26 Ein Handel mit dem Tod

Anvar war schließlich am Ende seiner Kräfte angelangt. Nach vielen Tagen im Sklavenlager – er konnte nicht mehr sagen, wie viele es gewesen waren – lag er mit einem Fieber danieder, das die grausamen, stechenden Insekten übertrugen. Eines Morgens war er unfähig gewesen, sich zu erheben, und sein Körper wurde von einem zitternden Delirium heimgesucht. Der Aufseher rollte ihn mit dem Fuß zur Seite. »Der da ist fertig.« Die Worte hallten unheimlich in Anvars schwindendem Bewußtsein wider. »Schick die anderen zur Arbeit, um den da kümmern wir uns später. Wie schade, er hat mir schon einen ganzen Monatslohn eingebracht. Wenn er sich nur noch ein kleines bißchen länger gehalten hätte, wäre es mehr gewesen.« Das waren die letzten Worte, die Anvar hörte, bevor er hinuntergezogen wurde, hinab in eine unendliche Spirale der Finsternis. In diesem Augenblick fielen aller Kummer, alle Schmerzen und alle Schwächen von ihm ab, und zufrieden ließ er sich treiben, um seine letzte Reise anzutreten.

Für mehrere Tage nach ihrer Unterhaltung mit Harihn tat Aurian nichts außer essen und schlafen und sich mit dem Arzt darüber streiten, wann sie endlich das Bett verlassen durfte. Die Suche nach Anvar hatte keine Fortschritte gemacht, und Aurian konnte es kaum erwarten, endlich die Dinge voranzutreiben. Aber der Arzt blieb unerbittlich, und zu ihrem Widerwillen mußte sie feststellen, daß Shia sie davon abhielt, ihr verwundetes Bein auszuprobieren, denn sie hatte sich unerwarteterweise, aber mit großer Entschlossenheit auf die Seite des verhutzelten, kleinen Mannes gestellt. Da die große Katze ihr nie von der Seite wich, war Aurian hilflos ans Bett gefesselt, aufopferungsvoll bedient von dem gigantischen Bohan. Aus Dankbarkeit für seine Ergebenheit und die wohlmeinende Sorge sowohl von Shia als auch von ihrem Gastgeber, versuchte Aurian, ihren Ärger im Zaum zu halten, aber ihre Enttäuschung wuchs mit jedem neuen Tag.

Harihn verbrachte einen guten Teil seiner Zeit mit der Magusch, und im Laufe ihrer Unterhaltungen erzählte er ihr auch von dem Stadtstaat Taibeth, in dem sie sich zur Zeit aufhielt. Es war die Hauptstadt und der nördlichste Vorposten der Khazalim, von denen die meisten ein Nomadenleben in der unfruchtbaren Wildnis südlich des großen Flußtales führten oder weiter flußaufwärts in einer der verstreuten Siedlungen im Westen wohnten. »Es ist ein schwieriges Land«, erklärte er ihr, »und die Khazalim sind schwierige Menschen – wild, kriegerisch und gnadenlos zu ihren Feinden. Mein Vater ist ein gutes Beispiel für unsere Rasse.« Mit diesen Worten begann er von seiner unglücklichen Kindheit zu sprechen.

Die Mutter des Prinzen war eine Prinzessin der Xandim gewesen, die weit jenseits der Wüste lebten und bekannt waren für ihre legendären Pferde. Xiang hatte sie bei einem Überfall auf ihr Volk geraubt und zu seiner Frau gemacht, aber ihr Geist hatte sich als zu stolz und zu unabhängig für den Geschmack des Khisu erwiesen. Als Harihn noch ein kleiner Junge war, hatte Xiang seine Mutter schließlich von Meuchelmördern im Fluß ertränken lassen und ihren Tod später als Unfall hingestellt. Ihr Sohn hatte seine Kindheit auf Streifzügen durch den königlichen Palast zugebracht, einsam und ungeliebt, ein fortwährendes Opfer der Brutalität seines Vaters. Aber der Khisu hatte sich nie eine neue Königin genommen, und als einziger königlicher Erbe war Harihns Leben nie bedroht gewesen – bis jetzt.

Sehr zu Aurians Mißfallen weigerte der Prinz sich, die Idee fahren zu lassen, Anvar dazu zu benutzen, die neue Königin in Mißkredit zu bringen. »Wirklich«, sagte er, »dein Mann könnte sich als eine gute Waffe gegen meinen königlichen Vater erweisen.«

»Also, einen Augenblick mal«, unterbrach Aurian ihn. »Ich werde nicht zulassen, daß Anvar wegen dieser Fehde zwischen Euch und eurem Vater in Gefahr gerät.«

»Gefahr? Fehde? Aurian, du verstehst nicht.« Harihn beugte sich vor, und der Blick in seinen Augen war unmißverständlich. »Dein Mann befindet sich in der allergrößten Gefahr, falls er überhaupt noch lebt. Wenn der Khisu herausfindet, welche Verbindung zwischen diesem Mann und seiner neuen Khisihn besteht, dann ist Anvars Leben kein Sandkorn mehr wert. Und was ist mit der Khisihn selbst? Ich habe doch ihre Unbarmherzigkeit gesehen, als sie deinen Tod forderte. Sie würde deinen Mann niemals am Leben lassen und so riskieren, daß ihr Geheimnis preisgegeben werden könnte. Nein, ich muß meine Suche sofort verstärken. Ich möchte dieses Faustpfand so bald wie möglich in meinen Händen halten, nicht nur um deines Seelenfriedens und um meiner Ziele willen, sondern auch zu seiner eigenen Sicherheit.«

