34 Erdbeben!

Anvar drückte sich flach auf den Boden, als die Erde zu zittern und zu beben begann. Ganz in der Nähe konnte er die anderen sehen, die von den Gewalten des ungeheuren Sturmes und der sich unter ihnen auf tuenden Erde ebenfalls niedergeworfen worden waren. Der Staub, den der Wind ihm in die Kehle trieb, machte ihn würgen, und er rieb sich die Augen. Dann entdeckte er ganz in der Nähe Rabe. Das geflügelte Mädchen, das in dem Unwetter nicht fliegen konnte, war totenbleich und weinte vor Angst. Noch bevor er irgend etwas tun konnte, fuhr ein Windstoß unter ihre Schwingen, hob sie halb vom Boden und rollte sie vor sich her. Bohan griff, als sie an ihm vorüberrutschte, nach ihrem Handgelenk, und sein Gewicht diente Rabe als Anker, während sie mit ihrer freien Hand seine Kleider zu fassen bekam und sich mit angstverzerrtem Gesicht an ihn klammerte.

Ein gräßliches Knirschen von oben zwang Anvars Blick in die Höhe. Vor seinen entsetzten Augen zog sich ein ganzes Netz weit aufklaffender Risse über die grünen Wände des Turms. »Wir müssen hier weg!« schrie er und versuchte, auf die Beine zu kommen, nur um sogleich wieder von dem scharfen Wind, der seine Worte davonwehte, zu Boden geschleudert zu werden. Shia war die einzige, die ihn wegen ihrer gedanklichen Verbindung hatte hören können.

»Wie?« Das eine Wort klang hart vor Angst.

Die Risse wurden breiter, und zu seinem Entsetzen sah Anvar, daß es den anderen Gebäuden in ihrer Nähe nicht besser ging. Der Ring der Zerstörung breitete sich von dem Turm aus, um nicht nur die ganze Stadt, sondern die gequälten Knochen des Berges selbst zu verschlucken. Er warf sich zur Seite, als der Boden unter ihm aufriß und sich ein gewaltiger Spalt öffnete. Zu spät! Anvar schrie auf, als die Erde unter ihm nachgab und ihn kopfüber in den gähnenden Abgrund stürzen ließ, dessen Ränder sich bereits wieder schlössen.

Ein scharfer Schmerz durchzuckte sein Bein, als ein starker Griff sich um seinen Knöchel schloß. Anvars Sturz fand ein ruckartiges Ende, und er baumelte mit dem Kopf nach unten über der sich schließenden Kluft. Von Angst geschwächt, spürte er kaum, daß auch sein anderer Knöchel ergriffen wurde; das einzige, was er wußte, war, daß er nach oben und in Sicherheit gezogen wurde. Der gezackte obere Rand der Erdspalte rammte sich ihm schmerzhaft in den Magen und in die Rippen und zerfetzte sein dünnes Wüstengewand. Die knirschenden Ränder des Felsens schnappten zu und verpaßten seine zuckenden Finger nur um wenige Zentimeter. Er spürte, wie er grob auf die Füße gestellt wurde, und fand sich plötzlich Auge in Auge mit Aurian wieder.

»Geh da rein!« Sie schob ihn auf einen Eingang zu, eine Öffnung in der Wand des grünen Turms, die vorher nicht dagewesen war. Shia hockte schon im Innern des Turms, das Gesicht verzogen zu einem Fauchen. Bohan, der mit aller Kraft gegen den Sturmwind kämpfte, zog das geflügelte Mädchen auf den Eingang zu. Anvar spürte Aurians Arm um sich und zwang seine taumelnden Schritte den gewundenen Korridor hinauf, der in das Herz des zerfallenden Gebäudes führte. Mit einem schnellen Blick über die Schulter, um festzustellen, ob die anderen ihnen folgten, zog Aurian ihn vorwärts. Erstickende Wolken von grünem Staub fielen von der gläsernen Decke über ihnen herab und machten sie fast blind. Anvars Füße glitten aus, und er stolperte, als plötzlich Smaragdbrocken aus dem aufgerissenen Boden stoben.

Aurian blieb fluchend stehen, und er sah, daß eine Senkung ihnen den Weg versperrte. Bevor Anvar blinzeln konnte, hatte die Magusch ihre freie Hand gehoben und streckte ein Ding aus, das ein blendend grünes Licht verströmte. Dann zuckte ein gewaltiger Blitz auf, eine Explosion von Magie zog ihm die Beine unter dem Leib weg, und der Durchgang war wieder frei. Aurian zog ihn hoch, wobei sie ihm beinahe den Arm aus dem Gelenk riß, aber Anvar ließ es sich gefallen, denn die unglaubliche Intensität der Kraft, die er gerade mit angesehen hatte, beängstigte ihn. »Was war das?« kreischte er.

»Der Stab der Erde«, erwiderte Aurian schroff, als wäre das die normalste Sache der Welt. »Komm weiter!«

Die Magusch zog den erstaunten Anvar weiter, bis sie in einen kreisförmigen Raum kamen, in dem auf dem Boden ein golden funkelndes Mosaik unter herabgefallenem Schutt und Staub gerade noch zu erkennen war. Sie zog ihn fast im Laufschritt durch den Raum hindurch und drückte ihn auf der anderen Seite gegen die Wand. Sein Herz machte einen Sprung, als er spürte, wie er fiel. Er streckte die Arme aus, um sich in Sicherheit zu bringen, aber seine Hände gingen direkt durch den Stein hindurch, während sein Körper von der bösartigen Substanz eines Portals wie dem in der Oase ergriffen wurde.

Sobald er in die dahinterliegende Dunkelheit hineingeglitten war, schenkte die Vertrautheit mit dieser Situation Anvar die Geistesgegenwart, schnell aus dem Weg zu gehen, damit er die anderen nicht behinderte. Shia kam als nächste – er konnte ihren Pelz spüren, der voller Staub war, als sie spuckend und fauchend und gefolgt von einer hysterischen Rabe an ihm vorbeischoß. Das geflügelte Mädchen schrie, so laut es konnte, und schlug in blindem Entsetzen um sich. Eine herumwirbelnde Flügelspitze erwischte Anvar im Gesicht, als ob sie gegen ihn kämpfte. Obwohl er sie gern getröstet hätte, konnte er nur hilflos keuchen. Es gelang ihm nicht, wieder zu Atem zu kommen, und außerdem machte ihm ein schweres Seitenstechen zu schaffen. Er spürte ein warmes, klebriges Blutrinnsal an seinem Bauch und seinen Rippen, dort, wo die Haut von den Kanten über der Kluft aufgerissen worden war. Wie alle Fleischwunden brannten die Abschürfungen furchtbar, und der Schweiß, der seinen Körper durchnäßte, verschlimmerte den Schmerz noch.

