm auch begegnet.«

Aurian schauderte. »Ich konnte es nicht bekämpfen. Habt ihr gewußt, daß es unempfänglich für Magie ist?«

Anvar schüttelte den Kopf. »Ich habe überhaupt nicht daran gedacht, es auszuprobieren.«

»Was auch gut so war. Es schien die Fähigkeit zu haben, den Zauber direkt auf seine Quelle zurückzuwerfen – ich hätte mich um ein Haar selbst gebraten, bevor ich das herausfand. Aber wie dem auch sei, es hat mich jedenfalls erwischt.« Sie schluckte und versuchte ihre Stimme unter Kontrolle zu bekommen. Anvar zog sie fester an sich, und sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln. »Ich habe gekämpft … An das, was danach geschehen ist, kann ich mich nicht erinnern. Es schien nur einen Bruchteil einer Sekunde zu dauern, bevor Shia mir sagte, daß ich dich geschlagen hätte.« Sie hob ihre Hand und fuhr über eine leuchtende Schramme auf Anvars Wangenknochen. »Ich habe dir weh getan. Anvar, das tut mir leid.«

»Das warst nicht du, das war Harihn.«

»Oh, Anvar, ihr habt euch doch nicht schon wieder gestritten?« Aurian war entsetzt. »Ich weiß, daß ihr einander nicht mögt, aber …«

»Warte, bis du die ganze Geschichte gehört hast.« Unterstützt von Shia und von einem gelegentlichen, bekräftigenden Nicken Bohans, erzählte Anvar ihr, was geschehen war. Aurian unterbrach ihn einmal mit erstauntem Entzücken, als er berichtete, wie er herausfand, daß er und Shia miteinander sprechen konnten, und ein andermal mit einem schrecklichen Fluch, als sie hörte, wie Harihn ihre Freunde dem sicheren Tod überlassen hatte. Als ihr Zorn sich soweit beruhigt hatte, daß sie auch den Rest der Geschichte hören konnte, schauderte sie, als Anvar ihr von dem Kampf mit dem Monster berichtete und erzählte, wie Shia beinahe in den Tiefen der Schlucht umgekommen wäre. Aber als Anvar begann, ihr die Überquerung der unsichtbaren Brücke zu schildern, war es einfach zuviel.

»Erzähl es mir nicht. Diesen Teil eurer Geschichte möchte ich lieber nicht hören, wenn du nichts dagegen hast«, entschuldigte sie sich. Als Anvar mit seiner Geschichte fertig war, sah Aurian ihre Freunde an, zutiefst bewegt von ihrem Mut und ihrer Treue. »Meine lieben Freunde, ihr seid so tapfer gewesen … Ich weiß gar nicht, wie ich euch danken soll …« Ihr fehlten die Worte, und sie mußte sich eine Träne aus dem Gesicht wischen.

»Solange es dir nur gutgeht«, sagte Anvar, »dir und dem Kind.«

Aurian sah ihn voller Zuneigung an. »Wir scheinen unversehrt zu sein dank euch dreien. Die Frage ist, was machen wir jetzt? Dieser Mistkerl Harihn hat uns hier festgesetzt. Wenn wir in diesem Tunnel nicht irgend etwas finden, das uns hilft, werden wir verhungern. Außerdem, Anvar …« Ihre Augen leuchteten vor Erregung. »Weißt du denn nicht, was dieser Ort hier sein muß? Die Kristalle, das Metallding, das unempfänglich für Magie ist – das alles weist auf eines hin: Wir haben die verlorene Zivilisation des Drachenvolkes gefunden! Es muß hier Artefakte geben – Wissen, Waffen, und vielleicht sogar das Schwert des Feuers selbst –, und das alles könnten wir gegen Miathan einsetzen.«

Anvar schüttelte verzweifelt den Kopf. »Du gibst niemals auf, nicht wahr? Und was ist, wenn wir noch mehr von diesen Spinnenungeheuern finden? Was ist, wenn es noch Schlimmeres hier gibt?«

»Glaubst du, ich hätte nach meiner letzten Erfahrung keine Angst vor diesen Spinnenwesen?« Aurian zuckte mit den Schultern. »Aber um ehrlich zu sein, Anvar, sehe ich keine andere Möglichkeit. Wir können gewiß nicht auf demselben Weg zurückgehen, auf dem wir hergekommen sind. Der einzige Weg führt hindurch.«

Obwohl sie sich alle nach etwas Schlaf sehnten, beschlossen sie, sofort weiterzugehen. Sie hatten nur wenig Nahrung bei sich, und trotz ihres Mangels an Wissen über diese Bergfeste konnten sie nichts gewinnen, indem sie sich noch länger hier aufhielten. Der einzige Ausgang aus dem langgestreckten Raum war eine hohe, gewölbte Öffnung am anderen Ende. Eine breite Rampe hob sich mit einer sanften Steigung zu einem Tunnel hin, dessen Dach spitz zulief wie der Torbogen und hoch über ihren Köpfen lag. Shia ging voran, die beiden Magusch folgten ihr gemeinsam in unausgesprochener Übereinstimmung. Bohan bildete mit gezücktem Schwert die Nachhut. Anvar hatte Aurian ihre Ausrüstung zurückgegeben, und sie war erleichtert, das vertraute Gewicht ihres Schwertes wieder auf ihrer Hüfte zu spüren. Liebevoll strich sie über den abgenutzten Griff. Ach, mein Coronach, dachte sie. Wieviel wir schon gemeinsam durchgemacht haben, du und ich. Ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt, als sie sich an diesen Tag erinnerte, an ihren lange vergangenen Geburtstag, als Forral ihr das Schwert geschenkt hatte. Unbewußt fuhr ihre Hand zu ihrem Bauch. Würde ihr Kind lange genug leben, um jemals ein Schwert zu schwingen?

»Aurian?« Anvars Augen blickten ängstlich.

»Mir geht es gut.« Die Magusch umklammerte ihren Stab noch fester und tat ihr möglichstes, um ihre melancholischen Gedanken abzuschütteln.

