10 Ein Schatten des Bösen

Nachdem Anvar als Lady Aurians Diener an die Akademie zurückgekehrt war, hatte sein Leben dort mit dem, was er zuvor durchgemacht hatte, nur noch wenig gemein. Er brauchte nicht länger die Quälereien der Küchenbediensteten zu ertragen, denn die persönlichen Dieser der Magusch lebten vom übrigen Gesinde getrennt und unter ganz anderen Bedingungen. Elewin, der Haushofmeister, ein großer, hagerer, silberhaariger alter Mann mit sanften Gesichtszügen, herrschte mit eiserner Hand über die Dienerschaft des Hauses, aber er war peinlich gerecht und duldete keinen Klatsch unter seinen Untergebenen. Solange Anvar hart arbeitete und keine Schwierigkeiten machte, stand Elewin dafür ein, daß man ihn in Frieden ließ.

Er bekam eine Koje im Schlafsaal der Dienerschaft, gleich neben dem Maguschturm, und regelmäßige, kräftige Mahlzeiten im direkt anschließenden Speisesaal. (Der Gedanke, daß Janok und sein gräßliches Küchenvolk jetzt für ihn kochten, gab Anvar eine gewisse Befriedigung.) Die Leibdiener erhielten täglich frische, saubere Arbeitskleider, und weil sie in direkten Kontakt mit den Magusch kamen, war bei ihnen gutes, anständiges Benehmen wichtig.

Anvar wurde zwischen Empfindungen der Dankbarkeit und des Grolls für die Magusch, die ihn gerettet hatte, hin- und hergerissen. Sie hatte ihn vor dem Zorn des Erzmagusch bewahrt, und ihr verdankte er es, daß sein Leben um vieles besser geworden war; aber indem sie von ihm verlangt hatte, Miathans Eid zu schwören, hatte sie ihn hier auch in einer Falle gefangen.

Andererseits gab es für ihn kein anderes Leben mehr, seit Sara ihn so grausam zurückgewiesen hatte. Aber durfte er Sara das übelnehmen? Daß er mit ihr ein Kind gezeugt hatte, war die Ursache dafür, daß sie diesem Rohling von Kaufmann als Ehefrau verkauft worden war. Selbst wenn sie es in Vannors Gegenwart gewagt hätte, ihm zu helfen, welchen Grund hätte sie dafür haben sollen? Nein, sie hatte eher allen Grund, ihn zu hassen. Anvar war gebrochen und verloren. Er hatte nichts mehr – nicht einmal mehr Hoffnung. Nichts als seine Arbeit. Also arbeitete er, so hart er konnte, und hatte nur den einen Wunsch, daß seine Herrin ihm noch mehr zu tun gäbe, damit ihm weniger Zeit für seine Gedanken blieb. Elewin war zufrieden mit ihm, und Anvar genoß nach Janoks Mißhandlungen das freundliche Lob des Hofmeisters.

Die anderen Magusch nahmen kaum Notiz von den Dienern. Bei den selten Gelegenheiten, zu denen er mit ihnen zu tun hatte, fand Anvar, daß Meiriel schroff und tüchtig war, Finbarr freundlich, aber zerstreut, und Eliseth kalt und schonungslos. D’arvan sprach kaum. Davorshan und Bragar waren die beiden, vor denen man sich hüten mußte. Davorshan war schlicht ein Flegel, aber Bragar neigte zur Grausamkeit. Regelmäßig mißhandelte er seine Diener, die ihn allesamt fürchteten. Selbst Elewin versuchte, dem Feuermagusch aus dem Weg zu gehen.

Anvar hatte erwartet, daß Lady Aurian ihn, nachdem sie mit der typischen Arroganz der Magusch über sein Schicksal entschieden hatte, als ihren Diener kaum noch zur Kenntnis nehmen, geschweige denn sich um ihn kümmern würde, aber damit lag er falsch. Sie hatte immer ein Lächeln und ein freundliches Wort für ihn übrig und bedankte sich ein ums andere Mal für die Dienste, die er ihr leistete. Ihre Rücksichtnahme trug ihr wenig Respekt bei der übrigen Dienerschaft ein, und das erstaunte ihn so, daß er eines Tages seinen ganzen Mut zusammennahm und Elewin danach fragte. »Das ist sehr einfach«, sagte der Hofmeister. »Ich fürchte, der Hausdienerschaft mangelt es etwas an Phantasie, und Lady Aurian unterscheidet sich von den anderen Magusch durch ihren regelmäßigen Umgang mit den Sterblichen. Sie verletzt damit das, was die Diener als die natürliche Ordnung an der Akademie ansehen, und das macht sie ängstlich.« Seine grauen Augen blinzelten. »Ich persönlich finde es erfrischend, aber lauf nicht herum und erzähle das weiter, mein junger Freund. Und verwechsel niemals ihre Freundlichkeit mit Weichheit. Wenn du dir Freiheiten herausnimmst, dann wirst du schnell merken, daß auch sie das den Magusch eigene Temperament besitzt.«

