17 Schiffbruch

Die Laterne schwang im Rhythmus des Schiffes an ihrem Haken an der Decke, und der kreisrunde Flecken von trübem Licht, den sie warf, wanderte mit hypnotischer Regelmäßigkeit über die Holzplanken des Bodens und die Wände. Aurian saß mit übereinandergeschlagenen Beinen kerzengerade mitten in der winzigen Kabine, ihre magischen Kräfte auf den Schild konzentriert, der den alten Seelenverkäufer vor der Gewalt von Miathans Suchimpulsen verbarg. Gelegentlich spürte sie, wie der Druck seines Willens über ihren Schild strich, und hielt den Atem an, bis er vorüber, über den dunklen Wellen verschwunden war. Und ein ums andere Mal spürte Aurian trotz der Gefahr, wie ihre bleischweren Augenlider sich zu schließen begannen – und das ungeachtet der Tatsache, daß sie ihre Sitzposition so gewählt hatte, daß sie unmöglich einschlafen konnte, ohne den Halt zu verlieren und durch den Fall sogleich wieder wach zu werden.

Es war die zweite Nacht ihrer Wache. In der ersten Nacht hatte sie erfolgreich auf die verborgensten Quellen ihrer magischen Kraft zurückgegriffen, um sich selbst wach und den Schild stabil zu halten; und dann hatten sie und Anvar den größten Teil des dazwischenliegenden Tages in der belebenden Seeluft an Deck verbracht, bis die Blicke und das Murren der immer aufsässigeren Mannschaft sie zurück in ihre Kabine getrieben hatten. Sara erachtete es immer noch als unter ihrer Würde, mit ihnen zu sprechen, und war samt ihrem ganzen jämmerlichen Selbstmitleid in ihrer Koje geblieben, so daß sie wenigstens von ihrer Seite Ruhe gehabt hatten. Unausgesprochen waren sie übereingekommen, Anvars frühere Verbindung mit Vannors Frau unerwähnt zu lassen, obwohl Aurian sich immer noch fragte, was es damit auf sich hatte. Jetzt hatte sie darauf bestanden, daß Anvar ein Weilchen schlief, wenigstens solange sie sich noch sicher sein konnte, aus eigener Kraft wach zu bleiben. Also lag er neben ihr, im Halbschlaf, bewegte sich dabei aber ruhelos, als ob er ebenso wie sie die Kraft fühlte, die von Miathans suchendem Bewußtsein ausging, das immer wieder über sie hinwegstrich. Aurian zögerte, ihn zu wecken, aber als schließlich ihre Augenlider nicht mehr länger offenbleiben wollten, wußte sie, daß sie nicht anders konnte. »Anvar«, flüsterte sie und rüttelte ihn wach. »Anvar, ich brauche deine Hilfe.«

»Ja.« Er klang schläfrig und benommen, und Aurian fragte sich, ob sie wohl genauso schlimm aussah wie er: zerzaust und schmutzig, das Gesicht von Anstrengung gezeichnet und grau vor Müdigkeit. Er gab ihr die Wasserflasche, bevor er selbst etwas trank. »Ist er immer noch da draußen?« flüsterte er.

Aurian nickte. »Es ist besser, wenn wir nicht von ihm sprechen, solange er uns sucht«, warnte sie ihn. »Wenn ich von ihm spreche, schwächt das meine Konzentration für den Schutzschild; wir sollten uns also Gesprächsthemen suchen, die weitab von dem liegen, dem wir hier entkommen wollen.«

Anvar grunzte. »Es ist unmöglich, nicht an ihn zu denken«, sagte er. »Worüber könnten wir denn sprechen, Herrin?«

Aurian zuckte die Achseln. »Über das Wetter?« schlug sie kleinmütig vor. »Das würde uns immerhin für ganze zwei Minuten beschäftigen.«

»Laß uns doch so tun, als reisten wir in weite Fernen – irgendwo ganz anders hin«, meinte Anvar. »Das könnte ihn vielleicht verwirren, falls dein Schild irgendwie durchlässig wird. Weißt du, Herrin, ich kann mir nicht helfen, aber ich habe das Gefühl, daß ich nichts lieber täte, als weit fortzugehen – weit, weit fort von all diesen Schwierigkeiten. Weißt du irgend etwas über die südlichen Länder jenseits des Meeres?«

Aurian wußte etwas darüber; sie hatte es von Forral erfahren, der in seinen jüngeren Jahren in geheimer Mission im Süden gewesen war, um Informationen zu sammeln. (Solch ein Auftrag hatte ihn auch von der Heimat ferngehalten, als Geraint starb.) Die Garnison versuchte, sich ständig über die südlichen Länder auf dem laufenden zu halten, denn die kriegerischen südlichen Rassen stellten eine permanente Bedrohung dar. Dankbar für die Ablenkung, war die Magusch nur allzugern bereit, Anvar zu erzählen, was sie wußte.

Das öde Bergland der Südküste reichte bis zum Ozean, der den nördlichen Kontinent von den ungeheuren Weiten der südlichen Königreiche trennte. Es gab kaum Verbindungen zwischen den beiden Kontinenten, aber die Spione, wenn sie überhaupt zurückkehrten, berichteten übereinstimmend von der Kampffreudigkeit und überlegenen Zahl der kriegserprobten Bewohner der größeren Landmasse. Glücklicherweise fürchteten die Südländer die magischen Kräfte der Magusch, und das hatte bisher stets ausgereicht, um sie auf Abstand zu halten.

Es war bekannt, daß es im Süden wenigstens drei Königreiche gab; aber jenseits davon, wo die Wüsten in einen undurchdringlichen Urwald übergingen, lag alles in geheimnisvollem Dunkel. Ein hoher Gebirgszug an der Nordküste des Südkontinents wurde angeblich von den legendären Geflügelten bewohnt, die ihre auf hohen Gipfeln gelegenen Gebirgsnester mit wilder Entschlossenheit verteidigten.

Zwischen den Bergen und dem Meer, im Hügelland mit seinen grünen, föhrenbestandenen Tälern, lag das Königreich der Xandim. Ihr zwischen den Bergen und dem Meer eingeschlossener Lebensraum war knapp bemessen, und es hieß, daß ihre begehrlichen Blicke den nördlichen Ländern mit ihren weiten Weidegründen galten, die sie für die sagenhaften Pferde benötigten, die sie züchteten.

Südlich des Gebirges schloß sich eine Wüste an, jenseits derer das Land der Khazalim lag: einer gewalttätigen Kriegerrasse, die von einem grausamen, tyrannischen König regiert wurde. Angesichts dieser Nachbarschaft jenseits des Meeres war es kein Wunder, daß der Regierende Rat von Nexis stets dafür gesorgt hatte, daß die wüsten Berge ihrer Südküste gut befestigt waren.

»Ich frage mich, ob die Südländer wirklich so furchtbar gefährlich sind?« grübelte Anvar.

»Es heißt, daß sie für meinesgleichen nicht viel übrig haben«, sagte Aurian. »Es ist wohl das beste, wenn ich nicht versuche, es herauszufinden. Aber ich weiß, worauf du hinaus willst. Ich würde auch gern fremde Länder kennenlernen – und versuchen, die Vergangenheit hinter mir zu lassen. Aber für mich ist das unmöglich; du wirst es dagegen vielleicht eines Tages schaffen.«

»Ich?« Anvars Blick wanderte unwillkürlich zu dem Zeichen der Leibeigenschaft auf seiner Hand. »Aber ich bin nur ein Diener. Ich kann nicht erwarten …«

»Unfug!« fuhr Aurian auf. »Nur, weil du ein Diener bist? Warum solltest du etwas Schlechteres sein nur wegen der Arbeit, die du tust? Du bist doch etwas viel Besseres als einige der Magusch. Wenn ich Erzmagusch wäre, ich würde … Ach!« Aurian wurde ganz krank vor Bestürzung, als sie begriff, was sie da gesagt hatte. »O Anvar, ich hatte die Möglichkeit dazu, nicht wahr? Ich hätte ja die Dinge zum Besseren wenden können …«

»Hast du nie daran gedacht?« fragte Anvar überrascht.

»Es ist mir nie in den Sinn gekommen. Diese Art von Macht hat mir nie etwas bedeutet. Ich war dumm, daß ich nie daran gedacht habe, was ich alles hätte zum Guten wenden können. Ich habe alles fortgeworfen, als Forral mein Geliebter wurde. Bei den Göttern, ich war es, die dieses Unglück über uns gebracht hat. Sogar Forral hat mich gewarnt …« Aurian vergrub ihr Gesicht in den zitternden Händen.