An die Stelle des beunruhigenden, roten Lichtes im letzten Raum war nun ein sanftes, bernsteinfarbenes Glühen getreten, das einem Netzwerk leuchtender Adern entströmte, die sich durch den glatten, nahtlosen Stein des Durchgangs zogen. Die Luft strich ohne jeden Hauch von Feuchtigkeit oder Moder über ihre Gesichter, und die Wände sowie der Fußboden zeigten kaum Spuren von Spinnenweben oder Staub. Das irritierende Summen war während ihres Aufstiegs immer schwächer geworden. Aurian stellte fest, daß sie sich ein wenig entspannte. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie sehr das hohe Summen sie gestört hatte, bis es endlich verschwunden war.

»Weißt du«, sagte sie zu Anvar, »es ist wie eine Wendeltreppe, nur daß es keine Stufen hat. Ich schätze, mit Stufen hätten die Drachen ihre Schwierigkeiten gehabt. Aber wenn dieser Korridor einen Rückschluß auf ihre Ausmaße zuläßt, dann müssen sie noch größer gewesen sein, als ich dachte.«

Er nickte düster. »Und noch mächtiger, als wir gedacht haben, wenn sie diesen Ort und dieses Metallgeschöpf schaffen konnten. Wir sollten sehr vorsichtig sein.«

Es war nur allzu leicht, jegliches Zeitgefühl zu verlieren, während sich der immer gleich aussehende Tunnel nach oben schraubte. Nach einer Weile kamen sie an Räumen vorbei, die links und rechts vom Tunnel lagen. Zu Aurians Enttäuschung waren einige mit großen Türen aus Metall oder Kristall verschlossen, die weder Gewalt noch Magie nachgaben. Andere Räume waren türlos oder standen offen, aber ob sie nun groß oder klein waren, alle waren vollkommen leer, und ihre einzige Beleuchtung stammte von dem schummrigen Steinglühen des Durchgangs, das durch die breiten Eingänge schien. Shia hatte keine weiteren Anzeichen für Magie zu vermelden.

»Was für ein lächerlicher Ort ist das hier?« beklagte Aurian sich, während sie wieder einmal eine verlassene Kammer erkundeten. »Was hat das alles für einen Sinn?« Sie fühlte sich bleischwer vor Erschöpfung, und ihre Kopfschmerzen waren zurückgekehrt.

»Wie, zum Kuckuck, soll ich das wissen?« fuhr Anvar sie an. Dann sackte er neben ihr zusammen und rieb sich mit den Knöcheln seiner Hände die angeschwollenen Augen.

Die Magusch warf einen scharfen Blick auf seine zusammengesunkene Gestalt und bemerkte zum ersten Mal, daß Bohan genauso müde aussah. »Wie lange ist es her, daß ihr das letzte Mal geschlafen habt?«

Er stöhnte. »Tage – ich erinnere mich nicht genau. Nicht, seit du verschwunden bist.«

»Anvar! Warum hast du mir das nicht gesagt?« Aurian nahm seinen Arm und führte ihn in den hinteren Teil eines kleinen Raumes, wo sie ihn an eine der Wände setzte. »Dieses Zimmer hier ist so gut wie jedes andere. Wir werden hier Rast machen.«

Sie nahmen jeder einen kleinen Schluck Wasser aus dem, dahinschwindenden Vorrat ihres Wasserschlauches, und Anvar goß ein wenig davon in Aurians gewölbte Hände, damit Shia es auflecken konnte. Die Magusch bestand darauf, die erste Wache zu übernehmen. »Ich habe in der ganzen Zeit, in der ihr nach mir gesucht habt, gar nichts getan«, sagte sie zu ihren Freunden. »Es ist nur fair.« Keiner hatte die Energie, ihr zu widersprechen.

»Weck als nächstes mich«, sagte Shia zu ihr. »Wir können uns die Wache teilen. Ich brauche weniger Ruhe als ihr schwachen Zweibeiner.«

Als alle anderen fest eingeschlafen waren, setzte Aurian sich mit griffbereitem Schwert an den Eingang. Sie begann, die Zeit zu zählen, indem sie die Sekunden mit ihrem Dolch auf ihre Handfläche schlug und jedesmal, wenn eine Minute vergangen war, die Hand wechselte – aber schon bald gab sie wieder auf. Das Zählen lullte sie ein, und sie stellte fest, daß sie immer wieder einnickte. Statt dessen dachte sie an ihr Kind. Es mußte jetzt etwa fünf Monate alt sein, obwohl es schwer war, den genauen Zeitpunkt seiner Zeugung zu bestimmen. Den Maguschfrauen wurde es früh beigebracht, die monatlichen Zyklen zu unterdrücken, die den Sterblichen eine solche Last waren. Für gewöhnlich stellten sie ihre Schwangerschaft nach dem zweiten Monat fest, und Aurian glaubte, daß es bei ihr ebenfalls so gewesen war. Und ganz gewiß hatte sie die Gegenwart des Kindes gespürt, nachdem man sie darauf aufmerksam gemacht hatte. Es wird jetzt nicht mehr lange dauern, dann werden meine Kräfte ganz verschwinden, dachte sie, und was tun wir dann? Das heißt, wenn wir überhaupt jemals hier herauskommen. Was konnte Harihn nur zu einem solchen Verrat bewogen haben? Habe ich ihn wirklich so falsch eingeschätzt?

Die Magusch fragte sich, was inzwischen wohl in Nexis geschehen sein mochte. Miathan würde die Macht des Kessels benutzen, um die Sterblichen, die er so sehr verachtete, zu unterdrücken, mit Eliseth, Bragar und Davorshan als bereitwilligen Komplizen. Was war aus ihren Freunden geworden? Hatten Vannor und Parric überlebt? Was war mit Maya und D’arvan und ihrer Mutter? Während die Armreifen ihre Kräfte gelähmt hatten, war es für sie unmöglich gewesen, zu bemerken, ob einer der Magusch gestorben war. Sie erzitterte trotz der warmen Luft des Raumes und sehnte sich nach Forrals dickem, altem Umhang, den sie bei dem Schiffbruch verloren hatte. Sein vertrautes Gewicht auf ihren Schultern war ihr immer ein Trost gewesen. Aber der Umhang und Forral waren nicht mehr da, ihr war kalt, und sie war allein in diesem dunklen Zimmer.