Nichtsdestotrotz dauerte es noch weitere vier Tage, bis die Suche die ersten Erfolge zeigte. Aurian, vor Ungeduld fast wahnsinnig, hatte sich schließlich das Recht erstritten, ihr Bett verlassen zu dürfen. Ihre Beharrlichkeit hatte Harihn, den Arzt und Shia bis zu einem Punkt ermüdet, an dem sie beschlossen, Bohan zu erlauben, sie nach draußen zu tragen und sie in dem mit Mauern umgebenen Garten in einen bequemen Sessel zu betten; ihr verletztes Bein mußte sie jedoch noch immer auf einen Hocker legen. Es war ihr außerdem streng verboten, aufzustehen, und der Eunuch war ständig in Bereitschaft, um sich um jeden ihrer Wünsche zu kümmern. Nun, immerhin war es endlich ein Fortschritt, dachte Aurian finster. Zuerst hatte sie dem Prinzen zugesetzt, er solle diese verdammten Armreifen entfernen und ihr gestatten, sich selbst zu heilen, aber er hatte ihr gesagt, daß das Geheimnis, wie man Fesseln entfernte, schon vor langen Zeiten verlorengegangen sei. Außerdem, so wollten es die alten Gesetze, war die Befreiung eines Zauberers innerhalb der Grenzen des Königtums verboten. Die Strafe für eine solche Tat sah vor, daß alle Beteiligten bei lebendigem Leibe gehäutet wurden. Obwohl die Magusch das Thema schließlich widerwillig fallengelassen hatte, war ihre Verzweiflung diesbezüglich nur noch größer geworden. Aurian saß neben dem reich geschmückten Schwimmbecken im Schatten eines blühenden Baumes und kochte innerlich. Shia, die die Geduld mit ihrer reizbaren Freundin verloren hatte, hatte sich in den Schatten verzogen, um ein Schläfchen zu halten. Die Magusch war damit beschäftigt, mißlaunig die wechselnden, duftenden, trompetenartigen Blüten zwischen ihren Fingern zu zerfetzen und die Einzelteile ins Becken zu werfen, wo sie sofort von den gierigen, goldenen Karpfen verschlungen und ebenso schnell wieder ausgespuckt wurden. Aber die Fische versuchten es immer wieder. Ihr dummen Geschöpfe, dachte Aurian mißmutig. Man sollte doch meinen, ihr würdet es irgendwann lernen. Gerade in diesem Augenblick sprang Bohan, der ganz in ihrer Nähe im Gras gesessen hatten, auf die Beine. Er hatte die sich nähernden Schritte gehört und warf sich jetzt hastig vor seinem Prinzen zu Boden, der mit leuchtendem Gesicht über die Terrasse gelaufen kam. »Ich habe Neuigkeiten, Aurian«, rief er. »Endlich gibt es Neuigkeiten!«

Aurian versuchte sich zu erheben, aber er drückte sie sanft wieder in ihren Stuhl zurück. Ein scharfer Schmerz schoß durch ihre verbundenen Rippen, aber sie ignorierte ihn. »Erzählt es mir!« rief sie. Von der unbarmherzigen Hitze erschöpft, ließ Harihn sich neben ihr ins Gras fallen und goß Wein aus einem Krug, der auf dem niedrigen Tisch neben ihr stand, in zwei Kelche.

»Wir haben gestern abend den Kapitän des Korsarenschiffes ausfindig gemacht«, sagte er. »Es widerstrebte ihm natürlich sehr, den illegalen Handel mit Fremden zuzugeben, aber ein kurzer Aufenthalt in meinem Kerker hat seine Einstellung schnell verändert.« In seinen Augen funkelte eine wilde Schadenfreude, die Aurian verabscheuenswert erschien. Wie der Vater, so der Sohn, dachte sie. Ich sollte vorsichtiger sein.

»Es sieht so aus«, fuhr Harihn fort, »als hätte er deinen Anvar an einen berüchtigten Sklavenhändler namens Zahn verkauft. Meine Männer haben ihm heute morgen einen Besuch abgestattet. Zuerst hat er alles geleugnet, aber als man ihn vor eine einfache Entscheidung stellte – entweder eine große Bestechung oder ein Besuch bei seinem Freund, dem Kapitän, in meinem Kerker –, war er plötzlich äußerst hilfreich. Was wirklich ein Glück ist.« Er runzelte die Stirn.

»Wäre ich gezwungen gewesen, Zahn gefangenzunehmen, hätte ich damit auf jeden Fall die Aufmerksamkeit des Khisus erregt – Zahn ist die Hauptquelle für die Sklaven, mit denen er seinen Sommerpalast baut. Wenn mein Vater von deinem Mann erfahren hätte, wäre das für uns alle vielleicht äußerst unangenehm gewesen.«

»Gleichgültig«, drängte Aurian ihn ungeduldig weiter, denn diese Dinge interessierten sie nicht im geringsten – ein Fehler, wie sie später entdecken sollte. »Wo ist Anvar? Wo habt Ihr ihn gefunden?«

»Mach dir keine allzu großen Hoffnungen, Aurian.« Harihns Gesicht war plötzlich sehr ernst geworden. »Zahn hat ihn an die Leute verkauft, die flußabwärts den Sommerpalast für meinen Vater bauen. Der Khisu will, daß er endlich fertig wird, und es kümmert ihn nicht, wie viele Leben er für diesen Zweck verschwenden muß. Ich habe die Baustelle einmal besucht. Die Brutalität, mit der die Sklaven dort behandelt werden, hat mir den Magen umgedreht.«

Er griff nach der Hand der Magusch. »Aurian, dein Anvar ist dort vor mehreren Wochen hingekommen, und die Sklaven sterben da wie die Fliegen. Außerdem habt ihr Nordländer nicht die richtige körperliche Verfassung für dieses Klima. Es ist beinahe sicher, daß er tot ist, Lady.«

»Nein!«

Als er ihr unglückliches Gesicht sah, fuhr er schnell fort. »Aber ich habe ein Boot bereitmachen lassen, und ich werde mich sofort auf den Weg machen, um es herauszufinden.«

Auf der Stelle war das alte Glitzern wieder in Aurians Augen zurückgekehrt. »Gut«, sagte sie. »ich dachte schon einen Augenblick lang, ich müßte Euch erst dazu überreden. Wie bald können wir aufbrechen?«

Harihn starrte sie an und ließ seinen Blick über die Verbände auf ihren Rippen gleiten, die durch das hauchzarte weiße Gewand, das sie trug, deutlich sichtbar waren; ihr linker Arm lag immer noch in einer Schlinge. Auf ihren Armen und ihrem bleichen Gesicht waren immer noch langsam verblassende blaue Flecken zu sehen. »Aurian, du kannst nicht mitkommen«, erklärte er mit fester Stimme.

Aurian biß die Zähne zusammen. »Wollt Ihr darauf eine kleine Wette machen, mein Prinz?«

Zu jeder anderen Zeit wäre die Reise flußaufwärts ein Vergnügen gewesen. Aurian und Harihn saßen bequem auf Kissen unter einem schattigen Baldachin, und der immer aufmerksame Bohan verjagte mit einem Fächer die Insektenschwärme, die über den träge dahinfließenden Wassern schwebten. Obwohl Harihn seine extravagante, königliche Barkasse zugunsten eines einfacheren Schiffes aufgegeben hatte – um so wenig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen wie möglich –, genossen sie auf der Reise jeden nur erdenklichen Luxus. Früchte und Wein standen bereit, aber die Magusch war viel zu aufgeregt, um zu essen. Sie saß hoch aufgerichtet da, blickte flußaufwärts und versuchte die Ruderer mit ihrem Willen voranzutreiben. Noch nie in ihrem Leben hatte sie Fingernägel gekaut, aber jetzt tat sie es. Harihn beobachtet sie mit einem Stirnrunzeln. »Aurian«, sagte er schließlich. »Mußt du so ein Theater machen?«

»Was denkt Ihr Euch eigentlich?« fuhr Aurian ihn an. »Wie soll ich denn weniger Theater machen, wenn Anvar so furchtbar leiden muß. Ich gebe mir selbst die Schuld daran.« In ihrer Stimme schwang Bitterkeit mit.