Entsetzt über ihre bitteren Selbstbeschuldigungen und besorgt, daß sie in dieser in sich gekehrten Stimmung ihren Schild schwächen und ihrer aller Entdeckung ermöglichen könnte, streckte Anvar seine Hand nach ihr aus und zog ihr die Hände vom Gesicht. »Herrin«, sagte er bestimmt, »mach dir keine Vorwürfe. Der Erzmagusch ist böse – die Sterblichen von Nexis haben ihn schon immer gehaßt und gefürchtet. Er hätte so oder so die Macht an sich gerissen, was immer du getan hättest, und das Ergebnis wäre wahrscheinlich das gleiche gewesen. Du hättest also ohnehin gegen ihn kämpfen müssen – du, der Garnisonskommandant Forral, Vannor und Finbarr. Und es hätte Tote gegeben. Danke den Göttern, daß du noch lebst und jetzt den Kampf gegen ihn aufnehmen kannst. Du darfst dich nicht aufgeben, Herrin – wir brauchen dich. Wir brauchen dich alle.«

Einen Moment lang dämmerte Hoffnung auf Aurians Zügen, aber dann seufzte sie. »Freundliche Worte, Anvar, aber wenn ich und Forral nicht …«

Anvar packte sie an den Schultern. »Sag das nicht, Herrin. Sag das niemals! Was zwischen dir und dem Kommandanten geschehen ist, war unvermeidlich. Ein Blinder konnte sehen, wie sehr ihr euch liebt, und wenn dem Erzmagusch wirklich an dir gelegen gewesen wäre, hätte er sich für dich gefreut. Sag mir doch einmal ehrlich, ob Forral oder du es anders machen würdet, wenn ihr noch einmal die Gelegenheit hättet?«

»Nein«, gab Aurian nach langem Bedenken zu. »Du hast recht, Anvar. Wir hatten letzten Endes das, was wir wollten, aber …«

»Dann hör jetzt auf, dich selbst zu bemitleiden, und bring den verdammten Schild wieder hoch!« fauchte Anvar. Die Magusch zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen, und in ihren Augen blitzte Ärger auf. Dann brach sie plötzlich in Lachen aus – in leises Kichern –, und gleichzeitig fiel die Spannung von ihr ab, die ihre Gesichtszüge und ihre Schultern verkrampft hatte.

»Ach, Anvar, du bist wirklich der Richtige für mich«, sagte sie. »Wenn mir irgend jemand helfen kann, diese Sache durchzustehen, dann du. Ich bin froh, daß du hier bist.«

Irgendwie brachten sie die Nacht hinter sich; jeder hielt den anderen wach. Sie vertrieben sich die Zeit mit allerlei Kinderreimen und Rätseln; dabei leistete ihnen Aurians Dolch gute Dienste, mit dem sie tüchtig auf den Bodenplanken ihrer Kabine herumschnitzten. Als es zu schwierig wurde, sich darauf zu konzentrieren, erzählten sie sich statt dessen Witze und sangen (leise, um Sara nicht aufzuwecken); so lange, bis ihr Schatz an alten Liedern und Balladen erschöpft war. Aber immer dachten sie dabei an Miathans ruhelosen Willen, der unermüdlich auf der Suche nach ihnen die Meere durchkämmte.

Als endlich das erste Dämmerlicht des Morgens durch das winzige Heckfenster schimmerte, fühlten sich Aurians Augen an, als wären sie voller Sand, und ihre Stimme war kratzig und heiser. Sie hörte auf zu singen, und auch Anvar verstummte. Er rieb sich die Augen, streckte sich und gähnte gewaltig. »Den Göttern sei Dank, daß es hell wird«, sagte er. »Ich weiß, daß wir noch eine gute Zeitspanne vor uns haben, aber es kommt mir so vor, als hätten wir zumindest eine Hürde überwunden. Weißt du, trotz allem habe ich die letzte Nacht genossen.« Er wirkte scheu und zögernd, als sei er sich nicht sicher, ob er das Recht hatte, so etwas auszusprechen.

Aurian lächelte. »Ich genauso. Du bist ein guter Gefährte, Anvar.«

»Du auch, Herrin«, sagte Anvar. »Ich wünschte, ich hätte das eher erkannt, statt mich damit aufzuhalten, meine Stellung als Diener zu bejammern.«

»Ihr beiden seid ja schon früh auf!«

Aurian fuhr erschrocken herum; Sara blickte von ihrer Koje aus finster auf die beiden herab. »Wir waren die ganze Nacht auf«, fauchte Aurian. Saras Ton fuchste sie. »Da du schon einmal wach bist, kannst du Anvar jetzt die Koje überlassen«, fügte sie hinzu. »Er braucht Schlaf. Ich werde eine Weile auf Deck umherlaufen – das wird mich ein wenig munterer machen.«

»Das ist nicht gerecht!« protestierte Anvar. »Ich habe letzte Nacht geschlafen …«

»Anvar, wir haben wenigstens noch zwei Nächte vor uns«, sagte Aurian sanft. Seine Rücksicht tat ihr gut. »Wie kann ich darauf zählen, daß du mich wach hältst, wenn du selbst vor Erschöpfung nicht mehr die Augen offenhalten kannst. Wenn du dich jetzt etwas ausruhst, dann schaffen wir es vielleicht.« Sie durchsuchte einen Packen, den Vannor ihnen gegeben hatte, und zog schließlich ein kleines Päckchen hervor. »Aber könntest du noch, bevor du das tust, den furchtbaren Koch bitten, mir etwas Taillin zuzubereiten? Das wird helfen, mich wach zu halten.« Aber als sie es ihm geben wollte, hielt sie inne. »Wirst du wohl auf mich achtgeben?« sagte sie kleinmütig. »Nach alledem, was ich über gute Kameradschaft gesagt habe, lasse ich dich immer noch für mich springen. Ich werde selbst gehen, Anvar. Schlaf du ein wenig.«

»Nein.« Anvar nahm ihr das Päckchen aus der Hand. »Ich werde es besorgen. Wenn du nur wach bleibst!«

Sara blickte ihm säuerlich nach, als er hinausging. »Immer der untertänige Diener«, höhnte sie. »Das ist alles, wofür er taugt.«

»Was meinst du damit?« Aurian war in Rage.

Sara zuckte die Achseln. »Frag Anvar«, war alles, was sie antwortete.

Aurian fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. Das hat mir gerade noch gefehlt, dachte sie. »Sara, mach keine Schwierigkeiten«, warnte sie das Mädchen. »Wenn du Anvar nicht anständig behandeln kannst, dann laß ihn ganz in Ruhe.« Mit diesen Worten verließ sie die Kabine; sie fühlte sich nicht in der Lage, auch nur eine Minute länger in Saras Gesellschaft zu ertragen.

Die Magusch ging zum Bug des Schiffes, setzte sich, trank ihr Taillin und sah zu, wie der rötlichgoldene Glanz des Sonnenaufgangs das Meer überflutete. Es war jetzt schon eine ganze Zeit her, daß sie zum letzten Mal Miathans Ausstrahlung gespürt hatte, und sie fragte sich, ob er wohl schlief oder vielleicht damit beschäftigt war, die Ordnung in einer Stadt wiederherzustellen, die vor Angst halb wahnsinnig sein mußte, nachdem seine Kreaturen sie überfallen hatten. Sie fragte sich, was in Nexis wohl vor sich ging, verbannte den Gedanken dann aber entschlossen aus ihrem Sinn. Sie durfte sich nicht darauf verlassen, daß der Erzmagusch die Suche aufgegeben hatte, und sie wagte nicht, in ihrer Aufmerksamkeit nachzulassen. Um wach zu bleiben, stand sie auf und begann auf dem beengten Deck des stampfenden Schiffes auf und ab zu gehen, ohne sich um die neugierigen Blicke der wenigen Besatzungsmitglieder zu kümmern, die zu dieser frühen Stunde bereits auf waren.