Obwohl Aurians Enthüllung ihn zutiefst verblüfft hatte, waren das einzige, was er vor sich sehen konnte, die Kiefer der Kluft, die sich schlössen … schlössen …

Rabes Raserei hatte ein Ende gefunden. Bohan tröstete sie mit seiner schweigenden, zuverlässigen Gegenwart. Der kleine Raum war beinahe überfüllt, als Aurian sich zu ihnen gesellte. »Bedeckt eure Augen!« Ihre Stimme scholl durch die Dunkelheit. Selbst durch seine geschlossenen Augenlider und die schützenden Hände hindurch konnte Anvar das Aufblitzen von Maguschlicht sehen, aber einen entsetzlichen Augenblick lang passierte überhaupt nichts. Er kämpfte gegen eine überwältigende Panik und sah sich selbst gefangen und zerschmettert in dem zusammenbrechenden Turm. Plötzlich, nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, sprang ihm der Magen in die Kehle, während der Raum in einer Folge ruckartiger, bebender Bewegungen in die Tiefe schoß. »Dank den Göttern, ich dachte schon, wir wären zu spät weggekommen!« Aurians nüchterne Stimme war wie Balsam. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ Anvar sich in das Vergessen der Bewußtlosigkeit fallen.

»Hier, mein Freund – ist es so besser?«

Das war es tatsächlich. Der feuchte Stoff fühlte sich auf Anvars Gesicht weich und kühl an und wusch den körnigen Staub, der ihm in Mund und Augen saß, fort. Er öffnete die Augen und sah die plumpe, tröstliche Gestalt von Eliizars Frau. »Aurian, er wacht auf«, rief sie.

Der fröhliche Klang ihrer Stimme beruhigte Anvar – bis er die Magusch sah. Aurian hatte sich verändert. Sie füllte sein ganzes Bewußtsein, sah größer aus, wilder, kraftvoller und schöner, als er sie je zuvor gesehen hatte; sie war erfüllt von einer inneren Glut und einer ehrfurchtgebietenden Kraft, die sie umgab wie ein Umhang aus Licht. Anvar schluckte. Das war eine Göttin – eine mächtige Königin der Legende. Das war nicht seine Aurian.

»Was ist mit dir passiert?« Er bekam die Worte nur mit Mühe heraus, denn ihre Gegenwart erfüllte ihn mit Angst, und er mußte gegen den Drang, vor ihr zurückzuweichen, ankämpfen. »Du hast dich verändert!«

Aurian schüttelte den Kopf. »Ich bin immer noch die alte, fürchte ich. Sehe ich denn so schrecklich aus?« An die Stelle ihres Lächelns war nun ein flüchtiges Stirnrunzeln getreten.

»Nein. Nicht schrecklich.« Irgendwie beruhigte ihn ihre Unsicherheit. »Prachtvoll.«

Die Magusch zog eine Grimasse. »Und das versetzt jedem hier so einen Schock? Eliizar wäre bei meinem Anblick um ein Haar ohnmächtig geworden.«

Anvar wußte, daß sie seiner Frage mit Absicht auswich. »Was ist mit dir passiert?« beharrte er.

»Weißt du nicht mehr? Ich habe ihn gefunden, Anvar. Den Stab der Erde!«

Aus einer Falte in ihrem Gewand, die das blendende Licht verborgen hatte, zog Aurian den Stab hervor, und Anvar erzitterte vor der Kraft, die durch das schlanke, glühende Holz pulsierte. Das war also die Quelle des Feuerst das Aurian erfüllte. Aber … Anvar runzelte die Stirn. Es war Aurians alter Stab, nur verändert. An der Spitze, wo es keinen Schmuck gegeben hatte, erhoben sich nun die Zwillingshäupter der Schlangen und hielten in ihren geöffneten Kiefern einen grünen Edelstein, der sogar noch heller als die Sonne selbst zu glühen schien. Anvar bedeckte seine Augen, denn er war unfähig, den leuchtenden Stein direkt anzusehen.

Aurian verstaute den Stab wieder in ihrem Gewand und verbarg sein Licht. »Wenn ich erst gelernt habe, ihn richtig zu beherrschen …« Sie sprach mit ruhiger Stimme, aber in ihren Augen funkelte wilde Erregung. »Zumindest werden wir dann eine Waffe gegen Miathan haben!«

Anvar erzitterte in plötzlicher Furcht, als er an das Erdbeben dachte, das sie alle beinahe getötet hätte – und an das, was der Erzmagusch mit dem Kessel getan hatte. Würde Aurian bei der Verfolgung ihrer Rache ebensolche Zerstörung hinter sich zurücklassen?

Anvar bemerkte, daß Aurians Gesicht von Anstrengung verzerrt war. Sie bemühte sich nach Kräften, ihrer Stimme einen leichten, ruhigen Klang zu geben, als sie fortfuhr, wobei sie zu schnell sprach, als daß er eine Chance gehabt hätte, sie zu unterbrechen. »Ich habe die Schrammen geheilt, die du hattest – sie waren voll von dem Dreck aus diesem Erdspalt. Du wirst dich wohl eine Weile ziemlich schwach fühlen. Nereni macht uns etwas zu essen, und ich gehe jetzt und wecke Rabe. Sie war so hysterisch, daß ich sie für eine Weile in Schlaf versetzt habe. Bevor sie aufwacht, möchte ich etwas wegen der Sprache unternehmen. Sie kann uns verstehen, aber jetzt, da wir wieder bei den anderen sind, wird es Probleme geben. Wenn ich es schaffe, daß sie die Sprache der Khazalim verstehen, können wir uns alle miteinander unterhalten.«

»Kannst du das denn?« Anvar war überrascht.

»Nun ja – ich habe noch nie gehört, daß jemand so etwas versucht hätte, aber ich denke, es sollte mir gelingen. Vergiß nicht, ihre Vorfahren waren ebenfalls Magusch, bevor sie ihre Kräfte verloren. Die Beherrschung fremder Sprachen sollte ihr im Blut liegen; ich muß diese Fähigkeit nur freisetzen. Bevor Anvar etwas erwidern konnte, war Aurian auch schon verschwunden.«

»Geht es dir gut?« Nereni klang ängstlich besorgt.

Anvar hatte ganz vergessen, daß sie da war. »Ich bin nur müde«, sagte er zu ihr. Nereni nickte.

