28 Flucht aus Taibeth

Während der Nachmittag voranschritt, verwandelte sich der Hof vor Harihns Palast in ein Bild reinsten Aufruhrs. Der ganze Haushalt machte sich zum Aufbruch bereit. Fässer und Wasserschläuche wurden aus den Kellern und den Nebengebäuden herbeigeschafft und zum Fluß heruntergerollt, wo man sie füllte, denn der Prinz würde die Wüste durchqueren. Andere Bedienstete rollten leichte Seidenzelte um ihre Pfosten zusammen und stapelten sie in einer Ecke auf, wo sie darauf warteten, auf die Maultiere geladen zu werden, die an einer Seite des Hofes in einer langen Reihe angepflockt waren. Außerdem wurden Nahrungsmittel für die Reise vorbereitet, zusammen mit dem Futter für die Pferde und Lasttiere. Soldaten der prinzlichen Wache liefen mit ihren Pferden auf dem Hof hin und her und trugen noch zu der allgemeinen Verwirrung bei.

Harihn hatte seine Sklaven in Übereinstimmung mit Aurians Edikt freigelassen. Einige würden zurückbleiben, um nach lange verlorenen Freunden und Familien zu suchen, aber viele hatten beschlossen, ihrem Prinzen ins Exil zu folgen. Er war gerührt über ihre Treue, aber die Organisation, die eine Durchquerung der Wüste mit so vielen Leuten erforderte, war der reinste Alptraum. Der Khisal war unablässig in Bewegung und versuchte, an jedem Ort gleichzeitig zu sein. Überall um ihn herum waren die Menschen dabei, einander Lebewohl zu sagen, überall feierten die befreiten Sklaven, und überall versuchten diejenigen, die mitkommen wollten, die schwere Wahl unter ihren Habseligkeiten zu treffen, denn alle mußten sie mit leichtem Gepäck reisen. Ein Pferd, das durch den Lärm und das allgemeine Durcheinander in Panik geraten war, riß sich los, galoppierte über den Hof und ließ die Menschen und ihr Gepäck auseinanderstieben.

Anvar hielt sich, als der den Hof betrat, die Ohren zu. Das ist ja lächerlich! dachte er. Zu seiner Verärgerung hatte der Prinz Aurian aus ihrem Gemach rufen lassen und sie so um die Ruhe gebracht, die sie so dringend brauchte. Aber Harihn wollte, daß sie ihm dabei half, Ordnung in das Chaos zu bringen. Gerade sprach sie mit ihm, und Anvar konnte hören, wie sie sich anstrengen mußte, um sich über dem allgemeinen Tumult Gehör zu verschaffen. »Fangt schon an, die Soldaten und die Pferde über den Fluß setzen zu lassen. Sagt ihnen, sie sollen sich auf der anderen Seite versammeln. Auf diese Weise haben wir hier wenigstens etwas mehr Platz. Dann kümmern wir uns um den Rest.«

Harihn nickte dankbar und ging davon, um mit dem Hauptmann seiner Wache zu sprechen. Es dauerte eine ganze Weile bis die Soldaten in Fünfertrupps den Marsch zum Fluß hinunter angetreten hatten, aber Aurian hatte recht gehabt – dadurch war jetzt etwas mehr Platz gewonnen. Anschließend war es einfacher, die verschiedenen Aufgaben zuzuweisen. Diejenigen, die sich dem Massenaufbruch nicht anschließen würden, hatten den Hof zu verlassen, und die Maultiere wurden beladen und eins nach dem anderen zur Fähre geführt. Jetzt, da es einfacher war, abzuschätzen, wie viele Leute mitkommen würden, machte Harihn ein besorgtes Gesicht. Anvar schlenderte mit Bohan zu ihm hinüber, um zu hören, wie er sich mit der Magusch unterhielt. »Es sind etwa drei Dutzend Leute von meinem Haushalt, die mitkommen, und wir brauchen Pferde für sie. Zusammen mit den Tieren, die das zusätzliche Essen und das Wasser tragen müssen, haben wir dann nur wenige überzählige Reittiere, und damit nur einen sehr kleinen Sicherheitsspielraum. Wir müssen durch die Wüste kommen, bevor uns Nahrung und Wasser ausgehen, und doch können wir es nicht wagen, allzuschnell zu reiten und den Verlust von Pferden zu riskieren.«

»Gibt es denn in der Wüste überhaupt kein Wasser?« erkundigte sich Aurian.

»Es gibt zwölf Oasen, und wir werden auf sie alle angewiesen sein«, erwiderte Harihn. »Es ist eine Reise von vielen Tagen, selbst wenn wir uns an die kürzeste Route halten. Wir können unmöglich genug Wasser für die Durchquerung der ganzen Wüste mitnehmen.«

Anvar kam, überschattet von Bohan, auf sie zu. Man hatte seinen eisernen Halsreifen entfernt, und sein Gang war aufrechter geworden, jetzt, da er dieses Zeichen der Sklaverei nicht mehr trug, obwohl das Gewicht des Eisens nichts gewesen war im Vergleich zu der Schwere, die auf seinem Herzen lastete … Der Prinz drehte sich zu ihm um. »Und was ist das für ein Gefühl, frei zu sein?« fragte er.