»Aurian, was hättest du denn tun können?« Der Prinz setzte sich auf und legte eine beschwichtigende Hand auf ihren Arm. »Du nimmst zuviel auf dich. Was geschehen ist, ist geschehen – vergiß nicht, wie nahe du selbst dem Tod gewesen bist. Du hättest Anvar den Rücken kehren können, so wie die Khisihn es getan hat, aber du hast es nicht getan. Was hättest du denn sonst noch tun können? Ob wir rechtzeitig kommen oder nicht, es wird jedenfalls nicht schneller gehen, nur weil du dich so aufregst.«

»Das weiß ich«, sagte Aurian unglücklich. »Ich kann nur einfach nicht dagegen an.«

Als die Barkasse sich der Mole vor dem Sommerpalast näherte, konnte Aurian selbst sehen, wie furchtbar die Sklaven dort mißbraucht wurden und wie sehr sie litten. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Es war doch wohl kaum möglich, daß Anvar das hier überlebt hatte? Warum hatte sie ihn nur je allein gelassen? Ihre Finger umkrampften die Reling der Barkasse, und ihre Nägel gruben sich in das weiche Holz.

Als sie ihr Boot endlich sicher vertäut hatten, trug Bohan die Magusch an Land und setzte sie auf den staubigen Boden, während Harihn nach dem Sklavenmeister schickte. Sie warteten, Aurian in einem Fieber von Ungeduld. Shia hatte zu ihrem größten Mißfallen zurückbleiben müssen, aber Harihn hatte den Arzt mitgebracht. Der kleine Mann runzelte die Stirn und schürzte angesichts dessen, was er sah, mißbilligend die Lippen. Als Aurian seinen Blick auffing, antwortete er ihr mit einem leichten Kopf schütteln. »Oh, bitte«, begann sie zu beten, obwohl sie genau wußte, daß die Götter, mit denen sie aufgewachsen war, nichts anderes waren als Magusch, genau wie sie selbst. »Bitte …«

Ohne weiteren Verzug kam auch schließlich der Sklavenmeister herbeigeeilt. Als er zu seiner Überraschung seinen Prinzen erkannte, ließ er sich am ganzen Leibe zitternd auf den Boden fallen. Harihn forderte ihn hastig auf, sich zu erheben, und zog ihn beiseite, so daß Aurian ihr Gespräch nicht mitanhören konnte. Es schien endlich zu dauern. Obwohl sie nichts hören konnte, konnte sie doch sehen, wie der Sklavenmeister abwehrend die Hände hob und energisch den Kopf schüttelte. Schließlich schnipste Harihn, der der Auseinandersetzung müde geworden war, mit den Fingern. Auf der Stelle kletterten zwei grimmig aussehende und mit großen, geschwungenen Krummsäbeln bewaffnete Palastwachen aus der Barkasse und stellten sich mit gezückten Klingen links und rechts von dem Sklavenmeister auf. Der Sklavenmeister sank flehend auf die Knie. Dann hob er die Hand, wie um irgendwohin zu zeigen! Aurian wandte ihren Blick in dieselbe Richtung. Das Sklavenlager.

Harihn kehrte mit grimmigem Gesichtausdruck zu ihr zurück. »Anvar ist hier«, sagte er. »Bohan wird mich sofort zu ihm bringen, denn die Nachrichten sind sehr ernst. Der Sklavenmeister sagt, er liegt im Sterben.«

Der Gestank in dem Lager war überwältigend. Bohan setzte Aurian neben der einzigen Gestalt ab, die sich zu dieser Tageszeit noch dort befand, in sich zusammengekauert auf der gegenüberliegenden Seite in dem dürftigen Schatten, den die hölzernen Palisaden spendeten. Aurian keuchte. Anvar war kaum noch zu erkennen. Seine gerötete Haut schälte sich und war von Blasen überzogen, seine Lippen waren gesprungen, sein Körper unter dem Schweiß und Schmutz von blauen Flecken und Wunden überzogen. Er atmete kaum noch. Aurian zog ihren Arm aus der Schlinge und hob seinen Kopf auf ihren Schoß, um ihm mit dem Ärmel ihres Gewandes den Staub aus dem Gesicht zu wischen. Tränen trübten ihren Blick. »Schnell!« fuhr sie Bohan an. »Hol etwas Wasser!« Der Eunuch eilte davon, und Aurian winkte den Arzt zu sich. Sein Gesicht war sehr ernst, nachdem er seine Untersuchung abgeschlossen hatte.

»Der Mann stirbt«, sagte er einfach.

»Aber du kannst doch gewiß etwas für ihn tun?« flehte Aurian. Zum ersten Mal, seit sie ihn kennengelernt hatte, verrutschte die professionelle Maske des Arztes. Er legte ihr mitfühlend eine Hand auf die Schulter. »Lady, ich kann nichts tun, ich kann höchstens sein Leiden beenden und ihn ein wenig vorantreiben auf seinem Weg. Das wäre bei weitem das gütigste.«

»Das kommt nicht in Frage!« In ihren Augen blitzte ein solcher Zorn auf, daß der Arzt sich vor Entsetzen auf den Boden warf. »Mach, daß du hier rauskommst!« zischte Aurian ihn an. »Raus!«

Als der kleine Mann davonstolperte, nahm sie Anvars vernarbte Hände in ihre eigenen. Als ihre Tränen auf sein Gesicht fielen, fühlte Aurian, wie eine qualvolle Erinnerung durch ihr Herz schoß. So etwas hatte sie schon einmal durchgemacht. Damals, als Forral starb. Mit einem scharfen Zischen holte sie Luft. »Ich verfluche dich, Anvar, wage es nicht, mir auch noch wegzusterben. Ich kann das nicht noch einmal ertragen. Ich werde es nicht zulassen, daß du stirbst!«

Sie hielt Anvars Hände mit einem eisernen Griff umklammert, als könne sie ihn durch schiere Gewalt zurück ins Leben ziehen. Verzweifelt kämpfte sie um Zugang zu ihrer Zauberkraft – kämpfte darum, ihn zu erreichen, ihn zu heilen –, aber ihr Wille glitt ihr wie Wasser durch die Finger, aufgesogen von dem toten, grauen Strudel, mit dem die Armreifen all ihre Macht verschlangen. Aurian biß die Zähne zusammen, um nicht zu verzweifeln. Aber je mehr sie es versuchte, um so intensiver spürte sie, wie sie immer schwächer wurde, während ihre Kräfte in die Armreifen flössen. Ihr Blick trübte sich, ihre Wahrnehmung dieses widerlichen Ortes und der gnadenlosen Sonnenhitze löste sich auf, bis ihr Bewußtsein, so schien es, an einem einzigen dünnen Faden ihres Willens hing. Aber dieser Faden war aus Diamant. Sie kämpfte weiter, kämpfte sich durch einen Tunnel endloser Schwärze und weigerte sich, nachzugeben.

