23 Der Dämon

Der Lärm der aufgeregten Menge drang bis in den hintersten Winkel. Auf den langen Reihen von Marmorbänken drängten sich dicht an dicht schwitzende Menschenleiber. Die Erregung hatte ihren Höhepunkt erreicht, und die Menge teilte ihre Aufmerksamkeit zwischen dem sandbedeckten, runden Kampfplatz inmitten des gewaltigen Steinbaus des Stadions und dem blumengeschmückten, königlichen Balkon. Dort saßen der finster dreinblickende Khisal, der rechtmäßige Erbe des Throns, und der lächelnde Khisu Xiang mit seiner neuen Königin, der Khisihn, deren Hochzeit heute gefeiert wurde. Die Menge glotzte mit großer Neugier zu dem Balkon hinauf. Es war tatsächlich ein Tag der Wunder – daß der Khisu, der so lange mit seinem Harem voller Schönheiten zufrieden gewesen war, nun doch noch eine andere Dame zu seiner Gemahlin erhoben hatte, die den Platz der alten Königin einnehmen sollte, die nun schon seit vielen Jahren tot war. Die Gerüchte wollten wissen, daß sie von des Khisus eigener Hand ermordet worden war.

Runzlige, scharfsinnige alte Weiber nickten einander weise zu. »Der junge Prinz muß jetzt sehr vorsichtig sein«, sagten sie. »Er hat nie die Gunst seines Vaters gehabt. Wenn die neue Königin einen Sohn zur Welt bringt, wird sich Khisal Harihn ganz schnell in einem Sack am Grund des Flusses wiederfinden, so wie seine Mutter.«

Sie beobachteten die frühen Kämpfe mit wenig Aufmerksamkeit und noch weniger Geduld, denn sie warteten darauf, daß das eigentliche Vergnügen endlich begann. Heute sollte ein neuer Krieger kämpfen. Ein fremder Krieger – und, der Schnitter bewahre uns, eine Frau! Eine Zauberin, so wild wie der Schwarze Dämon selbst. Gerüchten zufolge hatte sie weiter flußabwärts ein ganzes Dorf in Schutt und Asche gelegt. Und wegen dieser Geschichte hatte sich die Arena an diesem Tag schon früh gefüllt. Draußen vor dem Tor wurden noch immer Hunderte von enttäuschten Schaulustigen abgewiesen.

Im Hof der Krieger, unterhalb der steinernen Zuschauerreihen, war es schattig und kühl. Aurian stand allein in einer Ecke und ging Forrals Übungen durch, um ihren Körper und ihren Geist auf die bevorstehende Prüfung vorzubereiten. Es fiel ihr schwer, die Angst um ihr Kind zu unterdrücken, denn sie wußte, daß die Anstrengungen und Risiken dieses Tages möglicherweise das Ende für das unglückliche kleine Würmchen bedeuten konnten. Wenn sie doch nur ihre Magie hätte, dann wäre sie vielleicht in der Lage gewesen, es zu beschützen, aber wie die Dinge lagen …

»O Chathak«, betete sie, »beschütze dieses Kind, ein Kind von Kriegern.«

Aurian war sich verschwommen der Tatsache bewußt, daß die Blicke der anderen Kämpfer neugierig auf sie geheftet waren. Sie waren Fremde füreinander, die voneinander ferngehalten wurden, damit sich keine unerwünschten Freundschaften zwischen ihnen entwickeln konnten. Sie begegneten einander nur in streng überwachten Trainingsrunden, und selbst dann durften sie nicht miteinander reden. In den letzten Wochen hatte Aurian mit einigen dieser Männer trainiert und sogar Eliizar mit ihren Fähigkeiten erstaunt. Abgesehen vom Training hatte sie ihre Tage überaus angenehm verbracht, mit essen, ausruhen und so manchem erfrischenden Bad in dem großen Schwimmbassin der Arena. Sie war so gut vorbereitet, wie sie es nur sein konnte. Nun verdrängte sie alle Gedanken an ihr früheren Begleiter und sogar an ihr Kind, um die innere Ruhe und Gelassenheit zu finden, die sie brauchen würde, um ihr Leben zu retten und ihre Freiheit wiederzugewinnen – denn trotz Eliizars Warnung war sie fest entschlossen, das zu versuchen.

Trotz seines anfänglichen Widerstrebens war Eliizar ihr ein Freund geworden, ebenso wie seine plumpe, mütterliche Frau Nereni, die sich um Aurian, den einzigen weiblichen Krieger, kümmerte. Bei ihren Gesprächen hatte Aurian herausgefunden, daß Eliizar einst ein Offizier der Königlichen Garde gewesen war. Bei einem Mordanschlag auf den Khisu hatte er ein Auge verloren, nachdem er ganz allein alle vier Angreifer getötet hatte. Da Krüppel in der Khazalim-Gesellschaft nicht toleriert wurden, hatte Eliizar nur die Wahl gehabt, in die Sklaverei zu gehen oder mit seiner geliebten Frau zusammen zu sterben. Glücklicherweise war jedoch Xiang in einer seltenen Geste der Dankbarkeit eingeschritten, und Eliizar hatte zur Belohnung den Posten des Schwertmeisters der Arena bekommen. »Und es war eine grausame, hinterhältige Belohnung«, hatte er Aurian gestanden. »Ich bin gezwungen, zum Vergnügen eines blutdurstigen Pöbels starke, junge Krieger in den Tod zu schicken. Wie kann ein Mann mit so etwas leben und nachts trotzdem noch schlafen? Und doch habe ich keine andere Wahl, als hierzubleiben. Diesen Posten zu verlassen würde Tod oder Sklaverei bedeuten, auch für die arme Nereni. Wahrhaftig, ich hasse den Khisu für das, was er mir angetan hat.«

»Bist du bereit?« Eliizars Stimme holte Aurian in die Gegenwart zurück. Gerade wurden die großen Holztüren geöffnet, die auf den Platz des Mordens hinausführten. Ein Krieger humpelte hindurch, gestützt von zwei Helfern und aus mehreren Wunden blutend. Zwei bewaffnete Arenawächter trugen seinen Gegner, einen zerfetzten, blutigen Leichnam. Aurian erkannte die verzerrten Gesichtszüge eines tapferen, lachenden jungen Mannes, gegen den sie erst vor zwei Tagen im Training gekämpft hatte.