Anvar hörte den Spott in seiner Stimme und wußte, daß Harihn ihn mit voller Absicht an seine frühere, niedrige Stellung erinnerte. Er warf ihm einen kalten Blick zu. »Ich finde die Veränderung höchst willkommen«, sagte er knapp, wobei er absichtlich Harihns Titel wegließ.

»Wahrhaftig, die Dinge haben sich in kurzer Zeit sehr verändert«, erwiderte Harihn glatt, aber Anvar freute sich darüber, daß ein Stirnrunzeln an die Stelle seines höhnischen Lächelns getreten war. »Innerhalb eines Tages hast du aufgehört, ein Sklave zu sein, und ich habe aufgehört, ein Prinz zu sein. Sie ist eine große Gleichmacherin, deine Lady.«

»Zumindest ist sie jetzt nicht mehr gezwungen, Eure Konkubine zu werden«, fuhr Anvar auf.

Harihn ging drohend und mit zorngerötetem Gesicht auf ihn zu. »Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen! Wachen – nehmt diesen Flegel und laßt ihn auspeitschen!«

»Nein!« trat Aurian schnell dazwischen. »Er wollte Euch nicht beleidigen, Hoheit. Ich bin sicher, daß er sich entschuldigen wird.« Sie funkelte Anvar warnend an. Ihre Augen trafen sich, Willenskraft prallte auf Willenskraft, aber Anvar entdeckte eine neue, unerwartete Sturheit in sich. Sein Mund schloß sich zu einer unbewußten Weigerung. Aurian drehte ihren Kopf ein wenig, so daß der Prinz ihr nicht mehr ins Gesicht sehen konnte, und murmelte: »Bitte!« Sie sah müde und aufgeregt aus, und er schämte sich plötzlich, denn er wußte, das das letzte, was sie heute brauchen konnte, noch weitere Schwierigkeiten waren. Anvar seufzte.

»Es tut mir leid, Euer Hoheit«, murmelte er.

»Na also, dann wäre das ja erledigt«, sagte Aurian schnell. Nach dem Ausdruck von Harihns Gesicht zu schließen, war es alles andere als erledigt, aber glücklicherweise wurden sie von Yazour unterbrochen, der zwei Leute im Schlepptau hatte. Das Gesicht der Magusch leuchtete vor Freude auf, und sie lief hinüber, um sie zu umarmen.

»Eliizar! Nereni!«

»Euer Hoheit, diese Leute haben darum gebeten, die Zau… die Lady Aurian sprechen zu dürfen«, berichtete der Hauptmann.

»Kenne ich dich nicht von irgendwoher?« wandte sich der Prinz an Eliizar, der sich tief verbeugte.

»Ich bin – war – Schwertmeister der Arena, Euer Hoheit«, sagte er. »Jetzt hat der Khisu befohlen, die Arena zu schließen, und die Stadt ist voll von Gerüchten und Unruhe. Wir haben gehört, daß die Lady Aurian mit Euch nach Norden reist. Früher einmal hat sie uns angeboten, uns mitzunehmen, deshalb sind wir gekommen, um ihr unsere Dienste anzubieten, wenn sie uns noch immer haben will.«

»Aber natürlich will ich das! Meine lieben Freunde, ich freue mich ja so sehr, euch wiederzusehen! Wir können doch gewiß noch zwei Leute mehr mitnehmen, oder, Harihn?« bat Aurian.

Der Prinz runzelte die Stirn. »Du scheinst ein treues, eigenes Gefolge um dich herum zu versammeln, Lady. Erst meinen Eunuchen und dieses gefährliche Tier, dann deinen ungehobelten Ehemann und jetzt noch den Schwertmeister der Arena. Wenn du noch viel länger hierbleiben würdest, würdest du am Ende vielleicht selbst Khisihn werden.«

»Ich bleibe nicht hier, genausowenig wie Ihr«, gab Aurian scharf zurück, »und Ihr solltet dankbar für ein zusätzliches Schwert sein, Harihn. Wir freuen uns, daß ihr mit uns kommen wollt, Eliizar und Nereni. Ich habe eure Freundlichkeit nie vergessen.«

»Ich habe etwas für dich«, sagte Eliizar. Er gab ihr ihren kostbaren Stab, den sie in der Arena zurückgelassen und während ihrer Krankheit und ihrer anschließenden Suche nach Anvar vollkommen vergessen hatte.

»Bei allen Göttern!« rief Aurian aus. »Ich bin wirklich froh, ihn wiederzuhaben, Eliizar.«

Der Schwertmeister blickte zu Anvar hinüber. »Ich sehe, daß du deinen Mann wiederhast«, sagte er.