Eine sanfte Berührung an der Schulter holte Aurian mit einem Ruck in die Wirklichkeit zurück. Sie war halb ohnmächtig und wie betäubt über Anvars reglosem Körper zusammengesunken, und ihr Verstand raste, als sie erschrocken die plötzliche Veränderung bemerkte. Sie konnte seinen Atem nicht mehr spüren. Nein! Es konnte nicht vorbei sein! Langsam und verschwommen erkannte sie Bohan, der mit einem Krug Wasser in der Hand neben ihr auf dem schmutzigen Boden kniete.

Mit sanften Fingern wischte er die Tränen aus Aurians Gesicht, und in seinen eigenen Augen standen ebenfalls Tränen des Mitleids. Da plötzlich rastete etwas in ihrem Gehirn ein. Sie erinnerte sich an die Arena – erinnerte sich daran, wie sie Kraft von der Menge um sie herum in sich aufgesogen hatte. »Bohan«, flüsterte sie, »willst du mir helfen?«

Der Riese zögerte einen Augenblick lang, und in seinen Augen stand Furcht. Dann nickte er.

»Leg deine Hände auf meine«, wies Aurian ihn an. Er tat wie geheißen, und seine großen Hände umschlangen sowohl die Hände der Magusch als auch die Anvars. Aurian holte tief Luft. »Gut. Jetzt mußt du vollkommen still und entspannt sein. Leih mir deine Stärke, Bohan, um Anvars Leben zu retten.«

Aurian konzentrierte sich, wie sie es noch nie zuvor getan hatte, und versuchte mit aller Gewalt, die Barriere, die die Armbänder errichteten, zu überwinden. Dann kam es plötzlich. Wie ein Schleusentor, das sich öffnete, so floß Bohans Kraft in sie hinein und vergrößerte ihre eigene Kraft. Durch einen rötlichen Nebel sah sie die rostfarbenen Steine der Armreifen pulsieren und wie winzige Kohlenstückchen aufglühen, als sie sich an Aurians Magie übersättigten. Eine sengende Hitze fraß sich in ihre Handgelenke, aber sie schenkte ihr keine Beachtung. Mit plötzlichem Erschrecken begriff sie, daß die Armreifen Zauberkraft gelagert hatten – nicht nur ihre eigene, sondern auch die Kraft aller anderen Magusch, die sie jemals vor ihr getragen hatten. Wenn sie Zugang zu dieser Kraft finden konnte, und sei es auch nur für einen einzigen Augenblick, dann konnte sie selbst die Mauern des Todes durchbrechen. Aber wie sollte sie an diese Kraft herankommen – was war der Schlüssel dazu? Na komm schon, drängte Aurian sich selbst. Denk nach! Anvars Leben hängt davon ab. Sie spürte, wie ihre Gedanken sich ihm zuwandten und dann nach dem Wesenskern des Mannes griffen. Anvar. Diese stechenden blauen Augen, in denen sein Lächeln funkelte, sein seltenes Lächeln – die Art, wie es sein Gesicht verändert. Die Erinnerung an sein Lächeln schoß wie ein Pfeil durch ihr Herz, und ihr Herz krampfte sich in ihrer Brust zusammen …

Plötzlich raubte eine riesige, dunkel vermummte Gestalt Aurian die Sicht. Sie ragte hoch über ihr auf bis in den Himmel hinein, so schien es. »Aaaa«, sagte die Gestalt mit einer Stimme, so tief und trocken wie das raschelnde Wispern von Blättern auf einem mitternächtlichen Friedhof – wie Würmer, die sich bis in die tiefsten Tiefen ihrer Seele hineinfraßen. »Aaaa – du willst mich also wieder einmal betrügen?«

Aurian schluckte und nahm ihren ganzen Mut zusammen, um ihm zu antworten, um dem Tod selbst zu trotzen. Und von irgendwoher kam der Mut. »Wenn es denn so ist«, erwiderte sie. »Du hast schon genug genommen von mir und den meinen. Such deine Opfer anderswo!« Der Tod lachte, und es war wie die Klinge, die in Aurians Rückgrat gerammt wurde.

»Eine Närrin bist du, zu glauben, die Dinge seien so einfach. Und doch hast du in deiner Unwissenheit die einzige Münze geworfen, die es dir gestattet, mit mir zu handeln. Viele vor dir haben schon einen solchen Handel versucht, aber ich warne dich, mein Preis ist hoch – und ihr beide werdet ihn bezahlen, bevor wir uns wiedersehen!« Die Geistererscheinung ragte drohend vor ihr auf. Aurian biß sich auf die Lippen und stellte sich auf die Beine, um nicht vor der überwältigenden Gegenwart des Todes zurückzuschrecken.

»Du hast Mut, Lady.« Diesmal schwang ein Unterton von Respekt in seiner Stimme mit. »Und trotz meines weitverbreiteten schlechten Rufes glaube nie, der Tod sei gnadenlos. Weit gefehlt. Wenn deine Münze – die Münze, die ihr beide, du und dieser Mann besitzt – echt ist und keine Fälschung, dann mögt ihr immer noch das Beste aus unserem Handel herausschlagen. Erinnere dich daran, wenn es soweit ist, daß du meinen Preis bezahlen mußt!«

Die Gestalt verschwand in einem blendenden Aufblitzen roten Lichtes. Die plötzlich frei gewordene Kraft der Armreifen lief durch Aurian hindurch – durch Bohan, den sie zurückschleuderte, und dann durch Anvar. Aurian spürte, wie ihre Seele ausströmte, um der Seele ihres Begleiters zu begegnen – um sie sicher zu umfassen und ihn wieder heimzubringen.

Die Magusch blinzelte und war einen Augenblick verblüfft darüber, sich im Schmutz des Sklavenlagers wiederzufinden. Dann sah sie, daß ihre Handgelenke nackt waren. Die Armreifen waren zu einer feinen, pudrigen Asche zerfallen, die sich bereits vor ihren Augen zerstreute.

Anvar rührte sich unter ihren Händen, und seine leuchtendblauen Augen öffneten sich, um ihrem Blick zu begegnen. Alle Spuren seiner Verletzungen waren verschwunden. Erst später wurde Aurian klar, daß sie bei dieser Gelegenheit auch ihre eigenen Verletzungen geheilt hatte, aber in diesem Augenblick war sie einfach nur von Erleichterung erfüllt, von Erleichterung und Dankbarkeit und dem Staunen über das Wunder, das ihr unbeugsamer Wille zustande gebracht hatte.

»Aurian?« Anvars Stimme war kaum ein Flüstern in seiner ausgedörrten Kehle.

