33 Der Stab der Erde

»Aurian!« Anvar, besinnungslos vor Angst, rannte den gewundenen Pfad hinunter, gefolgt von Bohan und Shia. Der steinerne Niedergang erreichte den Boden genau auf der gegenüberliegenden Seite des Turmes. Anvar rannte um den Turm herum und wagte es nicht, sich auszumalen, was er dort vorfinden würde. Er hätte die beiden Kämpfenden um ein Haar umgerannt. Eine schmale Gestalt, deren Gesicht von dem dämmrigen Schatten, die den Boden des Kraters umflossen, verborgen war, kämpfte mit der Magusch. Aurian lebte!

»Weg da!« Die Stimme war schrill. Der Fremde, eingehüllt in tiefstes Schwarz, packte eine Handvoll von Aurians Haar, um ihren Kopf abzureißen. Eine funkelnde, nackte Klinge lag auf der Kehle der Magusch.

Es blieb keine Zeit, sich darüber zu wundern, wie Aurian den Sturz überlebt hatte. Anvar schätzte die Entfernung zwischen sich und den Kämpfern ab und überlegte, welche Chancen ein Überraschungsangriff haben würde. Keine gute Idee, dachte er. Wenn er nur besser sehen könnte … Maguschlicht flackerte zwischen seinen Fingern auf. Er hörte einen erschrockenen Aufschrei des Fremden, und Aurian machte sich den Vorteil, daß ihr Gegner abgelenkt worden war, sofort zunutze. Es folgte ein Rascheln und ein gequältes Stöhnen, und die Positionen der beiden Gegner hatten sich plötzlich umgekehrt. Der Dolch ging zu Boden, und Bohan brachte ihn schnell an sich. Aurian war über ihrem Gegner und attackierte ihn nun laut fluchend mit beiden Füßen. Anvar, der sich an den eigenen blinden Zorn während seines Kampfes mit Harihn erinnerte, stürzte nach vorn und griff nach ihrem Arm. »Es ist gut«, keuchte er. »Du hast gewonnen!« Aber als er versuchte, die Magusch auf die Füße zu ziehen, fiel sie mit einem Schmerzensschrei zu Boden. »Bist du verwundet?« Anvar ließ sich neben ihr nieder.

Aurian fluchte wild. »Ich habe mir bei der Landung das Knie verrenkt«, murmelte sie. »Deshalb hatte sie auch einen Vorteil – und weil ich zu Tode erschrocken war.« Sie schüttelte verwirrt den Kopf. »Aber warum hat sie meinen Fall gebremst?«

»Es ist eine Sie?«

Aurian entzündete ihr eigenes Maguschlicht mit einer Leichtigkeit, die Anvar vor Neid aufseufzen ließ. »Hast du jemals einen Mann so kämpfen sehen?« Ihre Arme und ihr Gesicht zeigten lange, tiefe, blutige Kratzer. »Und außerdem habe ich eine Handvoll Haare opfern müssen, um mich aus ihrem Griff zu befreien.« Aurian schnaubte angewidert und rieb sich die Kopfhaut. Im Maguschlicht erschien ihr Gesicht grau, und Anvar wußte, daß ihr Sturz ihr furchtbare Angst eingejagt haben mußte – genauso wie ihm.

»Ich weiß nicht, warum sie deinen Sturz gebremst hat, aber ich danke den Göttern dafür, daß sie es getan hat«, sagte er mit zitternder Stimme.

Aurians Selbstbeherrschung geriet langsam ins Wanken, und einen Augenblick lang dachte Anvar, sie würde sich in seine Arme werfen, so wie sie es nach ihrem furchtbaren Aufstieg auf die Klippen von Taibeth getan hatte. Aber statt dessen holte sie nur tief und zitternd Luft und machte einen sichtbaren Versuch, sich zusammenzunehmen. »Wenn ich anfange, darüber nachzudenken, fange ich gleich an, hysterisch zu schreien«, sagte sie entschlossen. »Wollen wir jetzt einen Blick auf unsere Gefangene werfen?«

Anvar, der ein schleichendes Gefühl der Enttäuschung unterdrücken mußte, wandte sich der Fremden zu, und Aurian bewegte ihr Licht ein wenig, so daß sie die zusammengekauerte, weinende Gestalt besser sehen konnten. »Die Götter mögen uns retten!« Zum ersten Mal konnte Anvar das, was er irrtümlich für einen dunklen Umhang gehalten hatte, genauer ansehen. »Sie hat Flügel!« Daraufhin schickte er Shia und Bohan weg, um festzustellen, ob irgendwo in der Nähe noch weitere Geflügelte herumlungerten. Dann machte er sich daran, die seltsame Gefangene näher zu betrachten.

Sie war sehr klein und von zartem Körperbau – kaum mehr als die Hälfte von dem, was Anvar selbst wog, obwohl jede der großen, schwarzen Schwingen, die ihrem Rücken entsprangen, länger war als ihr Körper. Die Flügelspitzen waren zusammengelegt, so daß der obere Teil ihrer Schwingen hinter ihren Schultern emporstieg und ihren Kopf überragte, während die unteren Teile am Boden in einem anmutigen Schwung zu einer Spitze zusammenliefen. Als Anvar ihr die Hände von ihrem geschundenen, tränenüberströmten Gesicht wegzog, funkelte sie Aurian mit großen, dunklen Augen an. »Sie hat mich geschlagen!« Sie sprach mit einem seltsamen Akzent, und Anvar nahm an, daß sein Maguschtalent, sich in allen Sprachen zu unterhalten, wieder einmal am Werke war.

»Was hast du erwartet?« sagte er wütend. »Du hast versucht, ihr die Kehle durchzuschneiden.«

Das geflügelte Mädchen spuckte Aurian vor die Füße. »In meinem Land würde sie dafür sterben, daß sie eine Prinzessin geschlagen hat.«

Aurian stöhnte. »Nicht schon wieder ein Königskind!«

Rabe starrte die große, grimmig aussehende Frau an, die kämpfen konnte wie ein Dämon, und ihr Magen krampfte sich zu einem engen, kalten Knoten der Furcht zusammen. Wer waren diese schrecklichen, großen, flügellosen Wesen? Sie hatte noch nie etwas Derartiges gesehen. Und was taten sie an diesem verlassenen Ort? Was würden sie mit ihr machen? Der Mann mit den beunruhigenden himmelsfarbenen Augen griff grob nach ihrem Arm. »Sind hier noch mehr von euch?« wollte er wissen.

Rabes Verstand arbeitete sehr schnell.

»Natürlich!« fuhr sie ihn hochnäsig an. »Glaubst du, eine Prinzessin würde ohne Eskorte reisen? Laß mich gehen, sonst rufe ich meine Wachen, damit sie euch töten.«

»Sie lügt«, sagte die rothaarige Frau.