Anvar nahm sich den Rat zu Herzen. Er ließ immer noch Vorsicht walten bei seiner Lady, die eine von dem verhaßten Maguschvolk war und der man nicht trauen konnte. Er lebte in ständiger Furcht, was geschehen würde, wenn sich erst das Gerede, er habe seine Mutter ermordet, von der Küche aus bis zur Hausdienerschaft verbreitet hätte und schließlich, wie es bei Klatsch nicht anders zu erwarten war, auch seine Herrin erreichte. Es wunderte ihn, daß der Erzmagusch es ihr nicht selbst erzählt hatte, vor allem während der Auseinandersetzung in der Garnison. Eines Morgens dann, nachdem er etwa einen Monat lang zum Hauspersonal gehörte, bemerkte er, daß die anderen Diener die Köpfe zusammensteckten und ihn mieden; da wußte er, daß sein Geheimnis sich herumgesprochen hatte. Selbst der freundliche Elewin hatte nur noch finstere Blicke für ihn übrig. Anvar war froh, daß er mit dem Frühstück für seine Lady – den warmen, weichen, frisch gebackenen Brötchen, die das einzige waren, was sie zu so früher Stunde aß, und einer großen Tasse Taillin – eilig in ihrem Zimmer Zuflucht suchen konnte.

Die Magusch stand zu ihrem Schwerttraining in der Garnison früh auf, und ihr Zimmer war in dieser eiskalten Jahreszeit noch dunkel und frostig. Anvar deckte den Tisch, zündete die Lampen an und war gerade dabei, den Kamin sauberzumachen, als Aurian, die frühmorgens niemals ihre beste Laune hatte, mürrisch und verschlafen hereinkam. Anvar machte sich am Ofen zu schaffen, versuchte unverfänglich zu wirken und betete, daß die Gerüchte noch nicht zu ihr vorgedrungen waren. Er hörte ihre Schritte hinter sich auf dem Boden, das Kratzen ihres Stuhles auf dem Teppich und das gurgelnde Geräusch des Taillin, das sie sich in die Tasse goß. Dann räusperte sie sich. »Anvar – ich will mit dir reden.«

Die wieder in ihm aufsteigende Furcht vor den Magusch ließ Anvar das Herz bis zum Hals schlagen. Mit einem ohrenbetäubenden Klirren fiel ihm der Eimer zu Boden, mit dem er gerade hantiert hatte und dem nun zu seinem Entsetzen eine Wolke von Asche entstieg, die sich im ganzen Zimmer zu verteilen drohte. Die Magusch sprang mit einer wilden Verwünschung von ihrem verdorbenen Frühstück auf; ihr Haar und ihr Gesicht waren grau gepudert. Anvar warf sich ihr zitternd zu Füßen. »Herrin, bitte«, bat er, »es war ein Versehen.«

»Natürlich war es das.« Aurian kniete sich neben ihn. »Kriech nicht so herum, Anvar – es tut mir leid, daß ich dich erschreckt habe. Ich war noch im Halbschlaf, und der Krach hat mir einen Mordsschrecken eingejagt.«

Sie entschuldigte sich – bei ihm! Anvar sah erstaunt zu der Magusch auf, und ihre Lippen begannen sich zu kräuseln. »Götter«, kicherte sie, »du siehst aus wie eine Kreuzung zwischen einem Geist und einer Vogelscheuche!« Sie fuhr sich mit der Hand durch ihr üppiges rotes Haar und war augenblicklich von einer dicken grauen Wolke eingeschlossen.

»Herrin, es tut mir wirklich furchtbar leid«, sagte Anvar unglücklich, während sie hustete und würgte.

»Nichts von Belang. Das haben wir gleich.« Sie schnipste mit den Finger, und augenblicklich war jedes Stäubchen Asche wieder zurück im Eimer. Sie warf ein paar Holzscheite in den Kamin und entzündete sie mit einer beiläufigen Geste. »Wir Magusch sind so daran gewöhnt, immer jemanden um uns zu haben, der alles für uns tut, daß wir vergessen, was wir alles selbst können.« Dann wurde sie ernst. »Komm und setz dich zu mir, Anvar. Ich muß dich etwas fragen.«

Die Lady führte ihn zum Tisch und goß ihm in ihre eigene Tasse Taillin ein. Seine Hände zitterten, als er die Tasse nahm. Aurian setzte sich ihm gegenüber und blickte ihn mit ihren grünen Augen unverwandt an. »Elewin erzählt mir, du hättest deine Mutter ermordet«, sagte sie geradeheraus. »Ist das wahr?«

Anvar biß sich auf die Lippen und wußte nicht, was er antworten sollte. Er hatte Angst, Miathans Band zu aktivieren, wenn er die Wahrheit sagte. Außerdem würde sie ihm niemals glauben.