»Kein Wunder, daß die Sache dich ziemlich mitgenommen hat«, sagte sie. »Hier unten haben wir gedacht, der ganze Berg würde über uns zusammenbrechen.« Mit einem besorgten Stirnrunzeln sah sie hinüber zu Eliizar, der sich um Shia und Bohan kümmerte. Obwohl es ihnen den Umständen entsprechend gar nicht so schlecht ging, war das Gesicht des Schwertmeisters aschgrau.

»Anvar …« Nereni zögerte. »Was ist da oben passiert? Was hat dieses Erdbeben hervorgerufen? Aurian hat sich verändert – genug, um Eliizar vor Angst fast um den Verstand zu bringen, als ihr durch die Wand im hinteren Teil der Höhle kamt.«

Dort waren sie also herausgekommen. Anvar hatte sich schon gefragt, wie es Aurian gelungen war, sie zurückzubringen. »Hattest du denn keine Angst vor ihr?« erkundigte er sich, wobei er ihren Fragen sorgfältig auswich.

Nereni zuckte mit den Schultern. »Das kann ich nicht einmal mehr sagen – ich war so erleichtert, euch alle wiederzusehen, daß ich keinen Augenblick lang daran gedacht habe …« Sie lächelte vertrauensvoll. »Manchmal glaube ich, daß Frauen praktischer veranlagt sind als Männer – aber laß es niemals Eliizar hören, daß ich das gesagt habe? Wie dem auch sei, du mußt jetzt etwas essen. Ich werde uns eine Mahlzeit zubereiten, und dann könntest du mir ja vielleicht erzählen, wie ihr die da gefunden habt.« Sie zeigte auf Rabe, die mittlerweile wach war und sich leise mit Aurian unterhielt, und zwar, wie Anvar zu seiner Überraschung feststellte, in der Sprache der Khazalim. Ich hätte nie geglaubt, daß sie das schaffen würde, dachte er und erschauderte innerlich. Welche anderen Kräfte mochte die Magusch jetzt noch zu ihrer Verfügung haben?

Nach einer Weile überredete Aurian Rabe, sich zu den anderen ans Feuer zu setzen, und Anvar war erleichtert, festzustellen, daß das geflügelte Mädchen für Nerenis mütterliche Fürsorge wirklich dankbar war. Während sie aßen, senkte sich die Nacht über die Wüste draußen. Aurian sah zu Anvar hinüber. »Ich glaube, die Zeit ist gekommen, unseren Freunden zu erzählen, was uns nach Süden gebracht hat.«

Und so machte sie sich daran, den anderen von Miathans Verrat zu erzählen, der sie und Anvar in die Südlichen Königreiche geführt hatte. Anvar bemerkte, daß sie nicht ein einziges Wort über Forral verlor, ebensowenig wie über die Tatsache, daß sie und Anvar nicht verheiratet waren, wie sie behauptet hatten. Und er wunderte sich darüber. Aber vielleicht hatte sie recht. Es konnte nichts schaden, und angesichts der Bräuche dieser Leute war es sicher bequemer, ihre Scharade noch für eine kleine Weile aufrechtzuerhalten? Ohne irgend jemandem Zeit zu geben, etwas zu sagen, stürzte sie sich auf die Ereignisse, die sich im Berg zugetragen hatten, und erzählte, wie sie in den Besitz des Stabs der Erde gekommen war.

Anvar war sicher, daß Aurian, was diesen Teil ihrer Erzählung betraf, einiges ausgelassen hatte. Sie waren sich so nahegekommen, nachdem sie ihm im Sklavenlager das Leben gerettet hatte, daß er instinktiv wußte, wann sie etwas verbarg. Er spürte ein wachsendes Gefühl der Beklommenheit in sich aufsteigen. Warum hatte Aurian verschwiegen, was geschehen war, nachdem sie sich am vergangenen Abend getrennt hatten? Was hatte sie zu dem Smaragdturm hingeführt? Sie behauptete, die Tür habe sich geöffnet, als sie sich daran gelehnt hätte. Da er jedoch dasselbe versucht hatte, wußte er, daß das wohl ein Märchen war. Anvar kämpfte gegen seinen Verdacht. Was versuchte sie zu verbergen?

»Dann sagte der Drache, daß ich bewiesen hätte, daß das Schwert für mich geschmiedet wurde.« Aurians Worte holten Anvar abrupt in die Gegenwart zurück.

»Du hast das Schwert?«

Die Magusch schüttelte den Kopf. »Es wurde in ein Versteck gebracht. Das Drachenvolk hat es den Phaerie gegeben, damit sie es aus der Welt nahmen. Wenn die Seher recht hatten, werden sie der Welt das Schwert zurückgeben, wenn die Kunde von diesem neuen Bösen sie erreicht. Der Drache hat mir erzählt, daß ich es finden und die Fallen, die zu seinem Schutz aufgestellt wurden, überwinden müsse. Er sagte, die Phaerie hätten einen großen Ansporn, ihre Seite des Handels zu erfüllen, und wenn das Schwert erst der Welt zurückgegeben wird, würde seine Gegenwart mich früher oder später ganz von selbst zu ihm hinziehen.«

Eine tiefe Stille folgte auf ihre Worte. Alle Augen waren auf die Magusch gerichtet. Anvar versuchte ihren Blick aufzufangen, aber sie biß sich auf die Lippen und sah weg. »Und was ist mit den fehlenden Teilen der Geschichte?« wollte er wissen. »Wie bist du wirklich in diesen Turm hineingelangt? Woher wußtest du überhaupt, daß er da war? Wenn es diesen Drachen gibt, wo ist er jetzt? Und, was noch wichtiger ist, was hast du getan, um die Stadt zu zerstören?«

»Willst du behaupten, ich hätte gelogen?« Aurians Stimme war gefährlich ruhig. Anvar sah Schmerz und Enttäuschung auf dem Gesicht der Magusch und wußte, daß er sehr hart zu ihr war – vielleicht auch unfair –, aber er mußte die Wahrheit wissen. Der Stab war zu mächtig, als daß er das Risiko hätte eingehen dürfen, daß er Aurian verdarb – so, wie der Kessel Miathan verdorben hatte. Bei diesem Gedanken wurde er sich plötzlich unbehaglich der Tatsache bewußt, daß die anderen ihm zuhörten. Eliizars Gesicht war starr vor Angst und Mißtrauen angesichts all dieses Geredes über Zauberei, und plötzlich verstand Anvar den uralten Drang der Magusch, ihre Angelegenheiten für sich zu behalten. Dies hier mußte er mit Aurian allein austragen.

»Wir müssen reden«, sagte er mir leiser Stimme zu ihr, wobei er ihre eigene Sprache benutzte, aber seine Worte gingen in dem lauter werdenden Klang von Hufen auf Stein unter. Anvar drehte sich um und sah die verschleierte, schattenhafte Gestalt eines Reiters, der durch den Höhleneingang kam und sich tief duckte, um sich nicht den Kopf zu stoßen. Hinter sich zog er einige Pferde mit. Die Bewegung von Tieren und Reiter ließ die Fackeln aufflackern und qualmen.