Wenig später hatte der Wind so weit aufgefrischt, daß es unmöglich wurde, auf dem Deck des stampfenden und schlingernden Schiffes umherzuwandern, und Aurian stieg hinab in die enge, schmutzstarrende Kombüse, um den Schiffskoch zur Herausgabe einer weiteren ungenießbaren Mahlzeit zu überreden. Der Geruch, der ihr entgegenschlug, als sie den steilen Niedergang hinabstieg, war ekelerregend vertraut. Nicht schon wieder Eintopf! Aurian spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte. Sie biß die Zähne zusammen, um die in ihr aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken, schoß wie der Blitz die Stufen wieder hinauf und beeilte sich, an die Reling zu kommen, um sich zu übergeben. Ihr war so übel, daß sie das Höhnen der üblen Meute von Matrosen gar nicht kümmerte. Als es ihr etwas besser ging, setzte sie sich steif auf die Bank im Bug des Schiffes, trank kaltes Taillin direkt aus der Kanne und wischte sich ihre feuchte Stirn am Ärmel ab. O ihr Götter, dachte sie. Das war keine Seekrankheit! Zum ersten Mal ging ihr auf, welche zusätzlichen Schwierigkeiten ihr ihre Schwangerschaft auf dieser Flucht eintragen würde. Sie legte sich die Hand auf den Bauch, dorthin, wo das winzige Klümpchen Leben seinen geschützten, von Sorgen unbehelligten Platz hatte, und seufzte.

»Herrin, wach auf!«

Beim Klang von Anvars Stimme fuhr Aurian hoch und richtete in Panik den in sich zusammengesunkenen Schutzschirm wieder auf. Sie verfluchte ihre Sorglosigkeit und Schwachheit. Wenn Miathan sie gefunden hatte … Sie erschauderte. »Was bin ich doch dämlich!« rief sie. »Es tut mir leid, Anvar. Wie lange habe ich geschlafen?«

Anvar blinzelte in die Sonne. »Fast den ganzen Vormittag über, so wie es aussieht. Mach dir keine Sorgen, Herrin. Es war das beste so. Der Erzmagusch hat uns nicht gefunden, und du brauchtest die Erholung. In diesem Zustand …« Errötend hielt er inne.

»Ich weiß«, sagte Aurian kleinlaut. »Zuerst hat das kleine Biest dafür gesorgt, daß ich mich übergebe, und dann dafür, daß ich einschlafe. Wie es scheint, wird es noch eine größere Last werden als Sara.«

»Herrin, das meinst du doch nicht ernst«, ermahnte sie Anvar.

Aurian seufzte. »Eigentlich nicht«, gab sie zu. »Obwohl es im Grunde so ist.«

Sie teilte ihr letztes Taillin mit Anvar. Ihr Frühstück bestand aus knochenharten Keksen, die Anvar beim Koch organisiert hatte. Aurian war der Schlaf gut bekommen. Ihre Übelkeit war verschwunden, und der strahlende Tag hellte ihr Gemüt auf. Die grünen Wellen tanzten in dem steifen Wind, der das geflickte Tuch der alten Segel schwellte. Eine bleiche Sonne stand am Himmel und spielte Fangen mit gewaltigen, zerklüfteten Wolkenbergen, die schnell über den Himmel getrieben wurden. Der frische Wind tat ihr gut und vertrieb die letzten Reste von Müdigkeit. Als sie die entmutigende Aufgabe bewältigt hatten, ihre Mahlzeit zu verzehren, zog Anvar eine kleine Holzflöte aus seiner Tasche. »Soll ich dir etwas vorspielen?« fragte er.

»Das wäre lieb.«

Also spielte Anvar – lustige, lebendige, selbstersonnene Melodien, die zu dem frischen, hellen Tag paßten. Seine Musik hatte bald die ganze Mannschaft herbeigelockt; einer der Seeleute nach dem anderen fand irgendeine Entschuldigung, um in Hörweite sie lachen zu sehen, während sie zum Takt der Musik in die Hände klatschten und mit den Füßen stampften. Bald hatten sie Anvars Repertoire um einige Seemannslieder und -tänze erweitert und tanzten ausgelassen zu den Klängen seiner Flöte. Als der Kapitän hinzukam, um seine Männer zu rügen, weil sie ihre Posten verlassen hatten, wurde er bald von der ausgelassenen Stimmung angesteckt. Angesichts des hervorragenden Wetters befahl er, ein Fäßchen Schnaps anzustechen.

Es lag am Alkohol, daß die Dinge schließlich eine Wendung zum Schlechten nahmen. Da Aurian und Anvar alle ihre Sinne beisammenhalten mußten, tranken sie nicht mit den anderen. Anvar hatte seinen Platz im Bug verlassen, um den Tänzern näher zu sein, und Aurian sah dem Treiben zu, während sie sich weiter auf ihren Schild konzentrierte. Plötzlich legte sich ein Arm um ihre Schulter, und eine Fahne stinkenden Atems schlug ihr ins Gesicht. Ein Zinnbecher, randvoll mit Branntwein, wurde ihr vor die Nase gehalten. »Trink einen Schluck, Schätzchen«, nuschelte eine Stimme. Aurian wandte sich um und blickte in das grinsende, unrasierte Gesicht eines schmutzstarrenden Seeräubers.

»Nein, danke«, sagte sie in dem Versuch, die Situation mit Ruhe und Höflichkeit zu meistern.

»Ich sagte, trink einen Schluck!« Er packte ihr Haar und zwang ihr den Becher mit der anderen Hand an den Mund; dabei schüttete er ihr das klebrige Zeug über ihr Kinn und ihr Hemd. Wegen der Konzentration, die es erforderte, ihren Schild aufrechtzuerhalten, konnte Aurian nur langsam reagieren. Bevor sie sich regen konnte, war Anvar schon zur Stelle. Er riß den Mann hoch und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, so daß der Matrose aufs Deck krachte. Es stand ein frostiger Glanz in Anvars Augen, und sein vorgeschobenes Kinn gab seinem Gesicht einen Ausdruck, den Aurian nie zuvor an ihm wahrgenommen hatte.

»Laß die Hände von ihr«, knurrte er. Der Strolch rappelte sich auf und hielt plötzlich einen krummen Dolch in der Hand, der nichts Gutes verhieß. Aurian wußte, daß es Schwierigkeiten geben würde. Sie stand ruhig auf und legte die Hand an den Griff ihres Schwertes.

»Warum sollst du zwei haben und wir keine?« maulte der Pirat. »Na ja, sie gehören mir ja beide – wenn ich dich erst aufgeschlitzt habe!« Anvar wich zurück und zog seine eigene Waffe: ein völlig unbrauchbares Ding, das Vannor ihm geschenkt hatte. Die Piraten umringten die beiden Kampfhähne wie Wölfe, die ihre Beute einschließen.

Die Spannung wurde durch das sausende Zischen unterbrochen, als Aurian ihr Schwert zog. Sie stellte sich neben Anvar und verkündete ihre Botschaft mit ruhiger, gleichgültiger Stimme. »Du hältst deine Leute besser zurück, Kapitän, wenn du sie bei dieser Fahrt noch brauchst.«

»Sack und Eier, Jungs – es ist ja nur ein Mädchen«, röhrte der Lump mit dem Dolch und griff an. Aurians Klinge blitzte so schnell auf, daß die Bewegung kaum zu sehen war. Der Krummdolch flog über die Reling ins Meer, während sein Besitzer heulend auf die Planken fiel und sich seine Messerhand hielt.

Die Magusch zeigte mit der Spitze ihres Schwertes auf den glücklosen Piraten. »Wenn du das noch einmal versuchst«, sagte sie in die verblüffte Stille hinein, »wird es dich nicht nur deine Hand, sondern auch Sack und Eier kosten, von denen du gerade gesprochen hast. Dich und jeden anderen, der es wagt, sich mit uns anzulegen.« Sie blickte den Kapitän scharf an, der sie unentschlossen anstarrte. »Möchtest du gerne noch lange genug leben, um das Gold auszugeben, das ich dir gegeben habe?« fragte Aurian.

Fluchend spie er auf Deck. »Geht nach unten, Jungs, und laßt die Passagiere in Ruhe. Mit ihrem Gold können wir uns im Hafen jede Menge Huren leisten.« Unter düsterem Gemurmel zerstreute sich die Mannschaft. Der blutende Messerstecher wurde von seinen Kameraden mitgeschleppt.