»Nun?« Die Magusch brach das Schweigen, das nun schon eine Weile andauerte. »Warum willst du nicht antworten? Hast du Angst?« Sie griff über den Tisch und nahm seine Hand. »Schau mal«, sagte sie sanft, »ich kann das nicht glauben, und Elewin ebensowenig. Als er von Janok – der es offenbar von Miathan hat – hörte, daß du ein Mörder bist, war er so besorgt, daß er sofort damit zu mir kam. Ich kann mir nicht vorstellen, daß das die Wahrheit ist, Anvar. Wenn du des Mordes angeklagt worden wärest, dann hätte dein Fall Forral vorgelegt werden müssen, aber das ist nie geschehen. Ich will jetzt deine Version der Angelegenheit hören. Wenn du unrechtmäßig versklavt worden bist, dann werde ich mein Bestes tun, um dir zu deinem Recht zu verhelfen.«

Anvar starrte sie an, unfähig zu glauben, daß sie auf seiner Seite stand. »Das hat keinen Zweck«, sagte er schließlich. »Mein Vater hatte das Recht, mich als Sklaven zu verkaufen. Ich war noch zu jung – einen Monat zu jung –, um vor dem Gesetz als Mann zu gelten.«

»Und der Rest?« fragte Aurian sanft.

Anvar versuchte, seine Tränen zurückzuhalten. »Wie hätte ich sie umbringen können?« weinte er. »Ich habe sie geliebt!«

Mit unendlicher Geduld entlockt Aurian ihm die Geschichte vom Tod seiner Mutter, obwohl er ihr nicht sagen konnte, wie er das Feuer gelöscht hatte. »Es war ein Unfall«, schloß er, »aber er hat sich meinetwegen ereignet. Mein Vater gab mir die Schuld und hat mein Leben besiegelt, um es mir heimzuzahlen.«

Aurian erschauderte. »Dein Vater ist ein Bastard«, sagte sie.

»Nein.« Anvar schüttelte den Kopf, sein Gesicht brannte vor Scham. »Ich bin der Bastard. Darum hat es es ja getan.« Weiter durfte er sich nicht vorwagen, konnte ihr unmöglich die ganze Wahrheit erzählen.

»Anvar!« Aurians Griff um seine Hand wurde fester und ihr Gesichtsausdruck bekam etwas Wildes. »Hör zu! Selbst wenn ich wegen der Sklaverei nichts tun kann, will ich nicht, daß man dich fälschlicherweise des Mordes bezichtigt. Ich werde noch heute morgen mit Forral sprechen. Zumindest können wir deinen Namen reinwaschen.«

Von jenem Tag an begann sich Anvars Verhältnis zu der Magusch zu ändern. Aurian ließ Forral Nachforschungen anstellen, und nachdem die Ladenbesitzer aus den Arkaden befragt worden waren, entschied der Kommandant, daß Rias Tod ein Unfall gewesen war. Aurian machte das in der Akademie bekannt, und so blieb Anvar wenigstens von den scheelen Blicken und dem anklagenden Geflüster der anderen verschont. Erst als es vorüber war, erkannte er, wie sehr diese Schuldzuschreibung, dieses Verurteilung auf ihm gelastet hatte, und – Magusch hin, Magusch her – Anvar war seiner Lady wirklich dankbar.

Aurians Freundlichkeit ihm gegenüber wurde immer ausgeprägter. Er war fast so, als versuchte sie, das, was er ungerechterweise hatte ertragen müssen, wiedergutzumachen. Wenn er in ihren Räumen arbeitete, bat sie ihn oft, sich zu ihr zu setzen und ein Glas Wein oder etwas Taillin mit ihr zu trinken; dabei wurde Anvar mit einer neuen Gefahr konfrontiert. Hier und da während ihrer Unterhaltungen ließ Aurian eine Frage über seine Vergangenheit oder seine Familie fallen, und er war um eine Antwort verlegen. Es war so leicht, mit ihr zu reden, daß er ständig in der Gefahr schwebte, den auf ihm lastenden furchtbaren Fluch des Erzmagusch auszulösen. Manchmal war er versucht, sie ins Vertrauen zu ziehen und um ihre Hilfe zu bitten, aber obschon sie soviel für ihn getan hatte, blieb sie doch eine Magusch, Miathans Liebling zudem, und irgendwie konnte er sich nie ganz dazu durchringen, ihr zu vertrauen.

Nichtsdestoweniger machte sich Anvar mit der Zeit immer mehr Sorgen um seine Lady. Sie arbeitete zuviel. Es kam ihm so vor, als versuchte sie – genau wie er selbst –, sich durch ständige Aktivitäten von ihren Sorgen frei zu machen. Wenn sie vom Schwerttraining oder von ihrem Unterricht im magischen Heilen bei Meiriel zurückkam, wirkte sie völlig erschöpft, und Anvar wunderte sich oft über die Traurigkeit, die ihre Züge überschattete. Sie verbrachte immer weniger Zeit in der Garnison und ging schließlich nur noch zum Morgentraining dorthin. Anvar fragte sich bald, ob Aurians unglückliche Stimmung irgendwie mit Forral zu tun haben könnte.

Was er sicher wußte, war, daß ihr Miathan mit seinen Aufmerksamkeiten lästig wurde. Miathan hatte es sich inzwischen angewöhnt, Aurian zu merkwürdigen Zeiten zu besuchen – spätabends oder am Morgen, wenn sie vom Fechttraining aus der Garnison kam und zu baden pflegte. Er überhäufte sie mit Geschenken und fand ständig irgendwelche Vorwände, um sie zu berühren. Anvar sah die glühende Besitzgier in den Augen des Erzmagusch und hatte Angst um Aurian.