Eliizar stieß einen Freudenschrei aus. »Yazour!«

Sie scharten sich um den jungen Hauptmann, wobei alle gleichzeitig sprachen und alle anderen Fragen für den Augenblick vergessen waren. Yazour ließ die Pferde, die er angeführt hatte, los, und die durstigen Tiere, die mit den Sitten Dhiammaras vertraut waren, machten sich auf den Weg die Rampe hinauf zu dem oberen Becken, wobei sie ihre Lasten einfach mit sich nahmen. Nereni überredete die anderen, den müden jungen Mann wenigstens so lange in Ruhe zu lassen, daß er sich ans Feuer setzen konnte, wo sie sich alle abermals mit erwartungsvollen Gesichtern versammelten.

Yazour nahm dankbar einen Schluck aus dem Wasserschlauch und rieb sich eine Handvoll Wasser über sein staubiges, unrasiertes Gesicht, bevor er die anderen ansah. »Ihr seid alle hier – einschließlich unserer verschwundenen Lady! Ich sehe, ihr habt die Vorräte also gefunden – und wer ist das da?« Voller Verwunderung blickte er zu Rabe hinüber, die sein Lächeln scheu erwiderte.

Eliizar grinste; offensichtlich fühlte er sich jetzt, da ein weiterer Krieger zurückgekehrt war, viel wohler in seiner Haut. »Ich habe unsere Wette gewonnen«, sagte er zu Yazour. »Wie du siehst – die Geflügelten gibt es wirklich!«

»Tatsächlich – und wenn du mir gesagt hättest, daß sie so hübsch sind, Eliizar, wäre ich höchst persönlich in diese Berge hinaufgeklettert, um sie zu suchen!«

Rabe wurde dunkelrot, und Anvar mußte trotz seiner Sorgen lächeln.

»Ich wünschte nur, ich wäre früher gekommen«, sagte Yazour, »aber ich hatte schließlich einen Treueid geschworen …« Traurig schüttelte er den Kopf. »Die Entscheidung ist mir wirklich nicht leichtgefallen, aber das, was der Khisal getan hat, hat mich derartig angewidert – nun, am Ende konnte ich es einfach nicht mehr aushalten. Ich wußte, daß ich zu euch zurückkehren mußte. Ich habe die Wache überredet, ein Auge zuzudrücken, als ich mich davongemacht habe – ich habe den Mann bewußtlos geschlagen, um ihn vor dem Zorn Harihns zu retten, wenn meine Flucht entdeckt wird –, und dann bin ich, so schnell ich konnte, zurückgeritten.«

»Und es ist unmöglich, daß der Prinz dir gefolgt ist?« Aurians Stimme klang scharf vor Besorgnis.

Yazour schüttelte den Kopf, und sein Gesicht zeigte plötzlich einen trostlosen Ausdruck. »Nicht einmal Harihn wäre so dumm. Er wird seine eigene Haut retten wollen. Weißt du, wir befinden uns in größter Gefahr, Aurian. Das Wetter hat sich ganz gegen den Gang der Jahreszeiten entwickelt, und wir müssen morgen abend sofort aufbrechen und die Wüste hinter uns bringen, so schnell wir können. Es wird eine schwierige Reise werden – wir sind mit dem wenigen, das ich mitbringen konnte, schlecht ausgerüstet –, aber wir müssen uns beeilen, wenn uns unser Leben lieb ist. Die Sandstürme können jederzeit losbrechen, und wenn wir vorher nicht in Sicherheit sind …«

Das mußte Eliseths Werk sein. Anvar ballte die Fäuste. Die Magusch verschwendeten keinen einzigen Gedanken an die unschuldigen Menschenleben, die sie vielleicht opferten – oder bereits geopfert hatten –, nur um Aurian zu vernichten. Diese Überlegung verschlimmerte seine Sorgen um Aurian nur noch. Wozu würde sie fähig sein, jetzt, da ihr diese neue Macht zu Gebote stand? Er blickte dorthin, wo sie saß und leidenschaftlich mit Yazour Pläne schmiedete. Was war aus dem Vertrauen geworden, das sie einst geteilt hatten? Warum hatte sie gelogen?

In der Aufregung über Yazours Rückkehr hatte Anvar eine Zeitlang keine Gelegenheit, mit der Magusch zu sprechen, aber endlich, nachdem die Dämmerung angebrochen war, legten sich alle schlafen, um sich auf die bevorstehenden Strapazen vorzubereiten. Aurian war ihm den ganzen Abend über aus dem Weg gegangen, und nun zog sie es vor, sich auf die andere Seite der Gruppe zu legen, neben Shia. Anvar stellte fest, daß er ihre Gegenwart an seiner Seite sehr vermißte, und schimpfte sich selbst einen Narren. Aber sowohl er sich vorgenommen hatte, wach zu bleiben, um sie unter vier Augen zur Rede zu stellen und nach den Ungereimtheiten in ihrer Geschichte zu fragen, weigerten sich seine Augen, offenzubleiben, und schon bald war er fest eingeschlafen.

Ein vages, unklares Gefühl der Unruhe zog Anvar wieder aus dem Schlaf, während das helle Mittagslicht noch immer durch die Öffnung der Höhle schimmerte. Er öffnete die Augen, setzte sich auf und stellte fest, daß Aurian verschwunden war. Die Magusch war jedoch nicht weit weg. Anvar fand sie allein neben dem Becken .Sie wurde von Schluchzern geschüttelt und hatte die Knöchel ihrer Hand fest auf ihren Mund gepreßt, als sie mit der unendlich traurigen Verlassenheit eines verletzten Kindes weinte. Sorge und Mitleid überwältigten ihn, und in diesem Augenblick wußte Anvar, daß er sie lieben würde – was auch immer aus ihr geworden sein mochte, was auch immer sie mit ihrer neuen ehrfurchtgebietenden Macht tun mochte. Er würde sie lieben.

Aurian, die ganz in ihrem Kummer aufging, reagierte kaum, als Anvar sich neben sie setzte. »Weine nicht«, murmelte er, denn er wußte nicht recht, wie er sie trösten sollte. »Es ist alles gut – ich bin ja hier.«

»Na, und wenn schon? Du glaubst, ich wäre eine Lügnerin!« Anvar prallte zurück angesichts der Gehässigkeit in Aurians Stimme. Da er ihre aufgewühlten Gefühle spürte, zwang er sich selbst zur Ruhe.