Zu Anvars Erstaunen wandte sich Aurian mit einem Lächeln an den Kapitän. »Vielen Dank, Kapitän Jurdag«, sagte sie. »Ich bin dir äußerst dankbar. Du hast uns eine Menge Unerfreulichkeiten erspart.« Anvar starrte sie an; ihre Verstellung verschlug ihm die Sprache, und noch mehr erstaunte ihn, daß der Kapitän darauf einzugehen schien.

»Das war doch selbstverständlich, Lady«, sagte der Kapitän, obwohl ihn sein zusammengekniffener Mund Lügen strafte. »Wenn du oder der junge Herr irgendwelche Schwierigkeiten mit der Mannschaft haben solltet, dann werde ich mich gern darum kümmern. Und ich bin mir ganz sicher, daß es auch nicht nötig ist, so eine Eisenwarenhandlung durch die Gegend zu schleppen.« Seine Stimme enthielt eine unmißverständliche Drohung, während er auf ihr Schwert deutete.

»Ich würde mich nie davon trennen«, versicherte Aurian ihm mit einem ähnlichen Ton in der Stimme. »Es ist doch recht nützlich.«

Der Kapitän starrte erst sie und dann Anvar an. »Beim Blut der Götter!« rief er. »Du hast Mut, dich mit ihr abzugeben!«

Anvar überlegte. Der Kapitän hielt sie also für ein Paar. Nun, das schadete ja nichts. So lässig, wie er nur konnte, legte er Aurian einen Arm um die Schultern. »Oh, ich denke, ich werde schon mit ihr fertig«, sagte er kalt. Der Kapitän warf ihnen noch einen finsteren Blick zu und ging dann unter Deck.

»So, du …« Aurian drehte sich zu Anvar um, ganz Empörung, aber ihre Augen lachten. »Du wirst also mit mir fertig, wie?«

»Herrin, ich würde nicht wagen, das zu versuchen«, gab Anvar reumütig zu. »Ich bin ja heute noch nicht einmal mit mir selbst fertig geworden. Ich hätte nie gedacht, daß dieses Vieh ein Messer ziehen würde. Als ich sah, wie er dich belästigte, hatte ich plötzlich nur noch den einen Wunsch, ihm ein paar Zähne aus seiner Visage herauszuschlagen. Und sag nicht, daß du das schon selbst gekonnt hättest – das weiß ich ja. Aber ich wollte mir einfach das Vergnügen nicht entgehen lassen, das ist alles.«

Aurian lächelte. »Es macht mir nichts aus, Anvar. Es war die Tat eines Kavaliers, und ich bin dir dankbar dafür. Aber wenn du es dir zur Gewohnheit machen solltest, dann hüte dich vor versteckten Waffen. Ich möchte dich nicht auch noch verlieren.« Ihr Lächeln war verschwunden, ihre Augen plötzlich wieder von Traurigkeit überschattet. Abrupt wandte sie sich ab und ging zur Reling auf der anderen Seite des Schiffes. Anvar fluchte leise vor sich hin; es wäre besser, wenn sie nicht alles an Forral erinnerte. Er wünschte sich, er hätte etwas tun können, um ihren Kummer zu mildern.

Aurian stand an der Reling, beide Hände fest aufgestützt, und ließ ihre Blicke über den endlosen Ozean schweifen. Gab es jenseits dieser gewaltigen Fläche noch neue, unentdeckte Länder? Warum war nie jemand hinausgefahren, um nachzusehen, und wenn es jemand versucht hatte, was war aus ihm geworden?

Sie mußte sich eingestehen, daß sie gerne eine solche Fahrt ins Ungewisse unternähme – genauer eigentlich, daß sie sich nach der Möglichkeit sehnte, zusammen mit Forral zu neuen Ufern aufzubrechen. Sie hatte das Gespräch mit ihm über seinen Tod gut im Gedächtnis behalten. Ich werde immer bei dir sein, hatte er gesagt. Aurian spürte ein Prickeln im Nacken. Ob es tatsächlich so war? Sie hatte nie gelernt, seinen eigenartigen, blitzschnellen Kreiselschlag mit dem Schwert zu beherrschen – und trotzdem war ihr heute, als sie den Piraten entwaffnen mußte, diese Technik so geläufig gewesen wie ihr eigener Atem. Konnte es sein, daß er immer noch bei ihr war? Aber wenn es sich so verhielt, dann müßte sie eigentlich in der Lage sein, irgend etwas davon zu fühlen – seine Ausstrahlung zu spüren. Sie schüttelte verwirrt den Kopf; sie hatte nicht vor, sich von ihrem Herzen zum Narren halten zu lassen und eine offensichtliche Unwahrheit zu akzeptieren, nur weil es sie so sehr danach verlangte. Aber dennoch …

Anvar trat schweigend neben sie und ließ die Brise eine Weile mit den rotgoldenen Locken seines Schopfes spielen. »Macht Miathan immer noch seine Mätzchen?« fragte er schließlich. Aurian wußte sofort, daß er ebensosehr darauf bedacht war wie sie, die Stimmung, die zwischen ihnen herrschte, zu erhalten.

»Ich habe seit einigen Stunden nichts mehr von ihm bemerkt, zu unserem Glück«, sagte sie. »Ich denke, er muß sich eine Weile ausruhen – das Suchen mit dem Kristall ist harte Arbeit. Ich wage es aber trotzdem nicht, noch einmal unsere Abschirmung zu vernachlässigen.«

Anvar wollte etwas erwidern, als Aurian ihm zuvorkam und nach seinem Arm griff. Neue, noch nie gehörte Töne hatten ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie kamen draußen vom Meer – wilde hohe Wirbel eines Gesangs, der Schauer durch ihren Körper laufen und sie wie gebannt zuhören ließ. »Hör nur«, hauchte sie und zog an seinem Arm. »Ah, hör doch nur! Du hörst es doch, oder?«

Anvar spähte aufs Meer hinaus und versuchte die Quelle der eindringlichen Klänge zu finden. »Was ist das?« fragte er. »Also so was – das ist ja Gesang!«

Sie lauschten wie gebannt, während der Gesang langsam näher kam. Dann sahen sie weit draußen auf den Wellen eine Reihe gewaltiger, düsterer Schatten aus dem Wasser hervorschnellen; sie sprangen in die Höhe, drehten sich in der Luft und tauchten inmitten riesiger, aufspritzender Wogen von weißer Gischt wieder in die See zurück. Feine weiße Fontänen schössen himmelwärts, erreichten doppelte Manneshöhe und ließen im Sonnenlicht einen Regenbogen entstehen. »Wale!« rief Aurian erregt. »Forral hat mir davon erzählt. Oh, Anvar, wie wundervoll!«

In ihrer Aufregung hielt sie die Reling fest umklammert. Als die Kreaturen näher herangekommen waren, sah sie, daß sie in der Tat ungeheure Ausmaße hatten; der größte Wal übertraf das Schiff deutlich an Länge. Es waren ungefähr ein halbes Dutzend Tiere, darunter zu Aurians Entzücken zwei Walbabys. Die Magusch konnte sich gar nicht an ihnen sattsehen, war von ihnen wie verzaubert, bewunderte ihre gewaltigen, stromlinienförmigen Körper, die sich mit feiner Anmut durch das Wasser bewegten; bewunderte die perfekt gebogenen Kurven ihrer Schwanzflossen, die mit unglaublicher Kraft das Wasser peitschten, wenn sie untertauchten. Sie bemerkte auch die zarte Fürsorge, mit der sich diese Familie von Riesen um die beiden Babys kümmerte, immer bedacht, die beiden schützend in ihrer Mitte zu halten.

Sie war so hingerissen, daß sie den Schild vergaß. Als ihre Abschirmung von ihr unbemerkt zu schwinden begann, erreichten sie die ersten Gedanken. Gedanken, so weit und so tief wie der Ozean selbst. Gedanken voller Überraschung und Merkwürdigkeit, voll von der tiefsten Liebe und unbändiger Freude, aber auch von endloser Sorge. Sie, Aurian, war seit Äonen die erste ihres Volkes, die mit denen aus dem Meer sprach. Mit einem Volk, das keine Kriege führte, das keine Gewalt kannte; das seine Tage damit zubrachte, zu spielen und zu singen, sich zu lieben, seine Kinder zu umsorgen und seine tiefen, weisen, sanften Gedanken zu denken. Welche Weisheit! Die Sterblichen und die Magusch, die in ständigem Gezänk und Streit über die Oberfläche der Erde jagten, gönnten sich selbst weder die Zeit noch den Frieden, um ihr Bewußtsein wachsen zu lassen, um eins zu werden mit der Einheit aller Dinge. Aber das Geschlecht der Leviathane beherbergte in seinen mächtigen Gehirnen die Weisheit des Universums – diese Wesen, die von den Menschen Tiere genannt wurden. Und mit ihrer Weisheit besaßen sie die Liebe.