Nerenis Augen zwinkerten schelmisch. »Er ist ihr viel zu kostbar, um ihr bloß ein Ehemann zu sein!« Sie wandte sich an Anvar. »Du bist ein glücklicher Mann. Weißt du, daß sie sich während der ganzen Zeit, die sie in der Arena verbracht hat, halb krank um dich gesorgt hat? Wie froh ich bin, daß sie dich wiedergefunden hat.«

Anvar war sprachlos. Aurian hatte auch diesen Leuten erzählt, daß er ihr Mann sei? Sie hatte sich sogar um ihn gesorgt? Er begriff, was sie das gekostet haben mußte, nachdem Forral erst vor so kurzer Zeit gestorben war. »Ich bin auch froh, daß sie mich gefunden hat«, sagte er fest und versuchte erfolglos, Aurians Blick aufzufangen. »Und ich stimme euch zu – ich bin ein sehr glücklicher Mann.«

»Es wird langsam Zeit zum Aufbruch«, sagte Harihn gepreßt. Als er steif davonging, nahm Anvar die widerstrebende Aurian am Ellbogen und führte sie zu einer Schießscharte in der Mauer, die den Hof umgab. Von dort aus hatte man einen prächtigen Blick über den Fluß, die Stadt und die dramatischen Klippen gegenüber.

Aurian, hochrot vor Verlegenheit, machte ein Gesicht, als wünsche sie, in die Erdboden zu versinken. »Anvar, es tut mir leid«, sagte sie hastig und sah überall hin, nur nicht zu ihm.

»Dazu besteht kein Anlaß. Lady, ich bin dir zutiefst dankbar – und sehr geehrt.«

Sie sah ihn scharf an. »Du verstehst mich also?«

Jemand räusperte sich neben ihnen. »Lady Aurian, der Khisal sagt, wir müssen jetzt aufbrechen. Er scheint ziemlich ärgerlich zu sein.« Eliizar senkte den Kopf, um sich für seine Unterbrechung zu entschuldigen.

»Es ist schon gut«, seufzte Aurian.

»Bohan hat Pferde für uns.« Anvar wünschte, er hätte noch ein wenig Zeit mit ihr haben können, aber es ließ sich nicht ändern, nicht jetzt.

Die Gruppe um den Prinzen war die letzte, die über den Fluß gesetzt wurde, um sich zu den Soldaten und den anderen Mitgliedern seines Hauses zu gesellen. Es war eine kleine Armee, die sich da zum Aufbruch rüstete – Harihns Soldaten, seine Gefolgschaft und der Zug der Maultiere, deren Last vorwiegend aus Wasser bestand. Der Notwendigkeit gehorchend, würden sie während ihrer Wüstendurchquerung nur wenig essen. Yazour, ein alter Hase, was Wüstenreisen betraf, kam auf seinem Pferd herbeigeritten und grüßte Aurian mit einem Lächeln, bevor er sich an den Prinzen wandte. »Euer Hoheit, wir müssen jetzt gehen, solange wir noch etwas Tageslicht haben. Die Klippenstraße ist in Dunkelheit sehr gefährlich.«

Sie ließen die Überfahrtstelle am Fluß hinter sich und ritten an den verstreut liegenden weißen Häusern vorbei, die die Stadt Taibeth umgaben. Sonst war niemand zu sehen. Alle Leute waren, nachdem sie die unglaublichen Gerüchte gehört hatten, die sich wie ein Steppenfeuer ausbreiteten, in die Stadt gelaufen, um herauszufinden, was dort vorging. Das Land hob sich zu einem sanften Hügel über dem Fluß. Oben angekommen, teilte sich die Straße. Die rechte Biegung führte in die Hauptstadt, die linke stieg allmählich hinauf in die hoch aufragenden Klippen. Schon bald gab es nur noch wenige Häuser, und die verlassenen Felder zwischen den einzelnen Gebäuden färbten sich, während die Sonne unterging, dunkelrot. Yazour machte ein besorgtes Gesicht. Die Zeit drängte.

Als Aurian der Klippenstraße ansichtig wurde, stöhnte sie entsetzt auf. Der Weg schien kaum breit genug für einen einzigen Reiter zu sein und stieg in endlosen Windungen empor, buchstäblich eingemeißelt in die steil aufragenden Wände aus rotem Stein. Der Weg war so steil, daß man teilweise Stufen hatte in den Stein hauen müssen. An manchen Stellen schien er tatsächlich über dem schwindelerregenden Abgrund in der Luft zu hängen, während er an anderen Stellen in den Felsen verschwand, als Tunnel durch geriffelte Steinsäulen hindurchführte, um auf der anderen Seite des Berges wieder aufzutauchen. Yazour hatte das erste Soldatenkontingent verausgeschickt, und schon jetzt sahen sie vor der Unermeßlichkeit dieser riesenhaften Naturschöpfung wie winzige Ameisen aus.

Der Hauptmann lenkte sein Pferd neben Harihn. »Wenn Ihr vorausreiten wollte, Hoheit …«

»Nein.«

Yazour runzelte die Stirn. »Aber ihr müßt jetzt hinaufgehen, Sir, solange noch ein Rest Tageslicht übrig ist. Wenn der Khisu doch noch …«

»Yazour, wir haben Frauen und Kinder bei uns. Soll ich vielleicht sicher hinaufsteigen und es ihnen überlassen, in der Dunkelheit ihren Weg zu suchen? Das ist mein Volk. Bring sie zuerst hinauf und dann diese Lady hier. Der Khisu wird keinen Hinterhalt planen, wenn er weiß, was gut für ihn ist.« Er funkelte Aurian an.