Eliizar wischte sich mit zitternder Hand den Schweiß vom Gesicht. »Möge der Schnitter mir vergeben«, murmelte er, und Aurians Herz flog ihm entgegen. Impulsiv legte sie ihm eine Hand auf den Arm.

»Eliizar, du mußt fort von hier. Wenn ich meine Freiheit gewinne, dann kommt ihr, Nereni und du, mit mir nach Norden. Ich werde einen echten Freund und einen guten Krieger brauchen, ob er nun zwei Augen hat oder nur eins.«

Eliizar sah sie voller Erstaunen an und wandte sich dann ab, als der große Gong erklang, um die Magusch zum Kampf zu rufen. »Vergib mir, Aurian«, flüsterte er.

»Da gibt es nichts zu vergeben«, sagte Aurian leichthin. »Wenn dies für mich der einzige Weg in die Freiheit ist, dann würde ich ihn in jedem Falle allem anderen vorziehen. Ich sehe dich später, Eliizar – und denk nach über das, was ich gesagt habe. Ich habe es ernst gemeint.« Sie gab ihm einen verwegenen Kuß auf seinen kahlen Kopf, dann trat sie hinaus in den Tunnel, wobei sie sich um Gelassenheit bemühte und ein Kriegergebet flüsterte, das Forral ihr vor langer Zeit einmal beigebracht hatte. Sie war bereit. Sie mußte es sein.

Aurian trat aus dem schattigen Tunnel hinaus in das weißglühende Gleißen der Arena. Ein gewaltiges Gebrüll stieg aus dreitausend Kehlen auf und hallte wieder und wieder durch das Stadion, bis auch Aurian davon ergriffen und förmlich emporgetragen wurde. Sie hob ihr Schwert – ihr eigenes Schwert, Coronach, das man ihr zurückgegeben hatte –, um die Menge zu grüßen. Sonnenlicht rann wie flüssiges Feuer über die scharfen Schneiden der Klinge. Aurian hob trotzig den Kopf und warf ihr Haar zurück, das nun zu kurz war, um es zu flechten. Der Gestank von Schweiß, Staub und Blut stieg ihr in die Nase, der Geruch des Kampfes.

Dann sah Aurian ihren ersten Gegner und blieb wie angewurzelt stehen. Sie hatte einen der massigen Krieger erwartet, mit denen sie trainiert hatte, damit Eliizar ihre Fähigkeiten beurteilen konnte. Statt dessen stand sie nun einem Fremden gegenüber – einem drahtigen, kleinen Mann, dessen Muskeln auf seinen Armen und Beinen wie knorrige Seile hervortraten. Sein Kopf reichte ihr kaum bis zu den fest eingeschnürten Brüsten. Was ist das? dachte die Magusch wütend. Machen sie sich über mich lustig? Noch während sie darüber nachdachte, schoß ihr Gegner blitzschnell vor, seine Klinge ein silberner Nebel. Kaltes Feuer rann durch ihren linken Arm, gefolgt von einem Strom heißen Blutes, als der Mann auch schon wieder zurücktänzelte und außerhalb ihrer Reichweite war. Aurian starrte einen Sekundenbruchteil lang auf die klaffende Wunde direkt unterhalb ihrer Schulter, wo die Spitze seines Schwerts niedergesaust war. Forrals Stimme hallte in ihren Gedanken wider. Unterschätze niemals einen Gegner, egal wie er aussehen mag.

Eiskalter Verstand kühlte Aurians vom Kampf erhitztes Blut ab. Sie umkreiste den kleinen Mann mit neuem Respekt und versuchte, seinen nächsten Schritt vorherzusehen, suchte nach einer Schwäche in seiner Haltung. Dann war der kleine Wicht plötzlich wieder da, wie Quecksilber. Aurian duckte sich, schwang ihre eigene Klinge rein instinktiv, und spürte den Luftzug seiner Schwertspitze auf ihrem Schenkel. Es gab ein reißendes Geräusch, und der Saum des lächerlichen Kampf rocks, den die Gladiatorin trug, flatterte in Lumpen auf ihrer nackten Haut. Wieder spürte sie das warme, verräterische Tröpfeln von Blut und machte einen Schritt nach hinten. Nichts Ernstes diesmal, ein bloßer Kratzer, es brannte, aber sonst nichts. Ihr eigener Hieb hatte ihn jedoch getroffen. Sie war zu groß – ihr instinktiver, auf den Kopf gerichteter Schlag, hatte ihn oben am Schädel getroffen. Ein Streifen Fleisch hing ihm über dem linken Auge, und aus der Wunde auf seinem Schädel strömte ihm Blut übers Gesicht. Er tänzelte vor ihr, genauso wie sie es tat, und wartete auf eine Gelegenheit. Als er ihren Blick auffing, grinste er – ein tapferes Lächeln, er grüßte sie. Aurian lächelte zurück und erwiderte seinen Gruß mit einer kaum wahrnehmbaren Neigung ihrer Klinge. Er hatte Mut, und er wußte, daß sie ebenfalls mutig war. Aurian wünschte, sie könnte an seiner Seite kämpfen statt gegen ihn.