Aurian sah nicht, wie der Ausguck aus seinem rumumnebelten Schlaf erwachte, und sie hörte nicht seine Schreie: »Wale! Wale voraus!« Sie kam erst wieder zu sich, als die Mannschaft auf Deck getaumelt kam und die Männer fast übereinanderstürzten in ihrer Hast, das lange schnittige Holzboot zu Wasser zu lassen, das an der Seite des Schiffs festgemacht war. Aus ihrer Freude wurde Schrecken, als sie sah, daß die Mannschaft die widerwärtigen Harpunen mit den stählernen Widerhaken bereitmachte.

»Nein!« schrie sie und griff nach ihrem Schwert, verzweifelt entschlossen, die Männer aufzuhalten, aber Anvar stellte sich ihr in den Weg, hielt sie auf, packte sie bei den Schultern.

»Herrin, tu es nicht!« sagte er. »Es bedeutet Gold für sie – viel Gold. Sie würden nicht zögern, dich deswegen zu töten!«

Aurian kämpfte mit ihm; sie wollte ihn trotz ihrer Verzweiflung nicht verletzen. »Geh mir aus dem Weg«, schrie sie, »ich muß sie aufhalten.«

‘ »Dann mußt du zuerst mich töten!« Anvar wurde nicht laut, aber er blickte sie bestimmt und unverwandt an. »Ich werde nicht zulassen, daß du uns deswegen vernichtest, Aurian.«

Es war schon zu spät. Das Boot war zu Wasser gelassen worden. Die Männer stiegen schon hinein. Acht starke Ruderer, vier an jeder Seite, und ein Mann am Vordersteven, der die Harpune fest umklammert hielt.

Aurian starrte Anvar an. »Fluch über dich!« stieß sie hervor. »Flieht!« schrie sie den Walen zu, katapultierte den Gedanken mit aller Kraft ihres Willens hinaus. »Flieht, flieht nur!« Die Wale entdeckten die Gefahr und wandten sich zur Flucht; sie tauchten sofort unter. Aber das Boot war schnell, die Ruderer trieben es mit mächtigen Schlägen durchs Wasser, und die Wale mußten auftauchen, um zu atmen, Aurian hielt selbst den Atem an. Der Kapitän und die drei an Bord gebliebenen Matrosen arbeiteten wie im Rausch, trimmten die Segel, um den armen Kreaturen auf ihrer Flucht so dicht wie möglich zu folgen.

Einen Augenblick lang glaubte Aurian, daß die Wale entkommen könnten. Dann sah sie, daß das kleinere der Walbabys erschöpft zurückblieb. Es schwamm ermattet auf dem Wasser und gab klägliche Hilfeschreie von sich, während das Boot schnell zu ihm aufschloß. Der Mann im Bug des Bootes hob den Arm mit der Harpune; in der Linken hielt er bereits eine zweite bereit. Warum? Dann sah Aurian, was der Harpunier bereits wußte: Die Mutter des Walkindes schoß außer sich vor Wut und Sorge zu ihrem verlorenen Baby zurück. Der Harpunier holte weit zum Wurf aus …

Aurian gab einen Schrei von sich und warf in einer scharfen Bewegung beide Hände empor; das Boot wurde auseinandergerissen, seine Planken flogen in alle Richtungen, und die zappelnden Männer wurden ins Meer geschleudert.

»Beidrehen!« bellte Jurdag. »Sofort Leinen auswerfen!«

In dem Durcheinander gelang es der Walmutter, ihr Kleines zwischen sich und ihren Gefährten zu nehmen, der ihr gefolgt war, und Seite an Seite nahmen sie Kurs auf den Rest ihrer Familie. Sie schwammen auf die offene See hinaus, und ihre dankbaren Schreie hallten durch Aurians Bewußtsein, als sie sich matt, aber erleichtert an die Reling lehnte – und den triumphierenden Zugriff von Miathans Willen spürte, dem sie es durch den Gebrauch ihrer Magie leichtgemacht hatte, sie aufzuspüren.

»Hinaus!« schrie sie lautlos und wehrte ihn mit aller Kraft ab, die sie aufbringen konnte. Sie spürte seinen Schmerz und seinen Schrecken, fühlte, wie sie seinem Griff entglitt, und ließ ihren Schild wieder zuschnappen. Aber sie wußte, daß es zu spät war. Beklommen mußte sie sich eingestehen, daß sie ihre Mission verraten hatte. Er wußte jetzt, wo sie waren, und er würde zurückkommen.

Dann war Anvar mit zornverzerrtem Gesicht über ihr. »Du bist das gewesen! Weißt du nicht, daß die Seeleute nicht schwimmen können? Du hast sie vielleicht alle ertränkt: Und was meinst du, geschieht, wenn sie merken, daß sie eine verdammte Magusch an Bord haben? Wie konntest du nur so dumm sein – und so gefühllos?«

Das war mehr, als Aurian ertragen konnte. »Wie kannst du es wagen, meine Taten in Frage zu stellen?« knurrte sie.

Anvar verzog die Lippen. »Ah«, sagte er bitter. »Jetzt kommt es heraus. Wie kann ich, bloß ein Diener, es wagen, eine der großen und edlen Magusch zu kritisieren! All dies Gerede über Kameradschaft. Pah!« Er spuckte verächtlich aus. »Wenn es darauf ankommt, Herrin, bist du nicht weniger arrogant und widerwärtig als die anderen Magusch.« Er schob sie grob beiseite, stürmte zurück in die Kabine und schlug die Tür hinter sich zu.

Sara war sofort hellwach, als er so ungestüm hereinschneite. »Diese Magusch«, hörte sie ihn murmeln. »Diese verdammte Hexe!« Sie unterdrückte ein triumphierendes Lächeln. Er hatte also mit Aurian gestritten. In den langen Stunden, die sie jetzt schon in diesem schmierigen Loch zubrachte, hatte sie angestrengt nachgedacht. Sie wußte, daß sie sehr allein war; abgeschnitten, vielleicht für immer, vom Luxus ihres bisherigen Lebens. Es war unwahrscheinlich, daß sie Vannor, diesen Esel, je wiedersehen würde; also würde sie jemanden brauchen, der sich um sie kümmerte, und zur Zeit gab es nur Anvar, der dafür in Frage kam. Zumindest war sie immer in der Lage gewesen, ihn um den kleinen Finger zu wickeln. Das Problem hatte darin gelegen, ihn von dieser rothaarigen Harpyie wegzubekommen. Aber jetzt war er hier bei ihr, aufgebracht und völlig aus dem Häuschen. Kein Problem also. »Nein, so etwas Anvar«, sagte sie, »was ist denn nur geschehen?«

Er erzählte ihr alles lang und breit und lief dabei in der engen Kabine auf und ab. Sara konnte sich aus alledem nichts Rechtes zusammenreimen, aber das spielte keine Rolle. »Ich kann es einfach nicht glauben«, sagte er immer wieder und schüttelte in ungläubigem Erstaunen den Kopf. »Ich kann es gerade von ihr nicht glauben.«

»Wer weiß schon, wozu die Magusch fähig sind?« sagte Sara anzüglich. »Um unsere Wünsche haben sie sich nie gekümmert. Aber ist es nicht ohnehin gleichgültig? Du gehörst doch jetzt nicht mehr ihnen, verstehst du das nicht? Du gehörst nicht mehr ihr. Was kann sie schon groß machen? Wenn wir in Easthaven festmachen, können wir tun, was wir wollen, und hingehen, wo wir wollen. Wir könnten Zusammensein …«

»Sara?« Anvar drehte sich verwirrt zu ihr herum. Meinte sie, was sie da sagte? Konnte es wirklich sein, daß sie ihn nach allem, was geschehen war, immer noch liebte? Die ein, zwei Meter, die jetzt zwischen ihnen lagen, waren ein Abgrund von Jahren, von Verletzung, von Liebesleid, aber Sara schien ihn wie im Flug zu überbrücken, und nach langer Zeit hielt er ihre kleine, schlanke Gestalt wieder in seinen Armen. Als er ihr Gesicht zu sich hindrehte, schimmerte das Lampenlicht auf ihrem feingesponnenen Haar, und ihre Augen glänzten vor Tränen.

