»Hallo, kleines Mädchen!«
Aurian zuckte zusammen; der blaue Feuerball fiel ihr aus den Händen und rollte auf den trockenen Waldboden. Hastig trat sie auf die schwelenden Blätter zu ihren Füßen, denn in ihrer Panik hatte sie den Zauber zum Löschen des Feuers vergessen. Ihre Mutter hatte ihr verboten, allein hierherzukommen, und jetzt war es zu spät, um sich noch vor dem Fremden zu verstecken. Aurian machte Anstalten, davonzulaufen, aber der Eindringling auf der Lichtung sah so merkwürdig aus, daß sie sich vor lauter Staunen nicht von der Stelle rühren konnte.
Sie hatte noch nie in ihrem Leben einen Mann gesehen. Er war groß und breit und unter seinem schweren Umhang ganz in braunes Leder gehüllt. An seiner Seite trug er ein gewaltiges Schwert, und das braune Haar auf seinem Gesicht sah ausgesprochen merkwürdig aus – es erinnerte sie, ebenso wie seine braunen Augen, an die Tiere, die ihre Freunde waren. Er kam mit ausgestreckter Hand einen Schritt auf sie zu, und Aurian trat hastig von der hoch über ihr aufragenden Gestalt zurück, während sich zwischen ihren Fingern ein neuer Feuerball formte. Der Mann sah sie nachdenklich an, setzte sich dann auf den Boden und schlang sich die Hände um die Knie. Nun, da er fast auf gleicher Höhe mit ihr war, sah er weit weniger bedrohlich aus, und Aurian fühlte sich ein wenig selbstsicherer. Immerhin war dies das Land ihrer Mutter. »Wer bist du?« fragte sie.
»Ich bin Forral – Schwertkämpfer und Wanderer. Zu Euren Diensten, kleine Lady.« Mit ernster Miene neigte er den Kopf zu einer Verbeugung, soweit er das im Sitzen vermochte.
»Ja, aber wer bist du?« Aurian, die immer noch einen sicheren Abstand zu ihm bewahrte, ließ nicht locker. »Was willst du hier? Weißt du, du solltest eigentlich gar nicht hier sein. Die Tiere hätten dich fernhalten sollen.«
Forral lächelte. »Sie haben mich nicht weiter gestört. Ich tue den Tieren nichts – und sie tun mir nichts. Das ist eine gute Art zu leben.«
Aurian merkte, daß sie sich trotz der Warnungen ihrer Mutter für den Mann erwärmte. Es war wirklich eine gute Art zu leben, und sie mochte sein Lächeln. Es schien ihr nur fair zu sein, ihn vor dem zu warnen, was seine Mutter ihm antun würde, falls sie ihn hier auf ihrem Land entdeckte. »Weißt du …«, hob sie an, aber er hatte bereits zu sprechen begonnen.
»Kannst du mich vielleicht zur Lady vom See führen?«
»Zu wem?«
Forral machte eine vage Bewegung mit der Hand. »Du weißt schon – die Magusch. Die Lady Eilin. Wenn ich mich nicht irre, mußt du die kleine Aurian sein, ihre Tochter. Du bist Geraint wie aus dem Gesicht geschnitten.«
Aurian stand mit offenem Mund da. »Du hast meinen Vater gekannt?«
Ein Schatten der Traurigkeit legte sich über Forrals Gesicht. »Ja, das habe ich«, sagte er weich. »Deinen Vater und auch deine Mutter. Geraint hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Als er mich fand, war ich ein Waisenkind, etwa so alt wie du jetzt. Er brachte mich in die Schwertkämpferschule der Garnison von Nexis und war mir seit damals ein guter Freund.« Er seufzte. »Als dein Vater starb, war ich in den Ländern jenseits des Meeres, um zu kämpfen. Die Nachricht von – dem Unfall hat mich dort nicht erreicht. Ich bin gerade erst zurückgekehrt, und als ich hörte, daß …« Einen Augenblick lang fiel es ihm schwer, weiterzusprechen. »Nun, da bin ich sofort hierhergekommen. Und jetzt möchte ich deiner Mutter meine Dienste anbieten.«
»Sie wird dich nicht wollen.« Aurian hatte die Worte bereits ausgesprochen, als ihr klar wurde, wie taktlos sie klingen mußten. Es schien abscheulich, so etwas zu sagen, nachdem er eine so weite Reise gemacht hatte. Und sie hatte ihn bereits gern. In den ganzen neun Jahren ihres Lebens hatte Aurian, soweit sie sich erinnern konnte, keine andere menschliche Gesellschaft genossen als die ihrer Mutter, und Eilin hatte immer nur wenig Zeit übrig gehabt für ihre Tochter. Sie war zu beschäftigt mit ihrer großen Aufgabe. Aurian führte ein einsames Leben, in dem ihr nur die Tiere Gesellschaft leisteten. Verzweifelt suchte sie nach irgendeiner Möglichkeit, ihm zu erklären, wie die Dinge standen, ohne die Gefühle ihres neuen Freundes zu verletzen. »Weißt du«, sagte sie, »meine Mutter hat nie Besuch. Sie ist so beschäftigt, daß selbst ich sie kaum zu Gesicht bekomme.«
Forral musterte sie eingehend. Hätte Aurian eine normale Erziehung genossen, hätte das zerrissene graue Hemd, das sie trug, das wirre Durcheinander ihrer roten Locken, ihr verschmiertes Gesicht und ihre schmutzigen, nackten Knie sie vielleicht in Verlegenheit gebracht. Wie die Dinge lagen, erwiderte sie seinen Blick jedoch ganz unbefangen. »Wer kümmert sich denn dann um dich?« fragte er schließlich.
Aurian zuckte die Achseln. »Niemand.«
Der große Mann runzelte die Stirn. »Dann ist es aber höchste Zeit, daß endlich jemand damit anfängt. Und wo wir gerade davon sprechen – darfst du das?« Er zeigte auf den vergessenen Feuerball, der immer noch über der Innenfläche ihrer Hand tanzte.
Aurian brachte ihn hastig zum Verlöschen und versteckte ihre Hände hinter dem Rücken, wobei sie sich wünschte, daß sie ihren schuldbewußten Gesichtsausdruck ebenso einfach hätte verbergen können.
»Nun ja – eigentlich nicht«, gestand sie, »aber es war ein Notfall.« Sie biß sich auf die Lippe. »Du wirst mich doch nicht verraten, oder?«
Forral schien darüber nachdenken zu müssen. »Na gut. Ich werde nichts verraten – diesmal nicht«, fügte er mit ernster Miene hinzu. »Aber du darfst es nicht wieder tun, hast du mich verstanden? Es ist sehr gefährlich. Und glaub nicht, ich hätte nicht gemerkt, was du gerade vorhattest, als ich dazukam. Es war überhaupt kein Notfall, hm?« Aurian spürte, wie ihr Gesicht krebsrot anlief, und Forral grinste. »Na komm, junge Lady, laß uns zu deiner Mutter gehen.«
»Sie wird nicht besonders erfreut sein«, warnte Aurian ihn, aber bevor sie es noch ganz ausgesprochen hatte, wußte sie schon, daß er ihr nicht glauben würde.
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg über den baumbestandenen Hügel; Forral führte sein müdes Pferd, und das magere, hoch aufgeschossene Kind stieg auf sein ungesatteltes, zotteliges braunes Pony. Kühles, herbstliches Sonnenlicht fiel durch die kahlen Äste und vergoldete das Laub, das unter ihren Füßen knisterte. Auf dem Gipfel der Anhöhe war der Wald plötzlich zu Ende. Das Kind hielt mit verschlossener, grimmiger Miene sein Pony an.
»Die Götter mögen uns beistehen!« Forral betrachtete die Verwüstung auf der anderen Seite des Hügels; er traute seinen Augen nicht. Die Nachricht von Geraints Unfall war ein Schock für ihn gewesen, aber er hatte nie und nimmer erwartet, eine Zerstörung dieses Ausmaßes vorzufinden. Jenseits des Höhenzuges erstreckte sich, soweit das Auge reichte, ein riesiger, unfruchtbarer Krater. Dieses Zeugnis des gewaltsamen Endes, das sein Freund gefunden hatte, ansehen zu müssen, war beinahe mehr, als der Schwertkämpfer ertragen konnte. Geraint, der brillanteste und impulsivste der Magusch, der aussichtsreichste Kandidat, als nächster das Amt des Erzmagusch zu bekleiden. Arrogant und stur wie alle Angehörigen seines Volkes. Hier unten war er zu Tode gekommen, der große, rothaarige Geraint mit dem explosiven Temperament, dem überschwenglichen Lachen, der grenzenlosen Lebensfreude und der Herzensgüte, sich mit einem zerlumpten, unfertigen Jungen anzufreunden, der es gewagt hatte, zu träumen.