Aurian, verloren in traurige Gedanken, schreckte auf, als eine schwarze, kalte Nase ihr Gesicht streifte. »Habe ich es mir doch gedacht«, sagte Shia. »Du schläfst ja fast. Es wird Zeit, daß ich die Wache übernehme.«

Die Magusch ließ sich nicht lange bitten. Es war eine zu große Erleichterung, für eine Weile alle Sorgen vergessen zu können. Sie durchquerte das Zimmer bis zu dem Platz, an dem ihre Freunde schliefen, und legte sich neben Anvar. Wie immer schien er ihre Gegenwart zu spüren und drehte sich um, um einen Arm um sie zu legen und im Schlaf ihren Namen zu murmeln. Aurian schmiegte sich eng an ihn und spürte, wie ihre Last langsam leichter wurde. Wenigstens habe ich Shia und Bohan, dachte sie, und vor allem Anvar. Nie habe ich einen besseren Entschluß gefaßt als damals, als ich ihn vor Miathan gerettet habe. Was für ein guter Freund er mir geworden ist. Mit diesem tröstlichen Gedanken schlief sie ein.

Am nächsten Tag – falls es denn Tag war – stießen sie auf die Falle. Nach einem kärglichen Frühstück, das ihnen dennoch kaum etwas an Vorrat übrig ließ, nahmen sie ihren müden Trott wieder auf und stiegen über die gesichtslose, steinerne Spirale mit ihren leeren Räumen weiter nach oben, bis ihre Füße vor Anstrengung kaum weiter konnten. Aurian war der Verzweiflung nahe. Hatte sie sich in ihrer letzten Hoffnung, hier das verlorene Wissen der Drachen zu finden, getäuscht? Und spielte es überhaupt noch eine Rolle? Wir sind dazu verdammt, hier zu sterben, dachte sie. Dieser Berg wird unser Grab sein, und damit ist die Sache erledigt. Plötzlich blieb Shia, die wie gewöhnlich voranging, stehen. »Magie!« knurrte sie.

»Ja, du hast recht«, sagte Anvar. »Aurian, siehst du es auch?« Ein paar Schritte vor ihnen lag ein silbernes Schwirren in der Luft, wie das trügerische Flirren der Luft über Steinplatten an einem heißen Tag. Es hing wie ein Vorhang über dem Durchgang und blockierte ihnen den Weg.

Gefahr hin oder her, Aurian war froh, daß sie endlich auf etwas stießen, das die Monotonie ihres Marsches unterbrach. Sie machte vorsichtig einen Schritt nach vorn, in der einen Hand den Stab, die andere mit der Handfläche nach vorn ausgestreckt. Als sie die schwirrende, seidenartige Verzerrung erreichte, geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Das Schimmern verschwand, und alles Licht im Tunnel ging aus. In ihrer Überraschung machte Aurian noch einen Schritt nach vorn und entzündete einen Ball Maguschlicht über ihrem Kopf. Als das Licht aufflackerte, ertönte ein tiefes, donnerndes Knirschen von oben und zog ihren Blick empor. Der Atem blieb ihr in der Kehle stecken, als ein gewaltiger, quadratischer Block sich aus der Decke löste und auf sie zustürzte.

Für Aurian geschah alles mit alptraumhafter Verzögerung. Der Block schien hinunterzuschweben, während sie nach vorn stürzte. Sie rutschte aus, fiel zu Boden, rutschte noch ein Stück weiter und blieb schließlich so liegen, daß sie ihre Gefährten sehen konnte. Was sie sah, war entsetzlich.

»Aurian!« Anvar stürzte vor und hechtete in den sich schließenden Spalt zwischen Stein und Boden. Der massive Block donnerte unaufhaltsam herunter … und rammte Anvar mit einem grellen Knirschen in den Boden, das die Wände erzittern ließ.

»Anvar!« Aurians Schrei zerriß ihre Kehle. Ihr Maguschlicht ging aus und stürzte sie in die Dunkelheit. Gräßliche, unerträgliche Visionen rasten durch ihren Kopf: Anvar, pulverisiert unter Tonnen von Stein. Sie brach an der Wand zusammen, würgte und erstickte fast an ihren Schluchzern.

Und machte einen fast meterhohen Sprung in die Luft, als eine Hand sie an der Schulter berührte.

»Ich bin es.« Anvars erstickte Stimme ging beinahe unter in ihrem entsetzten Aufkreischen.

»Du! Du kannst nicht … Ich habe doch gesehen …« Aurian war es fast unmöglich, die Worte hervorzubringen, so klapperten ihr die Zähne. Anvar, so schien es, hatte dieselben Schwierigkeiten, während sie sich zitternd aneinanderklammerten.

»Sinnestäuschungen«, keuchte er.

»Sinnestäuschungen?« Als Aurian ihr Maguschlicht wieder entzündet hatte, brannte es genauso feurig wie der Ärger, der in ihr aufstieg. Sie machte einen Schritt zurück und starrte in Anvars aschfahles Gesicht. »Du Narr! Du verdammter Idiot! Ich dachte, du wärst tot, verflucht noch mal! Wie konntest du nur etwas so Dummes tun!« Tränen des Schrecks und des Zorns liefen ihr übers Gesicht, und sie wischte sie zornig fort.

Anvar faßte sie an den Schultern, und seine Finger gruben sich hart in ihr Fleisch. »Weil ich nicht vorhabe, dich noch einmal zu verlieren. Ich würde lieber sterben, verstehst du?«

Aurian spürte, wie ihr Zorn langsam verrauchte. Sie verstand es; sie hatte Forral gegenüber genauso empfunden. Sie schüttelte den Kopf, denn sie war nicht bereit, die Konsequenzen seiner Worte zu akzeptieren. »Anvar …«

Er wandte den Blick von ihr ab und biß sich auf die Lippen. »Mach dir nichts draus. Vergiß es!«

»Wenn ihr beide endlich fertig seid …« Shias Gedankenstimme war eine willkommene Ablenkung, aber Aurian konnte dem stahlharten Ton der Katze entnehmen, daß auch sie wütend über den Schrecken war, den sie ihr eingejagt hatten. Sie war nirgends zu sehen; wahrscheinlich immer noch verborgen hinter dem nur eingebildeten Steinblock. »Ich habe wirklich keine Ahnung, wie ihr erwarten könnt, daß irgend jemand seine Gedanken durch einen solchen Aufruhr hindurchmanövrieren kann, wie ihr beide ihn da verursacht habt«, fuhr Shia bereits fort, »aber da ihr euch endlich dazu herabgelassen habt, mit mir zu sprechen – habt ihr irgend etwas Sinnvolles vorzuschlagen?«

Plötzlich brach Aurian zu ihrem eigenen Erstaunen in hilfloses Gekicher aus. Sie steckte Anvar an, und zusammen lachten sie, bis ihnen die Rippen weh taten und sie keuchend um Atem rangen. Die kleine Kugel Maguschlicht, die jetzt ein helles Gold angenommen hatte, flackerte und hüpfte über Aurians Kopf, als kicherte sie ebenfalls.

