22 Das unsichtbare Einhorn

»Noch mal!« rief Maya.

D’arvan hob seine müden Glieder und eilte über die Waldlichtung zu ihr hinüber, wobei er das Schwert in seiner Hand wild im Kreis schwang. Die Kriegerin machte einen gekonnten Ausfall zur Seite, stellte ihm ein Bein und brachte ihn zu Fall. Der Magusch stürzte wie ein gefällter Baum mit dem Gesicht nach unten in den Schlamm und in die Blätter des vergangenen Jahres.

»Ich denke, das sollte für heute reichen«, sagte Maya taktvoll, obwohl unterdrückte Heiterkeit um ihre Mundwinkel zuckte, als sie zu ihm hinüberging, um ihm aufzuhelfen.

»Du – du Biest!« stieß D’arvan hervor und wischte sich den Schlamm aus den Augen.

»Es tut mir leid, Schatz, aber das ist ein Standardschritt.« Maya hielt ihm ihre Hand hin. »Wenn du möchtest, bringe ich ihn dir morgen bei.«

»Warum willst du dir solche Mühe machen?« D’arvan raffte sich mühsam auf und griff nach seinem Umhang, der in der Nähe an einem Zweig hing. Dann wischte er sich mit dem Saum über sein schmutziges Gesicht, bevor er sich den Umhang über die Schultern warf. »Wir versuchen das jetzt seit fast zwei Wochen, und ich kann immer noch kaum das eine Ende des Schwertes vom anderen unterscheiden.«

»Das kommt schon, keine Angst. Zwei Wochen sind überhaupt nichts in der Ausbildung mit dem Schwert – vor allem dann nicht, wenn man in deinem Alter bei Null anfangen muß.«

Ihre Worte trugen nicht im mindesten dazu bei, seinen Ärger zu beschwichtigen. »Also ist es mein Alter, ja? Es sieht wirklich so aus, als hätte ich keine Chance. Wenn Eilin mich in der Magie unterweist, behandelt sie mich wie ein Kind, und jetzt kommst du und erzählst mir, ich wäre ein Greis!«

»Wenn du dich so benimmst wie jetzt, kann ich nicht umhin, zu glauben, daß Eilin irgendwie recht hat!« fuhr Maya ihn an.

Als D’arvan ihren finsteren Gesichtsausdruck bemerkte, versuchte er, seine schlechte Laune abzuschütteln, denn er hatte Angst, die Liebe, die zwischen ihnen erblüht war, zu gefährden. Er brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Es tut mir leid, Maya – ich weiß, daß ich heute morgen besonders unleidlich bin.« Er legte seinen Arm um ihre Schultern, und gemeinsam gingen sie zurück zum Turm. Er zitterte, und das lag nicht nur an der Abkühlung seines Körpers an diesem frostiggrauen Wintertag. »Ich habe letzte Nacht nicht gut geschlafen. Jedesmal, wenn ich meine Augen schloß, hatte ich Alpträume.«

»Warum hast du mich nicht geweckt?« Die Kriegerin schloß ihren Arm fester um seine Taille, und in ihrer Stimme lag großes Mitleid. »Was hast du denn geträumt, das so schrecklich war?«

»Es war mein Bruder – nun ja, Halbbruder. Ich habe immer wieder geträumt, daß er sich mit einem Messer an mich heranschlich – um mich zu töten, so wie er es schon einmal versucht hat.« D’arvan schluckte schwer, immer noch im Bann seiner unseligen Träume. Er spürte eine starke Spannung zwischen seinen Schulterblättern und eine unnatürliche Trockenheit in der Kehle – ein lauerndes, alles beherrschendes Entsetzen, das von dem herannahenden Meuchelmörder, dem verborgenen Messer in der Dunkelheit ausging.

»Nun, das überrascht mich nicht, wenn man bedenkt …« Maya blieb urplötzlich stehen und drehte sich mit weit aufgerissenen Augen zu ihm um. »D’arvan, meinst du nicht, es könnte etwas an deinem Traum sein? Ich will sagen, ihr beide wart doch immer so eng miteinander verbunden. Du glaubst doch nicht, daß er herausgefunden hat, wo du bist, und jetzt herkommt …«

D’arvan keuchte, als ihm die Wahrheit dämmerte, die zu sehen seine eigenen Ängste ihm unmöglich gemacht hatten. Ihre Instinkte waren immer viel sicherer als die seinen. »O ihr Götter – Eilin!« rief er. »Er wird zum Turm kommen, schnell!« Er riß Mayas Schwert aus der Scheide und stürzte durch die Bäume davon. Die Kriegerin hatte mit ihren kürzeren Schritten Schwierigkeiten, ihm zu folgen.