»Dank sei der Göttin«, flüsterte sie. »Dank sei der Göttin dafür, daß ich dich schließlich doch gefunden habe.«

Anvar konnte es kaum glauben. Sollten sich denn all seine Träume doch noch erfüllen?

»Ich habe solche Angst gehabt«, fuhr Sara fort. »Aber du warst so tapfer. Du warst wundervoll.« Ohne Luft zu holen, redete sie weiter; er erhielt keine Möglichkeit, etwas zu erwidern. »O Anvar, ich habe dich so sehr vermißt!«

Schließlich fand Anvar seine Stimme wieder. »Aber ich habe gedacht, du würdest mich hassen, Sara. Nach dem, was du gesagt …«

Sie seufzte. »Anvar, ich war tief verletzt. Ich – ich habe kaum gewußt, was ich tat. Vergib mir, bitte. Du bist der einzige Mann, den ich je geliebt habe …« Tränen traten ihr in die Augen und liefen über ihr makelloses Gesicht.

Anvar preßte sie an seine Brust, wollte sie nie mehr loslassen, sein Herz jauchzte zum Himmel. »Sara, mein Liebes, wein nicht. Das ist jetzt alles vorbei. Wir werden tun, was immer du sagst, was immer du willst. Wir werden fortgehen und Zusammensein …«

Sara lächelte. Dann legte sie die Arme um seinen Hals und küßte ihn, lang und innig, mit all der verlorenen Leidenschaft ihrer Jugend. Einen Augenblick lang war Anvar völlig entrückt, aber dann weckte der Kuß all die enttäuschte Sehnsucht, die er in seinem Herzen vergraben hatte. Seine Arme umfaßten sie immer fester, während er ihre Küsse immer drängender und werbender erwiderte. Sein Herz begann zu hämmern, und er merkte, daß er sich vor Erregung kaum noch bewegen konnte, als er sich an den Verschlüssen ihres Mieders zu schaffen machte, um ihre Brüste zu berühren, ihre …

»Was ist denn hier los?« Aurian stand in der Tür, ihre Stimme klang streng, ihr Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. »Ist das deine Art, Vannor für seine Liebe zu danken?«

Sara stieß einen kurzen Angstschrei aus, während sie versuchte, den offenen Ausschnitt ihres Kleides zusammenzuraffen.

Anvar stellte sich zwischen die beiden Frauen. »Kümmere du dich um deine eigenen Angelegenheiten«, erklärte er der Magusch kategorisch. »Sara und ich waren früher ein Paar und wurden nicht durch unsere Schuld getrennt – ich wurde dir als Sklave verkauft, und auch sie ist verkauft worden, in eine andere Art von Sklaverei. Wir haben genug gelitten, und nun nehmen wir uns, was uns zusteht. Versuch nicht, dich einzumischen.«

»Mich einzumischen!« schrie Aurian. »Bei den Göttern, Anvar. Wie konntest du nur so tief sinken? Die Frau eines anderen Mannes – eines guten Mannes, der dir vertraut hat!«

»Du brauchst mich nicht zu belehren!« schrie Anvar zurück, außer sich vor Zorn über das heimtückische Schuldgefühl, das ihre Worte in ihm hervorgerufen hatten. »Du – du Mörderin!«

Aurian starrte ihn mit offenem Mund an; der Schock hatte alles Blut aus ihrem Gesicht weichen lassen. Dann wirbelte sie herum und war fort. Sara verzog ihren Mund zu einem selbstgefälligen Lächeln.

Auf Deck war alles ruhig. Außer dem Kapitän am Steuerrad und dem einsamen Ausguck hoch oben im Hauptmast war keine Seele zu sehen. Der Rest der Mannschaft war unter Deck, bedrückt durch den Verlust zweier Kameraden bei dem Unfall am Nachmittag. Einer der Toten war der Harpunier gewesen, um den es Aurian nicht weiter leid tat. Sie begab sich schnell zu ihrem gewohnten Platz im Vorschiff; in ihrem Kopf drehte sich noch alles um den Schock dessen, was sie gerade erlebt hatte, und von der Gehässigkeit, mit der Anvar sie angegriffen hatte.

›Mörderin!‹ Das Wort klang ihr in den Ohren. Wie hätte er es auch verstehen sollen? Für ihn war der Leviathan ein Tier. Er hätte ebensoschnell gehandelt, um ein Menschenkind zu retten. Zudem war Anvar nicht – so wie sie – als Krieger ausgebildet. Die Leute benötigten die Krieger, um für sie zu töten, damit sie ihr eigenes Gewissen nicht mit diesen Tagen belasten mußten und die Schuld auf andere abladen konnten.

Forral hatte das gewußt. Er hatte ihr einmal erklärt: »Es ist ein schmutziger Job, wenn es einmal ernst wird. Sie brauchen dich, damit du durch Blut und Dreck und Leichen watest, während deine Freunde ringsum abgeschlachtet werden. Sie brauchen dich, um mit den anderen fertig zu werden, die ihnen im Weg stehen, ohne daß sie dabei ihre schwabbeligen Leiber riskieren oder ihr schneeweißes Gewissen aufs Spiel setzen; und dann, falls du auch noch die Stirn hast, das zu überleben, danach als eine lebende Erinnerung und Mahnung herumzulaufen – dann fallen sie über dich her und schreien ›Mord‹ und ›Greueltat‹!«

»Und warum machen wir es dann?« hatte sie ihn gefragt.

Daraufhin hatte er gelächelt. »Denk doch mal an unsere Garnison hier«, hatte er gesagt. »Es gibt nichts, das mit der Kameradschaft vergleichbar ist, die wir Krieger untereinander haben. Und erinnerst du dich noch an unseren Kampf, an dem Tag, als wir zum ersten Mal miteinander geschlafen haben? Wenn du noch weißt, wie das damals war, dann weißt du alles.« Und sie hatte ihn verstanden.

Ihr Götter, wie vermißte sie Forral! Wie brauchte sie ihn. Ihr war nicht mehr geblieben; ihr Herz war gefüllt mit einer öden, schmerzhaften Leere. Wie sollte sie damit für den Rest ihres Lebens fertig werden. Ihr Blick fiel auf das Schnapsfäßchen, das achtlos auf Deck zurückgelassen worden war. Vor ihren Füßen rollte im Speigatt ein leerer Zinnbecher hin und her. Eine Stimme aus ihrem Inneren warnte sie vor der Gefahr, sagte ihr, daß sie aufmerksam bleiben mußte, aber sie ignorierte sie. Was machte das schon? dachte sie dumpf. Ich habe sowieso alles versaut. Sie hob den Becher auf und schenkte sich Branntwein ein. Sie ließ sich völlig gehen, aber vielleicht half das ja, den Schmerz für eine Weile zu betäuben.

Sie hatten miteinander geschlafen. Als die Magusch die Kabine verlassen hatte, hatte Sara Anvar mit gefährlicher Wildheit an sich gerissen, ihn mit sich in die Koje gezogen und an seinen Kleidern gezerrt. Es war schon so lange her … Wie hätte er widerstehen können? Wie Tiere hatten sie einander in der ekligen Kabine genommen, wie von Sinnen in ihrer Lust. Jetzt, da es vorbei war, fühlte sich Anvar ausgelaugt und schuldig und irgendwie benutzt. Die alte, süße Unschuld ihrer Liebe gab es nicht mehr. Dann beschuldigte er sich selbst der Dummheit. Er und Sara liebten einander, und jetzt war sie endlich wieder sein. Was sollte im Vergleich dazu noch eine Rolle spielen? Er drehte sich herum, um sie in die Arme zu nehmen. Vielleicht wäre es diesmal besser …

»Nicht jetzt.« Saras Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht.

»Warum nicht?« rief Anvar in gekränktem Ton und streckte seine Arme wieder nach ihr aus.

Sara schlug seine Hand weg und besänftigte ihn dann mit einem Lächeln. »Dafür werden wir später Zeit haben«, sagte sie, »wenn wir von diesem Seelenverkäufer herunter sind. Aber jetzt mußt du gehen und dafür sorgen, daß die Magusch wach bleibt.«

»Was? Sie wird mich kaum noch sehen wollen nach dem, was ich ihr gesagt habe.« Wieder sprang Anvar ein Schuldgefühl an.