Auch Geraint hatte zu träumen gewagt, dachte Forral traurig. Vor acht Jahren hatte er versucht, mit Hilfe der alten, nur halb verstandenen Magie des untergegangenen Drachenvolkes so große Mengen magischer Energie in sich aufzunehmen, daß er sich damit direkt in eine andere Welt versetzen konnte.
Dieser Versuch hatte verheerende Ergebnisse gezeitigt. Es hieß, daß Geraint der Zerstörung der Welt gefährlich nahe gekommen war, und es stand bereits fest, daß noch viele Generationen von Magusch und Sterblichen seinen Namen gleichermaßen verfluchen würden.
Forral zog es vor, zu glauben, daß sein Freund, nachdem ihm die ganze Gefahr seines Vorhabens erst einmal – zu spät! – bewußt geworden war, sein Leben gegeben hatte, um den Schaden soweit wie möglich zu begrenzen. Und trotzdem hatte er dabei diesen gewaltigen Krater hinterlassen, der sich mit einem Durchmesser von mindestens fünf Wegstunden vor ihnen ausdehnte, dessen Rand eine einzige geborstene und verzerrte Masse geschmolzenen Gesteins und dessen gewölbter Boden wie geriffeltes schwarzes Glas war. Im Zentrum dieser leblosen Wüste erspähten die Augen des Schwertkämpfers das Funkeln von Sonnenlicht auf Wasser.
Forral hatte keine Ahnung, wie lange er dort stand, entsetzt von der Zerstörung, die Geraint verursacht hatte. Schließlich wurde ihm bewußt, daß das Kind zu ihm aufblickte.
»Meine Mutter ist noch nicht bis hierher gekommen«, sagte sie mit leiser, ausdrucksloser Stimme. »Ich habe dir ja gesagt, daß sie sehr beschäftigt ist. Hier gibt es furchtbar viel zu tun.«
Der Schwertkämpfer war voller Mitleid für das kleine Mädchen, das vernachlässigt und ohne Freunde in diesem trostlosen Ödland aufwuchs. War vielleicht etwas wahr von den Gerüchten, daß Eilin beim Tod ihres geliebten Seelengefährten den Verstand verloren hatte? Es hieß, daß sie als Meisterin der Erdmagie ihren Gram in der Besessenheit zu ersticken versuchte, mit der sie versuchte, das Land wieder fruchtbar zu machen, das durch Geraints tragischen Fehler verwüstet worden war. Um des Kindes willen riß er sich zusammen und versuchte, eine fröhliche Miene aufzusetzen, aber das Herz war ihm schwer, als sie ihren Weg fortsetzten.
Sie hatten einige Schwierigkeiten, einen für Forrals Pferd gangbaren Weg hinunter in den Krater zu finden, aber Aurians trittsicheres Pony hatte kaum Probleme. Das Mädchen konnte reiten wie ein Zentaur und war es zweifellos gewohnt, sich über das schlüpfrige, zerklüftete Gelände des Kratergrundes zu bewegen. Im Sommer mußte es hier furchtbar sein, dachte Forral, als sie durch den gigantischen Talkessel ritten. Selbst jetzt warf das glasartige Gestein die Hitze und die bleichen Strahlen der Herbstsonne tausendfach zurück. In den tieferen Bodenfalten hatte sich Wasser angesammelt, aber das einzige Zeichen von Leben waren die Vögel, die ab und zu über ihre Köpfe flogen.
Schließlich brach Aurian das lange Schweigen zwischen ihnen. »Wie war mein Vater?«
Die Frage überraschte Forral, und er war sich der flehentlichen Bitte, die hinter ihren Worten lag, vollauf bewußt. »Hat deine Mutter dir nichts von ihm erzählt?«
»Nein«, erwiderte sie, »sie will nicht über ihn sprechen. Sie hat gesagt, das alles sei seine Schuld.« Sie machte eine ausladende Handbewegung, und ihre Stimme begann zu zittern. »Sie sagte, er hätte etwas Böses getan, und es sei unsere Pflicht, das wieder gutzumachen.«
Forral schauderte. Was war nur los mit Eilin? Wie konnte sie dem Kind eine so schreckliche Last aufbürden! »Unsinn«, sagte er fest. »Geraint war ein guter, freundlicher Mann und für mich ein wahrer Freund. Was geschehen ist, war ein Unfall. Er hat es nicht mit Absicht getan, Kätzchen. Er hat einen Fehler gemacht, das ist alles – und laß dir von niemandem etwas anderes einreden.«
Aurians Gesicht hellte sich auf. »Ich wünschte nur, ich könnte mich an ihn erinnern«, sagte sie weich. »Erzählst du mir von ihm, während wir weiterreiten?«
»Gern.«
Etwa zwei Wegstunden vom Zentrum des Kraters entfernt wurde der Boden glatter, und es ging nur noch leicht bergab. Ein kleines Stück weiter war der Fels bereits mit einer dünnen Erdkruste überzogen, und winzige sich windende Pflanzen lugten aus dem Boden hervor. Als der See schließlich wieder in Sicht kam, ritten sie über weichen, mit Gänseblümchen übersäten Rasen. Schließlich säumten Weißdorn, Brombeer und Holunder ihren Weg. Die Sträucher bogen sich unter ihrer reichen Ernte und beherbergten in ihren Zweigen eine riesige Vogelschar. Kleine Haine ebenmäßig gewachsener Bäumchen, von denen einige immer noch Äpfel und Birnen trugen, säumten das grüne Seeufer. Forral konnte nicht anders als bewundern, welche Fortschritte Eilin in nur acht kurzen Jahren erzielt hatte. Schade nur, daß sie sich nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit um ihr Kind kümmerte.
Der See war groß und rund, entstanden durch Wasser, das sich im Krater gesammelt hatte. In der Mitte des Gewässers erhob sich eine offensichtlich künstliche, von Sterblichen oder Magusch angelegte Insel, die durch eine schmale Holzbrücke mit dem Ufer verbunden war. Auf der Insel ragte wie ein Speer aus Licht ein riesiger Turm über den See. Forral hielt den Atem an. Das Erdgeschoß aus schwarzem Stein lag inmitten üppiger Gärten, aber darüber ragte ein graziler, glitzernder Kristallbau empor, der sich hoch über das funkelnde Wasser erhob. Die Spitze dieses ätherischen Gebäudes bildete ein schlanker, gläserner Speer, auf dem ein einziger Lichtpunkt glühte wie ein gefallener Stern. »Bei den Göttern, ist das schön!« stieß er hervor.
Aurian warf ihm einen mürrischen Blick zu. »Da wohnen wir.« Sie zuckte mit den Schultern, stieg von ihrem Pony und ließ es mit einem freundschaftlichen Klaps laufen. Forral tat es ihr gleich, nachdem er sich versichert hatte, daß sein Pferd in der Nähe auf der Weide bleiben würde. Dann legte er seinen Sattel unter einen Baum und folgte dem Mädchen über die Brücke.
Ein weißsandiger Pfad führte durch Eilins Gärten, vorbei an ordentlichen Reihen von Spätgemüse, Kräuterbeeten, die ein sauberes, ausgeklügeltes Mosaik verschiedener Grüntöne zeigten, und Rabatten mit glutroten Herbstblumen und zahlreichen Bienenkörben, deren Bewohner eifrig zwischen den kupfergoldenen Blüten hin – und hersummten und die letzte, kostbare Wärme vor dem Wintereinbruch nutzten. Während Forral dem Kind in den Turm hinein folgte, dachte er darüber nach, daß es der Magusch gelungen war, in ihrer Einsamkeit bestens für sich und ihre Tochter zu sorgen, obwohl er sich fragte, woher Eilin Korn, Stoff und all die anderen Dinge bezog, die sie dem Boden des Tals nicht abringen konnte.