»Sag uns die Wahrheit!« Der Griff des Mannes wurde fester und ließ sie vor Schmerzen aufkeuchen. Rabe tobte innerlich, aber dieser harte; –eisblaue Blick ließ sie erzittern.

»Ich bin allein«, gestand sie. Sie war außerstande, ihre Tränen noch länger zurückzuhalten. Einen Augenblick lang dachte sie, daß sein Gesichtsausdruck mitleidig und weicher wurde, dann blickte er zu der Frau hinüber, und sein Gesicht wurde sofort wieder grimmig. Aber es war immerhin eine Chance. Wenn sie ihn auf ihre Seite bekommen könnte … Rabe blickte mit flehenden Augen zu dem Mann empor. »Bitte laß nicht zu, daß sie mich wieder schlägt!«

Die große Frau schnaubte angewidert. »Hör zu, du kannst dieses Erschrockenes-kleines-Mädchen-Gehabe gleich wieder sein lassen. Du täuscht hier niemanden damit. Du bist älter, als du aussiehst, würde ich sagen, und ich habe genug Wunden, um zu beweisen, daß du eine Furie bist.«

Rabe war maßlos wütend über die Bloßstellung ihres Plans. »Wie kannst du es wagen! Ich bin eine Prinzessin von königlichem Blut!«

»Nicht hier, o nein«, knurrte die Frau. »Du bist unsere Gefangene und steckst in größten Schwierigkeiten. Du hast mich angegriffen, vergiß das nicht. Ich habe immer noch eine Rechnung mit dir offen, weil du mich von diesem Turm heruntergestoßen hast.«

Nun, da war etwas Wahres dran, mußte Rabe sich eingestehen. Und doch hatten sie sie trotz ihres Angriffs auf die Frau nicht wirklich verletzt, obwohl sie sie sofort hätten töten können. Und sie war des Alleinseins so müde …

»Lady«, sagte sie schließlich, »ich möchte mich dafür entschuldigen. Ich – ich habe euch kommen sehen, und ich hatte Angst. Ich dachte, wenn ich euch überraschen würde …«

Zu ihrem größten Erstaunen grinste die Frau. »Und du hast deine Sache gar nicht so schlecht gemacht, wenn man es bedenkt. Warum hast du dann aber meinen Sturz mit deinen Schwingen gebremst? Wenn du mich von dieser Höhe heruntergestürzt hättest, hättest du mich augenblicklich töten können.«

Rabe zuckte mit den Schultern, und ihre dunklen, glänzenden Federn raschelten. »Ich dachte, wenn ich eine Geisel hätte, würden die anderen mir nichts tun.«

Gerade in diesem Augenblick tauchte eine turmhohe Gestalt aus der Dunkelheit auf. Rabe keuchte. Und sie hatte die beiden anderen schon für groß gehalten. Hinter ihm sah sie eine furchterregende Gestalt mit flammenden Augen. Rabe war nur allzu vertraut mit den wilden, großen Katzen, die auf der Nordseite ihres eigenen Gebirges lebten und einen ständigen Krieg mit ihrem Volk führten. Sie kreischte und versuchte wegzulaufen, aber der Mann zog sie wieder zu sich heran. »Es ist schon gut«, beruhigte er sie. »Shia ist eine Freundin, und sie kann mit uns sprechen.«

»Sie sagt, daß du wirklich allein gewesen bist, daß sie aber hier in der Nähe eine Art Lager mit einem kleinen Vorrat an Nahrung gefunden hat.« Die Frau kicherte. »Sie ist wütend, weil unser Bohan ihr nicht erlaubt hat, etwas davon zu essen. Aber jetzt mal ernsthaft: Ist das dein Lager? Wir haben alle schrecklichen Hunger.«

»Was ich habe, teile ich gern mit euch«, erbot sich Rabe, ängstlich darauf bedacht, irgendeine Geste der Freundschaft zu machen. »Ich habe einige Vögel gefangen, aber es gab nichts, um ein Feuer zu machen. Außerdem hat man mir nie beigebracht, zu kochen«, fügte sie offen hinzu, »also ist mein Hunger genausogroß wie eurer.«

Die Frau fing den Blick des Mannes auf und zuckte mit den Schultern. »Geh voran – und vielen Dank«, sagte sie.

Sie gingen durch die verlassene Stadt, wobei die große Frau ein wenig hinkte und sich auf den Arm des Mannes stützte. Sie stellten sich gegenseitig vor, obwohl sie alle zu sehr von dem Gedanken an etwas Eßbares in Anspruch genommen waren, um viel mehr als ihren Namen zu sagen. Rabe hatte ihr Lager in einem Gebäude aufgeschlagen, das aus einem einzigen großen Raum bestand, dessen Mauern aus trübblauem Kristall waren. Es gab keine Tür, die sie hätte schließen können, und keine Möbel oder sonst irgendwelche Zeichen, daß jemals jemand dort gelebt hatte, obwohl Regale und Nischen in die Wände geschnitten waren und ein Haufen verschiedener Edelsteine an einer der Wände aufgestapelt lag. Der beste Ausstattungsgegenstand in dem ganzen Raum befand sich in einer der Ecken: ein kleines, von einer Quelle gespeistes Wasserbecken, das die Aufmerksamkeit der durstigen Fremden eine beträchtliche Zeit in Anspruch nahm.

Rabe förderte vier recht ansehnliche Vögel zutage, die sie im Flug gefangen hatte – so wie sie es zu Hause oft zum Spaß getan hatte. Die Fremden kümmerten sich mit einer Sachkundigkeit um das Abendessen, die sie nur beneiden konnte. Die Männer – Anvar und der riesige Bohan – nahmen das Federvieh mit nach draußen, um es zu säubern, während Aurian, die große Frau, in dem Juwelenhaufen herumstöberte. Rabe stand vor einem Rätsel. Welchen Nutzen konnten Juwelen hier draußen schon haben? Dann traten ihr die Augen beinahe vor Erstaunen aus den Höhlen. Aurian wählte ein großes, flaches Kristallstück und legte es mitten auf den Fußboden. Dann setzte sie sich im Schneidersitz davor und hielt ihre Hände über den Stein, wobei sie ihre Augen vor Konzentration zu schmalen Schlitzen zusammenzog. Binnen wenigen Minuten glühte der Edelstein heiß und spendete ein warmes Licht, das die Wände ihres Zufluchtsorts behaglich flackern ließ. Rabe starrte sie mit tiefster Ungläubigkeit an; halb ängstlich, halb unfähig, ihr Glück zu begreifen. »Du bist eine Magusch?« flüsterte sie.