»Nun?« Das Donnern von Shias Stimme machte sie wieder nüchtern.

»Es tut mir leid, Shia.« Aurian grinste Anvar an und sprach ihre Gedanken nun laut aus, damit Bohan sie ebenfalls hören konnte. »Ich würde vorschlagen, daß ihr einfach hindurchgeht. Der Block ist eine Sinnestäuschung – wie Anvar so schlüssig bewiesen hat.« Sie sah ihn mit einem gespielt finsteren Blick an.

Zuerst kam nur verblüfftes Schweigen von Shia, dann machte sie sich vernehmbar: »Wenn ich doch nur fluchen könnte wie ihr Menschen!« Obwohl die Worte aus ihren Gedanken kamen, klangen sie so, als wären sie durch zusammengebissene Zähne gesprochen worden. »Wir kommen jetzt durch!«

»Nein, wartet!« Aurians Schrei ging in einem knirschenden Poltern von oben unter. Dann hörten sie ein erschrockenes Heulen, und Bohan sprang durch die Steinwand, Shia wie ein Geschoß auf den Fersen. Es gab ein ohrenbetäubendes Krachen, und die beiden Magusch hielten sich aneinander fest, als der Boden des Tunnels sich rüttelnd unter ihnen hob und senkte. Staubwolken stiegen auf, und winzige Steinchen brannten auf ihrer Haut.

Als der Staub sich zu legen begann, sah Aurian erleichtert, daß Bohan und Shia in Sicherheit waren. Keuchend streckte sie eine Hand nach dem Block aus und berührte festen Stein.

»Diesmal ist er wirklich gefallen.« Anvar klang erschüttert.

»Ich glaube, ich verstehe«, murmelte Aurian nachdenklich. »Es ist eine Zeitfalle, Anvar. Was wir gesehen haben – wovon wir glaubten, daß es dich getroffen hätte …« sie suchte nach Worten. »Das war keine Sinnestäuschung. Was wir gesehen haben, war die Zukunft.«

»Aber warum? Wenn der Stein eine Falle ist, hätte er doch beim ersten Mal gleich fallen können?«

»Ich bin mir nicht sicher.« Aurian runzelte die Stirn. »Wahrscheinlich würden die Drachen ihre eigene Magie erkennen, so daß sie vor der Falle gewarnt wären und schnell hindurchgingen. Aber irgendwelche fremden Magusch wie wir, die sich hierher verirrt haben – nun, wenn ich nicht diesen zusätzlichen Schritt nach vorn gemacht hätte, hätte ich das Ding rechtzeitig fallen sehen und wäre zurückgetreten.«

»Und wir hätten schließlich herausgefunden, daß es sich nur um eine Sinnestäuschung handelte«, beendete Anvar den Satz für sie, »wären hindurchgegangen und …«

»Es hätte uns doch noch erwischt. Was für ein fürchterlich heimtückisches Volk!« Sie ärgerte sich und war mehr als nur ein bißchen erschrocken. »Welche Kräfte sie gehabt haben müssen, wenn sie zu solchen Kunststückchen mit der Zeit fähig waren.«

Aurian wandte sich wieder an die anderen und war überrascht, zu sehen, daß der Eunuch sich mit einer Hand sein Hinterteil rieb und die andere wütend zur Faust geballt hatte, während er Shia wilde Blicke zuwarf. »Ist mit euch beiden alles in Ordnung? Bohan, was ist los?«

Shias Stimme war voller Abscheu. »Dieser faule Ochse hier hat sich nicht schnell genug bewegt, also habe ich mit meinen Klauen etwas nachgeholfen.«

Ein ersticktes Kichern von Anvar zeigte, daß auch er die Worte der Katze vernommen hatte. Aurian begann von neuem hilflos zu lachen. Bohans entrüsteter Gesichtsausdruck und Shias wütender Blick machten es nur noch schlimmer. Die Magusch fielen einander von neuem in die Arme und konnten nichts anderes tun als weiterzulachen.

»Aber woher hast du gewußt, daß der Stein diesmal wirklich herunterfiel?« wandte Aurian sich an Shia, als sie ihren Lachkrampf endlich wieder unter Kontrolle hatte. Jetzt, da sie beide mit ihr sprechen konnten, hatten die Magusch es sich angewöhnt, ihre Gedanken laut auszusprechen. Das machte die Dinge viel einfacher. Shia leckte sich steif eine Pfote, obwohl ihr zuckender Schwanz bewies, daß die jüngsten Ereignisse auch sie zu Tode erschreckt hatten.

»Ich habe es nicht gewußt. Aber Katzen gehen niemals ein Risiko ein!«

»Wirklich, du Kätzchen Neunmalklug?« gab Anvar zurück. »Und was war, als du beim Kampf mit diesem Spinnenwesen beinahe über die Klippe gegangen wärst?«

Shia funkelte ihn wütend an. »Das war etwas anderes!«

»Ach?«

»Mir ist gerade eine Idee gekommen.« Aurian unterbrach den beginnenden Streit. »Dieses schreckliche Heulen, das wir gehört haben, als ihr beide da durchgekommen seid – warst du das, Bohan?«

Der große Mann sah sie verwirrt an.

»Nun, ich war es jedenfalls nicht«, erklärte Shia.