»Ich bin hier.« Die Magusch vermochte es kaum, ihre eigene Stimme wiederzufinden. Bohan stand hinter ihr und bot ihr eine Tasse Wasser an, aber Aurians Hände zitterten zu sehr, um sie anzunehmen, und sie fürchtete sich, Anvar loszulassen, aus Angst, ihn auf diese Weise wieder zu verlieren. Statt dessen stützte sie ihn, während der Eunuch ihm die Tasse an die Lippen führte.

»Hexe! Du hast uns alle betrogen!« Das Sonnenlicht war wie ausgeblendet, als Harihns Schatten auf die kleine Gruppe auf dem Boden fiel. Seine Augen waren weit aufgerissen vor Entsetzen und auf Aurians Handgelenke gerichtet, wo vor kurzem noch die Armreifen von Zathbar gewesen waren.

»Harihn …« begann Aurian eindringlich, aber der Prinz hatte sein juwelenbesetztes Schwert bereits mit einem Ruck aus seiner Scheide gezogen. Sie versuchte, aufzuspringen, wurde aber von Anvar daran gehindert, der die Gefahr erkannt hatte und trotz seiner geringen Kräfte aufzustehen versuchte, gerade als die Klinge nach unten schwang.

Bohan bewegte sich mit einer Schnelligkeit, die seine gewaltige Größe Lügen strafte, und warf sich zwischen die Magusch und Harihns Klinge. Er hatte dabei sein eigenes kurzes Schwert gezogen. Metall klirrte gegen Metall, und Funken regneten auf Aurian und Anvar herab, als er den Schlag des Prinzen abwehrte. Harihns Handgelenk wurde von dem gewaltigen Schwung des Schlages nach unten gerissen, und Bohans linke Hand schoß nach vorn, um es zu ergreifen; er schloß seine Hand fester und fester um das schmale Handgelenk des Prinzen, bis dieser mit einem Schmerzensschrei seine Waffe fallen ließ. Aurian sah, wie sich seine Brust mit einem tiefen Atemzug füllte, als er sich darauf vorbereitete, nach seinen Wachen zu rufen.

»Halt!« Ihre Stimme war wie ein Peitschenschlag. Aus ihrer knienden Position heraus sprach sie den Prinzen leise und mit sich überschlagenden Worten an. »Wenn Ihr mich tötet, wird Xiang die Armreifen zurückhaben wollen. Was wollt Ihr ihm sagen? Ihr könnt sie nicht zurückgeben – sie sind weg. Auf eine solche Chance hat er doch nur gewartet. Er wird behaupten, Ihr hättet sie mir abgenommen. Und vergeßt nicht, er hat jetzt eine neue Khisihn – und damit eine Chance auf weitere Erben. Nichts würde ihm besser gefallen, als Euch lebendig zu häuten. Denkt darüber nach.« Harihn erbleichte, als ihre Worte sein Dilemma so unumwunden offenlegten. Aurian nutzte ihren Vorteil. »Wir sind bereit, zu gehen, nicht wahr?«

Er nickte.

»Gut. Dann sollten wir zusehen, daß wir hier wegkommen, bevor irgend jemand bemerkt, was passiert ist. Auf dem Weg zurück zum Palast können wir uns etwas ausdenken.«

»Der Arzt hat es gesehen.« Harihn stieß diese Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Er kam schnatternd zu mir gerannt mit irgendeiner Geschichte über Zauberei. Das müssen auch andere gehört haben.«

Aurian runzelte die Stirn. »Richtig. Schafft irgend etwas herbei, womit wir Anvar einwickeln können, so daß niemand sehen kann, daß er geheilt wurde. Bohan wird ihn zum Boot tragen, und Ihr könnt mich tragen. Ich werde meine Handgelenke mit den Ärmeln bedecken, so daß niemand sehen kann, daß die Armreifen verschwunden sind. Und wenn wir wieder auf der Barkasse sind, werdet Ihr den Arzt für seine Lügen verfluchen – Ihr müßt richtig wütend auf ihn sein.«

»Ich denke, das wird mir gelingen«, murmelte Harihn grimmig.

»Ihr müßt nur sicherstellen, daß niemand glaubt, was wirklich passiert ist, und uns so schnell wie möglich hier herausbringen. Ihr könnt ja dem Arzt später ein Bestechungsgeld oder so etwas anbieten. In Ordnung?«

Harihn machte ein finsteres Gesicht. »Na schön – für den Augenblick wollen wir die Sache auf sich beruhen lassen. Aber wir sind noch nicht miteinander fertig, Lady.«

»Einverstanden«, sagte Aurian friedlich. »Das wichtigste ist, daß wir jetzt hier wegkommen.«

Bohan holte eine große Decke aus dem Lager der Handwerker und trug Anvar zur Barkasse hinunter, während der Prinz mit Aurian folgte. Er trug sie sehr steif und mit abgewandtem Gesicht, während er vor Zorn die Zähne zusammenbiß. Als er sie sicher auf dem Schiff abgesetzt hatte, sah Aurian entsetzt zu, wie er seine Scharade mit dem unglücklichen Arzt aufführte, der voller Angst zurückwich in das hinterste Ende der Landungsbrücke, während sein Prinz ihn mit flammendem Zorn beschimpfte. Seine Schreie hallten in Aurians Ohren wider, als Harihn einem in der Nähe stehenden Aufseher die Peitsche entriß und ihm damit quer über Gesicht und Schultern drosch, wobei er jeden einzelnen Schlag mit Beschimpfungen unterstrich, die laut genug waren, daß jeder sie hören konnte. »Lügner! Narr! Wie kannst du es wagen, mit einem solchen Märchen zu deinem Prinzen zu kommen!« Der Arzt fiel wimmernd aufs Gesicht. Der Prinz warf die Peitsche weg und ging auf den armen Mann zu. Aurian keuchte vor Entsetzen, als er den Arzt hochhob und in den Fluß schleuderte. Wie von Zauberhand waren plötzlich ganze Horden riesiger, scharfzahniger Eidechsen da, die sich von überall her auf ihr hilfloses, um sich schlagendes Opfer stürzten. Der letzte verzweifelte Aufschrei des Arztes ging in einem wirbelnden Mahlstrom aus Schwänzen und Zähnen unter, bevor er endgültig in Stücke gerissen wurde. Dann gab es plötzlich nur noch Stille und einen riesigen roten Flecken, der sich im Wasser ausbreitete.

Harihn sprang mit versteinertem Gesicht auf die Barkasse und gab den Ruderern das Signal, abzustoßen. Die schockierten Zuschauer wagten es nicht, auch nur den geringsten Laut von sich zu geben, während die Stimme des Prinzen noch über das Wasser scholl. »So sollen alle umkommen, die ihren Prinzen belügen. Vergeßt das nicht!«

Aurian, die bis ins Mark erschüttert war, wandte sich von dem Gemetzel ab und bettete Anvar bequem auf die Kissen, nachdem sie ihm die Decke vom Gesicht gezogen hatte.