Aurian nickte kurz, denn sie war immer noch mit ihrer Aufgabe beschäftigt. Rabe griff nach ihrem Arm, und die Worte brachen aus ihr hervor, bevor sie sie hätte aufhalten können. Sie hatte nie die Absicht gehabt, zurückzugehen, aber … »Würdest du mir helfen? Mein Volk braucht dich dringend!«

Aurian seufzte. »Rabe, ich weiß nicht, ob wir das können. Wir sitzen hier selbst in der Falle, aber erzähl uns davon, während wir essen. Es muß sehr ernst sein, wenn es dich so ganz allein aus deiner Heimat vertrieben hat.«

Anvar und Bohan kehrten mit dem gerupften, gesäuberten und ausgenommenen Abendessen zurück, und die Magusch machte sich daran, die Vögel auf Schwertklingen zu spießen, um sie über dem feurigen Juwel zu braten. »Kann ich dir dabei helfen, dieses Ding da zu erhitzen?« fragte Anvar Aurian.

Sie schüttelte den Kopf. »Es kostet mich nur sehr wenig Mühe, denn der Kristall verstärkt meine Kraft. Die Drachenmagie hat ihre Vorteile.«

Während sie aßen, erzählte Rabe ihnen ihre Geschichte. Ihr Volk hatte seit Jahrhunderten in seiner isolierten Bergfeste gelebt, auf terrassenförmig angelegten Feldern robustes Getreide angebaut, sich um seine Bergziegenherden gekümmert und um seine Laufvögel. Aber in den letzten Monaten hatte ein unnatürlicher, so gar nicht der Jahreszeit entsprechender Wintereinbruch ihre Zivilisation beinahe zerstört. Sie erzählte den Magusch von plötzlichen, tödlichen Schneestürmen, von beißender Kälte, die das Land ruiniert hatte, und von dem Aufstieg des bösen, machthungrigen Hohenpriesters. Rabe schauderte, als sie von den Menschenopfern sprach, von Grausamkeiten, die im Namen der Rettung begangen worden waren, von der Hilflosigkeit und der Verzweiflung ihrer Mutter, der Königin. »Dann hat Schwarzkralle darauf bestanden, mich zu seiner Braut zu mache«, sagte sie. »Ich wußte, daß sein Plan war, Flammenschwinge abzusetzen und seine Macht über das Himmelsvolk zu festigen, indem er in meinem Namen regierte.«

Sie erzählte, wie sie mitten im Sturm von Aerillia geflohen war, und von den Härten und Entbehrungen ihrer Wüstendurchquerung, bei der sie nachts von Oase zu Oase geflogen war, erschöpft und hungrig, aber von Angst und Verzweiflung immer weitergetrieben. Tränen standen in ihren Augen. »Ich wollte nicht weglaufen. Es war meine einzige Hoffnung – ich hätte Schwarzkralles Grausamkeit gewiß nicht lange überlebt, doch es hat mir trotzdem das Herz zerrissen, wegzugehen. Aber selbst wenn ich dadurch mein Leben aufs Spiel setzte, ich würde zurückkehren, wenn ich glaubte, etwas tun zu können. Kannst du uns helfen? Bitte? Mein Volk stirbt!«

Aurian wandte den Blick ab, unfähig, Rabe in die Augen zu sehen.

Anvar konnte das Unglück der Magusch sowohl sehen als auch spüren und wußte, was sie denken mußte. Eliseth! Wer sonst hätte diesen unnatürlichen Winter bringen können? Die Geflügelten waren zum Opfer geworden. Ein unbehagliches Schweigen hatte sich über den Raum gesenkt. Ohne Vorwarnung stieß Aurian die Überreste ihres Abendessens zur Seite. Wortlos griff sie dann nach ihrem Stab und hinkte aus dem Raum hinaus. Anvar folgte ihr nach draußen.

Aurian saß mit dem Rücken gegen die Wand des Hauses gelehnt und zitterte ein wenig in der kühlen Wüstennacht, während ihre Augen sich ausdruckslos auf den funkelnden Himmel gerichtet hatten. »Geh weg«, sagte sie, ohne sich zu ihm umzudrehen.

»Nein.« Anvar setzte sich neben sie. »Hör auf, dir selbst die Schuld daran zu geben.«

»Wem sonst sollte ich die Schuld geben?« In ihrer Stimme schwang eine leichte, zornige Schärfe mit. »All das hat begonnen, weil Forral und ich …«

»Sei nicht dumm!« fuhr Anvar sie an. »Aurian, wir haben doch schon so oft darüber gesprochen. Es hat angefangen, weil Miathan die Macht des Kessels zum Bösen gewendet hat. Es hat beginnen können wegen der blinden, arroganten Vorurteile der Magusch gegenüber den Sterblichen. Du hast genug gelitten, ohne dich auch noch wegen der Geflügelten zu zerreißen.«

»Wie kannst du das sagen?« bestürmte Aurian ihn. »Wir sind alle verantwortlich dafür.« Ihre Augen wurden hart. »Ja, sogar du, Anvar. Du hast Forral in dieser Nacht in Miathans Gemach gebracht und den Erzmagusch gezwungen, die Todesgeister loszulassen.«

Anvar fröstelte plötzlich. »Ich habe mich immer gefragt, ob du mir die Schuld an Forrals Tod gibst«, sagte er leise.

Aurian blieb still und weigerte sich, ihn anzusehen. Da er nicht wußte, was er noch hätte sagen können, ging er mit gesenktem Kopf und schweren Schritten zurück ins Haus.

Rabe blickte auf, als er eintrat. »Habe ich etwas Falsches gesagt?« fragte sie ihn ängstlich. Anvar starrte sie an, als käme er gerade aus einem Traum zurück, und sammelte seine verwirrten Gedanken.

»Nein – nichts. Sie braucht etwas Zeit zum Nachdenken.« Shia ließ sich jedoch nicht täuschen. »Soll ich vielleicht zu ihr gehen?«

Er schüttelte den Kopf. »Sie will allein sein.« Das Licht des Kristalls erstarb langsam. Anvar legte sich daneben, aber auch die letzte Wärme, die der Stein verströmte, konnte die bittere Kälte, die in ihm war, nicht mehr vertreiben. Warum jetzt? Warum beschuldigt sie mich nach all dieser Zeit? Aber sie hatte jedes Recht dazu. Während der Monate ihrer Reise hatte er die Erinnerung an seinen Anteil an Forrals Tod beiseite gedrängt, denn er wollte nicht daran glauben und hoffte gegen alle Vernunft, daß Aurian es ebenfalls nicht tat. Adrian … Wenn sie ihm die Schuld an Forrals Tod gab, mußte sie ihn doch sicher hassen? Anvar warf sich gequält von Schuldgefühlen und Trauer unruhig hin und her. Es dauerte eine ganze Stunde, bevor er endlich einschlief, aber die Magusch kehrte nicht zurück.