Da seine Furcht vor Miathan unvermindert anhielt, machten Anvar dessen häufige Besuche nervös. Denn Aurian hatte begonnen, ständig neue Vorwände für die Anwesenheit ihres Dieners in ihren Räumen zu finden, wenn der Erzmagusch bei ihr war, und sie dachte sich zahllose schwierige Aufgaben aus, um Anvar dortzubehalten. Anvar konnte es ihr kaum übelnehmen – eigentlich war er erleichtert, daß sie sich instinktiv zu schützen versuchte, obwohl es für ihn so aussah, als reagiere sie auf Miathans Benehmen eher mit Ratlosigkeit als mit Abwehrbereitschaft. Es war zwar kaum zu glauben, aber sie betrachtete Miathan fast als einen Vater und konnte einfach nicht glauben, daß er ihr Vertrauen in ihn mißbrauchen könnte.

Aurian mochte der Wahrheit vielleicht nicht ins Auge sehen wollen, aber für Anvar gab es keinen Zweifel. Während seiner Arbeit spürte er, wie sich Miathans Blick in seinen Rücken bohrte, und wenn er sich zu ihm herumdrehte, konnte er dem mit Abscheu und Feindschaft geladenen, grausamen Blick nicht ausweichen – er enthielt eine unmißverständliche Drohung. Der Gedanke, dem Erzmagusch in die Quere zu kommen, ließ ihn vor Angst zittern. Miathan war keiner, der sich seine Pläne vereiteln ließ, und Anvars einziger Schutz vor ihm war Aurian. Der Erzmagusch war nicht bereit, sie gegen sich aufzubringen, indem er ihr ihren Diener nahm. Aber es war nur eine Frage der Zeit. Anvar wußte, daß Miathans Geduld ihre Grenzen hatte und daß sich die Dinge früher oder später zuspitzen würden. Als Anvar erfuhr, daß Aurian den Sommer gewöhnlich bei ihrer Mutter verbrachte, ergriff die Angst ganz von ihm Besitz. Er wußte, daß es seiner Lady guttun würde, für eine Weile sowohl von Forral als auch von Miathan fortzukommen, aber zugleich war er in Panik, daß sie ihn schutzlos in der Gewalt des Erzmagusch zurücklassen würde. Er war sich sicher, daß er in diesem Falle nicht mehr dort sein würde, wenn sie zurückkam. Er wußte nicht einmal, ob er dann noch am Leben sein würde.

Am Tag bevor Aurian ihre Reise antreten sollte, saß Anvar mit einem Fettlappen in einer Hand und einem ihrer Reitstiefel in der anderen auf dem Boden ihres Schlafraumes. Er verlieh dem weichen braunen Leder den letzten Glanz, stellte den Stiefel dann zu seinem Gegenstück und wandte sich mit einem Seufzer den säuberlich gefalteten Kleidern zu, die auf dem Bett lagen. Er sollte eigentlich Aurians Satteltaschen packen, aber es war ihm unmöglich, sich auf diese Aufgabe zu konzentrieren. Die Magusch hatte ihm immer noch nicht gesagt, ob er mit ihr kommen konnte – sie hatte erzählt, daß Miathan aus irgendeinem Grund seine Erlaubnis dazu verweigert hatte, daß sie aber immer noch hoffte, ihn überzeugen zu können. Anvar wußte, was das bedeutete. Er war deshalb nicht überrascht, als er Aurian wie einen Hurrikan in ihre Räume stürmen hörte. Die Tür fiel mit einem markerschütternden Krachen ins Schloß, und dann hörte man eine Folge blutrünstiger Flüche. Anvar schauderte. Offensichtlich war Miathan bei seinem Nein geblieben.

Aurian stürmte immer noch fluchend in ihren Schlafraum und blieb wie angewurzelt stehen, als sie ihn erblickte. »Anvar! Wieso bist du noch hier?«

»Es tut mir leid, Herrin – es dauert länger, als ich dachte.«

»Macht nichts – es hat keine Eile.« Aurian ging ins andere Zimmer zurück und kam dann mit zwei Gläsern Wein wieder. Sie gab ihm eins und setzte sich aufs Bett. »Es tut mir leid, Anvar. Der Erzmagusch wollte einfach nicht nachgeben. Ich weiß nicht, was in der letzten Zeit über ihn gekommen ist – er war doch sonst nie so.«

Obwohl er versuchte, seine Angst zu verbergen, begann das Glas in Anvars Hand zu zittern, und Aurian schenkte ihm einen verständnisvollen, mitfühlenden Blick. »Schau nicht so besorgt drein«, sagte sie hastig. »Ich weiß, daß du Angst vor Miathan hast, aber du wirst ihn kaum zu sehen bekommen, während ich fort bin. Ich habe mich gestern abend mit Finbarr unterhalten, und er hat vorgeschlagen, daß du ihm in den Archiven helfen könntest. Er ist dabei, Dokumente zu sortieren, und es ist mehr Arbeit, als einer allein bewältigen kann. Würde es dir etwas ausmachen?«