»Ist mit dir alles in Ordnung?« flüsterte er. Aurian nickte im stillen belustigt über die Ironie, daß er ihr eine solche Frage stellte. Sie tätschelte ihm sanft den Arm.

»Ruh dich aus. Ich bin gleich wieder da.« Sie wandte sich an Bohan. »Kümmere dich bitte um ihn.« Der Eunuch nickte, und sie griff nach seiner Hand. »Bohan, ich kann dir nicht genug für deine Hilfe heute danken. Ich werde für alle Zeiten in deiner Schuld stehen.«

Der große Mann lächelte und schüttelte den Kopf.

»O doch«, korrigierte ihn die Magusch mit fester Stimme. »Und irgendwie werde ich auch einen Weg finden, meine Schuld zu begleichen, mein Freund.«

Dann machte Aurian sich auf den Weg zum Bug des Schiffes, wo der Prinz saß und blicklos in den schlammigen Fluß starrte. »Ich hoffe, Ihr seid stolz auf Euch«, zischte sie. »Wie könnt Ihr ein solch monströses Verhaken rechtfertigen?«

Harihn wirbelte herum, um sie anzusehen, und auf seinem Gesicht zeigten sich Elend und Abscheu. In seinen Augen glitzerten unvergossene Tränen. »Der Mann war Arzt!« schleuderte er ihr entgegen. »Er glaubte, ein Wunder gesehen zu haben! Wie konnte er der Versuchung widerstehen, anderen davon zu erzählen und dabei deine Missetat zu entblößen? Der Sklave lag im Sterben – ja, er war sogar, um genau zu sein, bereits tot. Dein Vorgehen war gegen jede Natur.«

Seine Stimme erstarrte vor Bitterkeit. »Hast du nicht daran gedacht, daß du einen Preis dafür würdest zahlen müssen? Ein fairer Handel, oder? Ein Leben für ein Leben – mein Diener im Tausch gegen deinen Mann. Du hast mit deiner Tat den Arzt ums Leben gebracht, Aurian. Ich war lediglich das Werkzeug. Du kannst nur hoffen, daß es hier endet – denn der Schnitten fordert vielleicht einen höheren Preis für die Seele, die du ihm entrissen hast!«

»Abergläubischer Unsinn!« fuhr Aurian ihn an, denn seine Worte hatten sie nervös gemacht. Sie schien sich an etwas zu erinnern – etwas mit einem Preis und einer echten Münze – aber es entzog sich ihr. Der Tod hatte seine Worte bereits aus ihren Gedanken gestrichen. »Ich habe lediglich in bestem Glauben gehandelt, um ein Leben zu retten«, protestierte sie.

»Und wie viele Leben werden in Zukunft vielleicht verlorengehen, weil ihnen die Fähigkeiten des Arztes verwehrt bleiben?« Harihns Stimme hatte einen hysterischen, hohen Klang angenommen. »Welchen Trost wird seine Familie wohl von deinem guten Glauben schöpfen? Und wenn mein Vater mich bei lebendigem Leibe häuten läßt, weil ich eine fremdländische Hexe auf sein Volk losgelassen habe, was wirst du dann –«

Genug! Aurian sprang auf die Beine, und die Barkasse geriet ins Schwanken. Ihre Stimme zitterte. »Na schön. Der Fehler liegt also bei mir. Ich nehme die Verantwortung auf mich, aber Euer Gesetz war es, das mir diese verfluchten Armreifen angelegt hat, und dasselbe Gesetz brandmarkt mich als Verbrecherin, weil ich meine Kraft benutzt habe, um ein Leben zu retten. Und es verdammt Euch, weil ich es getan habe, während ich in Eurer Obhut stand. Stünde ich noch einmal vor dieser Entscheidung, würde ich dasselbe wieder tun – nicht nur für Anvar, sondern auch für Euch oder für jeden anderen, der mir am Herzen liegt!«

Sie setzte sich wieder neben ihn, und ihre Stimme wurde weicher. »Es tut mir leid, Harihn, daß ich Euch in solche Schwierigkeiten gebracht habe. Das ist eine traurige Art und Weise, Euch all das zurückzuzahlen, was Ihr für mich getan habt, und ich werde versuchen, mir eine Möglichkeit auszudenken, um Euch vor den Konsequenzen zu bewahren. Aber könnt Ihr nicht sehen, daß ich keine andere Wahl hatte?«

Harihn ließ seinen Blick von ihr los. »Lady, ich habe Angst vor dir«, sagte er offen. »Du sagst, daß du dasselbe noch einmal tun würdest, wenn es notwendig wäre – aber ich muß dir ehrlich sagen, stündest du noch einmal vor mir in der Arena, würde ich keinen Finger heben, um dich zu retten, jetzt, da ich die Konsequenzen meines Handelns kenne.«

Aurian versuchte verzweifelt, sich etwas auszudenken, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen. »Ihr sprecht von Konsequenzen, aber bisher ist der Faden noch nicht aufgewickelt und die Geschichte unsere Lebens noch nicht zu Ende. Ich hoffe, daß Ihr es am Ende nicht bereuen werdet, mein Leben gerettet zu haben, Harihn. Es mag sein, daß ich Euch helfen kann, jetzt, da ich wieder Herrin über meine Kräfte bin.«

Harihn zuckte zusammen. »Nein!« rief er. »Führe mich nicht mit diesem Übel in Versuchung. Ich würde niemals mit solchen Mitteln die Macht erlangen wollen.«

»Jetzt sehr Ihr, welch eine Ehrfurcht gebietende Verantwortung auf dem Maguschvolk lastet«, sagte Aurian. »Eine solche Macht ist eine ständige Versuchung – und eine ständige Last. Denkt nur an die vielen Toten, wenn ich Euch in einer Revolution unterstützen würde. Denkt an die Toten, die ich dann auf dem Gewissen hätte. Aber wenn ich meine Kraft benutze, um ein Leben zu retten – ich kann einfach nicht glauben, daß das ein Vergehen sein soll.«

Harihn seufzte. »Ich denke, ich verstehe dich – ein wenig. Lady, laß mich für eine Weile allein; geh und kümmere dich um deinen Ehemann. Ich habe vieles, worüber ich nachdenken muß – und vieles zu bereuen.«

Ihr Gespräch hatte beinahe die ganze Reise über gedauert. Aurian war überrascht, daß sie schon wieder in der Stadt waren und in der Ferne bereits die reichverzierten Konturen des prinzlichen Bootshauses ausmachen konnten. Aber es tat ihr nicht leid um die Zeit, die sie gebraucht hatte, um eine Art von Verständnis mit Harihn zu erzielen. Seine Furcht vor der Zauberei war die Furcht seines ganzen Volkes, und sie war in gewisser Weise berechtigt, dachte sie, während sie sich mit einem Schaudern an die Nihilim erinnerte, die Miathan losgelassen hatte, und an die schreckliche Wildheit von Eliseths Unwetter. Diese beiden hatten ihre Seelen für Macht verkauft, und bei dem Gedanken daran wurde ihr übel. Würde sie schließlich auch so enden? Nein, niemals, schwor Aurian sich. Aber jetzt wollte sie nicht länger darüber nachdenken, sondern ging nach vorn aufs Achterdeck, um nach Anvar zu sehen.