Aurian saß noch bis spät in die Nacht hinein da, starrte blind in die Sterne und versuchte, mit ihren Schuldgefühlen und ihrer Verwirrung fertig zu werden. Ihr wütender, unbeherrschter Ausbruch Anvar gegenüber hatte sie entsetzt. Sie hatte nicht die Absicht gehabt, ihn zu beschuldigen – die Worte waren aus dem Nichts gekommen. Gebe ich ihm wirklich die Schuld? dachte sie. War das die ganze Zeit in meinem Hinterkopf? Plötzlich wurde sie aus ihren Gedanken aufgeschreckt, als sie aus den Augenwinkeln eine verstohlene Bewegung in der Dunkelheit hinter sich bemerkte. Die Magusch griff schnell nach ihrem Schwert und hielt den Atem an, als plötzlich eine Gestalt vor ihr stand.

»Forral!« Der Aufschrei gefror in Aurians Kehle, als er einen Schritt auf sie zu machte. Dieses bleiche Gespenst war nicht der fröhliche, lebendige Mann, den sie gekannt und geliebt hatte. Sein Bild flackerte und war seltsam durchscheinend und verschwommen in dem trügerischen Funkeln, das sie vor sich sah. Sein geisterhaftes Gesicht war traurig. Aurian spürte, wie sie selbst vor Scham errötete, als sie seine barsche Stimme in ihren Gedanken hörte.

»Das war nicht sehr fair Anvar gegenüber, oder, mein Liebes? Ich dachte, ich hätte dich Besseres gelehrt, als deine Zeit damit zu verschwenden, Schuld zu verteilen. Das Böse, das von Miathan ausgeht, verbreitet sich, und das ist nicht der richtige Weg, damit umzugehen!«

»Ich weiß. Es tut mir leid«, flüsterte sie unglücklich. Die geisterhafte Gestalt lächelte, und Forrals Gesichtsausdruck wurde weicher, als sich ein sehnsüchtiger, liebevoller Blick in seinen Augen zeigte. Dann winkte er ihr zu und wandte sich zum Gehen.

»Forral, warte!« Aurian zog sich mit Hilfe ihres Stabes hoch und humpelte hastig hinter ihm her, wobei sie ihm in die Dunkelheit der verlassenen Stadt hinein folgte.

Sie konnte ihn nicht einholen. Ganz gleich, wie schnell Aurian zu humpeln versuchte, Forrals Schatten hielt immer dieselbe Entfernung von ihr, obwohl er nie ganz aus ihrem Blick verschwand. Schließlich blieb er stehen, und als er sich zu ihr umdrehte, bemerkte sie, daß sie den rätselhaften, kegelförmigen Bau erreicht hatten, der das Zentrum und das Herz von Dhiammara bildete. Die summende Energie, die dem Gebäude entströmte, schien in jedem einzelnen ihrer Knochen zu vibrieren, aber sie hielt ihren Blick fest auf die geliebte Gestalt gerichtet. Mit ausgestreckter Hand humpelte sie zu ihm hinüber, denn sie sehnte sich so sehr danach, ihn noch einmal zu berühren.

»Nicht!« Die Warnung war scharf genug, um sie aufzuhalten, obwohl Forrals Stimme sehr sanft geklungen hatte. Er schüttelte den Kopf, und sein Gesichtsausdruck zeigte tiefsten Schmerz. »Du kannst mich nicht berühren, Kleines. Ich habe ohnehin schon die Regeln gebrochen, indem ich zu dir gekommen bin.« Er lächelte kläglich. »Aber wir hatten ja nie viel im Sinn mit Regeln, wir beide, nicht wahr?«

»Aber ich möchte bei dir sein!« Ihre Stimme brach mit einem Schluchzen.

»Ich weiß. Oh, mein liebster Schatz, wie sehr ich dich vermißt habe! Aber ich neide dir dein Leben nicht, ebensowenig, wie ich es unserem Kind neide. Außerdem trägst du eine ungeheure Verantwortung. Die Zeit, die vor dir liegt, wird nicht leicht sein, aber ich weiß, daß du es schaffen wirst.« Sein Gesicht leuchtete vor Stolz. »Ihr habt den Mut und die Entschlossenheit, um zu obsiegen, du und der junge Anvar.«

Forrals Worte wurden allmählich leiser, während er sprach. Sein Schatten schien sich aufzulösen und wie Rauch im Wind von ihr weggetragen zu werden. »Verlaß mich nicht!« rief Aurian voller Angst, als sein Bild verblaßte.

»Sie rufen mich zurück.« Seine Stimme schien nun weit entfernt zu sein. »Kümmere dich gut um unser Kind, mein Liebes, … und denk daran … ich liebe dich … Aber ich bin nicht mehr da …«

»Nein!« Aurian stürzte sich auf den Platz, auf dem er vor kurzem noch gestanden hatte. »Ich liebe dich auch, Forral«, flüsterte sie. Dann lehnte sie ihren Kopf an die kühle, summende Mauer des Gebäudes und gab sich ihrem Schmerz hin, bis ihr Körper von Schluchzen geschüttelt wurde.

Später wußte sie nicht mehr, wie lange sie dort geweint hatte. Aber es konnte nicht lange gewesen sein. Während ihre Tränen auf die glatte Mauer des grünen Kristalls fielen, wurde das Summen immer lauter und schriller. Die Magusch, deren Gedanken ganz mit Forral angefüllt waren, bemerkte nichts davon, bis sich plötzlich in dem Stein unter ihr eine Tür öffnete und sie jäh in die Tiefe gerissen wurde.

Der Sturz war nicht tief. »Oh!« Aurian setzte sich auf, fuhr sich über die Augen und sah sich um. Sie befand sich in einem breiten Korridor, der aus dem Edelstein herausgeschnitten war. In seinem Inneren glühte ein dumpfes, grünes Licht. Die Luft war abgestanden und erfüllt von einem seltsam würzigen Duft, aber als die kalte Luft des Plateaus durch das offene Portal hindurchwehte, wurde es im Innern schnell frischer. Wieder einmal spürte sie den lebendigen Geist in diesem Ort; das Gefühl einer fremden Macht, die an ihr zerrte und sie näher zu sich, tiefer ins Innere des Gebäudes zog. Die Magusch widersetzte sich diesem Gefühl, denn sie wollte nichts anderes, als dort zu bleiben, wo sie war, und sich an die kostbare Erinnerung ihrer Begegnung mit Forral klammern – so, wie sie den Dolch, den ein Gegner ihr in die Brust gerammt hatte, umklammern würde. Aber die Macht war beharrlich – und Forral hatte ihr unzweifelhaft klargemacht, daß sie eine Verantwortung trug.