Die Außentür des Turms führte direkt in die Küche, die offensichtlich der meistbenutzte Raum des Turmes war. Die Küchenwände waren aus dem dunklen Stein des Turmsockels herausgehauen und gaben dem Raum etwas Höhlenartiges. Das sanfte Glühen des metallenen Kanonenofens, der in einer Ecke stand, verströmte eine gewisse Behaglichkeit; bunte Wollteppiche hellten den Fußboden auf, und in der Mitte des Raumes standen Bänke, die jetzt unter einen sauber gescheuerten Holztisch geschoben waren. Am Ofen luden zwei gepolsterte Stühle zum Sitzen ein, und überall an den Wänden waren Regale und Schränke aufgereiht, damit man in dem engen Raum möglichst viel unterbringen konnte. Zwei Türen führten offenbar zu Nachbarräumen, und Aurian zeigte nun auf die rechte davon. »Das ist mein Zimmer«, informierte sie den Schwertkämpfer. »Sie schläft oben, um in der Nähe ihrer Pflanzen zu sein.«
Eine filigrane, gewundene Metalltreppe führte hinaus zu den oberen Stockwerken. Am Fuße dieser Treppe blieb Aurian zögernd stehen und bedeutete Forral, voranzugehen. Forrals Schritte klangen auf den vibrierenden Metallstufen wie Glockentöne. Während er langsam hinaufging, wunderte Forral sich über die Beklommenheit, die sich auf dem Gesicht des Kindes zu zeigen begann.
Als Forral, oben angekommen, einen Blick in die gläsernen Räume des Turms geworfen hatte, begriff er auch, welcher praktische Zweck der ausgefallenen Architektur des Gebäudes zugrunde lag. Die verschiedenen Kammern standen voller Bänke, auf denen flache Schalen mit Erde aufgereiht waren. In dieser Erde wuchsen junge Setzlinge, die sich in der Wärme der von den Kristallwänden eingefangenen Nachmittagssonne ganz offensichtlich wohl fühlten. Ein feiner Nebel, der aus dem Nichts zu kommen schien, erfüllte die Luft mit Feuchtigkeit, und Forrals Haut begann zu prickeln, als er die dichte Konzentration von Magie in diesem Raum spürte. Er vermeinte die Pflanzen vor seinen Augen wachsen zu sehen. Als er die Magusch schließlich in einem der oberen Räume fand, war sie zu beschäftigt, um ihn zu bemerken. »Geh weg, Aurian«, murmelte sie, ohne aufzusehen. »Ich habe dir doch gesagt, daß du mich nicht stören sollst, wenn ich arbeite.«
Eilin war alt geworden, dachte der Schwertkämpfer. Das überraschte ihn. Die Angehörigen der Magusch konnten wie die Sterblichen an einer Krankheit oder bei einem Unfall sterben, aber wenn das nicht geschah, lebten sie, so lange sie wollten, und starben erst, wenn sie sich aus freien Stücken entschlossen, diese Welt zu verlassen. Und ihre äußere Gestalt veränderte sich nicht mit den Jahren, es sei denn, sie wünschten es so. Forral erinnerte sich an Eilin als eine lebenssprühende junge Frau, aber jetzt war ihr dunkles Haar mit grauen Strähnen durchzogen, und ihre Stirn war zerfurcht. Tiefe, bittere Linien hatten sich um ihre Mundwinkel gebildet, und in ihrer geflickten, verblichenen Robe wirkte sie bleich und schmerzlich dünn.
»Eilin, ich bin es – Forral«, sagte er, während er versuchte, sein Entsetzen zu unterdrücken. Er trat einen Schritt vor, streckte die Arme aus, um sie an sich zu ziehen, und prallte zurück, als ihr Gesicht sich bei seinem Anblick vor Wut verzerrte.
»Hinaus!« fuhr Eilin ihn an. Dann beugte sie sich über das Kind und schlug es mitten ins Gesicht. »Wie kannst du es wagen, ihn hierherzubringen!«
Aurian versteckte sich hinter Forral. »Es war nicht meine Schuld«, wimmerte sie.
Forral, in dem heißer Ärger aufgestiegen war, drehte sich um und nahm sie in den Arm. »Kommst du zurecht?«
Aurian nickte und biß sich auf die Lippe. Auf ihrem bleichen Gesicht prangte ein häßlicher roter Abdruck. Forral sah Tränen in ihren Augen und drückte sie kurz an sich.
»Geh nach unten und warte an der Brücke auf mich«, bat er sie sanft.
Als das Mädchen gegangen war, wandte der Schwertkämpfer sich wieder an Eilin. »Das war nicht fair«, sagte er kalt.
»Es gibt keine Fairneß auf der Welt, Forral – das habe ich herausgefunden, als Geraint starb. Sie hätte dir sagen sollen, daß ich niemals jemanden empfange!«
»Das hat sie auch getan. Und ich habe es ignoriert. Möchtest du mich jetzt schlagen?« Es kostete ihn große Mühe, seinem Zorn nicht freien Lauf zu lassen.
Eilin wandte sich ab, um seinem Blick auszuweichen. »Ich möchte, daß du wieder gehst. Warum bist du überhaupt hergekommen?«
»Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte, nachdem ich gehört habe, was Geraint zugestoßen ist. Ich wünschte, ich wäre früher gekommen. Vielleicht hätte ich dich davor bewahren können, zu einer verbitterten alten Frau zu werden.«
»Wie kannst du es wagen!«
»Das ist nur die Wahrheit, Eilin. Aber ich bin hergekommen, um dir um Geraints willen meine Dienste anzubieten, und dieses Angebot gilt noch immer.«
Eilin stolzierte zur anderen Seite des Zimmers hinüber; sie war so wütend, daß sogar ihre Bewegungen ruckartig wurden. »Ich verfluche dich, Sterblicher! Wankelmütig und treulos wie alle deines Volkes! Welchen Sinn haben deine Dienste jetzt? Wo warst du vor acht Jahren, als ich dich gebraucht hätte? Du warst Geraints Freund – auf dich hat er gehört! Mit deiner Hilfe hätte ich ihm diesen Wahnsinn vielleicht ausreden können! Aber nein – du mußtest ja unbedingt herumstreunen – um die Welt zu sehen. Nun, ich hoffe, die Erfahrung war großartig genug, um dich für den Tod eines Freundes zu entschädigen! Deine Dienste kommen zu spät, Forral! Verschwinde von hier und komm nie wieder zurück!«
Trotz der Härte, die er sich in unzähligen Kämpfen erworben hatte, zuckte Forral bei Eilins bitteren Worten zusammen. Seine Trauer um Geraints Tod war noch immer frisch, und ihre Anschuldigungen enthielten gerade genug Wahrheit, um zu schmerzen. Vielleicht wäre es wirklich besser, wenn er ginge … Da fiel Forral plötzlich das Kind wieder ein. »Nein.« Er straffte sich. »Ich werde nicht gehen, Eilin. Es war ganz offensichtlich schlecht für dich, so lange allein zu sein, und Aurian braucht jemanden, der sich um sie kümmert. Gewöhn dich besser gleich an die Tatsache, daß ich bleiben werde, denn es gibt nichts, was du daran ändern könntest.«
»Ach nein, wirklich nicht?« Sie wirbelte herum, und Forral sah zu spät, daß sie ihren Stab in der Hand hielt. Der Boden schien sich unter ihm zu öffnen, und ein lautes Brüllen füllte seine Ohren. Vor seinen Augen explodierte ein Strom vielfarbiger Lichter. Er keuchte vor Schmerz auf, als ein kurzer, heftiger Ruck durch seinen Körper zuckte. Dann schien der Erdboden ihm plötzlich mit gewaltiger Geschwindigkeit entgegenzukommen und versetzte ihm einen harten Schlag.
Vorsichtig öffnete er die Augen. Er lag auf der anderen Seite der Brücke auf einem weichen Teppich aus grünem Gras. Nachdem er einen verwunderten Blick auf die ruhigen Gewässer vor der Insel mit ihrem hohen Turm geworfen hatte, gab er sich erst einmal einigen heftigen Flüchen hin. Das Mädchen kam über die Brücke gelaufen – die Schritte ihrer bloßen Füße hallten auf den Planken wider. Direkt neben ihm blieb sie stehen. »Sie hat dich also hinausgeworfen.« Sie klang nicht im mindestens überrascht, aber er konnte Angst auf ihrem Gesicht lesen. Er setzte sich auf und stöhnte.