Sie machte einen Ausfall, er eine Finte. Patt. Wieder tänzelten sie. Die Menge war unruhig; sie wollten, daß etwas passierte. Vereinzelte Buhrufe und Pfiffe waren zu hören. Der kleine Mann holte aus, Aurian rollte unter seiner Klinge weg und fluchte, als ein heißer Schmerz ihren verwundeten Arm herunterschoß. Sie landete auf den Füßen und sah ihren Gegner an. Ihre Klinge hatte ihn bei ihrem letzten Manöver am Knöchel erwischt. Reiner Zufall – oder gewann langsam wieder Forrals schonungsloses Training die Oberhand? Er humpelte schwer, sein Fuß war halb abgetrennt, und er verlor eine Menge Blut. Die Menge tobte, wartete gierig auf den Todesstoß. Für Aurian war der Pöbel der Feind, nicht der mutige Krieger. Hör damit auf, warnte sie sich. Das hier ist nicht die Garnison. Sentimentalitäten bedeuten hier deinen Tod.

Aurian wappnete sich, legte ihre Rechte noch fester um den Griff des Schwerts und balancierte es, so gut es ging, mit der beinahe nutzlosen Linken aus, die das Schwert nur noch kraftlos zu umklammern vermochte. Der kleine Mann taumelte, und sein Gesicht war von Schweiß und Blut überzogen. Ohne Vorwarnung bewegte sich Aurian schnell nach rechts, so daß er wegen des über seinem linken Auge hängenden Fleischfetzens einen Augenblick lang nichts sehen konnte. Er drehte sich um, aber zu spät. Aurian spürte einen sengenden Schmerz in ihrem linken Arm, als sie das Schwert durch Knochen bohrte, und dann fiel sein Kopf und rollte durch den Sand, während sein Körper noch taumelte und in einem Strom von Blut, der aus dem abgetrennten Hals heraussprudelte, zu Boden stürzte. Das Todesheulen der Menge hätte sie beinahe bäuchlings neben ihn geworfen. Aurian, von dem Getöse erschüttert, stand über ihrem toten Gegner, hob ihre blutüberströmte Klinge und küßte sie. Der Gruß eines Kriegers für den Gefallenen.

Es war ein Glück, daß das Aufgrölen der Menge sie warnte. Von Tränen geblendet, hatte Aurian nicht gesehen, wie ihre nächsten Gegner sich aus dem Tunneleingang gelöst hatten. Nun waren sie schon fast bei ihr. Blitzschnell fuhr sie sich mit ihrer blutigen Hand über die Augen und drehte sich um, um der neuen Herausforderung zu begegnen. Aber was war los? Zwei Männer, von denen der eine mit einem langen Speer bewaffnet war, der andere nur mit einem Netz. Aurian blinzelte verwirrt. Das hier lag vollkommen außerhalb ihrer Erfahrungen. Die beiden Männer trennten sich, der eine ging nach links, der andere nach rechts, so daß sie sie nicht mehr beide gleichzeitig im Auge behalten konnte. Dann, zu spät, begriff sie. Es war eine Zwickmühle. Sie mußte den Krieger mit dem tödlichen Speer beobachten, diesem Speer, der auf ihre Brust zielte. Wenn sie ihren Blick von ihm abwandte, konnte er seinen Speer schleudern oder auf sie losstürmen – aber solange sie den Speerkämpfer beobachtete, konnte der andere sich mit dem Netz hinter sie schleichen und sie kampfunfähig machen.

Eine Woge des Zorns überflutete Aurian wie ein Waldbrand. Wie unfair! Aber diesmal fing sie sich schnell wieder und zwang sich, ruhig zu bleiben und nachzudenken. Fair oder nicht – sie mußte sich ihren Weg in die Freiheit erkämpfen. Die ganze Zeit, während der sie nachdachte, wich Aurian langsam zurück und versuchte dabei, beide Männer gleichzeitig im Blick zu behalten. Es würde nicht mehr lange dauern, dann hatten sie sie an der steinernen Mauer, die die Arena umsäumte, in der Falle. Sie sah, wie ihre beiden Widersacher einen Blick tauschten. Einen Blick des Verstehens. Also wollten sie sie genau dort haben! Aurian verstand nicht, warum, aber wenn das das Ziel der beiden Männer war, würde sie dabei nicht mitspielen.

Sie machte einen Ausfall nach rechts und sprang dann plötzlich nach links auf den Mann mit Netz zu. Aus dem Augenwinkel sah sie eine blitzartige Bewegung, als der Speermann zum Wurf ausholte. Aurian spürte die schwere Spitze durch ihre Wade gehen, spürte, wie sie den Knochen streifte und die Muskeln zerriß. Um ein Haar wäre sie vor Schmerz und Schreck ohnmächtig geworden, aber ihr verzweifelter Sprung hatte sie weit genug von den beiden Männern weggebracht. Sie schürfte sich die Handgelenke auf, als die scharfe Kante ihres Schwerts den Mann mit dem Netz am Knie traf. In einer Pfütze seines eigenen Blutes brach er auf dem Boden zusammen, verkrüppelt und schreiend.

Der Speermann, der nun entwaffnet war, machte einen Satz, um nach dem Netz zu greifen, solange Aurian noch kampfunfähig war. Sie hatte keine andere Wahl, sie brauchte den Speer mit seiner längeren Reichweite, um sich selbst zu verteidigen. Aurian ließ ihr Schwert fallen und griff nach dem hölzernen Schaft, um die gezackte Metallklinge aus ihrem Bein zu reißen. Sie fühlte, wie Fleisch und Muskeln zerrissen, und ihr wurde schwindelig. Eine Woge der Übelkeit verschlang sie, und ihre Umgebung verschwamm vor ihren Augen. Sie hatte keine Zeit, sich aufzurappeln. Beinahe blind riß sie den Speer herum und schleuderte ihn mit dem dicken Endstück zuerst in das am Boden liegende Netz. Mit einem scharfen Ruck gelang es ihr, die verhedderten Maschen direkt unter den gerade zupackenden Händen des Speermannes wegzuziehen.