»Es wäre nicht das erste Mal, daß ich mich in bezug auf dich geirrt hätte. Du hast mir, seitdem wir uns getroffen haben, immer wieder gezeigt, daß ich mich irrte, und ich bin froh darüber.« Da sah sie ihn endlich an – mit einem flehentlichen Blick, der ihm wie ein Dolch ins Herz fuhr. Er versuchte, sie in seine Arme zu nehmen, aber sie schob ihn von sich.

»Der Drache«, begann sie zitternd und ohne ihn anzusehen. Plötzlich schien sie es sehr eilig zu haben, mit ihm zu reden. »Du wolltest doch wissen, was aus dem Drachen geworden ist. Nun, er ist tot. Ich habe ihn getötet – so, wie ich die Stadt zerstört habe.«

Anvar zwang sich, ruhig zu bleiben, denn er wußte es besser, als sie zu unterbrechen, jetzt, da sie endlich zu sprechen begonnen hatte.

Aurian bemühte sich nun nach Kräften, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. »Die Stadt, Anvar, sie war überhaupt nicht da. Was wir gesehen haben – was wir erlebt haben –, war die weit entfernte Vergangenheit. Als das Drachenvolk Dhiammara verließ, zerstörte es die Stadt, versiegelte sie jedoch im Augenblick ihrer Zerstörung in der Zeit, bis der Führer des Schwertes kommen würde. Sobald das geschah, wurde der Zauber aufgehoben, und die Stadt begann zusammenzubrechen.« Ihre Stimme brach, und sie schluchzte. »Ich wollte dem Drachen helfen, ich wollte ihn abermals aus der Zeit nehmen, aber er hat es nicht zugelassen. Er sagte, er habe es vorgezogen, zurückzubleiben, und nun, da ich gekommen sei, sei seine Aufgabe erfüllt.« Eine Träne rollte ihr über die Wange. »Er war nicht besonders liebenswert, Anvar – er war arrogant und hinterhältig und übellaunig, aber … Oh, er war wunderschön und klug – und er sprach mit Musik und Licht! Er hat so lange gewartet, und nach allem, was wir wissen, könnte er der letzte seiner Art gewesen sein, und es war meine Schuld!« Aurian begann wieder zu weinen und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. »Ich habe ihn nicht einmal nach seinem Namen gefragt.«

»Schscht.« Anvar strich der Magusch übers Haar. Ihr Kummer schmerzte ihn, aber gleichzeitig hätte er am liebsten getanzt vor Erleichterung. Wie konnte diese Frau, die den Tod von Schönheit und Mut und Selbstaufopferung betrauerte, sich dem Bösen zuwenden? »Es war nicht deine Schuld«, tröstete er sie. »Du hast es dir nicht ausgesucht, derjenige zu sein, auf den er wartete. Dieser Weg wurde für dich bestimmt; für uns alle. Der Drache hatte recht, Aurian. Er starb Jahrhunderte vor unserer Zeit. Was du gesehen hast, war ein Geist, wenn du so willst – in einer Stadt der Geister.«

Mit einem nur halb ausgesprochenen Fluch drehte Aurian sich um und starrte ihn an. Sie hatte ihre wilden Augen weit aufgerissen und eine Hand erhoben, um sie über ihren Mund zu legen.

»Woher wußtest du das?«

»Was immer es ist, ich habe es nicht gewußt. Willst du es mir nicht erzählen?«

»Nein, das will ich nicht. Du würdest mir nur wieder nicht glauben!«

»Sieh mal, es war falsch von mir –«

Aurian brachte ihn mit einer schroffen Handbewegung zum Schweigen. »Diese Macht, mit der wir es hier zu tun haben – nun, du hattest recht, besorgt zu sein. Die Versuchung, dem Bösen anheimzufallen, wie Miathan es getan hat, ist groß, und wir müssen einander ständig bewachen. Das ist auch der Grund, weshalb ich dir eigentlich alles hätte erzählen sollen. Es ist nur so, daß … . Ich konnte es vorher nicht. Es hat zu weh getan. Aber …« Mit leiser, zitternder Stimme erzählte sie ihm von ihrer Begegnung mit der Erscheinung Forrals und davon, wie er sie zu dem grünen Turm geführt hatte.

Anvar war sprachlos vor Entsetzen. Forrals Geist – der sie heimsuchte – der sie beobachtet … Er schauderte, denn er wollte das nicht akzeptieren, wollte es nicht glauben. Irgendwie fand er schließlich seine Stimme wieder. »Aurian – vergib mir –, aber bist du sicher, daß du dir das nicht nur eingebildet hast?«

»Wie könnte ich, du Narr? Forral hat mich zu dem Turm gebracht. Wie sonst hätte ich ihn so schnell finden können? Ich wußte ja, daß du mir nicht glauben würdest.«

»Ich glaube dir ja – und es tut mir leid, daß ich vorher an dir gezweifelt habe.« Er schluckte. »Ich wünschte nur, ich hätte dich nicht gezwungen, mir davon zu erzählen, das ist alles. Es macht mir angst, Aurian.«

»Nach dem, was ich an dem Abend, als ich Forral sah, zu dir gesagt habe …« Aurian wandte den Blick von ihm ab und zog die Decke fester um sich.

»Damit hat das nichts zu tun.«

»Anvar«, unterbrach sie ihn entschlossen, »ich schulde dir eine Entschuldigung deswegen. Wir alle haben unsere Rolle in diesem schrecklichem Stück gespielt – du, ich und Forral selbst, obwohl es mir weh tut, das zuzugeben. Aber ich mache dich wirklich nicht für seinen Tod verantwortlich, genausowenig wie er – das weiß ich jetzt. Was sonst hättest du tun können? Allein konntest du den Erzmagusch nicht bekämpfen. Forrals Reaktion – und Miathans – war nicht deine Schuld. Du hast nur versucht, zu helfen.«

Anvar seufzte. »Ich wünschte nur, ich könnte mich ebenso leicht freisprechen.«

»Ist das der Grund, warum du mit mir gekommen bist? Schuldgefühle?« Ihre Stimme klang scharf.

Anvar fuhr sich geistesabwesend mit den Fingern durchs Haar, denn er hätte dieses Gespräch am liebsten nicht fortgesetzt, aber irgendwie fühlte er sich trotzdem gezwungen, ihre Frage zu beantworten. »Zuerst war es das – Schuldgefühle und Angst, um ehrlich zu sein. Später, nachdem du mich im Sklavenlager gerettet hast, habe ich mir selbst eingeredet, es sei Treue und Dankbarkeit.« Er sah der Magusch in die Augen. »Aber ich habe mich geirrt. Jetzt will ich nichts anderes, als mit dir Zusammensein und mich um dich und das Kind zu kümmern.«

»Das Kind?« Die beiden Worte enthielten eine Welt von Fragen.