»Was zur Hölle war das denn?«
»Ein Apportzauber.« Aurian schien stolz darauf zu sein, das richtige Wort zu kennen. »Das kann sie ziemlich gut – auf diese Weise hat sie auch all die Erde ins Tal bekommen. Sie hat eine Menge Übung darin.«
»Ein Apportzauber, hm?« Forral runzelte die Stirn und fuhr sich beunruhigt mit den Fingern durch sein lockiges, braunes Haar. »Aurian, wie weit kann sie mich mit diesem Zauber fortschaffen?«
Das Kind zuckte mit den Schultern. »Ungefähr so weit, wie sie es getan hat, glaube ich. Du bist schwerer als die Lasten, die sie für gewöhnlich bewegt. Warum?«
»Ich möchte sicher sein, daß sie mich nicht einfach aus dem Tal herauswirbeln kann. Es gibt angenehmere Arten zu reisen!«
»Ich denke, sie erwartet von dir, daß du den Rest des Weges reitest«, sagte Aurian ernsthaft, und Forral brach in Gelächter aus.
»Ich wette, daß sie das tut! Nun, sie wird eine Überraschung erleben. Aurian, wie würde es dir gefallen, mir dabei zu helfen, hier ein Lager aufzuschlagen?«
Ungläubige Freude leuchtete auf dem Gesicht des Mädchens auf. »Du meinst, du bleibst hier?«
»Es gehört schon mehr dazu als ein paar Hexentricks, um mich zu verjagen, Kleines. Natürlich bleibe ich!«
Es war der glücklichste Nachmittag in Aurians Leben. Sie und Forral errichteten ein Lager in einem Wäldchen von kräftigen jungen Buchen, die links von der Brücke wuchsen. Aurian war ein wenig besorgt darüber, daß Forral sich ausgerechnet diese Stelle ausgesucht hatte, denn sie wußte, daß er dort, wo ihre Mutter ihn nicht sehen konnte, sicherer gewesen wäre, aber Forral lachte nur. »Das ist genau das, was ich will, Kleines. Wann immer Eilin einen Blick aus dem Fenster wirft, wird sie mich direkt hier vor ihrer Nase sehen. Ich habe die Absicht, ein Dorn im Fleisch deiner Mutter zu sein, bis sie diesen Unsinn aufgibt!«
Das Lager machte einen sehr guten Eindruck, dachte Aurian. Sie wünschte nur, sie hätte auch dort wohnen können. Forral hatte ein Seil zwischen zwei knorrige Bäume geschlungen und eine Rolle Segeltuch hinter seinem Sattel hervorgezogen; dann hatte er das Segeltuch so über das Seil gehängt, daß es an beiden Seiten bis zum Boden herabhing, die beiden Seiten auseinandergezogen und schließlich mit Steinen beschwert, so daß ein primitives Zelt daraus geworden war.
»Aber der Wind wird hindurchblasen«, wandte Aurian ein.
Forral zuckte mit den Schultern. »Ich habe schon in Schlimmerem gehaust.« Ein wenig ungehalten war er jedoch, als sie ihm sagte, daß er von dem Holz des Tales nichts würde verbrennen können. Ihre Mutter hatte einen Schutzzauber über Bäume und Sträucher gelegt, so daß sie kein Feuer fangen konnten. Das Brennholz, das sie selbst benötigten, holten sie von jenseits des Tales. Aurian hatte es nicht leicht, ihn davon zu überzeugen, aber zu ihrer Erleichterung gab er schließlich nach, wenn auch nur widerwillig. »Im Augenblick kann ich noch ohne ein Feuer auskommen, aber Eilin sollte sich besser ein wenig beeilen und vor Wintereinbruch wieder zur Vernunft kommen«, knurrte er.
Als ihre Mutter sie in der Abenddämmerung hereinrief, gab es natürlich Ärger. Eilin, die mit zusammengekniffenen Lippen aus dem Fenster heraus Forrals Lager betrachtete, verbot Aurian, mit ihm zu sprechen oder auch nur in seine Nähe zu kommen. Aber der heitere Trotz des Schwertkämpfers hatte Aurian bereits angesteckt. »Ich werde mit ihm sprechen, und du kannst mich nicht daran hindern!« platzte sie heraus.
Eilin starrte sie verblüfft an, und ihr Gesicht verdunkelte sich vor Zorn. Aurians Aufsässigkeit trug ihr eine Tracht Prügel ein, aber das erhöhte ihre Entschlossenheit nur. Als es vorbei war, ging sie auf ihre Mutter los. »Ich hasse dich!« schluchzte sie. »Und du wirst mich nicht daran hindern, Forral zu treffen, ganz gleich, was du mir antust!«
Eilins Augen funkelten vor Zorn. »Sei dir da nur nicht so sicher. Er wird nicht mehr lange hier sein.«
»Das wird er wohl! Er hat es mir versprochen!«
»Wir werden ja sehen«, sagte Eilin grimmig.
Früh am nächsten Morgen stahl Aurian sich aus dem Turm heraus und lief heimlich über die Brücke. Sie hatte für Forral zum Frühstück einen Laib Brot eingepackt und Käse von den Ziegen ihrer Mutter, die am Seeufer grasten. Als sie das Wäldchen erreicht hatte, blieb sie atemlos stehen. Das Lager des Schwertkämpfers war unter einem dichten Gestrüpp stacheliger Ranken verschwunden, die über Nacht aus dem Boden gesprossen waren. Das war natürlich das Werk ihrer Mutter.
»Forral«, rief Aurian verzweifelt und zerrte an den unnachgiebigen Kletterpflanzen. »Forral!«
Nach einem Augenblick hörte sie ein Rascheln aus dem Innern des Dickichts, gefolgt von wortreichen Flüchen. Der Schwertkämpfer brauchte den größeren Teil des Vormittags, um sich seinen Weg ins Freie zu bahnen. Als er schließlich schwarz und schmutzig ins Freie trat, begannen die Reben in sich zusammenzuschrumpfen, und binnen wenigen Minuten waren sie zu Staub zerfallen. Forral sah Aurian an. »Es wird schwieriger, als ich dachte«, meinte er.
Am folgenden Morgen waren die Ranken wieder da. Aurian stahl Forral eine Axt aus dem Lagerraum ihrer Mutter. Am nächsten Tag war es ein Brombeergestrüpp mit langen, scharfen Dornen. Forral schlug Aurian vor, die Beeren zu sammeln, bevor sie verschwanden, und als er sich aus dem Gestrüpp herausgehackt hatte, aßen sie sie zum Frühstück. Mit der Zeit wurde es zu einem Spiel zwischen ihnen, und Aurians Einsamkeit löste sich in der Gesellschaft ihres neuen Freundes in nichts auf. In diesen wenigen Tagen hatte sie mehr gelacht als zuvor in ihrem ganzen Leben. Schließlich stellte sie ihn auch ihren Freunden vor, den Tieren. Scheue Vögel, schreckhafte Hirsche und fauchende Wildkatzen aus dem Wald – sie alle scharten sich glücklich um Aurian, die sich wortlos mit ihnen in Verbindung setzte und Forral von den einfachen Gefühlen der wilden Kreaturen berichtete. Sie war jedoch enttäuscht darüber, daß Forral nicht selbst mit ihren Freunden sprechen konnte. Sie hatte bisher gedacht, alle Menschen könnten das.
Aber dafür beherrschte der Schwertkämpfer viele andere Dinge. Er war ein Genie, wenn es darum ging, Spiele zu ersinnen, und er verfügte über einen gewaltigen Fundus von Geschichten über sein Leben als Krieger oder über Prinzessinnen und Drachen und Helden. Forral war Aurians Held, und sie betete ihn an. Sie hatte ihm nie erzählt, daß ihre Mutter sie geschlagen hatte, denn sie hatte Angst, auf diese Weise nur noch mehr Ärger heraufzubeschwören, aber zu ihrer großen Erleichterung verbot ihr Eilin nicht länger, sich mit Forral zu treffen. Allerdings fand Eilin statt dessen nun ständig langwierige und beschwerliche Aufgaben im Garten, mit denen sie ihre Tochter beschäftigte – aber mit Forrals Hilfe waren sie alle schnell erledigt. Aurian war klug genug, ihrer Mutter nichts von seiner Hilfe zu erzählen, und gab sich damit zufrieden, ihm etwas zu essen zu stehlen, sobald Eilin ihr den Rücken zukehrte.