»Wen interessiert schon, was sie will.« Saras Stimme klang hart. »Das einzig Wichtige ist, daß wir diese Reise überleben. Verstehst du denn nicht? Der Erzmagusch ist nicht hinter uns her. Wenn wir erst im Hafen anlegen, können wir sie und ihn für immer loswerden.«

Aurian nie wiedersehen? Irgendwie konnte Anvar sich das nicht vorstellen. Aber Sara hatte wohl recht, nahm er an. Nach dem heutigen Abend würde die Magusch ihn ohnehin nie mehr wiedersehen wollen. Alles hatten sich so plötzlich verändert … . aber Sara hatte recht. Ihre erste Sorge war jetzt, daß der Erzmagusch sie vorläufig nicht fand. Seufzend suchte er auf dem Boden seine Kleider zusammen und zog sich hastig an. Sara gab ihm einen Abschiedskuß auf die Wange und entließ ihn damit.

Anvar schlich übers Deck und konnte seinen Widerwillen, mit der Magusch zusammenzutreffen, kaum überwinden. Aber all diese Gedanken waren schlagartig verflogen, als er sie, den Kopf auf die Reling gelegt und einen halb geleerten Becher Schnaps neben sich, im Vorschiff sitzen sah. Rinnsale von Tränen glänzten auf ihrem Gesicht. Anvar überlief es kalt; er hatte plötzlich das Gefühl, daß die Gefahr ganz in der Nähe lauerte. Er beugte sich über sie, um sie zu wecken, und schüttelte sie an der Schulter.

Dann geschah alles mit unglaublicher Geschwindigkeit. Aurian war auf den Füßen, ihre Hände schlössen sich zu einem eisernen Griff um seine Kehle, und – die Augen, die ihn da anstarrten, waren nicht die ihren! Anvar rang nach Luft und umklammerte in Panik die Finger, die ihn würgten. Aurians Mund öffnete sich, ihr Gesicht verkrampfte sich zu einem entsetzlichen Zerrbild, und ihm gefror das Blut, als Miathans Stimme ihn aus ihren geöffneten Lippen anknurrte. »Anvar! Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte dein elendes Leben schon vor langer Zeit beenden sollen. Und welche Gunst des Schicksals, daß ich dich jetzt mit ihren Händen erwürgen kann!«

Der Griff um Anvars Hals zog sich enger zusammen. Im letzten Augenblick schrie er: »Nein, Aurian!« Dann bekam er keine Luft mehr. Seine Lungen brannten, sein Blick verdunkelte sich langsam. Dann lösten sich ihre Hände plötzlich, er wurde heftig davongestoßen und schlug aufs Deck, wo er winselnd versuchte, wieder Luft durch seinen zerquetschten Hals einzuatmen. Weit entfernt hörte er eine Stimme. Wie dankbar war er, daß es Aurian war, die seinen Namen rief. Als sich sein Blick wieder klärte, sah er verschwommen ihr Gesicht über seinem. Ihr eigenes Gesicht. Sie wirkte erschüttert und ratlos. »Bist du in Ordnung?« fragte sie.

Er nickte und ließ sich von ihr auf die Bank helfen. Seine Kehle fühlte sich an wie zerstoßen. Er griff nach dem Becher mit Rum und nahm unter großer Anstrengung einen Schluck. »Und du?« flüsterte er heiser.

»Jetzt ja.« Sie klang sehr erbost.

»Herrin, was ist passiert?« fragte er sie. »Kannst du dich an etwas erinnern?«

Aurian wandte ihren Blick von ihm ab und sprach mit monotoner, ausdrucksloser Stimme. »Ich bin eingeschlafen. Und plötzlich war ich nicht mehr in meinem Körper. Ich war irgendwo anders. Alles war grau und neblig, es war nicht in dieser Welt.«

»Ist das möglich?« stöhnte Anvar.

»Natürlich ist das möglich!« knurrte die Magusch. Sie zitterte, so hatte sie sich anstrengen müssen, die Selbstbeherrschung zu bewahren. »Miathan – er hat mich in Besitz genommen. Er hat mich irgendwie beherrscht, und ich konnte mich nicht bewegen; ich konnte nicht mehr zurück. Ich habe versucht zu kämpfen, aber ich konnte überhaupt nichts tun. Dann habe ich deine Stimme gehört, und das schien seine Konzentration gestört zu haben. Dadurch konnte ich ihn abschütteln!« Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich hätte eigentlich nicht gewinnen können – nicht, wenn es nach ihm gegangen wäre. Nur schien er irgendwie nicht seine ganze Kraft eingesetzt zu haben …«

»Vielleicht, weil er zur gleichen Zeit deinen Körper benutzt hat«, schlug Anvar als Erklärung vor.

»Also deswegen habe ich versucht, dich umzubringen!« rief Aurian. »O ihr Götter – der Gedanke, daß er mein Bewußtsein beherrscht – meinen Körper benutzt …« Sie wandte sich heftig würgend ab. Anvar bot ihr den Becher mit Schnaps an, aber sie lehnte ab.

»Wie bist du wieder zurückgekommen?« fragte er sie, in der Hoffnung, sie dadurch von der Schreckensvorstellung ablenken zu können.

»Ich weiß nicht – es gab eine Art Stoß, und dann fand ich mich mit meinen Händen an deiner Gurgel wieder.«

»Wo ist er jetzt?« Anvar wurde plötzlich unruhig.

Aurian machte ein mißmutiges Gesicht. »Ich weiß es nicht, und das gefällt mir nicht. Er …«

Eine gewaltige Welle schlug über das Vorschiff und durchtränkte die beiden mit eiskaltem Wasser. Keuchend strich Aurian sich ihr triefendes Haar aus den Augen und blickte sich entgeistert um. Schwarze, brodelnde Wolken brausten über den Himmel und löschten mit unglaublicher Geschwindigkeit einen Stern nach dem anderen aus. Schwere Windböen zerrten an den Segeln, und der Mast knarrte bedrohlich, während sich das Schiff beängstigend weit zur Seite neigte. Mit einem Schrei stürzte der Ausguck von dem sich senkenden Mast und verschwand in den heranwälzenden Wogen. Wieder ging eine besonders schwere See über das Deck, nachdem der Bug des Schiffes in ein tiefes Wellental abgetaucht war. Aurian und Anvar fanden sich im Speigatt wieder – die Gewalt des Wassers hatte sie einfach weggespült. Die Mannschaft kam an Deck, alles, was Beine hatte. »Was, zur Hölle, geht hier vor?« stieß Jurdag schrill hervor. »So schnell kommt doch kein Sturm auf!«

Die Gewalt des Unwetters nahm weiter zu, und damit auch die Höhe der Wellen, die mit dem kleinen Schiff spielten. Noch einmal neigte es sich bedrohlich zur Seite, und Aurian klammerte sich an Anvar, als der nächste Brecher über das Schiff hinwegging.

»Schneidet es los!« röhrte Jurdag, und die Magusch blickte auf, als sie die Panik in seiner Stimme bemerkte. Das triefnasse Hauptsegel saß fest. Der Wind drückte es immer weiter nach unten und drohte, das Schiff zum Kentern zu bringen. Zwei Mann kletterten in die Takelage, um den Befehl auszuführen, aber die nächste haushohe Welle riß sie fort. Der Mast senkte sich noch einmal bedrohlich; das schwere Segel versank fast in den Fluten.

Aurian wußte, daß sie schnell handeln mußte. Sie stand auf und kam irgendwie bis zum Vormast, an den sie sich um ihres Lebens willen so fest wie nur möglich klammerte, während das Schiff unter ihr stampfte und schlingerte. Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte sie, ihre ganze Aufmerksamkeit auf das strapazierte Segel zu richten, aber es war nicht möglich, sich gleichzeitig am Mast festzuhalten und sich auf ihre Magie zu konzentrieren. Sie sah sich nach Anvar um. »Gib mir hier festen Halt«, überschrie sie den brüllenden Sturm. »Halt mich!« Sofort war er an ihrer Seite, legte einen Arm um den Mast und stemmte sich gegen das schräg stehende Deck ab, während er sie mit dem anderen Arm fest um die Taille nahm.