»Aber Hoheit …« protestierte der Hauptmann.

»Gehorche meinem Befehl, Yazour. Sofort!«

Yazour ritt davon, und der Unwille stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Seit er sich mit dieser Zauberin zusammengetan hatte, hatte der Prinz seine Handlungen immer mehr überstürzt. Hatte sie ihn verzaubert? Aber das war Unsinn. In der kurzen Zeit, die sie miteinander gekämpft hatten, hatte er großen Respekt für Aurian entwickelt. Ja, wenn man es genau nahm, mußte Yazour sich eingestehen, daß er sie mochte. Es war vielleicht einfach nur der Umstand, daß Harihn sich endlich wie ein Prinz benahm und wie ein Mann. Es würde eine Zeit dauern, bis er sich daran gewöhnt hatte.

Aurian zog ihr Pferd nah an Harihns schwarzes Reittier heran. »Gut gesagt, Hoheit – mit einer Ausnahme. Ich werde bei Euch warten.«

»Aber Lady …«

»Keine Einwände, Harihn.« Sie warf noch einen Blick auf die abschüssige Straße, und die Hände, mit denen sie die Zügel des kastanienbraunen Pferdes hielt, das er ihr gegeben hatte, wurden feucht. Der Gedanke daran, diesen ganzen Weg hinaufklettern zu müssen, machte sie körperlich krank. »Wenn ich da raufgehe, ist das letzte, was ich sehen will, dieser Abgrund. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob ich es überhaupt schaffen werde.« Sie machte ein gequältes Gesicht, als sie über ihre eigene unvernünftige Angst nachdachte.

»Aurian!« protestierte der Prinz.

»Es wird schon gehen.« Die ruhige, vertraute Stimme an ihrer Schulter war voller Verständnis. »Genau das hast du schon einmal zu mir gesagt«, fuhr Anvar fort. »Erinnerst du dich an den Strand?«

Aurian erinnerte sich an Anvars Schwimmstunden und seine Angst vor dem Wasser. Und sie erinnerte sich auch daran, daß sie so wütend auf ihn gewesen war, daß sie ihn am liebsten auf der Stelle ertränkt hätte.

»Wenn ich das geschafft habe, dann kannst du auch das hier schaffen«, versicherte er ihr. »Ich werde ganz in deiner Nähe sein, wenn du mich brauchst.«

Nur allzubald war die Reihe an Aurian, den Aufstieg zu beginnen, so jedenfalls schien es ihr, obwohl die Sonne, während sie gewartet hatten, untergegangen und das Tal jetzt in einen dunklen, purpurfarbenen Schatten getaucht war. Nur die roten Felsen hoch oben auf dem Grat glühten noch im Licht des Sonnenuntergangs.

Sie stiegen am Fuße des schmalen Pfades vom Pferd, und Yazour gab jedem von ihnen eine Fackel, mit der sie ihren Weg beleuchten konnten. Die Magusch nahm das brennende Holz nur widerwillig entgegen. »Eine Hand für die Fackel und die andere für das Pferd«, stöhnte sie. »Und womit, um alles in der Welt, soll ich mich festhalten?«

»Der Pfad ist breiter, als er aussieht, meine Lady«, erklärte Yazour ihr. »Halte dich nur vom Rand fern, und alles wird gut sein.«

Aurian warf ihm einen verdrossenen Blick zu. »Na schön«, sagte sie schwach.

»Keine Angst, Lady«, sagte Anvar. »Sieh nur, ich werde vorangehen, und du kannst mir folgen. Schau einfach nicht nach unten, dann kann dir auch nichts passieren.«

Aurian biß sich auf die Lippen und begann ihren Aufstieg. Der Pfad war erfreulich glatt, und die Fackeln holten die Dämmerung zu ihnen herab, so daß der Abgrund zu ihrer Seite sich in der Dunkelheit verlor. Nichtsdestotrotz hielt Aurian ihren Blick entschlossen von dem Gefälle abgewandt und heftete ihn fest auf den Boden zu ihren Füßen, wobei sie versuchte, nicht an den bodenlosen Abgrund zu denken, der zu ihrer Linken auf sie lauerte. Die eigentliche Schwierigkeit lag darin, die scharfen Ecken zu umrunden, an denen der Pfad scharf abbog. Plötzlich waren die Hinterhufe von Anvars Pferd hinter einer Biegung verschwunden, und vor Aurian war nichts mehr als der riesige dunkle Schlund. Ein falscher Tritt, wenn sie um diese Ecke ging … Sie trat taumelnd zurück und preßte sich mit dem Rücken gegen die tröstliche Oberfläche der Klippen, unfähig, sich zu bewegen. Ihr Pferd, das darauf brannte, seinem verschwundenen Kameraden zu folgen, stupste sie mit der Nase an und drängte sie damit näher an den Abgrund heran, so daß sie beinahe ihre Fackel fallengelassen hätte. »Laß das!« Aurian zitterte vor Angst, und das Herz saß ihr in der Kehle; sie schlug dem Pferd hart auf die Nase, und das Tier wich mit vor Überraschung weit aufgerissenen Augen einen Schritt zurück.