»Also dann«, murmelte Aurian ungnädig und tastete auf dem Boden nach ihrem Stab. »Aber du wirst schon warten müssen, bis ich mein verstauchtes Knie in Ordnung gebracht habe. Was immer du bist, ich will beide Beine unter mir haben, wenn ich dir begegne!« Das Heilen ging überraschend leicht, und die Magusch hätte schwören mögen, daß die rätselhafte Kraft sie tatkräftig dabei unterstützte. Ob ihr Eindruck nun zutreffend war oder nicht, er beruhigte sie jedenfalls. Sie stand auf, und trotz des wachsenden Gefühls der Ehrfurcht, das dieser seltsame Ort in ihr weckte, kroch sie weiter hinein in die Tiefen des Gebäudes.

Wieder einmal wandt sich der Korridor in einer schier endlosen Spirale in die Höhe. Ich habe langsam genug davon, dachte Aurian. Man sollte meine, daß sie sich irgendwann auch einmal etwas anderes hätten einfallen lassen. Ihr Lächeln über ihre eigene Zaghaftigkeit fand ein jähes Ende, als der Durchgang sich zu einem luftigen, kreisförmigen Raum öffnete – dem Ende einer Sackgasse. Das Licht, das durch die grünen Kristallwände fiel, war nun heller geworden, und Aurian argwöhnte, daß draußen langsam der Morgen dämmerte. Der Boden der leeren Halle glitzerte in der zunehmenden Helligkeit, und die Magusch sah, daß er von einem kostbaren Goldmosaik bedeckt war, das ein verschlungenes, spiralförmiges Muster zeigte und damit sowohl ihre Augen als auch ihre Schritte auf das Bild eines großen Sonnenrades in seiner Mitte lenkte. Als Aurian einen Fuß darauf setzte, ertönte wie ein Donnerschlag ein scharfes, ohrenbetäubendes Krachen. Sie fuhr zusammen und riß die Arme hoch, um ihre Augen zu schützen, als ein blendender Sonnenstrahl, gebündelt durch irgendeine verborgene Öffnung in der hochgewölbten Decke, herunterschoß, um sie in einem goldenen Licht einzuschließen.

»Aurian ist verschwunden!« Shia schüttelte Anvar mit ihren Tatzen grob durch, und ihre Augen schienen in Flammen zu stehen. »Was ist gestern abend zwischen euch vorgefallen, Mensch?«

Anvar war sofort vollkommen wach. »O ihr Götter, wir müssen sie finden. Nach unserem Wortwechsel gestern abend kann man unmöglich vorhersehen, was sie tun wird.«

Trübes Tageslicht schien durch die Kristallwände ihrer Unterkunft. Bohan packte die Überreste ihres Abendessens zusammen, während Rabe ihnen mit weit aufgerissenen Augen zusah. »Was ist los?« fragte sie. »Was ist aus der Magusch geworden?«

Anvar wäre an seiner Abneigung für sie beinahe erstickt. Wenn sie es sich nicht in den Kopf gesetzt hätte, sie mit ihren Problemen zu belasten … »Komm her, du!« sagte er herrisch und riß sie auf die Füße. Als sie nach draußen kamen, suchte Shia bereits den Boden nach Spuren ab.

»Katzen jagen für gewöhnlich nicht mit Hilfe des Geruchs«, sagte sie zu ihm, »aber ich glaube, ich kann sie finden. Es scheint so, als wäre sie in die Stadt gegangen.«

Nach und nach hörte das Flimmern vor ihren Augen auf. Aurian konnte wieder sehen, und das, was ihre Augen ihr zeigten, schien ihr nahezu unglaublich. Die Halle mit dem Sonnenrad war vollkommen verschwunden, und sie stand in einem gewaltigen Raum, der ganz aus Gold war: die Wände, der Boden und die gewölbte Decke. In der Mitte befand sich ein gewaltiger, unordentlicher Haufen Gold und Juwelen, und darauf … Aurian mußte alle Kraft aufbieten, um nicht wegzulaufen. Zusammengerollt auf dem Juwelenberg und beleuchtet nur von einem einzigen Strahl weichen Sonnenlichts, der durch die Öffnung in der Spitze der Kuppel zu kommen schien, lag ein riesiger, goldener Drache.

Die Magusch zog ihr Schwert und machte einen Schritt zurück, wobei sie sich nach irgendeiner Möglichkeit zur Flucht umsah. Es gab keine. Abgesehen von der Öffnung in der hohen Decke hatte der Raum überhaupt keine Ausgänge. Aurian durchlebte ein oder zwei höchst unangenehme Augenblicke, bevor ihr auffiel, daß die Augen des Drachen geschlossen waren und daß er sich keinen Millimeter bewegt hatte, seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Sie erinnerte sich an die heimtückische Zeitfalle. Die Drachen waren berühmt für ihre Schläue – war es möglich, daß dieser hier Schlaf vortäuschte, um sie näher heranzulocken?

Unsinn, sagte Aurian entschlossen zu sich selbst. Etwas von dieser Größe könnte dich binnen Sekunden fangen, wenn es sich die Mühe machen wollte. Dann blinzelte sie in das flackernde, goldene Licht und sah sich die reglose Kreatur genauer an; es widerstrebte ihr, näher heranzugehen, und erst nach einer ganzen Weile entdeckte sie den Grund für die Reglosigkeit des Drachens. Das goldene Leuchten seiner Schuppen machte es schwer, das bläuliche Funkeln zu erkennen, aber es war unzweifelhaft da. Jemand hatte ihn eingeschlossen – hatte ihn aus der Zeit genommen, und zwar mit demselben Zauber, den Finbarr ihr einst beigebracht hatte. Ihre Maguschneugier gewann die Oberhand, und Aurian schlich sich schließlich näher an das schlafende Ungetüm heran.

Es war schwer, keine Angst zu haben, obwohl sie wußte, daß der Drache hilflos war. Er war gigantisch – riesig genug, um problemlos die Große Halle der Akademie zu füllen, dachte Aurian. Aber es war wunderschön, dieses Wesen, mit der Sonne, die die eleganten Linien seines gewundenen Körpers hell erleuchtete. Es lag zusammengerollt wie eine schlafende Katze da, und sein schlanker, spitz zulaufender Schwanz hatte sich über seine furchterregenden Kiefer gelegt, während seine breiten Schwingen sich schützend über seinen Schatz gebreitet hatten. Diese Schwingen! Aurian war fasziniert. Sie waren gerippt wie die Flügel einer Fledermaus, aber zwischen den goldenen Streben erstreckte sich eine zerbrechliche, durchscheinende Membrane, die übersät war von dunkel schimmernden Schuppen und ein silbernes Netzwerk feiner Adern bildete – wie die dünnen Drähte, die um den Griff ihres Schwerts gewickelt waren. Die Magusch erinnerte sich daran, daß sowohl Yazour als auch Ithalasa ihr erzählt hatten, daß die Drachen sich ernährten, indem sie die Sonnenenergie direkt durch ihre Flügel in sich aufnahmen. Es sah so aus, als hätten sie wirklich recht gehabt.