»Aber das heißt ja, daß du sprechen kannst!«

Bohan öffnete den Mund, aber es war nichts zu hören. Aurian konnte sehen, wie sein Gesicht röter und röter vor Anstrengung wurde, und machte schnell einen Schritt auf ihn zu. »Nicht, Bohan. Du wirst dir nur selbst weh tun. Offensichtlich ist das Problem nicht körperlich, aber ich bin im Augenblick zu schwach, um es mit Geistheilung zu versuchen. Aber ich verspreche dir, wenn wir hier rauskommen, werde ich dir helfen, deine Stimme wiederzufinden.«

Er lächelte sie an, aber die Sehnsucht, die Hoffnung in seinen Augen, machte Aurian das Herz schwer. Sanft streichelte sie seine Hand. »Jetzt wollen wir uns eine Weile ausruhen. Ich glaube, wir brauchen alle etwas Zeit, um uns zu erholen, bevor wir weitergehen können.«

Diesmal dachten sie nicht einmal daran, Wachen einzuteilen, obwohl sich das im nachhinein vielleicht als schierer Wahnsinn erweisen mochte. Sorglos in ihrer Schwäche und nach den Schrecken der vergangenen Stunde schliefen sie wie Tote, eng aneinandergeschmiegt und trostsuchend wie verirrte Kinder. Als Bohan Aurian schließlich weckte, war das Licht wieder in den Durchgang zurückgekehrt, und der Stein hatte sich in die Höhe gehoben, um den Tunnel hinter ihnen freizugeben. Die Falle war von neuem aufgestellt worden.

Sie machten sich über die mageren Reste ihres Essens und ihres Wassers her, aber ein Gefühl der Beklommenheit verdarb ihnen die letzte Mahlzeit. Hatte der Stein sich von selbst wieder gehoben? Oder, welch schrecklicher Gedanke, hatte irgend jemand – oder irgend etwas – sich herangeschlichen, um den Zauber zu erneuern, während sie schliefen?

»Unsinn«, meinte Aurian. »Wenn jemand hiergewesen wäre, hätte er es uns wissen lassen, da könnt ihr sicher sein!« Nichtsdestotrotz spürte sie eine Gänsehaut zwischen ihren Schulterblättern, die sie auch nicht mit gesundem Menschenverstand abschütteln konnte, und als sie ihren Freunden ins Gesicht sah, wußte sie, daß es ihnen genauso ging. Als sie weitermarschierten, wurde die Krümmung des Tunnels langsam weiter; schließlich verlief er geradlinig, stieg aber gleichzeitig immer steiler an. Es gab jetzt keine weiteren Zimmer mehr, und schon bald begann auch die Beleuchtung sich zu verändern. Die glühenden, bernsteinfarbenen Adern des Felsens machten allmählich einer Ansammlung vielfarbiger Juwelen Platz, die wie jene in der Wüste unter ihnen leuchteten und ihr eigenes, mysteriöses Glühen verbreiteten. Schon bald war der Weg von flackerndem Juwelenlicht erhellt, das von allen Seiten auf sie einstürzte, als schritten sie über die strahlenden Pfade des Universums selbst.

»Wie schön das ist«, murmelte Aurian. »Ich bin froh, daß wir die Gelegenheit hatten, das hier zu sehen, selbst wenn …«

»Selbst wenn wir für diese Erfahrung sterben müssen?« Das waren beinahe die ersten Worte, die Anvar gesprochen hatte, seit er erwacht war. Nach seinem Gefühlsausbruch am vergangenen Tag hatte sich eine Befangenheit zwischen den Magusch ausgebreitet, als wären sie beide ängstlich darauf bedacht, den Konsequenzen seiner Worte aus dem Wege zu gehen. Aurian war das Ganze plötzlich von Herzen leid. Nichts hat sich verändert, sagte sie sich selbst. Er ist immer noch Anvar. In der Hitze des Augenblicks gesprochene Worte – was hat sich dadurch schon verändert? Wenn wir sterben, spielt das Ganze ohnehin keine Rolle mehr, und wenn nicht – nun, dann werden wir schon irgendwie darüber hinwegkommen, und es hat keinen Sinn, in der Zwischenzeit eine gute Freundschaft deswegen zu zerstören. Sie griff nach seiner Hand.

»Verzweifle nicht«, sagte sie zu ihm. »Denk an die vielen Male, die wir beinahe gestorben wären, seit wir Nexis verlassen haben, und doch leben wir noch. Irgend etwas wird schon passieren, du wirst sehen. Wir sind ein viel zu zähes Gespann, du und ich, als daß man uns umbringen könnte.«

Anvar drückte ihre Hand und sah ihr endlich wieder in die Augen. Plötzlich schien er zuversichtlicher zu sein. »Du hast recht«, sagte er, »und wir werden noch viel mehr erleben, bevor wir am Ende sind.«

»Licht! Da vorn ist Licht!« Als sie Shias Ruf hörten, drehten sie sich beide gleichzeitig um.

»Tageslicht!« Es leuchtete trüb hinter einer scharfen Biegung im Tunnel, gedämpft von dem Sternenglitzern der Juwelen. Shia war mit aufgestellten Nackenhaaren vor der Biegung stehengeblieben.

»Das ist Magie da vor uns«, warnte sie die anderen und machte damit dem überstürzten Vormarsch ihrer Gefährten ein Ende.

Aurian trat einen Schritt nach vorn, aber Anvar, der ihre Hand auch im Laufen nicht losgelassen hatte, zog sie zurück.

»O nein, das wirst du nicht tun«, knurrte er. »Diesmal gehen wir zusammen!«

Sie krochen nach vorn und spähten ängstlich um die Ecke. »Bei Chathaks Eiern« fluchte Aurian. Der Tunnel vor ihnen wurde von einem großen Edelstein versperrt, der den uneinnehmbaren Türen ähnelte, denen sie weiter unten begegnet waren. Das Tageslicht blinzelte durch seine polierten Facetten – so nahe, und doch hätte es Millionen Meilen entfernt sein können, wenn sie keinen Weg fanden, das Hindernis zu umgehen.

»Dieses Geräusch ist auch wieder da«, sagte Anvar plötzlich. »Hört ihr es auch?«

Und tatsächlich, das irritierende hohe Summen zitterte wieder in Aurians Kieferknochen. »Was ist das?« wollte sie ungehalten wissen und kämpfte gegen den Drang, in Tränen verzweifelter Enttäuschung auszubrechen.