Es war das letzte, womit er gerechnet hatte. Jetzt würde er, wenn er das Netz wiederhaben wollte, ihr näher kommen müssen, als es ohne eine Waffe in der Hand klug gewesen wäre. In dem Sekundenbruchteil seines Zögerns, noch während er die verschiedenen Möglichkeiten abwog, handelte Aurian bereits. Sie zog das glatte Speerende aus dem Netz heraus, drehte den Speer um – und warf.

Der Speermann hatte ihren Plan durchschaut. Er hatte sich bereits umgedreht und rannte weg, und Aurian, die immer noch auf dem Boden lag, konnte in ihrer Position nicht viel Kraft aufwenden. Aber die Entfernung war kurz, und es reichte. Er taumelte, stürzte zu Boden; die blutige Speerspitze hatte sich in seinen Rücken gebohrt. War es möglich, daß sie ihn getötet hatte? Gewiß nicht, dachte Aurian schwach. Aber ob er nun tot war oder nicht, er stand jedenfalls nicht mehr auf. Auf der anderen Seite würde ihr Sieg, falls sie nicht sofort aufstand, auch nicht als solcher gezählt werden. Sie erinnerte sich an den erschöpften jungen Krieger, der die Arena verlassen hatte, bevor sie sie betrat, verdammt zu einer Wiederholung seines Kampfes, sobald seine Wunden verheilt waren.

Das Heulen der Menge entfernte sich, während sich die Dunkelheit wie ein willkommener Schleier über ihren Kopf senkte. Es wäre so leicht, sich einfach fallen zu lassen, in die Bewußtlosigkeit hinüberzugleiten … Vielleicht würde sie überleben und an einem anderen Tag noch einmal kämpfen können … Was? Das alles noch einmal durchmachen? »Nein!« sagte Aurian entschlossen zu sich selbst. »Steh auf, Krieger!« Sie griff nach ihrem Schwert, stieß seine Spitze in den blutbefleckten Boden und zog sich blind in die Höhe, wobei sie sich auf die starke Klinge stützte. Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. Ihr verwundetes Bein konnte sie nicht tragen, und ihr Rücken schmerzte an der Stelle, die sie sich bei ihrem Sturz verrenkt hatte, ihr linker Arm war beinahe nutzlos. Die Anstrengung und der Blutverlust hatten sie vollkommen erschöpft. O ihr Götter, dachte sie. Wie kann ich in diesem Zustand weiterkämpfen? Flüchtig sehnte sie sich nach ihren verlorenen Kräften. Wenn doch nur diese verdammten Armreifen nicht wären, dachte sie verbittert, dann könnte ich mich immer noch retten, aber warte! Die Armreifen hielten sie zwar davon ab, ihre Kräfte nach außen zu richten, aber würden sie auch verhindern, daß sie sie nach innen richtete? Sie dachte an den Aufstand in Nexis und wie sie den Zorn des Pöbels genutzt hatte, um den Regen zu bringen …

Aurian konzentrierte sich mit aller Macht und kehrte ihren Willen nach innen, wie sie ihn normalerweise nach außen wandte, um zu manipulieren … Und es kam! Sie sog Energie von der Hitze der Sonne ein; von der schieren Lebenskraft und dem Blutdurst des Pöbels, der sie umgab. Für die Leute auf den Bänken wirkte es wie eine plötzliche Abkühlung der Luft, wie ein kurzer Schatten, der sich vor die Sonne schob, obwohl keine einzige Wolke das makellose Blau des Himmels verunstaltete …

Aurians hektischer Atem wurde ruhiger und ihre Sicht klarer. Sie konnte ihre Wunden nicht heilen und nicht einmal den Schmerz auslöschen, aber die vom Blutverlust rührende Schwäche war von ihr gewichen, und ihr Körper spürte die erneute Stärke aus ihrer geborgten Energie. Zum ersten Mal wunderte sie sich nun, warum es eine Verzögerung im Ablauf des Arenaspektakels gab, obwohl sie dadurch den Aufschub erhalten hatte, den sie so dringend benötigte. Die Schreie der Menge kehrten in ihr Bewußtsein zurück, überschwemmten sie wie eine Gezeitenwoge. Was war es, was diese Leute da riefen?

»Dämon! Dämon!« Es schien einige Verwirrung zu geben. Bisher waren auch keine weiteren Gegner aufgetaucht. Aurian stützte sich auf ihr Schwert, denn sie wußte, daß sie mit ihrer Kraft sparsam umgehen mußte. Sie sah Eliizar, der vor dem blumengeschmückten, königlichen Balkon stand. Er schien in irgendeine Art von Debatte mit dem König verwickelt zu sein.

Anscheinend waren sie nun zu einem Entschluß gekommen. Der Schwertmeister kam zu ihr und schüttelte den Kopf. »Das ist wirklich noch nie dagewesen«, sagte er. »Die Menge will, daß du die letzte Kampfesprobe mit menschlichen Kriegern überspringst. Sie fordern, daß du dem Schwarzen Dämon gegenübertrittst, und Seine Majestät hat zugestimmt. Die neue Khisu war aus irgendeinem Grund dagegen, aber der Khisu hat sich durchgesetzt.«

Aurian richtete sich auf und sah Eliizar in die Augen. Was für eine Farce! dachte sie gereizt. Mein Schicksal hängt von einem königlichen Streit ab. »Na schön«, sagte sie resigniert. »Dann bringt euren Dämon her.«

Eine Träne lief aus Eliizars gesundem Auge, als er Aurian kurz in die Arme schloß. »Lebe wohl, du tapferste aller Kriegerinnen«, sagte er. »Es tut mir leid, daß es so enden muß. Möge der Schnitter dir gnädig sein.« Und dann war er verschwunden.