Er schlief, aber seine Augen öffneten sich, als sie zu ihm trat, als hätte er irgendwie ihre Nähe gespürt. Vielleicht tat er das auch. Als sie Anvar dem Tod entrissen hatte, hatten sich ihre Seelen für einen Augenblick berührt. Wer sonst könnte von sich sagen, daß er eine solche Nähe mit einem anderen Wesen geteilt hatte? Und doch stellte Aurian fest, daß es ihr widerstrebte, ihn anzusprechen. Sie fühlte sich schuldig, weil sie ihn einem solchen Leiden überlassen hatte. Wie konnte sie ihm jetzt noch ins Gesicht sehen? Er mußte sie doch hassen, oder? Aber während sie noch zögerte, griff er nach ihrer Hand und hielt sie mit überraschender Stärke fest, als wäre sie immer noch sein einziger Anker im Leben. »Ich dachte, du würdest nicht mehr kommen«, flüsterte er. »Ich hätte beinahe aufgegeben. Es tut mir leid, Aurian. Ich hätte es besser wissen müssen.«

Aurian sah ihn mit Tränen in den Augen an. Ihm tat es leid? »Oh, Anvar«, murmelte sie. »Wie kannst du mir je vergeben?«

»Du bist gekommen«, sagte er. »Du bist immer da, wenn es darauf ankommt. Warum habe ich nur so lange gebraucht, das zu begreifen?«

Aurian war vollkommen sprachlos. »Du wärst diesmal beinahe gestorben wegen meines heftigen Temperaments«, beharrte sie. »Ich hätte dich niemals so im Stich lassen dürfen. Du kannst mich schlagen, wenn es dir dann besser geht – ich habe es verdient.«

»Nein.« Der sture Ausdruck auf Anvars Gesicht war ein Spiegelbild ihres eigenen.

»Dann werde ich es selbst tun!« Sie schlug sich scherzhaft selbst auf den Kiefer, kippte hinten über, und er lachte. O Dank den Göttern, daß es ihm wieder gutgeht; sie war gerade noch rechtzeitig gekommen. Im Überschwang der Erleichterung umarmte sie ihn und spürte, wie seine Anne sich um ihre Schultern schlössen.

»Hast du Sara gefunden?« Seine Worte waren wie ein Guß eiskalten Wassers. Aurian löste sich stirnrunzelnd aus seiner Umarmung. Immer Sara! Und wie um alles in der Welt sollte sie ihm erklären, daß Sara ihn hintergangen hatte – daß sie ihn für einen König im Stich gelassen und nicht einen Finger krumm gemacht hatte, um ihn zu finden, geschweige denn, ihm zu helfen. Es würde ihn zerbrechen. Sie mußte angesichts der Hoffnung in seinen Augen ihren Blick abwenden.

»Sara geht es gut«, sagte sie ausweichend. »Sie ist besser aus dieser Sache herausgekommen als irgend jemand sonst von uns.«

Zu ihrer ungeheuren Erleichterung stieß in diesem Augenblick die Barkasse an Harihns Kaimauer. »Wir sind da!« sagte sie energisch. »Und jetzt wollen wir zusehen, daß wir dich hineinschaffen, damit wir dich waschen und füttern können. Bohan – der riesige Bursche da hinten – wird sich um dich kümmern. Keine Angst, du kannst ihm vertrauen. Wenn du dich ausgeruht hast, werde ich dir alles erzählen, was passiert ist.« Mit diesen Worten bedeutete sie Bohan, Anvar schnell hinauf in ihre Räume zu tragen, und machte sich dann eilig davon, bevor er Zeit hatte, ihr noch weitere peinliche Fragen zu stellen.

Anvar lag im Bett und sah zu, wie die leichte Brise den duftigen, hauchzarten Baldachin bewegte, der ihn vor Insekten schützen sollte. Seidenlaken streiften kühl und luxuriös über seine frisch gebadete Haut. Diesmal hatte seine Heilung aus irgendeinem Grund nicht ihre gewohnte entkräftende Wirkung, und er fühlte sich wach und geradezu kribbelnd lebendig – und unbeschreiblich hungrig. Nicht weiter überraschend, überlegte er, und tastete mit knochigen Fingern seine hervorstehenden Rippen ab. Sein Körper spannte sich, als er sich an das Entsetzen des Sklavenlagers erinnerte, und seine Hände flogen automatisch zu dem unnachgiebigen, eisernen Halsband, dem Zeichen der Sklaverei, das noch nicht entfernt worden war. Nein! sagte er sich fest. Er durfte nicht daran denken. Das alles war jetzt vorüber. Aurian war zu ihm gekommen, so wie er es in seinen Gebeten erfleht hatte. Sie hatte ihn wieder einmal gerettet. Anvar erinnerte sich an seine erste Begegnung mit der Magusch, als er aus den Küchen der Akademie entflohen war. Er war in einem Raum der Garnison erwacht, zwischen sauberen Laken und mit geheilten Wunden, und das erste, was er gesehen hatte, war ihr Lächeln gewesen. Damals hatte er ihr nicht vertraut – aber diesmal weiß ich es besser, versprach er sich. Er würde ihr ihre Güte zurückzahlen, indem er sich um sie kümmerte, zumindest bis ihr Kind geboren war. Die Götter allein wußten, wie sehr sie ihn brauchte, obwohl es ihm sicher schwerfallen würde, sie davon zu überzeugen. Sie war so entsetzlich stur und unabhängig! Er mußte einfach dafür sorgen, daß sie es verstand – und Sara mußte es auch verstehen, dachte er schuldbewußt. Wie konnte er die beiden nur versöhnen? Sara würde es niemals dulden, wenn er sich um die Magusch kümmerte.

»Das ist ihr Problem!« Anvar, der laut gesprochen hatte, war überrascht über seine eigene Entschlossenheit – und über seine Schlußfolgerungen. Aber während er in den Kellern unter dem Sklavenmarkt gefangengehalten worden war, hatte er langsam die Wahrheit begriffen. Sara, die Liebe seiner Kindheit, riß an seinem Herzen. Wie konnte es auch anders sein? Aber sie war kein unschuldiges Mädchen mehr. Sie war härter geworden. In ihrem Wesen lag jetzt etwas Berechnendes – etwas Verdorbenes, dem er nicht zu trauen wagte. Es hatte dieser kurzen Zeit nach ihrem Schiffbruch bedurft, in der er mit ihr allein gewesen war, um ihm das klarzumachen. Aurians Abwesenheit hatte eine Leere in ihm hinterlassen, als wäre ein Teil von ihm selbst gegangen. O ihr Götter, wie sehr er sie vermißt hatte! Und welches Glück er empfunden hatte, sie wiederzusehen! Der Gedanke an die Magusch hatte ihm Mut gegeben – hatte ihm in all dem Entsetzen und all der Qual immer Hoffnung gegeben. Er hatte gewußt, daß sie kommen würde. Es war Aurian, der er vertraute. Nicht Sara. Aurian.