Ob es ihm etwas ausmachen würde? Anvar wurde schwindelig vor Erleichterung. Seit sie entdeckt hatte, daß er lesen konnte, hatte Aurian ihm die Aufgabe übertragen, ihr bei ihren eigenen Forschungen zu helfen, so daß er Finbarr inzwischen sehr gut kannte. Obwohl auch er ein Magusch war, mußte Anvar den klugen Archivar einfach gern haben, und er wußte, daß er als Finbarrs Diener in Sicherheit sein würde. Unten in den Katakomben würde er weit genug von Miathan entfernt sein, obwohl er nicht wußte, ob Finbarr wirklich Verwendung für ihn haben würde. Wie er seine Lady kannte, hatte Aurian dem Archivar diese Idee sicherlich aufgeschwatzt.

Aber als Anvar in die Kellergewölbe hinabstieg, um seinen neuen Dienst anzutreten, belehrte ihn Finbarrs zerzauste, schmutzige Erscheinung schnell eines Besseren. Der Archivar begrüßte ihn mit Erleichterung. »Meiner Treu, dein Anblick kommt dem müden Auge sehr gelegen, Anvar! Aurian hatte mir ihre Hilfe bei dieser mühseligen Arbeit angeboten, aber ich habe darauf bestanden, daß sie uns, wie gehabt, im Sommer verläßt. Ich habe mir in letzter Zeit Sorgen um sie gemacht – sie übertreibt es mit der Arbeit. Außerdem brauche ich nichts als eine rasche Auffassungsgabe und ein Paar zusätzlicher Hände – obwohl du natürlich kein so erfreulicher Anblick bist wie sie, wenn du mir die Bemerkung gestattest. Komm hierher – ich arbeite im Moment in den unteren Etagen.« Er streckte seine verstaubte Hand mit einer Grimasse aus. »Da unten gibt es Sachen, die seit Jahrhunderten niemand mehr angerührt hat.«

Die Tage, da Aurian abwesend war, gingen für Anvar schnell vorbei. Er mußte für Finbarr härter arbeiten, als er es für seine Lady getan hatte, aber es war für ihn eine endlose Faszination, die alten Dokumente zu sichten und zu sortieren. Der Archivar war begeistert über seine Hilfe und mehr als glücklich, sein Interesse angefacht zu haben.

Finbarr versuchte, sich das lange vernachlässigte Sortieren der Schätze, die in den unteren Etagen lagerten, für die Forschungen zu seinem Lieblingsthema – der alten Geschichte des Maguschvolkes – zunutze zu machen. »Wenn du die Annalen durchblätterst, mein Junge«, erklärte er Anvar. »Wirst du finden, daß jeder Archivar sein besonderes Steckenpferd hatte. Wir sind in einer merkwürdigen Position – die magischen Fähigkeiten eines Archivars haben kaum Bedeutung, abgesehen davon, daß man sie benutzen kann, um die Arbeit etwas zu erleichtern. Meine eigenen magischen Kräfte zum Beispiel sind hauptsächlich die der Luft und des Feuers, aber meine Vorgängerin war eine Wassermagusch, und das, was sie geleistet hat, indem sie die alleruntersten Etagen trockengelegt hat, so daß wir jetzt darin arbeiten können, ist von unschätzbarem Wert. Was aber wirklich zählt, ist Ordnungsliebe und ein unstillbarer Durst nach Wissen – das macht den echten Archivar aus!«

Während ihrer Arbeit lauschte Anvar wie gebannt, wenn Finbarr seine Theorien über die verheerenden Kriege der alten Magusch darlegte. »So vieles«, pflegte der Archivist zu klagen, »ist bei der Zerstörung von Alt-Nexis verlorengegangen. Weißt du, es gibt in den Chroniken vage, nicht weiter belegte Hinweise darauf, daß wir damals nicht die einzige Rasse des Maguschvolkes waren. Natürlich wissen wir, daß es die Drachenleute gab, obwohl unsere Kenntnisse von ihnen recht dürftig sind; aber manche Quellen – die viele meiner Vorgänger als Archivare als die schwärzeste Häresie gebrandmarkt haben, so wahr ich hier stehe – deuten darauf hin, daß die Verheerung tatsächlich von einem Magusch ausgelöst wurde, der fliegen konnte, wenn du dir das vorstellen kannst! Und nach anderen Quellen sieht es so aus, als hätte es Magusch gegeben, die im Meer lebten, und daß alle diese Rassen an der Entwicklung der vier legendären Waffen der Elemente beteiligt waren …« Er seufzte. »Wenn ich nur etwas finden könnte, das unsere Unkenntnis dieser Zeiten verringerte … Wenn diese vier Werkzeuge der Macht tatsächlich existiert haben, dann müssen sie zum größten Teil noch vorhanden sein – und wenn sie in die falschen Hände geraten sollten, dann könnte die Geschichte sich leicht wiederholen …«

Obwohl Anvar, anders als Finbarr, die Möglichkeit einer neuen Verheerung keine schlaflosen Nächte bereitete, hoffte er, daß der Archivar fände, wonach er suchte. Er wußte, daß ihn Finbarrs Suche nach Wissen um des Wissens willen früher geärgert haben würde angesichts der Armut und des Leidens, dem so viele Sterbliche ausgesetzt waren. Aber der Archivar meinte es gut, und er mußte sich ehrlicherweise eingestehen, daß er Finbarrs Enthusiasmus sehr ansteckend fand.