»So, und was jetzt?« Ihre gemurmelten Worte klangen unanständig laut in der Stille des Raumes. Aurian kämpfte gegen ihre innere Überzeugung, daß die rätselhafte Macht sie aus einem bestimmten Grund hierher gelockt hatte: um nämlich das Dümmste zu tun, das sie jemals unternommen hatte. Sie war zweifellos mit voller Absicht hierhergeführt worden, aber ob zu ihrem eigenen Nutzen – das war eine andere Frage. Und doch, wenn sie den prachtvollen Drachen ansah, stieg unerwartet Mitgefühl in ihr auf. Das arme Ding, dachte sie. Wie lange war es wohl schon gefangen? Nun, ich hoffe nur, daß es mir dankbar sein wird. Dann trat sie einige Schritte zurück. In der Hoffnung, daß sie nun eine sichere Entfernung zu dem Drachen hatte, zog Aurian den Stab aus ihrem Gürtel und begann, den Zauber zu lösen.

Während sie das tat, durchflutete die Magusch das starke Gefühl, genau das Richtige zu tun – eine Zuversicht, die jedoch plötzlich verschwand und sie mit zitternden Knien zurückließ, als der Drache seinen Kopf hob. Riesige Facettenaugen, in denen schlafendes Feuer glomm, richteten sich mit unverwandtem Blick auf sie, so daß sie sich nicht mehr von der Stelle rühren konnte. Der Drache öffnete den Mund und zeigte Zähne, die wie geschwungene, funkelnde Schwerter aussahen – und Aurians Furcht verwandelte sich in reines Entzücken, als die Luft in dem Raum plötzlich von Licht und Musik zum Leben erweckt wurde. Wirbel reiner, immer wieder neuer Farben flössen durch die Decke und die Wände. Die Luft flackerte und blitzte in einer Folge schimmernder Regenbogen. Die Farben tanzten und drehten sich im Takt einer Musik, die so rein, so unendlich vollkommen war, daß die Magusch ihre Angst vergaß. Rund und einschmeichelnd war der fließende Schwall von Noten, aber mit der Kraft einer darunterliegenden, metallischen Schärfe, so hart und heiter wie Gold. Während Aurian, verloren in ihrem Staunen, dastand, waren ihre Kräfte vollauf damit beschäftigt, zu analysieren, zu speichern, Muster zu suchen. Nach einer Weile begann die atemberaubende Zurschaustellung von Licht und Klang eine Bedeutung anzunehmen. Das war die Sprache des Drachenvolkes!

»Ich sagte, wer hat mich geweckt?« Eine gereizte Schärfe schwang in dem fließenden Fall der Noten mit, unterlegt mit einer verhaltenen Sehnsucht. »Warum antwortest du nicht? Bist du der Eine, der endlich gekommen ist?«

Nach der Musik des Drachens klang Aurians Stimme dumpf und schwach in ihren Ohren. »Ich weiß es nicht«, gestand sie. »Bin ich es?«

Der Drache schien keine Schwierigkeiten zu haben, sie zu verstehen. Sein Kichern ließ Prismen von Licht durch den Raum hüpfen und die Farben zittern und tanzen. »Du bist mutig und ehrlich, das muß man sagen! Wenn du die erste Probe bestanden hast, indem du die Tempeltür geöffnet hast, besteht immerhin Hoffnung.«

»Ich habe diese Tür geöffnet?«

Das Geschöpf schnaubte. »Natürlich! Dieser Tempel war seit Jahrhunderten versiegelt – seit das Drachenvolk Dhiammara verlassen hat. Da wir nach der Verheerung in Kummer und Leid von hier weggegangen sind, haben unsere Weisen einst beschlossen, daß Kummer und Leid der Schlüssel für den Einen sein sollten. Deine Tränen waren das einzige, was diese Tür öffnen konnte, Zauberin.« Der Drache legte seinen gewaltigen Kopf zur Seite und sah sie fragend an. »Ich gehe doch davon aus, daß es deine Tränen waren?«

Die Magusch war verblüfft. »Natürlich waren sie das. Ich habe um jemanden getrauert, der mir sehr teuer war, um jemanden, der gestorben ist.«

»Trauer, wie? Überaus passend.« Die Selbstgefälligkeit im Ton des Drachen ließ Aurian die Fäuste ballen.

»Ich freue mich, daß du so denkst«, fuhr sie auf. »Ich persönlich finde es nicht besonders klug, die Trauer eines anderen zu benutzen.«

»Wer bist du, die Weisheit des Drachenvolks in Frage zu stellen?«

Das Gebrüll des Drachens warf Aurian zu Boden. Die bunten Lichter seiner Sprache explodierten zu gezackten Scherben weißer Blitze, die ihre Augen zu versengen schienen. Die Magusch raffte sich auf und funkelte ihn an; so wütend war sie über seine herrische Arroganz, daß sie ganz vergaß, Angst zu haben. »Wer ich bin?« rief sie. »Ich bin Aurian, die Tochter von Geraint, dem Feuermagusch. Mein Vater ist gestorben, als er versuchte, die Geheimnisse der sogenannten Weisheit des Drachenvolkes zu entschlüsseln. Also erwarte nicht von mir, daß eure Kräfte mich besonders beeindrucken! Erspar mir deine Spielchen, Drache; ich habe keine Zeit dafür. Das Maguschvolk – die Zauberer, wie ihr uns genannt habt – hat sich dem Bösen zugewandt. Der Kessel ist gefunden worden, und die Nihilim wurden auf die Welt losgelassen. Was schlägst du in deiner unendlichen Weisheit vor, soll ich dagegen unternehmen?«

Die Augen des Drachen loderten in hellem Rot auf. »Dann haben sich die alten Prophezeiungen erfüllt. Du mußt der Eine sein!«

»Der eine? Welcher eine?« Aurian stellte fest, daß sie schrie. »Ich verstehe dich nicht!«