Die Magusch hatte jedoch nicht aufgegeben. Am vierten Tag war Forrals kleines Zelt von einem Dickicht aus Brennesseln umgeben. Er machte ein ausgesprochen grimmiges Gesicht, als er schließlich auftauchte, und Aurian gab ihm Ampferblätter gegen das Brennen. Diesmal hatte sie wirklich Angst, daß er doch beschließen könnte, fortzugehen. Aber der Schwertkämpfer rieb sich mit dem lindernden Kraut über die fleckigen Hände und das Gesicht und warf einen funkelnden Blick auf den Turm. »Wir werden ja sehen, wer zuerst aufgibt«, murmelte er durch zusammengebissene Zähne. »Irgendwann einmal müssen ihr ja die Ideen ausgehen.«
Als der Herbst den ersten Winterfrösten Platz machte, verliefen die Dinge jedoch immer noch in ähnlicher Art. Eilins Spezialgebiet war die Erdmagie, und sie versuchte, ihren unwillkommenen Gast mit allen Kräften, die ihr zur Verfügung standen, aus seinem Quartier zu vertreiben. Eines Nachts stieg das Wasser im See auf mysteriöse Weise an, und Forrals Lager wurde überflutet. Ein andermal, als er mit Aurian am Nachmittag von einem Spaziergang zurückkam, fanden sie Ziegen in seinem Zelt vor, die seine Decken fraßen und an seinen Kleidern knabberten. Eilin brachte die Vögel, die im Wald nisteten, dazu, Forral anzugreifen, aber Aurian tadelte sie wegen ihres Verhaltens und setzte dem Treiben ein Ende. Bei den Ameisen hatte sie jedoch weniger Erfolg. Als sie gegen Forral ins Feld zogen, brauchten die beiden Stunden, bis sie sie wieder aus seinen Sachen vertrieben hatten.
Eines grauen, kühlen Morgens ging Aurian mit dem für Forral gestohlenen Frühstück und einer Flasche Brombeerwein aus den Beständen ihrer Mutter zum Lager hinüber. Der Wein würde ihn aufheitern, dächte sie. Als sie jedoch auf der anderen Seite der Brücke angelangt war, erscholl ein wütender Schrei aus dem Lager. Als Aurian keuchend dort ankam, war von dem Schwertkämpfer keine Spur mehr zu sehen. Zitternd spähte sie in das Zelt hinein.
Forral saß hoch aufgerichtet da, gelähmt vor Entsetzen und bedeckt von Hunderten sich ringelnder Schlangen, die sich so dicht um ihn herumgeschlungen hatten, daß es unmöglich war festzustellen, wo die eine begann und wo die andere endete. Aurian, die sich fragte, wo ihre Mutter sie alle gefunden hatte, verspürte Mitleid mit den armen Geschöpfen. Es war viel zu kalt für die Schlangen; sie durften zu dieser Jahreszeit schon lange nicht mehr im Freien sein, und es war nur natürlich, daß sie sich um die einzige Wärmequelle scharten – Forrals Körper. Aber der Schwertkämpfer war Aurians Freund, und er brauchte ihre Hilfe. Aurian seufzte und nahm Gedankenkontakt zu den Schlangen auf. »Schschsch«, sagte sie entschlossen, wobei sie Forral zuliebe laut sprach. Die Schlangen lösten sich eine nach der anderen mit großem Widerwillen von Forral und stahlen sich aus dem Zelt.
Forrals Gesicht war vollkommen weiß, und seine Hände zitterten, als er sich die Stirn abwischte. Sie reichte ihm die Flasche Wein, und er leerte sie in einem einzigen Zug, ohne auch nur Luft zu holen. Aurian war in der Zwischenzeit mit ihren eigenen zornigen Gedanken beschäftigt. »Das reicht jetzt aber wirklich!« sagte sie plötzlich, und Forral blickte überrascht auf. »Wie kann sie es wagen! Die armen Schlangen!«
»Die armen Schlangen?« wiederholte der Schwertkämpfer mit erstickter Stimme.
»Sie werden sterben«, erwiderte sie unwirsch. »Es ist viel zu kalt für sie. Ich weiß wirklich nicht, was sie sich dabei gedacht hat.«
Ungläubig starrte er sie an. »Die armen Schlangen!«
Aurian spähte aus dem Zelt heraus, dorthin, wo die Schlangen warteten, schwerfällig vor Kälte und offensichtlich erpicht darauf, wieder hereingelassen zu werden. »Sie können unmöglich draußen bleiben«, sagte sie.
»Ich hoffe, du willst damit nicht sagen, daß sie wieder hier hereinkommen sollen.«
Aurian runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. Dann kam ihr plötzlich eine wunderbare Idee. »Ich hab’s!« Und wieder nahm sie Kontakt zu den Schlangen auf.
Forral gesellte sich zu ihr, während sie zusah, wie die letzte Schlange ihren Weg über die Holzbrücke nahm. »Wohin gehen sie?«
Aurian wandte sich ihm mit einem breiten Grinsen zu. »Welches ist deiner Meinung nach der wärmste Platz hier in der Nähe?«
Ein träges Lächeln breitete sich auf Forrals Gesicht aus, als er ihren Plan durchschaute. »Du schreckliches Kind!« Er brüllte vor Lachen und riß sie in seine Arme.
Sie hatten ihr Frühstück bereits halb beendet, als Eilin die Schlangen in ihren Pflanzenräumen entdeckte. Ein lauter Zornesschrei hallte über den See. Aurian wandte sich an Forral. »Sieht so aus, als würde ich wieder Ärger kriegen«, grinste sie. »Aber das ist die Sache wert. Zumindest muß Mutter die armen Geschöpfe jetzt wieder dorthin zurückschicken, wo sie sie her hat.«
Aber die Zeit arbeitete Eilin in die Hände. Als Aurian einige Tage später in ihrem kleinen Zimmer neben der Küche erwachte, zitterte sie am ganzen Körper. Sie konnte nicht aus dem Fenster sehen, denn dicke Eisblumen bedeckten die Glasscheibe. »Forral!« stieß sie hervor. Sie riß die Decken von ihrem Bett und stürzte aus dem Zimmer, ohne sich auch nur die Zeit zu nehmen, in ihr einziges Paar Schuhe zu schlüpfen. Draußen war die Welt von funkelndem. Sie stürzte sich in seine Arme und schluchzte. »Dann nimm mich mit!«
Forral seufzte: »Das kann ich nicht, Kleines. Du gehörst zu deiner Mutter, und es gibt Gesetze gegen das Stehlen von Kindern. Du willst doch nicht, daß ich im Gefängnis lande, oder?«
»Dann laufe ich eben weg! Ohne dich werde ich nicht hierbleiben!«
Der Schwertkämpfer drückte sie fest an sich. »Das darfst du nicht«, sagte er hastig. »Dir könnte alles mögliche zustoßen. Wir werden noch ein paar Tage abwarten, hm? Vielleicht ändern sich die Dinge ja.«
Während der nächsten Tage waren die Fröste zu Aurians Erleichterung weniger streng. Sie ließ all ihre Decken bei Forral, dem sie weismachte, sie hätte zu Hause genug davon. Das war zwar eindeutig eine Lüge, aber sie erleichterte ihr Gewissen, indem sie sich sagte, daß sie nur zu seinem Besten log. Jede Nacht in ihrem Bett zu zittern war ein geringes Opfer, wenn Forral nur blieb. Sie konnte nichts tun, außer ihrer Mutter immer wieder zuzusetzen, aber das trug ihr lediglich Eilins Zorn ein. Als der Winter immer kälter wurde, begann Aurian zu verzweifeln.