An einem strahlend hellen, frischen Tag, der schon vom nahen Herbst zeugte, entschied Finbarr, daß es an der Zeit war, sich mit dem alleruntersten Kellergeschoß zu beschäftigen. »Ich muß dich nutzen, so gut ich kann, bevor Aurian zurückkommt«, lächelte er. »Sie kann jetzt jeden Tag eintreffen. Ich möchte wissen, was sie sagen würde, wenn ich mich entschlösse, dich für immer zu behalten.«

Einen Augenblick lang war Anvar versucht, an dieser Idee Gefallen zu finden. Er hatte dem Archivar gern geholfen, aber was noch wichtiger war, er hatte während Aurians Abwesenheit den Erzmagusch kein einziges Mal gesehen. Als Finbarrs Diener würde er sich sicherer fühlen können, und er würde auch dem Schrecken von Miathans Besuchen bei seiner Lady entgehen. Aber dennoch verspürte er bei dem Gedanken, Aurian zu verlassen, starken Widerwillen. In letzter Zeit war er selbst erstaunt gewesen, daß er Tag für Tag auf ihre Rückkehr wartete, und er hatte sich schließlich zu seinem Erstaunen zugeben müssen, daß er sie vermißte.

Anvar folgte Finbarr hinunter durch das Gewirr von Durchgängen und Treppen, das aus dem blanken Felsmassiv geschlagen worden war. Durch die erdnahen Stockwerke, in denen der Archivar Lichter aus glühendem Kristall entzündet hatte, gingen sie abwärts, bis die einzige Beleuchtung nur noch die schimmernde Kugel magischen Lichtes war, die Finbarr ihnen vorausschickte. Ihre Schatten hüpften und tanzten in dem irisierenden Licht der silbernen Kugel wie Schattenspielfiguren auf den rauhen Felswänden.

»Ich habe mir vorgestellt, daß wir hier unten anfangen.« Finbarr duckte sich durch einen offenen Bogengang, und Anvar folgte ihm in eine kleine Steinkammer hinein, in der ringsum an den Wänden durchgebogene Holzregale standen. Alles war von Staub und Spinnweben bedeckt, und viele der Regale hatten dem Gewicht der auf ihnen lastenden Stapel von Dokumenten nachgegeben. Schriftrollen und pergamentene Bögen bedeckten haufenweise den Boden. Der Archivar seufzte. »Bei Ionor dem Weisen«, murmelte er, »meine Vorgänger haben diese unteren Etagen schändlicherweise vernachlässigt. Es ist eine Lebensaufgabe, hier Ordnung zu schaffen, Anvar, mein Freund – also ist es das beste, wir fangen einfach an.« Er griff in die Taschen seiner Robe und verzog sein Gesicht irritiert zu einer Grimasse. »Verdammt! Ich habe kein einziges Glas dabei, um uns Licht zu machen.«

»Ich werde gehen«, bot Anvar an. »Ich weiß, wo du sie aufbewahrst, Herr.«

»Nein, nein. Für den Weg hinaus in die Bibliothek und wieder zurück brauchst du den halben Tag. Außerdem ist er für den Nichteingeweihten schwer zu finden.« Finbarr zwinkerte. »Aurian würde mir nie vergeben, wenn du mir in den Eingeweiden der Erde verlorengingest. Wir werden auch so zurechtkommen.« Er warf die Kugel von magischem Licht an die Decke, aber ein wenig zu hoch, so daß sie in einer Explosion von Funken gegen den Schlußstein des Gewölbes prallte und sie in voller Dunkelheit zurückließ.

»Atzende Fledermauskacke! Das passiert mir immer.« Finbarrs Stimme hallte ärgergeladen aus der Dunkelheit.

Anvar hielt den Atem an. Er hatte bei Nacht immer sehr gut sehen können, aber diese absolute Dunkelheit hatte er nie erlebt. Sie lastete auf ihm, als ob seine Schultern das ganze Gewicht des Felsens tragen müßten. In Panik wandte er sich zur Flucht. Sein Fuß verfing sich in einem Haufen Schriftrollen, er verlor das Gleichgewicht und stürzte mit voller Wucht gegen die Wand. Die Regale über ihm ergossen eine Lawine von Papier und gesplittertem Holz auf ihn, und dann gab in einer Wolke von Staub und einem steinernen Rumpeln ein ganzer Abschnitt der Wand unter seinem Gewicht nach.