»Ich glaube, es kommt von der anderen Seite. Shia! Komm endlich her!«

»Ich habe dich gehört.« Die Katze kam um die Biegung und warf Anvar einen finsteren Blick zu. »Es besteht kein Grund, zu schreien.«

»Tut mir leid. Kannst du herausfinden, ob die Magie von dem Stein selbst kommt, oder ist vor uns noch irgendeine andere Falle aufgebaut?«

»Ich glaube nicht. Die Magie ist in dem Kristall selbst.«

»Richtig.« Anvar wollte weitergehen, aber Aurian hielt ihn am Arm fest.

»Einen Moment mal«, rief sie. »Du hast die Regeln gemacht, erinnerst du dich? Zusammen oder gar nicht.«

Zusammen untersuchten sie den Kristall und ließen ihre Hände über die glatte, harte Oberfläche gleiten. »Genauso wie die anderen«, sagte Anvar verzweifelnd. »Anders als der, in dem du gefangen warst. Zu diesen Türkristallen gibt es keine Schlüssel. Wir stecken in einer Sackgasse.«

»Das ist unmöglich!« Aurian versetzte dem Ding einen wilden Tritt und heulte fluchend auf, als sie mit den Zehen auf den unnachgiebigen Stein traf. »Jetzt reicht es aber!« In gedankenloser Rage hob sie ihren Stab und ließ einen zischenden Blitz auf den Kristall los.

»Aurian, nein!« Anvar legte sich schützend eine Hand über die Augen, bevor er hart gegen die Wand geschleudert wurde. Während der Edelstein zu zischen und mit einem strahlend hellen Licht zu pulsieren begann, füllte sich der Korridor mit Rauch.

»Halt!« Ganz schwach hörte Aurian Shias dringenden Aufschrei in ihren Gedanken. »Du machst es nur noch schlimmer! Die Magie des Steins wächst!«

Zu ihrem Entsetzen mußte die Magusch feststellen, daß dem so war. Der Edelstein verhielt sich genauso wie die Armreifen und saugte Aurians Kräfte in sich hinein, um seine eigenen zu vergrößern. Der Stab zitterte in ihrer ausgestreckten Hand, als die Energie durch ihren Körper und durch ihren Arm strömte, um sie mit jeder Sekunde weiter auszubluten und zu schwächen. Aurian griff nicht länger mit ihrer Macht nach dem Stein – der Stein zog die Energie aus ihr heraus! Ihre Eingeweide zogen sich in Panik zusammen. »Hilf mir!« rief sie. »Ich kann es nicht aufhalten!«

Etwas Hartes rammte sich in sie hinein und schlug sie zu Boden, wo sie atemlos liegenblieb. Der Stab wurde ihr in einem Funkenregen aus der Hand gerissen, so daß das tödliche Band der Magie durchbrochen wurde. Aurian, die keuchte wie ein gestrandeter Fisch, sah Bohan, der halb auf ihr lag und den rauchenden Stab nun mit einer Schmerzensgrimasse fallen ließ. Das Funkeln des Kristalls wurde schwächer, und der Rauch begann sich zu heben.

»Du und dein verfluchtes Temperament, Aurian!« Anvar untersuchte Bohans Hand.

»Ich weiß. Es tut mir leid, Anvar. Das war wirklich dumm von mir. Ist mit Bohan alles in Ordnung?«

»Mehr oder weniger.«

Der Eunuch unterstrich seine Worte mit einem Nicken.

Anvar streckte die Hand aus, um ihr aufzuhelfen. »Aurian, wir müssen aufhören, einander auf solche Art und Weise zu Tode zu erschrecken.«

»Abgemacht.« Aurian raffte sich mühsam auf und wandte sich wieder dem Kristall zu. »Aber, wie dem auch sei, ich habe eine Idee.« Sie dachte daran, wie die Armreifen ihr die Kraft geraubt hatten, als sie in dem Sklavenlager versucht hatte, Anvar zu helfen.

»Sei vorsichtig!« sagte Anvar hastig.

»Ganz bestimmt. Ich habe meine Lektion gelernt. Keine törichten Feuerwerke diesmal, das verspreche ich dir.« Sie preßte erst ihre Hände, dann ihr Gesicht flach auf den Kristall und tastete sein Inneres mit den Sinnen einer Heilerin ab, spürte dem zarten Gitterwerk nach, das das Gerüst und das Leben des Steins bildete. Da ihr übereiltes Vorgehen ihre Kräfte erschöpft hatte, dauerte es ziemlich lange, bis sie die Schwäche fand, die Lücke in seiner Verteidigung, die sie suchte. Aber sie war da. Bei den Göttern, sie war da! Aurian tastete mit ihrem Willen danach und zog … Ah, nun hatte sich das Blatt gewendet! Die Magusch spürte, wie ihre Handflächen prickelten, als die Kraft durch den Fehler im Stein zu ihr zurückflutete. Sie zog an der Energie des Steins, bis sie dem Bersten nahe war, unfähig, eine solche Menge Energie in sich aufzunehmen. Sie begann, sich zu fragen, ob sie ihre Fähigkeit, mit der in dem Stein gespeicherten Macht umzugehen, überschätzt hatte. Wieder fühlte sie den eiskalten Würgegriff der Angst. Wenn sie diesen Zauber doch nur Anvar beigebracht hätte, so daß er ihr hätte helfen können. Wenn sie doch nur irgendeine Möglichkeit hätte, die zusätzliche Kraft zu lagern. Aber …

»Lauft zurück um die Ecke!« schrie sie und versuchte mit ungeheurer Anstrengung, die Kraft zurückzuhalten, bis ihre Freunde in Sicherheit waren. »Bedeckt eure Augen!« Dann stieß die Magusch eine Hand vor und schleuderte einen gewaltigen Energiestrom auf das Hindernis zu, wobei sie sich gleichzeitig hastig mit einem Schild wappnete. Der Stein explodierte beim Aufprall ihrer Energie, und die Erschütterung schlug mit gewaltiger Kraft auf ihren Schild, aber ihre Verteidigung hielt stand, und was den Kristall betraf – ihre Arbeit war getan. Ohne die Energie, die ihn zusammenhielt, brach der Edelstein mit einem heiseren Flüstern zu einem Haufen feinen Pulvers zusammen. Aurian stieß einen gewaltigen Seufzer der Erleichterung aus.