»Was ist da oben los? Warum die Verzögerung?« Harihns Stimme kam von weiter unten. Aurian holte tief und ruhig Luft. »Sei kein Schwächling«, schalt sie sich. »Wenn Anvar seine Angst vor dem Wasser überwinden konnte, dann wirst du doch sicher mit dem hier fertig!« Fest stand, daß niemand ihr zur Hilfe kommen würde. Der Pfad war vor ihr und hinter ihr von Pferden versperrt.

»Es ist alles in Ordnung«, rief sie zurück und wünschte sich, es wäre wirklich so. Während sie ihren Rücken weiter fest gegen den Felsen preßte, schlängelte sie sich Schritt für Schritt schlurfend um die Ecke, gefolgt von dem gezüchtigten Pferd, das nun respektvoll Abstand von ihr hielt. Sobald sie die Biegung hinter sich hatte und wieder den festen, sanft ansteigenden Pfad vor sich sah, hätte Aurian vor Erleichterung zusammenbrechen können, aber es lag noch immer ein langer Marsch vor ihr, und sie hielt die anderen auf. Ihr trockener Mund verzog sich zu einer grimmigen, schmalen Linie, und sie hob ihre Fackel und trottete weiter.

Es war ein grausamer Marsch Alles in allem mußten sie neun von diesen furchterregenden Biegungen umrunden, bevor sie oben angekommen waren, und je höher sie kletterten, um so müder und widerwilliger wurden die Pferde. Aurians Rücken und Beine begannen zu schmerzen, bis jeder Schritt eine Tortur war und sie um Atem rang. Der Abgrund war bald auf ihrer linken Seite, bald auf ihrer rechten und dann wieder links, während der Pfad sich hin- und herwand, und die einzige Gelegenheit, bei der Aurian ein kurzes Aufatmen vergönnt war, war die Stelle, an der sich der Weg in die Felsen hineinbohrte und auf diese Weise zu beiden Seiten wunderbare feste Wände schuf. Zweimal während des Aufstiegs hörte sie einen grauenhaften Schrei von oben, und Männer und Pferde stürzten gefährlich nah an ihr vorbei; und wenn sie schließlich den dumpfen, feuchten Aufprall hörte, wurde ihr jedesmal übel, und sie zitterte am ganzen Leib.

»Aurian! Ist mit dir alles in Ordnung?«

Die Magusch sah sich benommen um. Vor ihr und zu beiden Seiten war der Boden plötzlich eben – sie hatte den Gipfel erreicht! Sanft löste Anvar ihre Finger von der Fackel und den Zügeln des Pferdes und gab beides Bohan. Dann legte er ihr einen Arm um die Schultern und führte sie vom Abgrund weg. In den Schatten der Felsen, die auf dem Gipfel standen, klammerte sie sich an ihn, schlang ihre Arme um seinen Hals und barg ihr Gesicht an seiner Schulter. Er hielt sie fest, bis ihr Atem ruhiger geworden war und ihr Zittern nachgelassen hatte.

»Nun, nun«, sagte er sanft, und sein Atem kitzelte sie am Ohr, »ich habe dir doch gesagt, daß du es schaffen würdest.« Aurian hob ihren Kopf, um ihn anzusehen, und zog eine Grimasse.

Harihn stand am Rande der Klippen und blickte ein letztes Mal auf das Land herab, das er hätte beherrschen können. Da unten in der Stadt feierten die Menschen. Feuerwerke wölbten sich hoch in die Luft, mit Kometenschwänzen aus silbernen Funken, die schließlich als ein rotes, goldenes und grünes Blütenmeer über den Nachthimmel zogen. Ihr Licht fand am Boden ein Ende – in den Flammen der brennenden Sklavenmärkte.

»Bedauern, Prinz?« Aurian war leise hinter ihn getreten, zusammen mit Anvar, der ihr wie ein Schatten auf dem Fuß folgte. »Wenn Ihr zurückkehren wollt, bin ich sicher, daß Euer Volk euch willkommen heißen würde.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die Nerven für eine Revolution. Außerdem lauern in diesem Palast zu viele schlimme Erinnerungen auf mich. Mein Weg liegt da vorn. Xiang wird sich zweifellos einen neuen Erben beschaffen.«

»Aber nicht mit dieser Königin, ganz bestimmt nicht.«

Harihn drehte sich abrupt um und sah Anvar an. »Was willst du damit sagen?«

Anvars Augen glimmten. »Ich meine, Hoheit, daß Sara – die Khisihn – unfruchtbar ist. Sie hat Euren Vater belogen, wie sie mich belogen hat. So, wie die Dinge liegen, seid Ihr immer noch der einzige königliche Erbe. Ihr könnt eines Tages zurückkehren – wenn Ihr das wollt.«