Vielen Dank für die Aufmunterung, Eliizar, dachte Aurian kläglich. Während sie wartete, hämmerte die sich langsam nach Westen drehende Sonne weiter auf sie ein. Die Fliegen summten und schwebten über dem Blut, das klebrig aus ihren Wunden tröpfelte. Die Menge war nun ganz still und voller Erwartung. Aurian nahm eine zitternde Hand von ihrem Schwertgriff, um sich den Schweiß und den Schmutz aus dem Gesicht zu wischen. Sie hatte furchtbaren Durst, sagte sich aber fest, daß dies die geringste ihrer Sorgen war. Was war das für ein Dämon, vor dem sie alle solche Angst zu haben schienen? Welche Form würde er annehmen? Ein großer Eisenkäfig, gezogen von einem Dutzend starker Sklaven, wurde in die Arena gerollt. Als die Prozession stehenblieb, schoß ein Sklave hervor und zog den dicken Eisenstab heraus, der die Tür verschlossen hielt, und hastete dann mit seinen Kameraden so schnell er nur konnte in die Sicherheit des Tunneleingangs zurück. Die hölzernen Tore fielen mit einem Dröhnen hinter ihnen zu und versperrten den einzigen Ausgang. Aurian wartete. Die dicken Stäbe des Käfigs standen so nahe beieinander, daß sie nicht sehen konnte, was sich im Innern befand.

Eine dunkle, schattenhafte Gestalt wanderte ruhelos im Käfig umher.

Dann gab es ein plötzliches, grollendes Brüllen, das die Erde unter Aurians Füßen erzittern ließ. Ein Geräusch, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ, voller Zorn und Drohung. Entsetzt über diesen Lärm, zuckte die Menge zurück. Dann schwang die Tür des Käfigs auf, die metallenen Angeln quietschten, und eine gewaltige schwarze Gestalt mit flammenden Augen schlängelte sich geschmeidig auf den Sand. Ein großes, rotes Maul öffnete sich mit einem Fauchen trotziger Herausforderung und entblößte dabei geschwungene, elfenbeinfarbene Fangzähne, die länger waren als Aurians Hände. Die Magusch keuchte, und ihre Finger schlangen sich noch fester um das Heft ihres Schwertes.

Der Dämon war eine große Katze, größer als Aurian es sich in ihren schlimmsten Alpträumen hätte vorstellen können. Von der Nase bis zum Schwanz war die Katze zweimal so lang wie ein Mensch, und sie reichte Aurian in der Höhe bis zur Taille. Als sie ihr Opfer fixierte, loderten ihre gelben Augen wie Feuer.

Langsam und unerbittlich pirschte sie sich heran, und ihre Klauen glitzerten in dem blutigen Sand wie große, stählerne Krummsäbel.

Aurian stellte sich breitbeinig hin und hob ihr Schwert, obwohl ihr das Herz vor Angst wild gegen die Rippen schlug. Wie konnte irgend jemand hoffen, ein solches Geschöpf zu besiegen? Wie konnte sie es besiegen, gequält von Verletzungen und Erschöpfung? Dann begegnete ihr Blick dem ihres Widersachers, und mit einem plötzlichen Erschrecken berührte ihr Geist den Geist der gewaltigen Katze. Sie war intelligent, eine weibliche Katze. Eine Königin – die Patriarchin ihres Volkes –, gefangen, gedemütigt und rachsüchtig.

Die Magusch raffte ihre verwirrenden Sinne zusammen und versuchte, in Gedanken eine Brücke zu ihrer Gegnerin zu schlagen. »Warte«, sagte sie.

»Warum?« Die Antwort war voller Hohn, aber Aurian spürte auch das dahinter verborgene Erstaunen. Die Katze kam näher, beinahe nahe genug, um mit der Tatze zuzuschlagen. Aurian war fast froh darüber, daß ihr verwundetes Bein sie daran hinderte, wegzulaufen. Sie versuchte es noch einmal.

»Ich bin nicht dein Feind. Auch ich bin eine Gefangene.« Ruhig, Aurian. Du darfst nicht flehen.

»Alle Menschen sind meine Feinde.«

»Ich nicht.« Die Magusch gab ihrer Gedankenstimme einen festen Klang. »Die Leute hier sind auch meine Feinde. Warum sollten wir einander töten, obwohl wir die gleichen Feinde haben?«

Die Katze hielt einen Augenblick inne. Sie hatte eine gewaltige Tatze wie zum Schlag erhoben und schien nachzudenken. Dann nahm sie plötzlich eine drohende, geduckte Haltung ein. »Du lügst!« fauchte sie. »Stirb!« Und sie sprang.

Aber Aurian, eine große Katzenliebhaberin, hatte das verräterische Zucken der Hinterbeine gesehen. Und bevor die Katze auf sie stürzen konnte, hatte sie sich bereits mit einem Sprung nach vorn fürs erste gerettet. Sie spürte jedoch, wie die Klauen, weißglühendem Eisen gleich, ihren Körper aufkratzten, und hörte ein wütendes Schmerzgeheul, als die Spitze ihres Schwertes die Rippen der Katze streifte. Sie versuchte, wieder auf die Füße zu kommen, um sich umzudrehen und ihrer Feindin entgegenzutreten, aber das verletzte Bein gab unter ihr nach. Und dann war die Katze über ihr, drückte sie mit dem Gesicht nach unten und in den Schmutz und schlug ihr das Schwert aus der Hand – zu weit weg, als daß sie es noch hätte erreichen können. Einige Herzschläge lang machten sie beide keine einzige Bewegung. Die Menge hielt den Atem an. Abermals suchte die Magusch den Geist ihrer Widersacherin. »Du machst einen großen Fehler.« Wenn ihre Situation nicht so verzweifelt gewesen wäre, hätte sie über ihre eigene Frechheit gelacht.