Anvar tauchte wieder hinter der Biegung auf; er war sehr blaß. »Ich dachte, wir wären übereingekommen, einander nicht mehr so zu erschrecken?« Seine Stimme war leise, aber in seinen Augen lag ein zorniges Glühen.

»Es tut mir leid, Anvar. Ich hätte nicht gedacht … Ich wußte nicht, daß es um soviel Energie ging.« Sie strahlte. »Aber es hat funktioniert, nicht wahr? Und schließlich ist nichts Schlimmes passiert.«

»Nichts Schlimmes?« fauchte Shia. »Und was ist mit meinen Nerven?«

Anvar seufzte. »Ich muß zugeben, daß es funktioniert hat. Aber wenn du so etwas jemals wieder tust …«

»Na schön«, gab Aurian nach. »Das werde ich nicht. Statt dessen werde ich es dir beibringen, und das nächste Mal kannst du es tun.«

»Menschen!« knurrte Shia angewidert.

Gemeinsam stolperten sie über den Haufen feinen Kristallstaubs und spähten durch die Öffnung, die Aurian geschaffen hatte. Das Herz der Magusch sank. »Bei allen Göttern! Nach all dem führt der Gang nicht einmal nach draußen!« Sie warf sich zu Boden, kauerte sich auf den Staubhügel und legte ihren Kopf in ihre Hände.

»Aurian, sieh dir das mal an!« Anvar klang aufgeregt.

»Sieh du es dir an. Ich habe genug von diesem verfluchten Ort gesehen.«

»Mach dich nicht lächerlich.« Er zog sie entschlossen auf die Füße. Mit einem Stöhnen hob Aurian ihren Stab auf, folgte ihm und trat mit einem scharfen Fluch hastig zurück, als sie den Abgrund sah, der vor ihren Füßen klaffte. Sie standen in einem Turm, dessen kreisrunder Innenraum sich in die Höhe erstreckte, so weit das Auge reichte. Die fugenlosen Wände waren aus einem durchscheinenden, weißen Stein. Runde Kristallfenster zogen sich in einer endlosen Spirale um die Wand des Gebäudes und ließen schwertdünne Sonnenstrahlen auf den Boden fallen – nur, daß es keinen Boden gab. Sie standen auf einem schmalen Steinflansch, der aus der Wand des Turms nach innen ragte und sich in einer endlosen Wendel in die grenzenlose Höhe schraubte. Unter ihnen lag ein lichtfunkelnder Schacht, der von den dort zusammenfließenden Strahlen aus den Fenstern erleuchtet war. Und auf gleicher Höhe mit ihnen drehte sich – scheinbar auf der dünnen Luft über dem Abgrund schwebend – eine große, funkelnde Kristallkugel, die die Luft mit dem unangenehmen, alles durchdringenden Summen erfüllte, das sie in dem Durchgang und in der rot erleuchteten Kammer weiter unten gehört hatten.

Anvar lag auf dem Bauch und ließ sich auf eine Art über den Rand des Schachtes hängen, daß Aurians Magen sich zusammenkrampfte. »Das ist ja ungeheuer! Wollen wir wetten, daß es da direkt hinunter in die Kluft geht, die wir überquert haben?«

Aurian stöhnte. »Anvar, komm da weg!«

»Ja, bitte«, fügte Shia hinzu, die ebenfalls alles andere als glücklich klang. »Dieser Ort ist zum Bersten gefüllt mit Magie.«

Anvar ignorierte sie beide. »Natürlich ist er das! Seht ihr denn nicht, daß das eine Art magischer Pumpe ist? Das ist auch der Grund, warum die Luft weiter unten so frisch war – diese Pumpe läßt sie zirkulieren.«

»Sehr klug, Anvar.« Aurian tat ihr Bestes, aber es gelang ihr nicht, die Verzweiflung aus ihrer Stimme fernzuhalten. »Es ist außerdem, wie dir vielleicht aufgefallen ist, eine Sackgasse. Wir müssen wieder zurück nach unten.«

Anvar schob sich von dem Rand des Schachtes weg. »Ich glaube nicht.’ Der Pfad …« – er zeigte auf den Steinstreifen, auf dem sie standen – »diese Drachentreppe, wenn du es so willst, führt immer noch weiter nach oben. Ich denke, da oben werden wir einen Weg nach draußen finden.«

Aurian blickte den steinernen Saum hinauf, der sich über ihren Köpfen in die Höhe wand; dann senkte sie den Blick wieder nach unten in den bodenlosen Schacht. Sie schluckte und sah Anvar an. »Ich dachte, wir wollten einander nicht mehr erschrecken?«

Er grinste. »Du hast dieses Versprechen bereits gebrochen.«

»Das ist nicht komisch!«

»Ich weiß. Aber es ist unser einziger Ausweg. Sieh mal, der Pfad ist auch nicht so schmal, wie er ausschaut. Er wurde für Drachen gebaut, weißt du. Nun komm schon, Aurian. Ich halte dich fest. Du mußt es schaffen.«

»Na schön.« Aurian seufzte. »Aber Anvar, wenn wir jetzt den ganzen Weg bis nach oben zurücklegen und es dort keinen Ausweg gibt, dann fliegst du kopfüber diesen Schacht hinunter!«

Später zog Aurian es vor, sich an diese Kletterpartie nicht zu erinnern. Es schien eine ganze Ewigkeit zu dauern, während sie sich die gewundene Rampe hinaufschob und sich mit dem Rücken fest an die Mauer des Turms preßte. Sie kletterte, bis ihre Beine vor Schwäche zitterten, aber die Magusch weigerte sich, eine Pause zu machen. »Nein«, flüsterte sie. »Ich will es hinter mich bringen.« Doch irgendwann stand fest, daß sie es in ihrem ausgehungerten und erschöpften Zustand ohne eine Pause niemals bis nach oben schaffen würden. Aurian setzte sich an die Turmmauer – so weit vom Rand entfernt wie nur möglich –, kauerte sich zusammen und machte die Augen fest zu. Nach einiger Zeit gingen sie dann weiter, mit verkrampften Muskeln und schmerzendem Kopf, bis Aurian so sehr mit ihren strapazierten Gliedern beschäftigt war, daß sie den Abgrund unter sich ganz vergaß. Ein Gefühl der Ungläubigkeit durchflutete sie, als sie endlich den Torbogen über sich entdeckte. Halb besinnungslos taumelte sie in das gepriesene Tageslicht.