Eines Nachts kam dann der Schnee. Als Aurian abends aus dem Fenster sah, tobte bereits ein Schneesturm über der Landschaft. Sie bekam keinen Bissen von ihrem Eintopf mehr herunter, denn sie wußte, daß Forral da draußen war, fror und kein heißes Essen hatte, um sich aufzuwärmen. Noch einmal, beinahe hysterisch vor Angst um Forral, flehte sie Eilin an, doch endlich nachzugeben. Schließlich war ihre Mutter so erzürnt, daß sie sie in ihrem Zimmer einschloß. Aurian hämmerte an die Tür, bis ihre Fäuste bluteten, und schrie, bis sie heiser war. Als sie so erschöpft war, daß sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, warf sie sich aufs Bett und weinte sich in den Schlaf.
Es war noch immer Nacht, als sie erwachte. Ihre Kehle brannte, und ihre Augen waren geschwollen, aber das Blut an ihren Händen war getrocknet. Wie lange hatte sie geschlafen? Aurian stützte sich auf das Fenstersims und spähte hinaus. Der Sturm war noch schlimmer geworden, und sie konnte nichts als umherwirbelnden Schnee sehen. Sie unterdrückte ein Schluchzen. Forral würde dort draußen sterben, und sie würde allein sein mit ihrer grausamen Mutter, die ihn getötet hatte. Das war mehr, als sie ertragen konnte. Sie wünschte, sie wäre auch tot. Zumindest wäre sie dann mit Forral zusammen. Der Gedanke erschreckte sie zuerst, aber je mehr sie darüber nachdachte, um so sinnvoller erschien er ihr schließlich. Ihre Mutter würde sie nicht vermissen. Schließlich traf Aurian eine Entscheidung. Sie würde hinausgehen und Forral suchen, und dann könnten sie gemeinsam sterben.
Der Fensterriegel war zugefroren. Aurian bearbeitete ihn mit ihrem Schuh, wobei sie Forrals Lieblingsflüche vor sich hinmurmelte, aber das Fenster wollte nicht nachgeben. Dann kam ihr der Gedanke, daß sie das Zimmer nicht mehr benötigte, wenn sie starb. Also nahm sie einen Hocker und schleuderte ihn mit einem höchst befriedigenden Krachen durch das Fenster. Wind und Schnee brausten heulend ins Zimmer hinein, und ein umherfliegendes Stück Glas verletzte sie an der Stirn. Aurian wischte sich das Blut aus den Augen und betete, daß der Sturm den Lärm übertönt und ihre Mutter ihre Flucht noch nicht bemerkt hatte. Dann legte sie ein Kissen über die gezackten Scherben des Glases im unteren Teil des Fensterrahmens und kletterte hinaus.
Der Schnee hatte sich unter dem Fenster hoch aufgetürmt, und Aurian versank beinahe bis zum Kopf darin. Sie keuchte; die Kälte drang ihr bis in die Knochen. Als sie sich endlich aus der Schneewehe herausgequält hatte, schlug ihr ein eisiger Wind entgegen, der ihr das dichte Gestöber von Schnee ins Gesicht peitschte. Aber hier lag der Schnee nicht mehr so hoch, und sie konnte sich mühsam auf Füßen, die bereits taub waren, vorwärtskämpfen. Sie ging auf die Brücke zu, wobei sie ein um das andere Mal ausrutschte, stürzte und sich mühsam wieder aufrappeln mußte; ihre Fußabdrücke verschwanden sofort hinter ihr im Schneesturm.
Aurian blieb unsicher stehen. Wo war das Wäldchen? Sie hätte es doch schon vor einer ganzen Ewigkeit erreichen müssen! Sie war sicher, daß sie in die richtige Richtung gegangen war – bloß erkennen konnte sie in dem Schneegestöber nicht das geringste. Ich bin müde von dem Weg über die Brücke, dachte sie. Das ist der Grund, warum es so lange dauert. Die Erinnerung an die Brücke ließ sie schaudern. Sie hatte sich Zoll für Zoll über den schmalen, schlüpfrigen Brückenbogen getastet und sich vor Angst, der Wind könnte sie in den See reißen, mit tauben Fingern an dem gefrorenen Geländer festgehalten. Jetzt konnte sie ihren vor Kälte steifen Körper kaum noch bewegen, und sie spürte weder ihre Hände noch ihre Füße. Plötzlich hatte Aurian schreckliche Angst. Sie war sich doch nicht mehr so sicher, daß sie sterben wollte, aber andererseits sehnte sie sich so sehr nach Forral. Eine Träne gefror auf ihrem Gesicht. »Sei nicht so dumm«, schalt sie sich selbst. »Je eher du dich in Bewegung setzt, um so schneller wirst du ihn finden.« Dann riß sie sich zusammen und setzte ihren Weg in die Dunkelheit fort.
Es war so kalt, daß Forral aufgehört hatte zu zittern. Ein schlechtes Zeichen. Der Sturm hatte sein Zelt zu Boden gerissen, aber es war ihm gerade noch rechtzeitig gelungen, die Plane festzuhalten. Zusammengekauert im Schutz eines Baumes, die Leinwand fest um sich gewickelt, spielte er mit dem Gedanken, in den Turm einzubrechen; aber er wußte, daß das sinnlos war. Eilin würde ihn nur wieder hinauswerfen. Wenn sie ihn bis jetzt noch nicht hineingelassen hatte, mußte er der Tatsache ins Auge sehen, daß es hoffnungslos war. »Forral, du bist ein Narr«, murmelte er. »Was für eine sinnlose Art zu sterben!« Er spürte, wie der Schlaf von ihm Besitz ergriff, und wußte, daß das sein Ende wäre. Er wünschte nur, er hätte sich von dem Kind verabschieden können. Der Gedanke an Aurian nagte an ihm und bewahrte ihn sogar davor, dem Schlaf zum Opfer zu fallen, der so heftig sein Recht forderte. »Muß Aurian ›Wiedersehn‹ sagen«, murmelte er. Dann schlang er einen Arm um einen niedrigen Ast, um sich mit steifen Gliedern daran hochzuziehen. Aber was war das? Ein schwaches, geisterhaftes Glühen flackerte durch den Schneesturm. Jemand kam auf ihn zu, jemand, der eine Laterne trug.
Als die Gestalt näher kam, erkannte der Schwertkämpfer die schlanke Silhouette von Eilin. Ihr durchnäßtes Haar peitschte ihr in schlangenartigen Strähnen durchs Gesicht, der Sturmwind hatte ihr den Umhang von den Schultern gerissen, und ihre braune Robe flatterte um ihren knochigen Körper. Eine dichte Schneeschicht hatte sie in gleißendes Weiß gehüllt. Der Schimmer, den er irrtümlich für eine Laterne gehalten hatte, war das bläulichweiße Glühen einer bleichen, kalten Kugel von Maguschlicht, die über der Spitze ihres Stabs schwebte.
»Forral, sie ist weg. Aurian ist weg!« Eilin zerrte, außer sich vor Angst, an seinem Arm. Der Schwertkämpfer starrte sie an. Irgendwie konnte sein Gehirn sich nicht auf ihre Worte konzentrieren. Eilin fluchte und suchte etwas unter ihrem Umhang. Dann hielt sie plötzlich eine kleine Flasche in der Hand, die sie entkorkte und zwischen seine Lippen zwang. Der Alkohol brannte sich eine solche Feuerspur durch Forrals Kehle, daß ihm einen Moment lang die Luft wegblieb. Er hatte keine Ahnung, was das für ein Zeug war, aber es wirkte. Binnen wenigen Sekunden spürte er, wie seine Glieder schmerzhaft zu prickeln begannen. Auch sein Verstand wurde schnell wieder klar.
»Was hast du gesagt? Wo ist Aurian?«
»Das habe ich doch schon gesagt! Sie ist weg! Ich habe sie eingeschlossen, und sie hat die Fensterscheibe zerbrochen! Überall ist Blut, und sie ist draußen im Sturm und …«
»Das ist deine Schuld!« Forral riß sie mit einer Ohrfeige aus ihrer Hysterie heraus und verspürte eine grimmige Befriedigung, als sie vor Schmerz aufstöhnte. Es kostete ihn einige Mühe, den Wunsch zu bezähmen, sie auf der Stelle zu erwürgen. Sie mußten das Kind finden. »Komm!« rief er und tauchte bereits in den Mahlstrom des Schneesturms ein, während Eilin mühsam versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Der gesunde Menschenverstand sagte ihm, daß sie Aurian in diesem Sturm, in dem man nicht einmal die Hand vor Augen sah, niemals finden würden, daß es bereits zu spät war, aber er wehrte sich in wilder Verzweiflung gegen diesen Gedanken. Er war zu schmerzhaft, um ihn akzeptieren zu können.