Aber du liebst Sara, protestierte ein Teil von Anvars Verstand, und er wußte, daß das stimmte. Aber liebte er das, was sie jetzt war – oder das, was sie einst gewesen war? Und liebte er Aurian? Sie war ihm eine Freundin, eine treue Begleiterin, aber … Könnte ich eine Magusch lieben? fragte er sich. O ihr Götter, ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht. Aber ich weiß, wen ich lieber bei mir hätte, wenn ich in der Klemme sitze!

Anvar hörte, wie sich die Tür öffnete, und das Poltern eines Tabletts, das abgestellt wurde. Jemand bewegte sich auf der anderen Seite des Gazevorhangs, der sein Bett umhüllte. Es mußte der schweigsame Bohan sein, der ihm etwas zu essen brachte. Aber zu einer Überraschung war es Aurian, die die Vorhänge zur Seite schob. Anvar lächelte, und selbst nach einer Stunde der Trennung freute er sich, sie wiederzusehen.

»Wie geht es dir?« fragte sie. Er dachte, daß sie besorgt aussah. Fühlte sie sich immer noch schuldig wegen seines Leidens im Sklavenlager?

»Mir geht es gut«, beeilte er sich, ihr zu versichern. »Um genau zu sein, könnte ich eigentlich ohne weiteres aufstehen – nur, daß dein Freund Bohan mich hierher verfrachtet und dafür gesorgt hat, daß ich liegenbleibe.«

Aurian zog ein komisches Gesicht. »Das hat er mit mir auch gemacht«, erzählte sie ihm mitleidig. »Manchmal ist er ein wenig übereifrig. Hier, ich habe dir etwas zu essen mitgebracht.« Sie stellte das Tablett auf sein Bett, griff jedoch ein, als er die Hand ausstreckte. »Ich weiß, daß du ausgehungert bist, aber iß trotzdem langsam«, warnte sie ihn. »Wir wollen doch nicht, daß dir auch noch übel wird.«

Anvar nickte, denn er wußte, daß sie recht hatte. »Wo bist du gewesen?« fragte er sie zwischen zwei Bissen. »Und wo sind wir hier?«

Aurian grinste. »Protzig, wie? Es gehört dem Khisal – dem Prinzen. Er hat mich aus der Arena gerettet, und …«

»Er hat dich aus was gerettet?«

Aurian hielt inne, um sich selbst etwas Wein einzuschenken. »Ich glaube, ich sollte besser am Anfang beginnen«, sagte sie. Während er aß, erzählte sie ihm von ihrem Aufenthalt bei den Leviathanen, von ihrer Entdeckung, daß man ihn, Anvar, gefangengenommen hatte, und von ihrem furchtbaren Marsch flußaufwärts, um ihn zu suchen.

»Um dein Haar tut es mir leid«, unterbrach Anvar sie. »Es war so wunderschön.«

Aurian zuckte mit den Schultern. »Es war einfach unpraktisch bei dieser Hitze«, sagte sie, aber das Kompliment entlockte ihr dennoch ein Lächeln. »Außerdem«, fuhr sie schnell fort, »habe ich dich vermißt, weil du es mir nicht mehr kämmen konntest.«

Anvar griff nach ihrer Hand. »In diesem Fall solltest du es besser wieder wachsen lassen«, sagte er fest.

Aurian starrte ihn an, als könne sie ihren Ohren nicht trauen, und zu seinem Erschrecken sah er Tränen in ihren Augen. »Ich hätte nicht gedacht, daß du …«, flüsterte sie.

Es zerriß Anvar das Herz, sie so verletzlich zu sehen. Sie war immer so tapfer, so selbständig, daß er dazu neigte, zu vergessen, daß sie, genau wie jeder andere auch, Trost und Beistand brauchte. Er schloß seine Finger fester um ihre Hand. »Aurian, was geschehen ist, ist genausosehr meine Schuld wie deine«, erklärte er mit fester Stimme. »Ich habe mich auf dem Schiff dir gegenüber abscheulich benommen – und auch danach. Laß uns das vergessen. Wir brauchen einander. Und ich werde Sara irgendwie dazu bringen, das zu verstehen.«

Bei der Erwähnung von Saras Namen zuckte sie zusammen und wandte den Blick ab. »Ich sollte dir besser auch den Rest erzählen«, sagte sie grimmig. Anvar fühlte, wie die Angst ihm die Kehle zuschnürte. Aber sie hatte gesagt, Sara sei in Sicherheit. Als er den trostlosen Ausdruck in den Augen der Magusch bemerkte, beschloß er, daß es klüger sein würde, sie ihre Geschichte auf ihre eigene Art und Weise beenden zu lassen. Aurian erzählte ihm, wie sie vor der Stadt gefangengenommen worden war und wie sie die Armreifen benutzt hatten, um sie ihrer Kräfte zu berauben, und sie anschließend zum Kampf in der Arena verurteilt hatten. Sie hatte gerade den Höhepunkt ihres Kampfes mit Shia erreicht, als sie von einem furchterregenden Tumult unterbrochen wurde. Sie hörten laute Schreie von draußen und das Geräusch aneinanderklirrender Waffen.

Aurian wirbelte herum. »Was zum … Xiang!« Sie sprang vom Bett auf und machte einen Satz auf ihr Schwert zu, das in der Ecke stand, aber noch während sie danach griff, flog die Tür auf und mehrere, mit geladenen Armbrüsten bewaffnete Männer stürzten ins Zimmer. Anvars Warnschrei gefror ihm in der Kehle. Aurian wirbelte herum und griff sich an die Schulter, direkt über ihrer rechten Brust, bevor sie zu Boden stürzte. Das Blut schoß durch ihre Finger hindurch. Der Bolzen, der sich in ihr Fleisch gebohrt hatte und wegen der kurzen Entfernung auf der anderen Seite direkt wieder ausgetreten war, prallte von der Wand hinter ihr ab und fiel zu Boden, wo er einen Blutflecken hinterließ. Auf der Stelle war die Magusch umzingelt von Soldaten, die ihre Armbrüste gespannt und auf sie gerichtet hatten. Anvar, der ungeachtet der Gefahr aus dem Bett gesprungen war, hatte nur noch Zeit für einen kurzen Blick auf ihre reglose Gestalt, bevor man ihn ebenfalls ergriff und aus dem Zimmer zerrte.

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