»Das Kind liegt mir am Herzen, weil ich Forral etwas schuldig bin, aber auch weil – nun ja, ich habe das Gefühl, es gibt ein Band zwischen uns. Es ist wie ich ein Abkömmling von Magusch und Sterblichen, nicht ganz das eine und nicht ganz das andere. Ich weiß, was das für ein Gefühl ist, Aurian, und obwohl es nicht das Kind meines Körpers sein kann, ist es doch das Kind meines Herzens – nicht zuletzt wegen der Gefühle, die ich für seine Mutter hege.«

Aurian sah ihn verwundert an. »Das habe ich nicht gewußt. Irgendwie habe ich das Ganze niemals so gesehen.«

»Es macht dir nichts aus?« Anvar hielt den Atem an.

Sie schüttelte den Kopf. »Wie sollte es mir etwas ausmachen? Außerdem, jetzt, da meine Kräfte mich bald verlassen werden – nun, ich schäme mich nicht zuzugeben, daß ich dich brauche, Anvar – daß wir beide dich brauchen.« Endlich lächelte sie wieder, und Anvar mußte sich zusammennehmen, um das zarte neue Band zwischen ihnen nicht zu zerstören, indem er sie augenblicklich an sich zog und küßte. Statt dessen umarmte er sie und zerzauste ihr Haar und versuchte, die Zärtlichkeit in seiner Stimme hinter Entschlossenheit zu verbergen.

»Nun, da wir das jetzt erledigt haben, würde ich vorschlagen, daß wir etwas schlafen. Es ist schon bald Zeit zum Aufbruch.«

Anvar erwachte, als der Abend dämmerte, und Aurian lag fest schlafend in seinen Armen. In ihrem unbewachten Schlummer hatte der Glanz des Stabes ein wenig nachgelassen, und sie sah erschöpft und verletzlich aus und wieder sehr menschlich. Unter der dünnen Decke war nun auch die leichte Wölbung ihres Bauches zu sehen, und eine tiefe Zärtlichkeit für die Magusch und ihr ungeborenes Kind überflutete ihn. Widerspenstige Strähnen ihres Haares, für dessen Pflege sie seit dem radikalen Schnitt auf dem Weg nach Taibeth nichts mehr getan hatte, lagen kreuz und quer über ihrem Gesicht und bewegten sich sanft im Rhythmus ihres Atems. Anvar lächelte und dachte an ihr Haar, als es ihr noch in einem Schwall feurigen Rots über die Taille gereicht hatte. Und er dachte daran, wie sehr er es in jener Nacht, bevor Forral gestorben war, genossen hatte, es für sie zu kämmen. Wie wunderbar sich sein seidenes Gewicht angefühlt hatte, während es ihm durch die Finger lief! Schon damals habe ich sie geliebt, dachte er. Ich habe sie geliebt und konnte es mir selbst nicht eingestehen. Wie hätte ich auch, da ich nichts was als ihr Diener? Wie kann ich es eigentlich wagen, es jetzt zuzugeben?

Sie wird mich niemals lieben – nicht bei all dem, was zwischen uns steht, der Erinnerung an die Vergangenheit und dem Geist von Forral, der unser Leben überschattet. Wenn ich in jener Nacht nicht zu ihm gegangen wäre, würde er vielleicht noch am Leben sein. Gleichgültig, welche Entschuldigungen Aurian für mich findet, wie könnte ich je erwarten, daß sie mich nach dieser Nacht noch lieben kann?

In diesem Augenblick jedoch, als er hinunter auf die schlafende Magusch blickte, erhärtete sich Anvars Entschluß. Ich schulde ihr etwas, dachte er. Eine Blutschuld für Forrals Leben. Selbst wenn es mich mein eigenes Leben kosten sollte, muß diese Schuld beglichen werden – und eines Tages werde ich einen Weg finden, das zu tun.

Anvar streckte die Hand aus, als würde er seinen Schwur besiegeln, indem er sie berührte, und ganz sanft strich er der Magusch ihre widerspenstigen Locken aus dem Gesicht. Zu seinem Unbehagen bewegte sie sich und öffnete die Augen. Er riß seine Hand zurück, als hätte er sich verbrannt, während die rohe Macht des Stabs der Erde lodernd wieder in ihr zum Leben erwachte. Aber sie lernte bereits, diese Macht zu beherrschen. Noch während er hinsah, wurde der Glanz etwas schwächer, als Aurian versuchte, die Energie des Stabes in sich selbst aufzunehmen.

Aurian seufzte. »Ist es schon Morgen?« murmelte sie schläfrig.

Anvar blickte zur Öffnung der Höhle hin und wünschte sich, daß sie nicht immer in solcher Eile wären; wie sehr sehnte er sich danach, eine Weile mit ihr allein sein zu dürfen. Aber ein solcher Luxus schien im Augenblick so unerreichbar wie der Mond.

»Abenddämmerung, würde ich sagen«, erwiderte er. »Wir sollten besser die anderen wecken. Es ist Zeit, zu gehen.«

Der Rest der Reise durch die Wüste nahm noch eine Reihe von Tagen in Anspruch – einige der schlimmsten Tage, die Aurian jemals erlebt hatte. Immer auf der Hut vor den unmittelbar bevorstehenden Stürmen, drängte Yazour sie unerbittlich zur Eile und trieb sie und ihre Pferde bis an den Rand ihrer Kräfte. Die Magusch stellte fest, daß sie Rabe beneidete, die vorausgeflogen war, von einer Oase zur anderen, um sich, so schnell sie nur konnte, am Rande der Wüste in Sicherheit zu bringen. Da Yazour es nicht geschafft hatte, irgendwelche Zelte für sie mitzubringen, waren sie gezwungen, die glutheißen Stunden des Tageslichts im Freien zu verbringen, im Schatten von provisorischen Hütten aus Decken, unter denen sie sich und den Pferden die Augen verbinden mußten, um das blendende Funkeln zu dämpfen. Da sie keine Lasttiere hatten, waren Essen und Wasser streng rationiert, und sie alle litten schwer unter Hunger und Durst.

Das schlimmste von allem war jedoch die grausame Hitze.