Finbarr entzündete ein neues Licht. »Bei den Göttern, Anvar! Was hast du da gefunden!« Sein junges altes Gesicht leuchtete vor Erregung. Anvar kroch aus dem Durcheinander hervor und klopfte sich den Schutt und Staub von den Kleidern. Hinter der Wand war eine Kammer – nein, eine Höhle! Auf der anderen Seite führte ein Tunnel aus ihr heraus und ließ auf weitere Geheimnisse hoffen. Finbarrs Augen glühten hingerissen, als er seine Blicke über die Schätze in der Höhle streichen ließ. Alte Folianten, deren vergoldeter Schnitt im magischen Licht aufblitzte, steckten in Truhen und lagen auf dem Boden verstreut umher, als ob sie in höchster Eile dort hinterlassen worden wären. In einer Ecke lagen Wandteppiche aufgestapelt, und verschiedene handwerkliche Arbeiten – sie wirkten wie der persönliche Besitz von jemandem – waren an der gegenüberliegenden Wand aufgetürmt. Während Anvar sich alles besah, löste sich ein schöner goldener Kelch von dem Haufen und rollte über den Boden auf ihn zu. Er wollte hineingehen, um ihn zu nehmen, aber Finbarr riß ihn zurück. »Warte! Hier liegt Magie in der Luft! Diese Höhle ist geschützt!« Er zog Anvar am Arm aus der Höhle. »Wenn ich mich nicht irre«, sagte er, »dann hast du gerade die wichtigste Entdeckung unseres Zeitalters gemacht! Wir müssen sofort den Erzmagusch holen!«

Bevor sie im Eingang des Maguschturmes verschwand, nahm Aurian den vertrauten Anblick des Hofes der Akademie in sich auf und kam zu dem Schluß, daß sie froh war, wieder zurück zu sein. Obwohl ihr Besuch bei Eilin erfreulich verlaufen war, hatte sie Forral furchtbar vermißt und sich außerdem Sorgen gemacht, wie es Anvar ergangen war. Wieder endete sie schließlich bei der Frage, warum er solche Angst vor Miathan hatte und warum der Erzmagusch eine so ausgeprägte Abneigung gegen ihn entwickelt zu haben schien. Wenn Miathan wirklich geglaubt hätte, daß Anvar ein Mörder war, wäre das eine Erklärung – aber warum hatte er dann seine Haltung nicht geändert, nachdem die Unschuld des Dieners festgestellt worden war?

Während sie ihre schweren Satteltaschen die Stufen des Maguschturmes hinaufschleppte, dachte Aurian unwillkürlich, wie schön es wäre, wenn Anvar jetzt zur Stelle wäre, um ihr zu helfen. Irgendwie hatte es sie enttäuscht, daß er nicht im Hof auf sie wartete. »Aurian, du bist verrückt!«, sagte sie sich selbst, während sie langsam die Stufen hinaufstieg. »Woher hätte er denn wissen sollen, wann ich komme? Und außerdem hat er Besseres zu tun als das.«

All ihre Gedanken an Anvar waren schlagartig vergessen, als sie ihre Räume betrat. Miathan war bereits dort und wartete auf sie. »Meine liebste Aurian!« Der Erzmagusch machte einen Schritt auf sie zu, die Hände zum Willkommen ausgestreckt. »Ich habe dich von meinem Fenster aus auf den Hof reiten sehen. Ich bin so froh, daß du sicher wieder daheim bist!« Aurian wich eilig vor seiner überschwenglichen Begrüßung zurück und ließ ihre Satteltaschen fallen. Während Miathans Arme sich um sie schlangen, erstarrte sie in Panik. Wie hatte er es geschafft, in ihre Räume zu kommen? Sie hatte geglaubt, daß sie und Anvar die einzigen Schlüssel hatten. War ihrem Diener etwas zugestoßen? Das übermütige Funkeln von Miathans Augen und seine ruckartigen Bewegungen, die seine Erregung verrieten, ließen sie zurückweichen. Es war ihr ein leichtes gewesen, sich während ihrer Abwesenheit einzureden, daß sein merkwürdiges Verhalten nur in ihrer Einbildung existierte, aber plötzlich fand sie sich eines Besseren belehrt. Und jetzt endlich hatte er es geschafft, mir ihr allein zu sein.

Als er aus den Bibliothek kam, sah Anvar Aurians Pferd draußen vorm Tor zum Maguschturm stehen, und plötzlich waren alle Gedanken an seine erstaunliche Entdeckung in den Katakomben verflogen. »Meine Lady!« rief er freudig. »Sie ist zurück!« Er lief über den Hof und die Treppen des Turmes hinauf; Finbarr folgte ihm lächelnd.

»Nein! Laß mich in Ruhe, Miathan!« Aurians Schrei erscholl gerade in dem Moment, als Anvar und Finbarr ihre Gemächer erreichten.

Anvar keuchte erschreckt auf. Der Erzmagusch! Er zerrte wie wild am Türgriff, aber die Tür war verschlossen. Ohne nachzudenken, warf er sich gegen die Tür, hämmerte laut gegen das hölzerne Türblatt und hörte den Erzmagusch fluchen. Einen Augenblick später flog die Tür auf. Der Saum von Miathans Robe glimmte und schwelte noch, seine Hände waren mit Blasen bedeckt und schwarz vor Ruß. Sein Gesicht war bleich vor Zorn. »Wie kannst du es wagen, mich zu stören«, knurrte er und erhob seine Hand zum Schlag, aber Finbarr schob sich schnell zwischen den Erzmagusch und sein Opfer. Anvar dankte den Göttern für die Geistesgegenwärtigkeit des Archivars, während sich Miathan mit einem unterdrückten Fluch schnell zurückzog.