Harihns Augen weiteten sich. »Bist du sicher?«

»Absolut sicher, Euer Hoheit.«

»Aurian, wußtest du davon?«

Die Magusch schüttelte den Kopf; Anvars Neuigkeiten hatten sie ebenso überrascht wie den Prinzen. Harihn warf den Kopf in den Nacken und brüllte vor Lachen. »Bei den Eiern des Schnitters!« rief er mit bösartiger Freude. »Was für ein Witz! Ich wünschte, ich könnte dabeisein, wenn mein Vater das herausfindet.«

Anvars Gedanken hatten sich offensichtlich in dieselbe Richtung bewegt. Er sah krank aus, und Aurian verstand endlich, welche Bedeutung seine Zurückweisung Saras hatte. Wenn Xiang herausfand, daß sie unfruchtbar war, war sie wertlos für ihn, und ihr Leben mochte dann in ernster Gefahr sein. Anvar fühlte sich, obwohl er sie endlich durchschaut hatte, trotzdem schuldig, daß er sie ihrem Schicksal überlassen hatte. Aber liebt er sie noch? fragte Aurian sich. Dann fragte sie sich, warum ihr diese Vorstellung so zu schaffen machte.

Die prinzliche Karawane sammelte sich für den langen, bevorstehenden Marsch, und schließlich brachen sie wieder auf. Der Pfad wandte und schlängelte sich zwischen den hohen Felsformationen hindurch, die sich zu unheimlichen, verzerrten Skulpturen erhoben wie ein zu Stein erstarrter Wald. Durch Erosion hatten sich verschieden große Löcher in den Felsen gebildet, durch die der leise Wind unheimlich heulte und pfiff, so daß es klang wie das Wimmern gequälter Seelen und die Pferde ängstlich ihre Köpfe zurückwarfen.

Nach ungefähr einer Stunde schien der Pfad abrupt zu enden und einfach zwischen zwei hohen Steinen im Nichts zu versinken. Hinter diesen Steinen lag ein steiler, mit Steinbrocken gesäumter Abhang, der im Licht des langsam aufgehenden Mondes seltsam zu glitzern schien. Unter ihnen breitete sich die Wüste aus. Aurian, die mit Harihn, Yazour und Anvar an der Spitze der Kolonne geritten war, hielt ungläubig den Atem an. »Großer Chathak!« rief sie mit erstickter Stimme. »Ist das das, wofür ich es halte?«

Die Wüste schien in dem wechselnden Mondlicht zu glühen. Der Wind trieb Schwärme glitzernden Sandes in leuchtenden Strömen verschiedener Farben zu ihnen herüber – rot, blau, weiß und grün. Die Gipfel der Dünen fingen das Licht auf und funkelten grell wie der Frost an einem Winterabend. Selbst jetzt, da der Mond gerade aufgegangen war, mußte die Magusch sich eine Hand über die Augen legen.

»Genau das ist es«, beantwortete Yazour die Frage, die sie bereits wieder vergessen hatte. »Die ganze Wüste besteht aus Juwelen und Juwelenstaub. Siehst du, wie hell sie sind? Das ist der Grund, weshalb wir des Nachts reisen müssen. Im Sonnenlicht würde uns das Funkeln die Augen ausbrennen. Wir müssen ein gutes Stück vor Tagesanbruch unser Lager aufschlagen, denn wenn die Sonne am Himmel erscheint, muß jeder sicher unter schützenden Decken liegen.«

Er zeigte Aurian und Anvar, wie sie ihre Augen für die Nacht mit den langen, herabhängenden Enden des Wüstenkopfschmuckes, den sie alle trugen, verdecken konnten, nämlich indem sie die hauchzarten Schleier über ihre Gesichter zogen und sie mit dem Stirnband auf der anderen Seite verbanden. Aurian fand heraus, daß sie ziemlich problemlos durch den dünnen Stoff hindurchsehen konnte, aber er verhinderte gleichzeitig, daß das bereits zunehmende Funkeln in ihren Augen brannte. Die Augen der Pferde und Lasttiere wurden ebenfalls mit Schals aus demselben Stoff verbunden, nur Shia weigerte sich, irgend etwas mit diesem Unsinn zu tun zu haben. Sie schmollte immer noch, weil sie gezwungen gewesen war, vor ihrem Marsch über die Klippen das Schlußlicht zu bilden, damit sie die Pferde nicht erschreckte. »Ich brauche dieses Menschenzeug nicht«, sagte sie voller Verachtung zu Aurian. »Ich bin eine Katze. Meine Augen passen sich an.«

Sie ritten hinaus in das funkelnde Meer aus Juwelen, und mit ihrem bleichen, verschleierten Kopfputz und den fließenden Wüstengewändern sahen sie aus wie umherstreifende Geister. Die Pferde warfen mit ihren Hufen Wolken feinen Juwelenstaubs in die Höhe und ließen hinter sich eine Spur zurück, die wie kaltes Feuer glitzerte. Schon bald waren Pferde wie Reiter in einen Umhang aus funkelndem Licht gehüllt. Was waren das für Juwelen, die eine so schwindelerregende Leuchtkraft besaßen? Aurian spürte einen Klumpen in ihrer Kehle. Wie die fröhliche Schönheit der Wale, war auch die unheimliche Lieblichkeit dieses Ortes in ihrer Intensität beinahe herzzerreißend. Aber sie war ebenso tödlich wie schön, das hatte sie von Yazour erfahren. In der richtigen Jahreszeit konnten binnen wenigen Minuten große Sandstürme aufkommen, und die scharfen Kanten der vom Wind umhergeschleuderten Edelsteine konnten einem Mann genausoschnell das Fleisch von den Knochen reißen. Außerdem zog dieses Meer von Juwelen angeblich auch Drachen an.