»Sei vorsichtig!« Anvar hielt sie am Arm fest und riß sie zurück. Taumelnd fiel Aurian zu Boden.

»Anvar«, keuchte sie, »ich hasse dich. Ich hasse dich unendlich.«

Sie erwachte, als eine sanfte Hand sie an der Schulter berührte. Anvars Gesicht war dem ihren sehr nahe. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich habe dich so lange schlafen lassen, wie ich es gewagt habe, aber wir müssen weitergehen, solange es noch etwas Tageslicht gibt. Haßt du mich immer noch?«

Aurian stöhnte. Der ganze Körper tat ihr weh. »Das kommt darauf an. Habe ich wirklich gesehen, was ich glaube, gesehen zu haben?«

»Ich fürchte ja.«

»In diesem Falle lautet die Antwort: ja. Ich hasse dich.« Sehr vorsichtig bewegte sie sich an den Rand der Plattform, die das Dach des Turms bildete, und spähte hinunter. Ach, wie gut es doch tat, nach ihrer nächtlichen Reise durch die Wüste und den langen Tagen in den düsteren Hallen die Sonne und den Himmel wiederzusehen. Und trotz ihrer Angst war der Ausblick atemberaubend. Der Turm stand an einem Ende einer ovalen Ebene, die etwa eine Wegstunde lang sein mochte – der Boden eines Kraters, der den Gipfel des Berges aushöhlte. Die gezackten Grate der Kraterwände waren höher als das Dach, auf dem sie kauerte, und sie schützten das Tal darunter vor dem schlimmsten, blendenden Funkeln der Wüste. Und in dem Tal … Aurian hielt den Atem an. Dort vor ihr lag die verlorene Stadt des Drachenvolks!

Sie war nicht in Linien und Winkeln angeordnet wie eine menschliche Stadt, sondern in einer Reihe sich überlappender Kreise, die sich wie zu einem Spinnennetz vereinten und alle bei einem gewaltigen, kegelförmigen Gebäude zusammenliefen, das wie eine riesige Turmspitze aussah und den Turm, auf dem sie sich jetzt befanden, noch überragte. Die Sonne funkelte wie Feuer auf seiner langgezogenen Spitze, was keine Überraschung war, denn das Gebäude bestand aus einem einzigen, riesigen, grünen Kristall. Als Aurian endlich aufhören konnte, das Ganze fassungslos anzustarren, entdeckte sie, daß auch alle anderen Gebäude in der Stadt in ähnlicher Weise konstruiert waren. Jedes von ihnen war aus einem bunten Juwel geformt, das ein funkelndes Licht ausstrahlte. Die meisten Gebäude waren rund und eingeschossig und hatten breite, flache Dächer, wo, so nahm die Magusch an, die Drachen sich niedergelassen hatten, um die Sonnenstrahlen aufzufangen, die ihr Lebenselixier waren. Dann gab es noch mehrere Türme, Kuppeln und Minarette, alle raffiniert geschnitzt und ziseliert, aber die höchsten Gebäude waren der Turm, von dem sie gerade Ausschau hielt, und die gewaltige Turmspitze in der Mitte.

Anvar, so schien es, hatte das alles schon betrachtet, während sie schlief, und war nun bereit, sich dem praktischen Aspekt seiner Entdeckungen zu stellen. »Ich habe da unten eine Menge Vögel gesehen – ich nehme an, das ist ihr Ruheplatz, bevor sie die Wüste durchqueren. Wenn wir eine Möglichkeit finden, sie zu fangen, haben wir zu essen. Und da unten muß es auch Wasser geben. Selbst die Drachen mußten doch etwas trinken, oder?«

»Also gehen wir hinunter.« Aurian hatte den spiralförmigen Pfad bereits entdeckt; es war ein Zwillingsbruder desjenigen im Innern des Turms, und er wandt sich hinunter – und hinunter – bis in die Stadt hinein. »Verflucht und verhext sollen sie sein!« Machtlos schlug sie mit der Faust auf den Stein und brach in Tränen aus. »Warum konnten sie keine Geländer an diesen verdammten Auf- und Niedergängen anbringen?«

»Es tut mir leid, Liebes.« Anvar strich ihr übers Haar. »Aber …«

»Ich weiß, ich weiß.« Aurian setzte sich auf und schniefte; dann rieb sie sich mit dem Ärmel ihres Gewandes übers Gesicht und fing Anvars Blick auf – beide erinnerten sie sich an lang vergangene Gelegenheiten, bei denen er sie wegen dieser Angewohnheit gescholten hatte. »Kümmere dich nicht um mich, Anvar. Ich bin eine Närrin. Geh also voraus – da du ja offensichtlich für hohe Plätze zuständig zu sein scheinst!«

Der Abstieg war weit schlimmer als der Aufstieg. Der Pfad schien unter Aurians Füßen wie wahnsinnig abwärtszustürzen, und dort, unter ihr, war nichts als dünne Luft. Die anderen hatten ähnliche Schwierigkeiten, und die Sonne war schon lange hinter den hohen Bergwänden verschwunden, als sie sich dem Ende ihres Weges näherten. Da der Pfad nun fast in tiefer Dunkelheit lag und ihre Aufmerksamkeit ganz auf ihre Füße konzentriert war, bemerkte sie nicht den Schatten, der sich über ihnen in die Luft schwang. Anvar, der voranging, drehte sich gerade zu Aurian um. »Wie wäre es jetzt mit etwas …« Sein Gesicht erstarrte vor Entsetzen. Die Magusch hatte keine Zeit, sich umzusehen. Etwas traf sie hart am Kopf und riß sie von den Füßen. Drahtige Arme umklammerten sie, sie fing das Glitzern von Stahl auf und fiel – fiel …

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