»Ich habe dich gestört, Miathan«, sagte Finbarr seelenruhig, als wäre alles in bester Ordnung. »Du mußt die Aufregung des Dieners entschuldigen – wir haben in den Archiven eine unglaubliche Entdeckung gemacht, die du dir sofort ansehen mußt.« Ohne auf eine Erwiderung zu warten, schob er sich am verblüfften Erzmagusch vorbei in den Raum. Anvar folgte ihm auf dem Fuße, blieb aber beim Anblick seiner Herrin wie angewurzelt stehen.

Aurian stand mit dem Rücken zur Wand in einer der Zimmerecken, ihre Kleider waren zerrissen, und ihre Augen blitzten vor Wut. Ihr loses und nicht wie sonst zu einem komplizierten Zopf geflochtenes Haar fiel in einer Welle von Karminrot fast bis zum Boden. Mit einer wie zu einer Klaue gekrümmten Hand umklammerte sie einen glühenden Feuerball, und ein rauchender Flecken auf dem Teppich bewies, daß es nicht der erste war. Als sie Finbarr und ihren Diener sah, ließ die Magusch die Flamme zwischen ihren Fingern langsam verlöschen und lehnte sich weiß und zitternd an die Wand.

Anvar war starr vor Zorn, aber Finbarr ergriff seinen Arm und hielt ihn zurück. »Ist irgend etwas nicht in Ordnung, Aurian?«

Er sah den Erzmagusch scharf an. Miathan zuckte die Achseln. »Ein einfaches Experiment mit Feuermagie, das mißglückt ist«, erwiderte er kühl. »Ich versuchte gerade, ihr zu helfen, als du dazukamst.«

»Soll ich nach Meiriel schicken?« fragte Finbarr den Erzmagusch, aber seine Augen wandten sich Aurian zu, während er sprach.

»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte Miathan kurz angebunden. Dann wandte er sich zur Tür, wieder ganz Freundlichkeit. »Nun, wollen wir gehen und uns eure erstaunliche Entdeckung ansehen? Die Lady wird sich uns sicherlich ebenfalls anschließen.« Es war fast ein Befehl, und Anvar verstand, daß der Erzmagusch sie nicht zurücklassen wollte.

»Sie kann nachkommen, wenn sie sich erholt hat«, sagte Finbarr munter. »Ich weiß, wie kräftezehrend diese – Experimente sein können. Komm, Erzmagusch – die Sache duldet keinen Aufschub.« Er führte Miathan aus dem Raum. Dann drehte er sich noch einmal mit ernster Miene zu Anvar um. »Kümmere dich um deine Herrin«, flüsterte er. »Ich werde Miathan übernehmen.« Mit diesen Worten war er fort.

Aurian durchquerte langsam das Zimmer und setzte sich auf die Couch, schaudernd, ihr Gesicht in den Händen verborgen. »Er hat auf mich gewartet«, flüsterte sie. »Als ich zurückkam, war er schon hier. Er – er schien wie von Sinnen zu sein, Anvar! Er sagte, er sei lange genug geduldig gewesen, und er wolle nicht länger warten. O ihr Götter!« Ihr Stöhnen war fast ein Seufzer. »Wie konnte er nur! Er war immer wie ein Vater zu mir!«

Da er nicht wußte, was er sonst machen sollte, schüttete Anvar ihr ein Glas Wein ein. Sie nahm es dankbar an, und er kniete sich ihr zu Füßen. Er konnte es kaum ertragen, ihr in die erschrockenen, leidgeprüften Augen zu sehen. »Herrin – er hat doch nicht …«

Aurian verzog ihr Gesicht und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Aber er war verdammt nah dran! Es ist gut, daß ich mich zu wehren weiß!«

Anvar sah Tränen in ihren Augen aufschimmern, und ein merkwürdiger Wille, sie zu beschützen, überkam ihn. Er ging das Wagnis ein, ihre Hände zu nehmen. »Mach dir keine Sorgen, Herrin. Finbarr hat gesehen, was passiert ist. Er hat gesagt, er werde mit dem Erzmagusch reden – und außerdem«, fügte er entschlossen hinzu, »wird Miathan nicht noch einmal solch eine Gelegenheit bekommen, darauf werde ich achten! Ich werde immer bei dir sein, egal was er sagt. Ich werde dich niemals mit ihm alleinlassen, das verspreche ich.«

»Ich danke dir dafür, Anvar. Ich weiß, daß es schwer für dich ist, weil du Angst vor ihm hast – und jetzt beginne ich auch zu begreifen, warum!« Aurian schauderte.

»Es wird alles wieder gut werden, Herrin. Vor einem Zeugen wird er ja sicherlich nichts unternehmen können.« Anvar wünschte, er hätte überzeugter klingen können.

Aurian seufzte. »Ich hoffe nur, daß du recht hast. Sonst weiß ich nicht, was ich tun werde.«

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