»Drachen!« keuchte Aurian. »Hier gibt es Drachen?«

»Nur eine Legende«, erwiderte Yazour. »Es heißt, sie lebten in der Wüste, wo sie sich mühelos ernähren konnten. Du weißt doch, daß sie sich mit Sonnenlicht ernähren?«

»Was für eine Geschichte!« schnaubte Anvar. »Das glaube ich erst, wenn ich es sehe, Yazour.«

»Bete darum, daß du niemals die Gelegenheit dazu bekommst«, erwiderte der junge Mann ernst. »Drachen sind angeblich sehr ungesellige und unberechenbare Geschöpfe. Sie geraten leicht in Zorn, und man läßt sie am besten in Ruhe.«

Sie ritten weiter durch die Nacht, zu müde, um zu sprechen. Aurian war erleichtert, als Yazour, nachdem er einen Blick auf den scheinbar unveränderten Horizont geworfen hatte, endlich den Vorschlag machte, daß sie anhalten und ihr Lager aufschlagen sollten. Sie war schwächer, als sie es je für möglich gehalten hätte. War es erst gestern früh gewesen, daß sie Anvar gefunden und ihn den Klauen des Todes entrissen hatte? Seither war soviel geschehen, und sie hatte anscheinend keinen Augenblick Ruhe gefunden. Als sie von ihrem Pferd stieg, spürte sie, wie ihre Knie unter ihr nachgeben, und war zutiefst dankbar, daß sie nichts zu tun hatte. Bohan war augenblicklich an ihrer Seite, um ihr ihr Pferd abzunehmen, und Harihns Soldaten stellten mit großer Geschwindigkeit und echtem Können die leichten Seidenzelte auf. Selbst die Pferde und die Maulesel wurden in ihre eigenen Schutzzelte gebracht, denn kein Lebewesen konnte während der Stunden des Tageslichtes draußen überleben.

In dem allgemeinen Tumult, den der Aufbau des Lagers mit sich brachte, verlor Aurian ihre Freunde aus den Augen – bis auf Shia, die ihr wie ein Schatten folgte. Nachdem sie ihre magere Ration an Essen und Wasser abgeholt hatte, machte sie sich auf die Suche nach Anvar. Sie fand ihn schließlich allein im Eingang eines kleinen Zeltes sitzend. Neben ihm lag ein Wasserschlauch, und er hatte sein Essen nicht angerührt, sondern starrte blind hinaus auf das von Fackeln erleuchtete Lager. Seine Mundwinkel waren heruntergezogen, und auf seinem düsteren Gesicht spiegelte sich Kummer. Aurian wollte sich gerade wegschleichen, weil sie Angst hatte, ihn zu stören, aber er wandte sich zu ihr um, denn er schien wieder einmal ihre Nähe gespürt zu haben.

»Weißt du«, sagte er, ohne sie anzusehen, »du hast kein einziges Mal gesagt: ›Ich hab’s dir ja gesagte«

»Ich würde mir eher die Zunge abbeißen!« protestierte Aurian. »Warum sollte ich deinen Schmerz noch vergrößern wollen?«

Anvar seufzte. »Nein, das würdest du natürlich niemals tun. Dafür bist du zu fair. Du hast mich, was Sara betrifft, gewarnt. Aber statt auf dich zu hören, habe ich dich weggeschickt. Und jetzt sieh, was passiert ist.«

»Anvar, ich hätte dich niemals im Stich lassen dürfen. Mein verwünschtes Temperament! Ich werde mir das nie verzeihen.«

»Nun, dann wären wir ja schon zu zweit«, sagte Anvar grimmig. »Warum habe ich nicht begriffen, wem von euch beiden ich trauen konnte? Ich habe während unseres Ritts durch die Wüste viel nachgedacht. Darüber, wie du Miathan meinetwegen in der Akademie getrotzt hast und wie freundlich du zu mir warst, als ich dein Diener war. Wie du am Sonnenwendmorgen hinaus in den Schnee gegangen bist, um mir eine Gitarre zu kaufen – und was habe ich getan?« Selbstverachtung lag in seiner lauter werdenden Stimme. »Ich habe gemeine Dinge zu dir gesagt – ich habe dich vertrieben –, weil ich Sara verteidigt habe. Und was hast du getan? Du hast mich im Sklavenlager vor dem Tod gerettet; du hast mich als deinen Ehemann ausgegeben, während sie mich nur tot wissen wollte, damit sie Königin sein konnte! O ihr Götter, ich bin ein solcher Narr, Aurian. Ein blinder, armseliger Narr!« Er zitterte vor Zorn.