»Ich sehe, daß die Jahrhunderte wenig dazu beigetragen haben, das berüchtigte Temperament der Zauberer zu zügeln«, fuhr der Drache auf. Er schlug gereizt mit den Flügeln, so daß eine kleine Lawine von Gold und Edelsteinen mit musikalischem Plätschern seinen Schatzhaufen hinunterkollerte. »Ich spreche von dem Schwert, du Törin! Chierannath, das Schwert der Flamme, das dazu ausersehen wurde, dem Mißbrauch der anderen großen Waffen zu begegnen. Du wagst es, mir von Verlust und von Trauer zu erzählen? Mir, der ich von meinem Volk getrennt wurde, von meinen Freunden und denen, die ich geliebt habe, um hier zu warten, erstarrt in der Zeit, bis das Schwert gebraucht würde? Meine Aufgabe, du Unwissende, ist es, den Einen zu identifizieren, für den die Klinge geschmiedet wurde. Und nun bist du gekommen und hast mit deinen Fragen und deinem armseligen Zorn meinen Schlaf gestört!«

Aurian sprach mit der Ruhe tiefer Erschrockenheit. »Willst du damit sagen, daß das Schwert – die mächtigste der großen Waffen – Jahrhunderte vor meiner Geburt eigens für mich geschmiedet wurde?«

»Das bleibt abzuwarten.« Der Drache klang skeptisch. »Ich gebe zu, daß ich, als ich mir den Einen vorgestellt habe, eine etwas – heroischere Gestalt erwartet habe.«

»Du wärst also glücklicher, wenn ich ein gewaltiger Muskelprotz von einem Krieger wäre, ja? Nun, das ist dein Problem.«

Die Augen des Drachen sandten gefährliche Lichtblitze aus. »Gib acht darauf, was du sagst. Ich werde keine Schmähungen von einem armseligen, zweibeinigen Zauberer hinnehmen.«

Aurian schluckte und dachte an die letzten Schwierigkeiten, in die ihr Temperament sie gebracht hatte. Der Drache hatte recht, sich über Hitzköpfe zu beklagen. »Na schön«, sagte sie. »Angenommen, ich bin der Eine, was geschieht dann jetzt?«

»Angenommen, du bist es, dann wirst du nun die dritte Probe vollenden, die darin besteht, den verlorenen Stab der Erde neu zu erschaffen.«

Aurian war sprachlos. Den Stab neu erschaffen? Das war unmöglich! Heimtückische Zweifel beschlichen sie, und eine Woge der Enttäuschung überschwemmte sie. Er hat recht – ich kann nicht der Eine sein, dachte sie unglücklich. Und beinahe hätte sie es ihm auch gesagt – beinahe. Statt dessen umklammerte sie ihren Stab und reckte sich zu ihrer vollen Größe auf, denn sie wußte, wenn sie jetzt aufgäbe, würde sie niemals mehr in den Spiegel sehen können. Der Drache sah sie aufmerksam an, und seine neugierigen Augen waren ungerührt. »Nun? Hast du die Absicht, für immer und ewig mit offenem Munde dazustehen?«

Verflucht sollst du sein, dachte Aurian. »Ist es mir gestattet, Fragen zu stellen?«

Er lachte. »Sehr gut! Ich darf drei Fragen beantworten – aber nicht die offensichtliche. Wähle deine Fragen mit Bedacht, Zauberin!«

Die Magusch erinnerte sich an das, was sie über die Geschichte des Stabes wußte. »Man hat mir gesagt, der Stab sei während der Verheerung verlorengegangen«, begann sie mutig. »Wurde er damals auch zerstört?«

»Ja.« Das war alles, was der Drache sagte.

Tu mir nur ja keinen Gefallen, dachte Aurian verdrossen. »Aber«, fuhr sie fort, »du hast gesagt, ich solle ihn neu erschaffen, also müssen die Kräfte des Stabes immer noch existieren.«

In einem Geistesblitz erinnerte sie sich daran, wie Anvar seine Kräfte wiedererlangt hatte, und daran, wie der Erzmagusch sie ihm überhaupt erst gestohlen hatte. Sie dachte an die Kristalltür, die ihre Kräfte in sich aufgesogen hatte, und an die Armreifen von Harihns Volk.

»War das eine Frage?« Der Drache unterbrach ihren Gedankengang – mit Absicht, da war Aurian sicher.

»Nein«, sagte sie hastig, denn sie vertraute nun ihrer Intuition. »Das ist meine zweite Frage: Ist der Kristall, der die Kraft des Stabes enthält, hier in diesem Raum?«

Eine Salve von Sternschnuppen füllte den Raum. »Ja!« sang der Drache. »Und du mußt ihn finden.«

Aurian stieß einen fürchterlichen Fluch aus. Jetzt wußte sie, warum der Drache ein so ungemütliches Bett hatte. Es war ein Köder und ein weiterer Test. Irgendwo in diesem Stapel, von den anderen Juwelen nicht zu unterscheiden, lag der Kristall, den sie suchte. Die Magusch war entsetzt. Es wird Jahre dauern, dieses ganze Zeug zu durchsuchen, dachte sie. Denk nach, Aurian! Es mußte einen besseren Weg geben! Und es gab ihn auch, begriff sie plötzlich. Von Natur aus hatte sie sich immer zur Feuermagie ihres Vaters hingezogen gefühlt und dazu geneigt, Eilins Seite ihres Erbes zu vernachlässigen. Jetzt endlich würde es zu seinem Recht kommen.

Entschlossen umklammerte die Magusch das Ende ihres Stabs, umschlang es mit beiden Händen und rief die Kräfte der Erde – das träge, schwere Leben der Berge und der Steine, den fruchtbaren Schoß der Erde, den überschäumenden Quell all dessen, was wuchs, und das helle, kurze Leben der Geschöpfe, die krochen oder liefen und sich mehrten in dem endlosen Zyklus von Leben, Tod und endgültigem Verfall, aus dem neues Leben entsprang. Bei all dem und mehr, beim Wesen der Schöpfung selbst, rief Aurian die Kräfte des Stabs der Erde.

Und die Kräfte antworteten. Aurians Stab riß sich beinahe aus ihrer Umklammerung heraus, um auf das Herz des Drachenlagers zu zeigen. Das schlangenförmig geschnitzte Holz begann zu summen und zu vibrieren und in einem dunklen, smaragdgrünen Licht zu schimmern. Der Drache stieß ein erschrockenes Kreischen aus – das unmusikalischste Geräusch, das sie überhaupt von ihm gehört hatte – und huschte mit einer Geschwindigkeit beiseite, die seine gewaltige Größe Lügen strafte, als sein Bett zu brodeln und zu zittern begann und sich in seinem funkelnden Schwall über den Raum ergoß. Aus dem Herzen des Stapels schoß wie zur Antwort ein grüner Strahl empor. Aurian sank auf die Knie und schützte ihren Kopf, als eine gewaltige Explosion von Edelsteinen und Gold mit ungeheurer Gewalt gegen die Wände dröhnte.