Die grausame Belustigung der Katze flackerte wie ein Peitschenhieb durch Aurians Gedanken. »Aber natürlich«, höhnte sie.

Langsam, ganz langsam, bewegte Aurian sich ein wenig, ohne auch nur zu wagen, den Sand auszuspucken, den sie im Mund hatte. Wie ein sengender Feuerstrom kratzten die riesigen Krallen leicht über ihren Rücken, zerfetzten ihre Lederweste und schlitzten die zarte Haut darunter auf. Aurian schrie auf vor Schmerzen. Aber sie hatte ihr Ziel erreicht. Ihre rechte Hand war jetzt unter ihr und griff nach dem Dolch, den sie sich von Eliizar zurückgestohlen und in ihrer Weste verborgen hatte. Die Katze hatte ihr, ohne es zu wissen, geholfen, als sie die Kampfmontur beinahe vernichtete, und die lange, flache Klinge glitt nun mühelos in Aurians Hand.

Plötzlich traf sie der mächtige Schlag einer gewaltigen Tatze und rollte sie herum, wieder und wieder; die Katze spielte mit ihr wie eine Hauskatze mit einer Maus. Diesmal landete Aurian auf dem Rücken, und ein scharfer Schmerz nahm ihr den Atem. Ihre Rippen? Oder das Kind? Unfähig, den Schmerz zu lokalisieren, spürte Arian, wie heiße Angst sie durchzuckte. Die große Katze sprang auf sie, streckte bereits die Klauen aus, um ihr den Bauch aufzuschlitzen – und gefror, als sie die Spitze von Aurians Dolch an ihrer Kehle spürte.

Die Magusch blickte in die wilden, goldenen Augen, die nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt waren. »Patt, würde ich sagen«, bemerkte sie. Sie bekam keine Antwort, fing jedoch ein ganz schwaches Aufflackern von Zweifeln hinter diesen flammenden Augen auf. Die Menge war wie ein Mann aufgesprungen. Aurian zwang sich, ruhig zu bleiben, das Wagnis einzugehen. »Sie sagen, wenn ich dich töte, bekomme ich meine Freiheit wieder«, erklärte sie der Katze. »Haben sie dir dasselbe angeboten? Du kannst mich natürlich töten, wenn ich mich bewege – aber vielleicht bist du auch nicht schnell genug.«

Die Katze knurrte drohend. Aurian machte in Gedanken noch einen weiteren Vorstoß. »Du hast nichts zu gewinnen mit meinem Tod. Nichts außer einer schnellen Mahlzeit – und ich versichere dir, du wirst mich sehr zäh finden.« Diesmal schien die Katze auf ihren Humor zu reagieren und sich ein klein wenig zu entspannen. Aurian ließ nicht locker. »Aber was wird passieren, wenn wir uns weigern, einander zu töten? Glaubst du, wir könnten uns unseren Weg in die Freiheit erkämpfen? Wenn nicht, könnten wir wenigstens eine Menge von ihnen mit uns in den Tod nehmen. Was haben wir zu verlieren? Willst du vielleicht für alle Zeiten hier eine Gefangene bleiben?«

»Den Menschen kann man nicht trauen.« Der Ton, mit dem die Katze sprach, war vollkommen ausdruckslos.

»Na schön.« Aurian hatte gehofft, daß es nicht dazu kommen würde. Sie sah der Katze noch einmal offen in die Augen. »Das mußt du ganz allein entscheiden. Aber du bist das schönste, das tapferste, das prachtvollste Geschöpf, das ich je gesehen habe. Ich würde gern dein Freund sein, aber auch wenn das nicht möglich ist, werde ich jedenfalls nicht für deinen Tod verantwortlich sein.«

Mit vorsichtiger Bedachtsamkeit nahm sie ihren Dolch von der Kehle der Katze weg und schleuderte ihn von sich, so daß er über den Sand rutschte und weit von ihr entfernt liegenblieb.

Die Menge keuchte auf. Einen Augenblick lang war alles still; dann öffnete die Katze ihre gewaltigen Kiefer, und die langen, tödlichen Fangzähne glitzerten in der Sonne. Die Magusch zuckte zusammen und schloß angesichts ihres bevorstehenden Todes die Augen, aber im letzten Moment schwenkte der große Kopf zur Seite, und eine Zunge, rauh wie eine Stahlfeile, leckte das Blut auf, das aus der Wunde an Aurians Arm sickerte. Aurian öffnete erstaunt die Augen, und der goldene Blick der Katze begegnete dem ihren.

»Mein Name ist Shia«, sagte sie. »Trink mein Blut und sei mein Freund.« Dann wich sie langsam zurück und entfernte ihr Gewicht von Aurians Körper. Verwirrtes Gemurmel stieg in den Reihen der Zuschauer auf. Aurian setzte sich auf, schwach und von übermächtiger Erleichterung erfüllt. Dann legte sie der Katze ihren Mund auf die Rippen und leckte salziges, mit Sand vermischtes Blut auf.

»Mein Name ist Aurian«, sagte sie, »und ich fühle mich geehrt.« Dann brachte sie den Wagemut auf, ihre blutbefleckten Finger auszustrecken, und streichelte Shias breiten, glänzenden Kopf. Und ein Geräusch, das nie zuvor ein Mensch gehört hatte, hallte durch die Arena – das langsame, tiefere Schnurren der großen Katze.