Während des früheren Teils ihrer Reise hatte immer ein unruhiger Nachtwind geweht, um sie, während sie ritten, zu kühlen. Aber dieser Wind hatte sich mit dem ungewöhnlichen Wetterwechsel gelegt und die Wüste so zu einem erstickenden Glutofen gemacht. Jede Nacht erhob sich die aufgestaute Hitze des Tages wie in einer Welle vom Wüstenboden, um die Reiter zu verschlingen, und die Luft war schwer und drückend. Die verkrusteten Felle der Pferde waren dunkel und schweißdurchtränkt. Ihr Atem, behindert von Wolken aus Juwelenstaub, kam gequält und wimmernd aus ihren pfeifenden Lungen. Auch die Reiter waren von Schweiß durchnäßt, der ihnen unter ihren unangenehm klebrigen Schleiern brennend in die Augen lief; Schweiß, der ihre Wüstengewänder klamm an ihre Leiber preßte, während die lebensspendende Feuchtigkeit sich in der trockenen Wüstenluft verlor.

Shia mit ihrem dicken Pelz des Bergbewohners hatte besonders schwer zu leiden. Zumindest waren die anderen in der Lage, zu reiten, aber sie war gezwungen, auf ihren eigenen Beinen hinter den Pferden herzulaufen. Da sie für kurze, schnelle Sprints gebaut war, ging der grausame Marsch über den brennenden Sand beinahe über ihre Kräfte. Und sie hatte nicht nur unter furchtbarer Müdigkeit und dem Durst zu leiden; die ständige Reibung auf dem heißen Juwelenstaub hatte ihre Pfoten aufgeschürft, hatte zu schmerzhaften Blasen geführt, und es dauerte nicht lange, bis Shia eine Spur blutiger Fußabdrücke hinter sich herzog.

Nur ihre Liebe zu der Magusch hielt sie aufrecht, und jeden Tag, wenn Aurian sich eigentlich hätte ausruhen sollen, um selbst neue Kraft zu schöpfen, verausgabte sie sich, indem sie die leidende Katze heilte und versuchte, Shia genug von ihrer eigenen, schwindenden Energie zu leihen, um weiterzugehen. Anvar, dessen Besorgnis stetig wuchs, tat sein möglichstes, um zu helfen, aber er war kein Heiler, und seine Bemühungen hatten wenig praktischen Nutzen, abgesehen davon, daß er der Magusch zusätzliche Stärke lieh, so daß sie auch den nächsten Tag noch irgendwie bewältigen konnte.

Während die Zeit verstrich, wuchs Aurians Verzweiflung immer mehr. Die Durchquerung der Wüste war ein Wettrennen gegen die Zeit, und sie wußte, daß sie es verlor. Ihr Körper wurde wegen ihrer fortschreitenden Schwangerschaft immer unbeholfener, und das Reiten fiel ihr von Tag zu Tag schwerer. Sie wußte, daß sie mit dem Stab der Erde ihre eigenen, schwindenden Kräfte überstrapazierte, die nun um so schneller versiegten. Schon bald würden sie ganz verschwunden sein. Wann immer sie daran dachte, wurde sie von einer Woge erstickender Panik überwältigt. Wie konnte sie dann Shia noch helfen? Wie konnte sie sich und ihr Kind beschützen und ihre Freunde vor dem Bösen des Erzmagusch und seiner Komplizin Eliseth bewahren?

Das schlimmste von allem war, daß Shia nach dem Gesetz der Wüste eigentlich zurückgelassen werden mußte. An den schlimmsten Tagen bat die Katze sie sogar darum und blickte mitleiderregend zu den beiden Magusch auf, mit Augen, die schon weit entfernt und glasig waren und die flehentliche Bitte enthielten, sie von ihrem Leiden zu erlösen. Aurian biß dann die Zähnen zusammen und verbot es Anvar mit ihrem stahlharten Blick, den anderen zu erzählen, was Shia gesagt hatte. Aber sie alle dachten bereits daran – Aurian konnte es in Nerenis häufigen Tränen sehen und in der schuldbewußten Art, wie Eliizar und Yazour ihren Blicken auswichen. Selbst Bohan, ihr treuer Turm der Stärke, schien sich langsam unwohl zu fühlen, und zum Schluß, das wußte sie, würde sie es auch noch mit Anvar aufnehmen müssen. Obwohl er sie bisher in dieser Hinsicht nicht bedrängt hatte, wußte sie, daß seine Sorge für sie und das Kind ihn schließlich zu der unausdenkbaren letzten Möglichkeit treiben würde. Alles, was Aurian tun konnte, war, sich gnadenlos zu verausgaben und sich mit der gesamten Stärke ihres unbeugsamen Willens zu zwingen, ihnen allen zu trotzen und Shia irgendwie bis an das Ende ihrer Reise hinüberzuretten.

Sie waren noch immer einige Tage vom Rand der Wüste entfernt, als das Schlimmste geschah und Aurian unter der Hitze und ihrer eigenen Erschöpfung zusammenbrach. Die anderen hatten immer in diesem heißen Klima gelebt und gelernt, die grausamen Temperaturen zu ertragen, und Anvar hatte in seiner furchtbaren Zeit im Sklavenlager ein gewisses Maß an Widerstandsfähigkeit erlangt. Aurian dagegen war in den Südlichen Königreichen stets nur verhätschelt worden; zuerst als eine der Erwählten der Arena und dann in der kühlen Behaglichkeit von Harihns Palast. Und dennoch hätte sie es vielleicht überstanden, wenn sie selbst sich nicht über die Grenzen ihrer Kraft getrieben hätte. Jeden Tag wurde ihr Zustand schlechter, bis sie schließlich dem erlag, was Yazour die Hitzekrankheit nannte.

Obwohl ihre Gewänder klebrig an ihr hafteten, zitterte Aurian am ganzen Körper. Ihr Herz hämmerte, ihr war schwindlig und übel. Sie konnte kein Essen bei sich behalten und war zu schwach und zu fiebrig, um sich selbst zu heilen. Alles, was sie tun konnte, war, sich verzweifelt an den Knauf ihres Sattels zu klammern und zu versuchen, auf dem Pferd zu bleiben. Als sie schließlich die letzte Oase erreichten, mußte Anvar sie herunterheben, und sie spürte kaum, daß er das tat. Aber als er sie sanft auf den Boden bettete, hinderte etwas die Magusch daran, in das willkommene Vergessen des Schlafs zu sinken. Ein Schrei hallte durch ihre Gedanken – ein leiser, mitleiderregender Schrei um Hilfe. Aurian versuchte sich aufzusetzen und wehrte sich schwach gegen Anvars Hände, die sie festhalten wollten. Sie ignorierte den Schmerz, der durch ihren Kopf schoß. »Shia!« keuchte sie. »Wo ist Shia?«