»Forral – warte!« rief Eilin, aber der Schwertkämpfer schenkte ihr keine Beachtung. So sehr sie es auch versuchte, sie konnte ihm nicht schnell genug folgen. Es dauerte nur noch einen kurzen Augenblick, dann war er spurlos in dem Unwetter verschwunden. Die Magusch fluchte wild. »O du Narr!« rief sie. »Du hitzköpfiger, törichter Sterblicher! Jetzt seid ihr beide verschwunden!« Einen Augenblick lang stand Eilin ungeachtet des eisigen Sturmwinds von Schuldgefühlen wie gelähmt da. Geraint hätte vor Wut getobt, wenn er gesehen hätte, wie sie seine Tochter und seinen Freund behandelt hatte! Forral hatte recht, wenn er sagte, alles sei ihre Schuld.“ Hätte sie ihm nur gestattet, bei Aurian im Turm zu wohnen, dann wäre es niemals zu dieser Tragödie gekommen. Schließlich faßte sie sich jedoch wieder. Sie hatte diejenigen von Aurians Freunden aus dem Tierreich, die dem Sturm standhalten konnten, herbeigerufen, um nach dem Kind zu suchen, aber Forral konnte die Tiere nicht verstehen. Für den Schwertkämpfer brauchte sie einen anderen Führer. Diesen Führer konnte sie herbeirufen, das wußte sie – aber welch entsetzliches Wagnis ging sie damit ein!
Die Sterblichen hatten schon vor langer Zeit aufgehört, an die Phaerie zu glauben. Nur das Volk der Magusch kannte die Wahrheit hinter den Geschichten über ein uraltes, hellseherisches Geschlecht, das über die Kraft der Alten Magie verfügte – denn vor endlosen Zeiten hatten die Magusch es aus Angst vor seinen Streichen und seiner Einmischung aus ihrer Welt verstoßen und in einem rätselhaften Anderswo gefangengesetzt, jenseits der Welt, die die Sterblichen kannten. Die Phaerie konnten nicht in die Welt zurückkehren, es sei denn, ein Magusch rief sie – und ein solcher Ruf hatte seinen Preis. Aber es blieb jetzt keine andere Möglichkeit, den Schwertkämpfer und ihr Kind zu retten. Mit zitternden Fingern umklammerte Eilin ihren Stab und sprach die Worte, die den Lord der Phaerie herbeirufen würden.
Forral taumelte blind durch die Schneeverwehungen und kämpfte gegen Kälte und Erschöpfung. Er fühlte sich wie in einem endlosen Alptraum gefangen. Die Wirkung von Eilins Trank ließ langsam nach, und seine schmerzenden Glieder waren steif vor Kälte. Jedesmal, wenn er ausrutschte und fiel, schien es weniger wahrscheinlich, daß er jemals wieder aufstehen würde. Aber verloren und erschöpft, wie er war, weigerte er sich doch, aufzugeben. »Was für ein armseliges Zerrbild eines Kriegers bist du bloß!« stachelte er sich selbst an, um die Angst auszulöschen, die sich in seine Brust gesenkt hatte und die viel kälter war als der Schneesturm draußen. »Aurian braucht dich! Nein, bei den Göttern – wenn das hier wirklich zu Ende ist, dann wirst du auf deinen Füßen sterben, auf der Suche nach Aurian i«
Für kurze Zeit war er aus dem Wald heraus gewesen, aber jetzt war er wieder mittendrin und taumelte wie ein Betrunkener auf unsicheren Beinen daher. Das Gehen war leichter hier – die Bäume brachen die Kraft des Windes, und Forral konnte ihre Äste benutzen, um sich festzuhalten. Und den Göttern sei Dank – das da vor ihm mußte Eilin sein. Er konnte ihr schimmerndes Licht zwischen den Baumstämmen tanzen sehen. »Eilin!« schrie er mit aller Kraft, die er seinen keuchenden Lungen abringen konnte. Zur Hölle mit dem dummen Frauenzimmer – warum hörte sie ihn nicht? »Eilin!« Aber sie bleib nicht stehen – und Forral, der Angst hatte, sie wieder zu verlieren, hatte keine andere Wahl, als dem unheimlichen Glühen zu folgen. Plötzlich hatte er den Waldrand erreicht – und dort vor ihm waren plötzlich zwei Lichter, die Seite an Seite unstet durch den wirbelnden Schnee flackerten.
»Forral!«
Er hörte die Stimme der Magusch. Als der Schwertkämpfer auf sie zutaumelte, glitt er aus und stürzte abermals. Als er sich mühsam aus dem Schnee erhoben hatte, beugte sich Eilin sich über ihn, und die beiden Lichter waren irgendwie eins geworden. Nach einem Schluck aus Eilins Flasche fühlte Forral sich schon ein wenig besser. »Dem Himmel sei Dank für das da«, murmelte er. »Einen Augenblick lang habe ich schon doppelt gesehen! Hast du sie gefunden?«
»Nein – aber ich weiß, daß sie ganz in unserer Nähe sein muß. Kannst du jetzt weitergehen?«
Forral nickte. »Aurian«, rief er verzweifelt und versuchte, mit seiner Stimme den tosenden Sturm zu übertönen. Aber das – das war nicht der Wind! Durch den Schneesturm drang das entsetzliche Heulen eines Wolfes, unheimlich und triumphierend. Forral blieb stehen, wie versteinert vor Entsetzen. »Nein!« flüsterte er.
Eilin zog an seinem Arm, und ihr Gesicht leuchtete vor Freude. »Sie haben sie gefunden!« rief sie.
Forral zuckte zusammen. Bei den Göttern, hatte sie nun wirklich und wahrhaftig den Verstand verloren? Haßte sie ihr Kind wirklich so sehr? Grenzenlos angewidert hob er seine Faust, um sie niederzuschlagen.
»Forral, nein!« schrie Eilin. »Das sind Aurians Wölfe – ihre Freunde! Ich habe sie gerufen, um nach ihr zu suchen!«
Verblüfft senkte Forral langsam seinen Arm. Die Wölfe heulten wieder. »Schnell«, sagte Eilin.
Während er ein wachsames Auge auf die gewaltigen grauen Gestalten hielt, die ihn jetzt umringten, hob Forral den leblosen Körper Aurians aus dem Schnee und fühlte ihr mit kältesteifen Fingern den Puls. »Sie lebt!« Er hätte vor Erleichterung weinen können, aber das mußte warten. »Wir müssen uns beeilen. Findest du den Weg zurück?«
»Ich finde immer meinen Weg nach Hause«, gab die Magusch zurück. Sie kämpfte sich mit ihrem Maguschlicht an der Hand an seiner Seite durch den Schnee, gefolgt von etwa einem Dutzend magerer, zottiger Wölfe, die sich um das Kind geschart und es mit der Wärme ihrer Körper am Leben gehalten hatten. Nicht ein einziges Mal ließen die Tiere Aurians reglose Gestalt aus den Augen.
Als Forral den Turm betrat, folgten die Wölfe ihm entschlossen hinein. Dann hielten sie sich jedoch ein wenig abseits, während sie zusahen, wie er und Eilin Aurian die nassen Kleider abstreiften und sie auf ein provisorisches Bett in der Nähe des Ofens legten. Schließlich wickelten sie sie in jede Decke und jedes Laken, das sie finden konnten. Während Eilin Wasser auf den Herd setzte, blieb Forral bei dem Kind sitzen und strich ihm mit zitternder Hand die feuchten Locken aus dem bläulichen Gesicht. »Kannst du nicht irgend etwas tun?« fragte er schließlich ungeduldig.
»Ich bin bereits dabei!« Eilin ließ den Topf mit einem lauten Knall auf den Herd krachen, und Wasser zischte auf, als es über die heiße Fläche rann. Dann bedeckte die Magusch ihr Gesicht mit den Händen und brach in Tränen aus.