In der darauffolgenden Stille entdeckte die Magusch zu ihrer Erleichterung, daß sie ihren zuckenden und zerrenden Stab fest in der Hand behalten hatte. Zitternd stand sie auf, am ganzen Körper zerschunden von den Kostbarkeiten, die sich unversehens in harte Geschosse verwandelt hatten. Ein üppiges grünes Licht hatte den Raum überflutet, und der Drache streckte seinen Kopf wieder unter einem schützenden Flügel hervor. Sie hörte das Schnarren der Luft in seiner Kehle, als er einen gewaltigen Atemzug machte. »Auf mein Wort«, sagte er mit ehrfurchterfüllter Stimme, »du machst keine halben Sachen, Zauberin!«

Der Stab zeigte unfehlbar in die Mitte des Zimmers. Dort, inmitten des freien Raumes, den er sich so gewalttätig verschafft hatte, lag in einsamer Pracht ein glühender, grüner Edelstein, der etwa so groß war wie Aurians Zeigefinger und Daumen, wenn sie sie zu einem Ring schloß. Die Magusch näherte sich ihm vorsichtig und kniff angesichts des tiefen, smaragdgrünen Strahlens, das von dem Stein ausging, die Augen zusammen. Als sie auf Armeslänge von ihm entfernt war, blieb sie stehen, aufgehalten von der Energie, die wie eine pulsierende Mauer aus grünem Feuer von dem Stein ausging. Erst wenn sie den Stab neu erschaffen hatte, konnte diese Macht soweit gezähmt und gezügelt werden, daß ein Magusch sie beherrschen und überleben konnte. Aber wie sollte sie das machen? Aurian ließ ihre Hände über ihren eigenen Stab gleiten und spürte Anvars kunstvolle, lebensechte Schnitzereien unter ihren Fingern. Die Zwillingsschlangen, die sich um den Stab herumwanden, waren so lebensnah, daß sie beinahe spüren konnte, wie sie sich bewegten. Spüren, wie sie sich bewegten … Das brachte sie auf eine Idee.

Vorher gab es jedoch noch etwas zu erledigen. Aurian wandte sich wieder an den Drachen. »Ich möchte meine dritte Frage stellen.«

Das Geschöpf schien überrascht. »Dann stelle deine Frage – aber ich warne dich: Ich darf dir nicht sagen, wie du deine Aufgabe vollbringen sollst.«

»Das ist schon gut. Was ich wissen will, ist, ob ich den Stab behalten darf, wenn ich ihn neu erschaffen habe.«

Der Drache warf den Kopf zurück und brüllte – aber vor Lachen und nicht, wie sie erwartet hatte, vor Wut. »Du tollkühne Zauberin! Ja, du darfst den Stab behalten, denn wenn du ihn neu geschaffen hast, hast du ihn dir verdient. Aber sei gewarnt – erinnere dich immer daran, welche Mächte dir zu Gebote stehen und welche Zerstörung du bewirken könntest. Mache nie den Fehler, den die Benutzer des Kessels gemacht haben.«

Aurian näherte sich dem Stein, so weit sie es wagen durfte, und konzentrierte ihre Kräfte – nicht auf den Edelstein selbst, sondern auf ihren Stab. Sie ließ ihre Hände über die vertraute Oberfläche gleiten, und ihre Finger kribbelten und badeten in Licht, als sie mit Hilfe der Magie der lebenden Erde versuchte, dem Holz Leben einzuhauchen. Die Schlangen unter ihren Fingern regten sich, und ihre geschnitzten Augen erwachten zu funkelndem Bewußtsein. Gespaltene Zungen zuckten aus ihren Mäulern, und sie erhoben ihre schuppigen Häupter von dem Stab. Aurian richtete ihren Willen auf sie, unterweisend und befehlend. Sie hielt ihren Stab fest an seinem eisenbeschlagenen Ende und streckte ihn weit von sich, um den Kristall zu berühren. Die Schlangen schnellten vor, ergriffen den Stein und hielten ihn fest zwischen ihren gefährlich bezahnten Kiefern.

Eine überwältigende Woge von Kraft durchströmte den Stab und warf die Magusch beinahe zu Boden. Sie taumelte, hielt den Stab fest und glühte plötzlich von der Macht des Steins. Sie spürte, wie ihre Gestalt sich ausdehnte, das ganze Zimmer umfing, die Stadt, die Wüste … Sie umfing die ganze Welt – jeden Stein, jeden Grashalm, jedes Geschöpf, das atmete – sie war jedes einzelne von ihnen, und jedes einzelne war sie, und sie frohlockte mit ihnen in dem Wunder ihrer Schöpfung! Aurians Triumphschrei scholl bis hinauf zu den Sternen, als sie den neu geschaffenen Stab der Erde emporhielt!

Shia hatte die Spur der Magusch verloren. Nachdem sie ihre ängstlichen Begleiter durch die halbe Stadt geführt hatte, waren sie schließlich zum Fuß dieses hoch aufragenden, grünen Kegels gelangt, und dort verschwand Aurians Spur. »Ich verstehe das nicht«, sagte sie zu Anvar. »Die Spur führt bis hierher und hört dann plötzlich auf.«

Anvar fluchte. »Das ist doch lächerlich! Die Spur muß doch hier irgendwo weitergehen. Aurian kann doch nicht verschwunden sein!«

Shia funkelte ihn wütend an. »Möchtest du es vielleicht mal versuchen?« sagte sie spitz.

Anvar seufzte. »Es tut mir leid, Shia. Ich weiß auch nicht, was wir jetzt tun sollen. Wir sind um dieses ganze Ding herumgegangen, und es gibt nirgendwo einen Eingang.« Er blickte an den steilen, glasigen Wänden empor. »Und sie konnte doch nicht da raufklettern …« Seine Worte gingen in dem ohrenbetäubenden Brüllen einer Explosion unter. Der Kegel in seinem hellen, grünen Licht und das ganze Gebäude erzitterten bis in die Grundfesten. Anvar und die anderen wurden zu Boden geworfen, als die Erde sich spaltete und unter ihren Füßen zu stampfen begann. Ein gewaltiger Sturm schien sich aus dem Nichts zu erheben, raste heulend und kreischend um die Gebäude der Stadt und peitschte erstickende Wolken von Staub und Trümmern auf. Anvar bemühte sich vergeblich, wieder aufzustehen. »Sie ist da drin!« rief er über den Lärm des Sturms hinweg. »Sie muß da drin sein!« Große Götter, was hatte sie diesmal angestellt?

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