Es kostete Anvar große Überzeugungskraft, Yazour dazu zu überreden, Shia zu suchen, aber Aurian regte sich so sehr auf, daß der Krieger schließlich nachgab. Es dauerte eine ganze Stunde, bis er wiederkam – die große Katze hing schlaff vor ihm über seinem taumelnden, verschreckten Pferd. In der Zwischenzeit hatte Nereni den fiebrigen Leib der Magusch mit kühlem Wasser aus der Oase abgewaschen, während Bohan ihr Wasser zu trinken brachte – soviel sie nur bei sich behalten konnte. Anvar war unruhig auf und ab gegangen, um einmal nach Aurian zu sehen und dann wieder mit langen Schritten zurückzulaufen, um hinaus in die Dünen zu spähen. Sein staubiges Gesicht zeigte tiefe Sorgenfalten, während er sich dafür verfluchte, daß er der Magusch nicht helfen konnte – und dafür, daß er sich solche Sorgen um sie gemacht hatte, daß er Shia vergessen hatte. Er half Bohan, die Katze von dem zitternden Pferd herunterzuheben, und legte sie neben Aurian. Dann strich er ihr über den glänzenden, schwarzen Kopf, der nun stumpf und rauh war von Staub, und lauschte dem schwachen Keuchen ihres gequälten Atems. Nach einer Weile öffnete Shia die Augen, und das Licht darin war nur ein schwaches Echo des früheren goldenen Glanzes. Ihr Gedanke ging so verschwommen durch Anvars Kopf wie ein dahinschwindender Fetzen Rauch. »Leb wohl.«

Anvar umklammerte ihre blutenden Pfoten und spürte, wie der Lebensfunke in der großen Katze flackerte, spürte, wie das Schlagen ihres großen Herzens zu stocken begann. »Leb wohl, meine Freundin«, flüsterte er.

»Zur Hölle mit ›Leb wohl‹!« Aurians Stimme schoß durch Anvars Trauer und traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Er drehte sich um und sah, wie sie sich aufsetzte; ihre Augen hatten ein grimmiges Glühen angenommen, und ihr Gesicht war bleich, aber entschlossen. Bevor er sie daran hindern konnte, hatte sie mit ihren Gedanken Shia erreicht und eine unwiderrufliche Verbindung mit ihrer sterbenden Freundin hergestellt.

Anvar fing den schlaffen Körper der Magusch auf, als er zur Seite glitt, jetzt ohne die Kontrolle ihres Geistes, der weit weg in einer undurchdringlichen Trance war, in der er darum kämpfte, Shias Seele festzuhalten. Hilflos und verzweifelt klammerte Anvar sich an Aurian, unfähig sie zu erreichen, und eisige Furcht griff nach seinem Herz. Er wußte, was sie da versuchte – hatte sie nicht dasselbe für ihn getan, damals im Sklavenlager, als sie seinen fliehenden Geist gesucht und sicher wieder heimgebracht hatte? Aber diesmal war sie schwach, erschöpft und krank. Diesmal hatte sie keine Kraft für einen solchen Kampf, keine Kraft, um Shia davon abzuhalten, sie mit sich hinunter in den Tod zu ziehen. Und sie würde keine Kraft mehr haben, zurückzukehren. Verzweifelt streckte Anvar seinen Geist aus, wie Aurian es ihn gelehrt hatte. Aber obwohl er suchte und suchte, wußte er doch, daß sie für ihn verloren war.

»Anvar!« Das schwache Echo einer vertrauten Stimme drang flackernd in sein Bewußtsein und riß ihn zurück. Eine Hand rüttelte grob an seinen Schultern. Zu seiner Überraschung sah Anvar den westlichen Horizont im letzten Licht erglühen. So lange war er weg gewesen? Furcht drohte ihn zu ersticken, aber dann spürte er die leise Bewegung des Atems in dem Körper, den er immer noch mit seinen verkrampften, schmerzenden Armen umklammert hielt, sah in dem leisen Heben und Senken der Rippen der großen Katze eine Antwort auf Aurians Bemühungen. Sie lebten also noch – und Aurian kämpfte weiter! Yazour ließ seine Schultern los und hockte sich vor ihm in den offenen Eingang des provisorischen Schutzzeltes aus Decken, das sie über Shia, der Magusch und Anvar erbaut hatten.

»Bei allem, was die Götter jemals ausgebrütet haben! Mann, ich war verzweifelt! Ich dachte schon, wir hätten euch alle drei verloren!« Yazours Gesicht zeigte eine Mischung aus Erleichterung, Sorge und Ärger. »Was ist passiert, Anvar? Was können wir tun? Hast du den Himmel gesehen? Die Stürme können jetzt jederzeit über uns hereinbrechen.« Er zeigte auf den westlichen Himmel, der am Horizont verhangen und trüb war und durchschossen wurde von einzelnen Strahlen eines leuchtenden, orangefarbenen Lichtes.

Anvars Stimme kratzte in seiner ausgedörrten Kehle, aber seine Worten klangen selbst in seinen eigenen Ohren seltsam ruhig. »Aurian ist mit Shia verbunden – wir können sie nicht bewegen. Du mußt uns verlassen. Nimm die anderen und geh jetzt. Bringt euch in Sicherheit, so lange ihr es noch könnt. Rettet euer eigenes Leben!«

»Und wirst du mit uns kommen?« Yazours Stimme war sehr ruhig.

Anvar wußte, daß es keine Hoffnung gab – er konnte nichts tun, um der Magusch und Shia zu helfen. Sie waren bereits so gut wie tot. Das vernünftigste wäre, mit den anderen zu gehen, sich und den Stab der Erde in Sicherheit zu bringen und in Aurians Namen den Kampf mit Miathan aufzunehmen. Er wußte das alles nur zu gut – er wußte sogar, daß die Magusch es genau so von ihm erwartete –, aber er blickte hinab auf Aurians reglose Gestalt und erinnerte sich an seinen Zorn in Dhiammara, als er dachte, sie sei in dem Kristall dieses Spinnenwesens gestorben. Er erinnerte sich an das Entsetzen, das ihn durchschossen hatte, als der große Stein in dem Tunnel zu fallen schien und er sich lieber unter den Felsbrocken geworfen hatte, um mit ihr zusammen zu sterben, als die Qualen ihres Verlustes noch einmal zu durchleiden. Die Brust der Magusch hob und senkte sich noch immer, ein Leben, das nur noch ein Zerrbild seiner selbst war. Er wußte besser als irgend jemand sonst um die Kraft ihres sturen Willens. Wie konnte er sie verlassen, solange sie noch lebte? Wie konnte er durch die vor ihm liegenden Jahre gehen mit dem Wissen, daß er sie im Stich gelassen hatte, hilflos in der Wüste eines fremden Landes?

Anvar blickte zu Yazour auf und schüttelte den Kopf. »Stell keine so dummen Fragen«, sagte er.

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