Die Menge, solchermaßen um einen Tod betrogen, brach in wildes Geheul aus. Buhrufe und Pfiffe erschollen, und Wurfgeschosse regneten in die Arena hinunter – Früchte, Süßigkeiten, Trinkbecher, ja sogar Schuhe. Die Tunneltore schwangen auf, und zwei Dutzend bewaffnete und gepanzerte Wachsoldaten kamen in die Arena marschiert. Widerwillig kamen sie näher und verteilten sich, um einen lockeren Kreis um Aurian und Shia zu bilden. Währenddessen versuchte die Magusch, sich auf die Knie zu erheben. Shia trottete zuvorkommend dorthin, wo Aurians Schwert lag, nahm vorsichtig den Griff ins Maul und trug es zu Aurian hin. Aurian versuchte, auf Coronach gestützt, festzustellen, wieweit sie ihr verletztes Bein benutzen konnte. Sie konnte sich zwar, solange sie stillstand, auch ohne Stütze im Gleichgewicht halten – aber nicht, wenn sie sich bewegte. Keine Chance. Aber das wußten diese Männer nicht. Das Schwert in der Hand und Rücken an Rücken mit Shia stand sie da, während der Ring der Wächter sich langsam um sie schloß. »Na schön«, rief sie grimmig aus. »Welcher von euch Hurensöhnen will der erste sein?« Shia fauchte ein drohendes Echo zu ihren Worten. Ihre Angreifer sahen einander zweifelnd an. Offensichtlich wollte keiner der erste sein.

Plötzlich kam Eliizar aus dem Tunnel herausgerannt und überquerte die Sandfläche, so daß er schließlich vor dem königlichen Balkon stand. Der Khisu sprang auf und alle Geräusche verstummten. »Euer Majestät«, rief der Schwertmeister mit zitternder Stimme. »Die Entscheidung über Leben und Tod für diese Kriegerin liegt bei Euch. Der Tod ist die gewöhnliche Strafe für einen, dem es nicht gelingt, seinen Widersacher zu töten, aber diese Frau – diese Kriegerin – hat uns mit der tapfersten Vorstellung in der Geschichte der Arena geehrt. Niemand wird diesen Tag vergessen. Wollt Ihr ihr nicht anläßlich des freudigen Ereignisses Eurer Hochzeit Gnade gewähren?«

Oh, danke, Eliizar, dachte Aurian.

Auf dem Balkon war der König ganz von seiner Entscheidung gefangengenommen. Er schwankte. Begnadigung wäre eine großzügige Geste und eines Khisu wahrhaft würdig, aber die Gebieter hatten ihm von dieser gefährlichen Fremden erzählt, und er war sich nicht sicher, ob er sie in seinem Land auf freiem Fuß haben wollte.

Aurian beobachtete den Khisu und hielt den Atem an. Das war das erste Mal, daß sie ihn ruhig sehen konnte. Er sah jünger aus, als er sein mußte, aber sein Gesichtsausdruck war wölfisch und wild. Unter seinen geraden Brauen glitzerten dunkle Augen mit unbarmherziger Grausamkeit. Sein schwarzes Haar, das ihm weit bis über die Schultern fiel, zeigte keine Spur von Grau, und er trug einen langen, an den Enden herunterhängenden Schnurrbart. Sein Körper war schlank, geschmeidig und muskulös – eine Maschine zum Töten –, und es sah so aus, als benutzte er ihn regelmäßig – und effektiv. Bei den Göttern, dachte Aurian. Es würde mir gefallen, mit ihm zu kämpfen. Allerdings würde es mir vielleicht sogar auch gefallen, mit ihm zu schlafen. Der Gedanke, sehr unpassend in ihrer verzweifelten Situation, schockierte sie. Aber es war unleugbar. Seine Aura war unwiderstehlich anziehend und genauso gefährlich. Er war wie ein prachtvolles, wildes Tier.

Dann trat plötzlich die Königin – die neue Khisihn – aus dem Schatten des Balkons hervor und murmelte etwas in das Ohr des Khisu. Ihr Gesicht war verschleiert, aber das helle Aufblitzen goldenen Haares war unverkennbar. Sara! Aurian sank benommen vor Schreck an Shias Seite zu Boden. Wie, in Namen aller Götter, hatte dieses verfluchte Weibsbild das zustande gebracht?

Sara war von Aurians Erscheinen in der Arena gleichermaßen überrascht gewesen. Was für ein Pech! Wenn diese verdammte Magusch dem König erzählte, daß sie bereits verheiratet war, wäre all die Arbeit, die sie gehabt hatte, um ihn zu gewinnen, umsonst gewesen. Sie trat zu ihm heran und flüsterte etwas in sein Ohr, dankbar dafür, daß er ihre Sprache beherrschte, obwohl sie im Erlernen der seinen ebenfalls große Fortschritte machte. »Tötet diese Frau, mein Fürst«, sagte sie. »Macht mir das Geschenk ihres Todes.«

Xiang starrte sie verblüfft an. War das die sanfte Kreatur, die ihn so bezaubert hatte?

»Bitte, mein Liebster.« Sara lächelte verführerisch, und der Khisu fand es wie immer unmöglich, ihr zu widerstehen. Sein Daumen begann bereits, sich nach unten zu drehen, das traditionelle Zeichen für Tod.

»Halt!« Prinz Harihn trat aus dem hinteren Teil des Balkons hervor. »Es ist Sitte, daß der Khisu an seinem Hochzeitstag Geschenke macht«, sagte er. »Irgendwie bin ich dabei bisher übersehen worden.« Er lächelte seinen Vater ohne Wärme an. »Gib sie mir, Vater. Gewähre mir das Geschenk des Lebens dieser Frau.« Seine Stimme scholl mit vorsätzlicher Lautstärke durch die Arena, und der Khisu fand sich plötzlich im Mittelpunkt Hunderter neugieriger Augen wieder. Er funkelte seinen Sohn wütend an.