»Dafür ist es jetzt zu spät«, sagte Forral brutal. »Sobald es ihr gutgeht – wenn es ihr überhaupt irgendwann wieder gutgeht – werde ich sie von hier wegbringen, und du wirst mich nicht davon abhalten.«
»Nein!« Eilin ließ ihre Hände sinken, um ihn anzustarren. »Das kannst du nicht tun! Ich verbiete es! Aurian ist mein Kind!«
»Und was bedeutet das schon, wenn du nichts tust, als es zu vernachlässigen? Das Kind braucht Liebe, Eilin!«
»Aber ich liebe sie doch, du Narr!«
Der Schwertkämpfer schüttelte den Kopf. »Das glaube ich dir nicht, Eilin. Wenn du sie lieben würdest, würdest du es ihr irgendwie zeigen.«
Seine Worte trafen Eilin tief. »Und was bitte weißt du von diesen Dingen?« gab sie zurück. Sie dachte an ihre Begegnung mit dem ehrfurchtgebietenden Lord der Phaerie, der sich einverstanden erklärt hatte, Forral zu finden und sie zu ihrem Kind zu führen – für einen gewissen Preis.
»Und vergiß nicht«, hatte er gesagt, »daß diese Angelegenheit zwischen uns noch nicht erledigt ist. Wir werden uns wiedersehen, Lady – und wenn es soweit ist, werde ich meine Schuld einfordern.« Eilin schauderte bei dem Gedanken an das, was er von ihr verlangen konnte, aber es war die Sache wert gewesen. Der Phaerie hatte sie davor bewahrt, in ihrem Wahn Aurians Tod zu verschulden. Glaub, was du möchtest, Forral, dachte sie, aber es gibt viele Arten zu lieben und noch mehr Arten, seine Liebe zu zeigen!
Forral sah zu, wie die Magusch mit zitternden Händen einen anregenden Tee aus getrockneten Kräutern, Beeren und Blüten, die bündelweise in der Küche hingen, zubereitete. Sobald es ihnen gelungen war, Aurian ein wenig von dem Gebräu einzuflößen, atmete das Kind leichter und bekam wieder etwas Farbe. Forral stieß einen tiefen Seufzer aus. Erst jetzt wurde er sich seiner eigenen Lage bewußt; er war vollkommen durchnäßt und steifgefroren. »Wir könnten auch etwas von dem Zeug da gebrauchen«, meinte er.
Eilin füllte zwei Becher, setzte sich neben ihn und reichte ihm das dampfende Gebräu. Zuerst saß sie einfach nur da, still und geistesabwesend, und betrachtete ihr schlafendes Kind, dann begann sie endlich zu sprechen. »Forral, ich muß mich bei dir entschuldigen. Ich war eine eigensüchtige Närrin.«
»Ein richtiger Esel«, stimmte der Schwertkämpfer ihr freundlich bei. Dann griff er nach ihrer Hand. »Es ist schrecklich für dich gewesen, nicht wahr?«
»Du hast ja keine Ahnung.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn gewarnt, weißt du – ich habe ihn gebeten, es nicht zu tun. Ich bin eine Erdmagusch – ich wußte, daß es Wahnsinn war. Aber Geraint war immer so stur …«
»Kein ungewöhnlicher Charakterzug bei den Maguschgeborenen, nicht wahr?« bemerkte Forral.
Eilin zuckte zusammen. »Wie kannst du es wagen, mich zu verurteilen, Sterblicher!« herrschte sie ihn an, und er wußte, daß seine Worte ihr Ziel nicht verfehlt hatten. »Nachdem das passiert war«, fuhr sie fort, während sie ihn immer noch wütend anfunkelte, »wollten die Menschen Rache. Es gab auch Sterbliche hier, weißt du, bevor …« Sie schauderte. »Aurian und ich waren in Nexis – sie war noch ein Baby –, und wir sind nur um Haaresbreite mit dem Leben davongekommen. Ich wollte den Schaden, den Geraint angerichtet hatte, wieder gutmachen, um die böse Erinnerung an ihn auszulöschen. Aber je älter Aurian wurde, um so ähnlicher wurde sie ihm – weißt du, daß das arme Kind sogar dieses Adlerprofil haben wird, wenn es etwas älter ist? Und Aurians Augen verfärben sich von Grün nach Grau, wenn sie wütend wird, genauso wie es seine getan haben. Ich kann sie nicht ansehen, ohne auch sein Gesicht zu sehen … Ah, bei den Göttern, Forral, ich hasse ihn!«
»Du glaubst, daß du ihn haßt, weil er dich verlassen hat«, sagte Forral sanft, »aber du liebst ihn immer noch, Eilin.«
»Wenn er mich geliebt hätte, hätte er mich dann allein zurückgelassen?« Ihre Stimme brach. »Ich vermisse ihn so sehr!«
»Dann erlaube es dir, um ihn zu trauern. Es ist höchste Zeit.«
Forral hielt sie in seinen Armen, während sie weinte. »Weißt du«, sagte er schließlich, »Geraint ist nicht ganz gegangen. Er hat einen Teil von sich selbst hiergelassen.« Er zeigte auf das schlafende Kind.
»Dessen bin ich mir wohl bewußt!« fuhr Eilin auf.
»Und das ist auch das Problem, nicht wahr? Du läßt es an ihr aus, Eilin. Aber sie ist nicht dafür verantwortlich.«
Eilin seufzte. »Als du kamst, habe ich mich so schuldig gefühlt – das ist auch der Grund, warum ich dich loswerden wollte. Du, ein bloßer Sterblicher, hast mich gezwungen einzusehen, wie sehr ich mein eigenes Kind vernachlässigt habe! Aber wie kann ich etwas daran ändern, wenn …« Sie holte tief Luft. »Forral, willst du bleiben und dich um sie kümmern? Aurian verdient mehr, als ich ihr geben kann. Und sie liebt dich.«
»Und ich liebe sie. Natürlich bleibe ich! Das war von Anfang an mein Plan, erinnerst du dich? Es dauerte zur ziemlich lange, bis du das in deinen sturen Maguschkopf hineinbekommen hast. Aber das entbindet dich nicht deiner Verantwortung, Eilin. Du bist immer noch ihre Mutter, und ich erwarte von dir, daß du dir Mühe gibst.«
Eilin nickte. »Ich werde es versuchen, das verspreche ich. Und ich danke dir, Forral.« Sie sprang auf. »Vielleicht sollte ich etwas Brühe kochen, für den Fall, daß sie aufwacht. Sie hatte kein Abendessen …«
Forral lächelte ihr ermutigend zu. »Siehst du, wie leicht es ist, liebevoll zu sein, Eilin, wenn man es nur versucht?«
Aurian glaubte, noch zu träumen. Sie hatte einen schrecklichen Alptraum gehabt, hatte sich im Schnee verirrt – und dann waren plötzlich ihre Wölfe dagewesen und jetzt Forral, der mit ihrer Mutter in der Küche saß. Und Eilin hatte sie noch nie so angelächelt, wie sie es jetzt tat.
»Wie fühlst du dich, Liebes?« Forrals Gesicht verzog sich zu einem entzückten Grinsen.
»Forral?« Ihre Stimme war nur ein schwaches Krächzen.
»Es ist alles gut – ich bin bei dir. Trink etwas davon.« Dann legte er seinen Arm um sie und stützte sie, während er ihr eine Tasse warmer Brühe an die Lippen führte. »Besser?« fragte er.
»Alles tut weh. Und mir ist so kalt.«
»Das überrascht mich gar nicht. So mir nichts dir nichts in den Schneesturm hinauszulaufen! Du törichtes Kind!« Seine Stimme klang schroff.
»Es tut mir leid.« Aurian warf einen ängstlichen Blick auf ihre Mutter. »Aber es war ein Notfall.«
»Nun, wo habe ich diese Entschuldigung bloß schon mal gehört?« Forral grinste. »Ich habe Neuigkeiten für dich, junge Lady. Ich werde mich von jetzt an um dich kümmern, also solltest du besser gleich anfangen, dich anständig zu benehmen!«
Aurians Augen weiteten sich langsam. Sie sah ihre Mutter an. »Ist das wahr?« flüsterte sie.
Eilin nickte. »Ich habe Forral gebeten zu bleiben. Er wird sich besser um dich kümmern, als ich es je getan habe.«
»Oh, vielen Dank!« Strahlend streckte Aurian die Hände aus, um ihre Mutter zu umarmen. Eilin erstarrte, machte ein überraschtes Gesicht und erwiderte dann die Liebkosung ihrer Tochter.
Forral lächelte.