»Jetzt!« Aurian hob ihre Hände, und mit einem Donnerschlag spaltete sich das Segel in der Mitte, riß von oben bis unten durch. Unverzüglich begann sich das Schiff wieder aufzurichten, während sich das Segeltuch in einem Gewirr von Schote, Stagen und Wanten um den Mast wickelte. Der Kapitän stand einen Augenblick lang glotzend da und begann dann, der verbliebenen Mannschaft Befehle zu geben, damit die Trümmer beseitigt und die Vorsegel gerefft wurden. Selbst mit dem kleinen Fetzen Segeltuch am Vormast, das noch oben blieb, trieb der Sturm das Schiff mit mörderischer Fahrt vor sich her.

Anvar ging bis dicht an Aurians Ohr. »Es sieht schlecht aus«, rief er. »Wir müssen Sara herausholen.« Sie klammerten sich fest aneinander, nutzten alles aus, was gerade zur Hand war, taumelten und krochen über das sturmgepeitschte Deck, ständig in Gefahr, von den massiven Brechern über Bord gespült zu werden. Das Wasser war überall. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bevor sie schließlich die Zuflucht ihrer Kabine erreichten.

Die Tür war von einem Haufen Treibgut blockiert, das die hereinkommende See dort aufgehäuft hatte. Aurian fluchte und hob noch einmal ihre Hände.

»Schütz deine Augen!« schrie sie Anvar zu. Und schon flogen Scherben und Splitter umher, als sie die Masse wegblies. Anvar riß die Tür auf, und sie stürzten hinein, gefolgt von einem Schwall eisigen Wassers.

Sara schrie und kletterte in die Koje, als die Flut über den Boden der Kabine gesprudelt kam. Anvar, der sich gegen die Gewalt des Wassers wehrte, versuchte verbissen, aber erfolglos, die Tür zu schließen, bis sich Aurian ebenfalls dagegenwarf. Mit vereinten Kräften konnten sie die Luke schließlich dicht bekommen und verhindern, daß der Ozean ihnen noch mehr Wasser hineinschickte. Nach Luft ringend, blickte Aurian auf die schmutzige Brühe hinab, die an ihren Stiefeln leckte.

»Nun ja«, sagte sie, »die Planken hier hatten Wasser auch bitter nötig.« Gebückt schob sie sich durch die Kabine, bis sie ihren Zauberstab gefunden hatte, den sie sich tief in den Gürtel steckte. »Gehen wir«, sagte sie knapp. »Wir müssen hier raus sein, bevor das Schiff sinkt.«

»Herrin, der Sturm läßt doch sicherlich bald wieder nach?« In Anvars Stimme lag eine unausgesprochene Bitte.

Aurian schüttelte den Kopf. »Nein, Anvar. Dieser Sturm ist Eliseths Werk, und er wird solange toben, bis ihre Kräfte sie im Stich lassen – und das kann noch eine ganze Weile dauern – oder bis das Schiff gesunken ist. Miathan will, daß wir sterben.«

Sara gab einen verängstigten Aufschrei von sich und brach in Tränen aus. Anvar sah mit aschgrauem Gesicht die Magusch an. »Herrin, ich kann nicht schwimmen«, sagte er.

Aurian starrte ihn an; sie konnte nur mit Mühe auf dem stampfenden Schiff ihren Halt wahren. »Was soll das heißen, du kannst nicht schwimmen?« fragte sie.

»Ich kann es nicht. Sara kann es – sie mußte schwimmen lernen, da sie am Fluß lebte –, aber mein Vater hat immer so viel für mich zu tun gehabt, daß ich nicht dazu gekommen bin, es zu lernen.«

Aurian schlug sich verzweifelt vor die Stirn. »Als hätten wir nicht schon genug Probleme!« sagte sie. »Bleib bei mir. Ich werde versuchen, dir zu helfen, aber um ehrlich zu sein, Anvar, ich glaube, der einzige Unterschied wird sein, daß du etwas eher aus diesem ganzen Elend heraus bist als der Rest von uns. In so einer See kann niemand überleben.« Sie war verbittert, mutlos, am Ende.

Ein gewaltiger Donnerschlag über ihnen ließ sie aufspringen, und ein blendender Blitz erhellte das Fenster. Über ihnen gab es ein ohrenbetäubendes Krachen, gefolgt von einem Aufprall, der das gesamte Schiff erschütterte. Die Lampe ging aus, und es wurde stockfinster. Aurian wurde unvermittelt nach vorn geworfen und prallte mit Anvar und Sara zusammen. Sie kroch wieder auf die Füße, hielt sich an der Koje fest, um überhaupt stehen zu können, und formte eine Kugel von Maguschlicht. Der Boden der Kabine fiel jetzt zum Bug des Schiffes hin steil ab. Aurian fluchte. Anvar wurde immer noch von Sara behindert, und die Magusch zog sie von ihm fort, damit er aufstehen konnte. »Beeilt euch«, schrie sie. »Wir müssen schnellstens hier raus!«

Als sie auf Deck kamen, bot sich ihnen ein Bild der Verwüstung. Der Hauptmast war vom Blitz getroffen worden. Er hatte Feuer gefangen und hing zur Hälfte herunter, war in die Verstagung des Vormastes gestürzt, der seinerseits mit seiner Verankerung einen Teil der Decksplanken herausgesplittert und den Vordersteven an der Steuerbordseite zerschmettert hatte. Er ragte jetzt ins Wasser hinaus und brachte das Schiff aus dem Gleichgewicht. Dieses bot inzwischen den heranrollenden Wogen, die es langsam auseinanderrissen, seine Breitseite dar. In das zerschmetterte Vorschiff strömte die See ein. Der Kapitän klammerte sich immer noch verzweifelt ans Steuerrad – eine nutzlose Geste, da das Ruder weit aus dem Wasser ragte.

Das Schiff sank. Während sie noch wie gelähmt dastanden, begann es zu kentern. Das Deck neigte sich immer steiler – sie fielen! Aurian spürte noch, wie Anvar ihre Schulter ergriff, dann aber seinen Griff löste, als sie vom eisigen Wasser verschluckt wurde; sie spürte den Strudel, der sie mit dem sinkenden Schiff in die Tiefe zu ziehen drohte. Die Wassermassen schlugen über ihr in einer Gischt von Schaum zusammen, und verzweifelt ruderte sie mit den Armen, um sich aus dem Gefahrenbereich zu bringen. Aber der Sog war zu stark. Sie hielt den Atem an, während sie nach unten gezogen wurde, und dann war wieder Miathan da. Sie fühlte den Griff seines Willens, der sich mit eisigen Klauen tief in ihr Bewußtsein grub.

Es war zuviel. Während sie so nahe daran war, zu ertrinken, während sie all ihre verbliebenen Kräfte benötigte, um zu überleben, kam er wieder über sie. Aurian spürte, daß eine blutrote Woge von Zorn in ihr aufbrandete. Sie mußte daran denken, wie Finbarr mutig standgehalten hatte; und sie dachte an Forral, der von den verderbten Kreaturen des Erzmagusch brutal dahingeschlachtet worden war. Miathan hatte ihn um einen Tod betrogen, wie er eines Kriegers würdig war. In ihrer blinden Wut keines Gedankens mehr fähig, öffnete sie ihren Mund, um ihn laut zu verfluchen. Salzwasser strömte ihr in den Hals und durchflutete brennend ihre Lungen. Gut, sie würde ihr Bestes tun, um ihn mit sich zu nehmen. Mit einem Ruck riß sie sich aus seinem Griff los, löste ihr Bewußtsein von ihrem Körper und befahl ihren Willen zurück nach Nexis. Da hockte er, wie eine Spinne über seinen Kristall gekauert. Aurian fuhr in den Kristall, konzentrierte die ganze Gewalt ihres Feuerzaubers und schoß einen gebündelten Strahl von Energie in seine Augen. Miathan schrie auf – ein furchtbarer, schmerzhafter Laut – und schlug sich die Hände vors Gesicht. Zwischen seinen Fingern stieg Rauch empor, als er sich geblendet abwendete.

Es hatte nicht gereicht. Verdammt sei meine Schwäche! fluchte Aurian. Während ihr sterbender Körper sie wieder in sich aufnahm, durchlitt sie die Bitterkeit des Versagens. Er lebte noch, das wußte sie. Es gab nur einen Trost, an den sie sich mit den letzten Fasern ihres Bewußtseins klammern konnte: Sie hatte ihn geblendet – seine Augen unheilbar zerstört. Das ist für Forral, du Bastard, dachte sie. Dann umfing sie Dunkelheit.

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