»In Namen des Schnitters, warum?«

Harihn zuckte die Achseln. »Du hast mir schon so lange damit in den Ohren gelegen, daß ich eine Frau brauche. Diese fremde Kriegerin stellt eine Herausforderung dar, der ich nicht widerstehen kann.«

Sara, der es gelungen war, dem größten Teil dieses Gespräches zu folgen, spürte, wie ihr der günstige Moment entglitt. »Mein Fürst«, protestierte sie. »Ich bitte Euch, schenkt mir den Tod dieser Frau.«

»Da siehst du’s, mein Sohn.« Der Khisu zuckte mit den Schultern. »Siehst du, in was für eine Bedrängnis du mich gebracht hast. Ich muß entweder meinen Erben enttäuschen – oder meine neue Braut.« Er schenkte Sara ein betörendes Lächeln, bevor er sich wieder an den Prinzen wandte. »Diese Frau kann doch unmöglich so wichtig sein? Man kann sie kaum eine Schönheit nennen, und jedermann würde es sich zweimal überlegen, bevor er mit einem solchen Weibsteufel ins Bett stiege. Komm.« Seine Stimme hatte einen harten Klang angenommen. »Suche dir ein anderes Geschenk aus, Harihn. Wenn es eine Frau ist, die du willst, dann stelle ich dir zur Auswahl mein ganzes Serail zur Verfügung. Jede einzelne dieser Frauen befindet sich in der Blüte ihrer Schönheit, und jede von ihnen ist aufs beste bewandert in den Künsten der Liebe.«

Harihn biß die Zähne zusammen. »Nein«, sagte er ausdruckslos. »Ich will diese Frau.« Vater und Sohn funkelten einander wütend an, und alle vorgetäuschte Freundlichkeit war plötzlich dahin. Der Khisu dachte hastig nach. Was hatte Harihn vor? Wollte er lediglich seinen königlichen Vater in der Öffentlichkeit bloßstellen, oder wollte er zwischen ihm und seiner neuen Königin Unfrieden stiften? Oder hatte er irgendein anderes Motiv dafür, diese Zauberin in seinen Haushalt aufzunehmen?

Xiang traf seine Entscheidung. Das wahrscheinlichste war, daß die Hexe ihrem Gönner bei erster Gelegenheit einen Dolch in den Rücken jagen würde, womit sie Problem gelöst wäre. Wenn nicht … nun, es gab noch andere, unauffällige Möglichkeiten, diese Sache zu erledigen. »Nun gut, mein Sohn«, sagte er so laut, daß die atemlos lauschende Menge es hören konnte. »Ich kann dir deine Bitte nicht verweigern. Ich unterstelle also diese tapfere Kriegerin deiner Fürsorge.« Er hob den Daumen in der Geste, die Leben bedeutete, und die Menge applaudierte. Sara keuchte entsetzt.

»Mein Vater, ich danke dir«, sagte Harihn und überquerte, nachdem er sich dramatisch über den Balkon geschwungen hatte, den Raum, der ihn von Aurian trennte.

Die Magusch beriet sich kurz mit Shia. »Es sieht so aus, als wäre unser Leben gerettet – für den Augenblick. Sollen wir mit diesem Mann mitgehen?«

»Ich traue ihm nicht.«

»Ich auch nicht. Aber ich denke, wir sollten das Risiko eingehen. Es ist besser, als von diesen Idioten hier in Stücke gehackt zu werden.«

»Einverstanden.«

Als der Khisal näher kam, verbeugte Aurian sich tief, zuckte jedoch vor Schmerz zusammen und biß sich auf die Lippen, um nicht die Fassung zu verlieren, als sie sah, wie seine Augen auf ihren Brüsten ruhten, die durch die Zerstörung ihrer Lederweste nun seinem Blick preisgegeben waren. »Ich danke Euch, Euer Hoheit«, sagte sie.

Er lächelte. »Tapfer gekämpft, Kriegerin. Die Ehre ist ganz meinerseits. Wirst du mit mir kommen?« Er streckte die Hand aus, um Aurian zu helfen, und die große Katze knurrte warnend.

»Ich fürchte, Ihr habt auch meine Freundin geerbt«, sagte Aurian.

Der Prinz warf einen zweifelnden Blick auf Shia. »Aber gern«, log er, »nur, daß mein Vater sie nicht in unseren Handel eingeschlossen hat.«

Aurian war dieser Scharade herzlich müde, und sie wußte, daß sie am Ende ihrer Kräfte angelangt war. »Wohin ich gehe, dahin geht auch Shia«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme. »Wollt Ihr vielleicht versuchen, sie aufzuhalten? Aber vielleicht habt Ihr ja vor Eurem Vater noch mehr Angst.« Harihn runzelte die Stirn und blickte zu der Menge empor. Aurian wußte, daß er sich vor der Katze fürchtete, aber gleichzeitig hatte er Angst, sich zum Narren zu machen, falls Shia ihm seinen triumphalen Abgang ruinieren sollte. »Sie wird einem Freund von mir nichts zuleide tun, und Euer Volk wäre sicher beeindruckt von einem Prinzen, der ein solches Geschöpf zähmen kann«, legte sie ihm nahe.

Harihn strahlte bei ihren Worten. »Na schön. Wird er mir erlauben, dir zu helfen?«

»Sie. Ja, das wird sie.«

Der Prinz hob Aurian theatralisch vom Boden auf und verließ die Arena; die große Katze heftete sich wachsam an seine Fersen.

Die Menge jubelte begeistert. Die Leute schienen vergessen zu haben, daß sie nur wenige Minuten zuvor nach Aurians Blut geschrien hatten. Das letzte, was Aurian sah, als sie den Tunnel betraten, waren der Khisu und Sara, die ihnen wild hinterherstarrten mit nacktem Zorn in den Augen. Aurian spürte, wie eine unbehagliche Kälte ihr das Rückgrat heraufkroch. Was hatte dieser Prinz nun eigentlich mit ihr vor? »Halt meinen Geist fest«, bat sie Shia. »Ich wage es nicht, jetzt ohnmächtig zu werden.«

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