Aurian schlang ihre Arme um ihn und tröstete ihn, wie er sie auf dem Gipfel der Klippen getröstet hatte. Er lehnte an ihrer Schulter, während sie über sein feines, strohblondes Haar strich.

»Weißt du, was ich tun würde, wenn wir jetzt in Nexis wären?« fragte sie sanft. »Ich würde dich in jede Taverne der Stadt schleppen und dafür sorgen, daß du dich schlimmer betrinkst als je in deinem ganzen Leben. Forral hat immer gesagt, das wäre die beste Medizin gegen ein gebrochenes Herz.«

Der östliche Horizont begann heller zu werden, und das zunehmende Glitzern reichte aus, um sie zurück in ihr Zelt zu zwingen. Aurian zog das Zelt hinter sich zu und schloß das blendende Licht aus. Anvar grinste sie töricht an. »Wenn wir das nächste Mal in eine Stadt kommen, werde ich dein Angebot mit Vergnügen annehmen – aber ich muß gestehen, daß ich weniger unter einem gebrochenen Herzen als unter meiner Enttäuschung leide, unter der Demütigung und unter reinem Zorn auf mich selbst, weil ich so einfältig gewesen bin.« Sein Mund zuckte seltsam. »Und ich gebe mir die Schuld daran, dich im Stich gelassen zu haben.«

Aurian drückte seine Hand. »Du darfst dich nicht dafür bestrafen, Anvar – das ist jetzt alles vorbei. Sara war die Seelengefährtin deiner Jugend – du hast sie geliebt. Du konntest nicht wissen, wie sehr sie sich verändert hat. Warum versuchst du jetzt nicht ein wenig Schlaf zu bekommen? Vielleicht sehen die Dinge ja nicht mehr gar so schlimm aus, wenn du dich erst einmal etwas ausgeruht hast.«

Er lächelte kläglich. »Also kümmerst du dich wieder mal um mich? Ich dachte, es sollte gerade andersherum sein.«

»Keine Sorge, du tust deinen Teil. Und jetzt schlaf – sonst …«

»Sonst schickst du mir dieses Monster auf den Hals?« Anvar warf einen wachsamen Blick auf Shia. Sie sah in dem engen Zelt besonders gewaltig aus.

»Mach dir keine Sorgen wegen Shia. Sie ist eine gute Freundin. Sie wird sich um uns beide kümmern.« Aurian streckte die Hand aus, um Shias glänzenden Kopf zu streicheln, und wurde mit einem schläfrigen Schnurren belohnt.

»Ich mag ihn«, sagte die Katze.

»Wirklich?« Aurian war überrascht. So etwas hatte Shia noch von keinem gesagt, nicht einmal von Bohan. »Ich mag ihn auch.«

Dann drehte sie sich wieder zu Anvar um, der sich auf den Kissen zusammengerollt hatte und bereits schlief. Unter dem glitzernden Staub, der sein Gesicht überzog, sah er mitgenommen und verletzlich aus, niedergeschlagen von seinem Kummer. Einem Impuls gehorchend, streckte Aurian die Hand aus und berührte sanft seine Wange. Und dann schien sich ihr, so wie sie es schon im Sklavenlager erlebt hatte, das Herz im Leibe umzudrehen – und eins fügte sich plötzlich zum anderen. Aurian riß ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt; in diesem Augenblick begriff sie, daß diese Woge – was immer auch dahinterstecken mochte – dieselbe Kraft war, die die Macht der Armreifen aufgehoben hatte. Sie saß einen Augenblick lang ganz still da, hielt sich ihre Hand und wartete darauf, daß ihr Atem wieder ruhiger wurde und ihr Herz aufhörte, ihr schier aus der Brust springen zu wollen. »Hast du das gespürt?« fragte sie Shia versuchsweise.

»Was gespürt?« Die Antwort der Katze klang schläfrig.

»Oh, egal.« Aurian versuchte, ihre rasenden Gedanken zu ordnen, aber aus irgendeinem Grund war das einzige Bild, das ihr in den Sinn kam, das von Forrals Gesicht, zärtlich und strahlend wie an dem Tag, als sie sich zu erstenmal geliebt hatten. Trauer und Einsamkeit durchschossen sie mit einem so scharfen Schmerz, daß sie einen unterdrückten Schrei ausstieß. Unglücklich und verwirrt ließ sie ihren Tränen endlich freien Lauf und weinte sich in den Schlaf.

Irgendwann während des langen, hellen Tages warf Anvar sich herum und stöhnte; er hatte offensichtlich einen Alptraum. Seine suchende Hand legte sich in die der Magusch, und seine Ruhelosigkeit fand ein Ende. Und genauso fand Harihn sie, als der Abend heraufdämmerte: eng aneinander geschmiegt und Hand in Hand. Einen langen Augenblick lang betrachtete er sie stirnrunzelnd, bis Shia ein schläfriges Auge öffnete. Schnell und schweigend zog der Prinz sich zurück und schloß das Zelt hinter sich. Da der Mann gegangen war, ohne den Versuch zu machen, ihnen etwas anzutun, unterließ es Shia, Aurian und Anvar von seinem Besuch zu erzählen.

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