»D’arvan, du Narr, warte!« rief sie hinter ihm her. »Du kannst nicht …« Aber er hatte sie schon weit hinter sich gelassen.

D’arvan hatte den Rand des Waldes, der sich bis an die Wiesen des Seeufers erstreckte, beinahe erreicht, als Eilin einen verzweifelten Gedankenruf um Hilfe ausstieß, einen Schrei, der ihn bis ins Innerste traf. Keuchend verdoppelte er seine Anstrengungen und kämpfte sich durch Äste, die ihm wie Peitschen auf die Brust und ins Gesicht schlugen; über Wurzeln, die sich zu erheben und nach ihm auszustrecken schienen, die sich um seine Knöchel und seine Knie schlangen. Er war zu beschäftigt mit den Gedanken an seinen Bruder, um sich zu fragen, warum der Wald plötzlich soviel dichter schien, sein Weg soviel länger, als es früher der Fall gewesen war. Davorshan! Wie war es ihm gelungen, an den Wölfen, die das Tal bewachten, vorbeizuschleichen! D’arvan brachte keuchend einen Fluch hervor. Wenn er doch nur seinen Träumen mehr Beachtung geschenkt hätte!

Als er das Seeufer erreichte, blieb er voller Verwirrung und Entsetzen wie angewurzelt stehen. Der Waldrand reichte nun bis an den See und grub sich mit seinen schlangenartigen Wurzeln in den weichen Untergrund. Der schöne, grasbewachsene Hang zum See hin war zerwühlt und zerstört. Das war nicht die einzige Veränderung. Der Inselturm war nicht mehr wiederzuerkennen. Gewaltige Ranken kletterten an den einst so glatten Mauern in die Höhe, gruben sich mit ihren unzähligen Wurzeln in die Steine und hämmerten mit ihren dicken, hin- und herschwingenden Ästen auf das gehärtete Kristall der Fenster. Dichte, dornige Brombeeren und Schlehen hatten die Holzbrücke und den Bogen vor der Tür zum Turm in ihrem Würgegriff.

Am diesseitigen Zugang der Brücke hatten sich die Apfelbäume aus Eilins Obstgarten zu einem engen Knoten verschlungen. D’arvan sah voller Erstaunen, wie aus jedem Ast mit unheimlicher Geschwindigkeit Früchte hervorbrachen, die es zu dieser Jahreszeit eigentlich gar nicht geben durfte, und während er noch über den Grund dafür nachdachte, schnellte einer der Äste plötzlich zurück und schoß ihm einen Apfel entgegen wie einen Stein aus einer Schleuder. Er duckte sich, aber die harte Frucht traf seine Schulter mit schmerzhafter Gewalt und verpaßte sein Gesicht nur um wenige Zentimeter. Ein wahrer Hagel von Äpfeln folgte dem ersten und zwang D’arvan, zu seinem Schutz hinter einem Baum Zuflucht zu suchen; aber die Wurzeln des Baumes begannen sich in einem Schauer von Erde aus dem Boden zu ziehen, und D’arvan Versteck bewegte sich, um den Obstbäumen einen direkten Beschuß ihres Zieles zu ermöglichen. Das gesamte Tal war in Aufruhr, jedes Ding, das wuchs, eilte hastig zur Verteidigung von Eilin herbei, der Herrin der Erdmagie. Und da sie D’arvan versehentlich für einen Eindringling hielten, hinderten sie ihn daran, ihr zu Hilfe zu eilen. Mit beiden Händen faßte er Mayas Schwert und begann verzweifelt und gedankenlos in seiner Hast auf die ihn umgebenden Äste einzuschlagen.

Ein finsteres Rascheln lief durch die Reihen der Bäume. Ein glutroter Nebel erhob sich schlingernd zwischen den Ästen, die nach ihm griffen – der Zorn des Waldes. Ein Geräusch wie das pfeifende Heulen des Sturmwinds füllte die Ohren des Magusch, während die Äste begannen, sich hin und her zu werfen und mit ihren Zweigen wie mit knochigen Fingern nach seinem Haar und nach seinen Augen zu greifen und an seinen Kleidern zu zerren. Blut troff von seinen Fingerknöcheln, als die Zweige nach seinen Händen schlugen, und versuchten, ihm das Schwert zu entreißen. Weit, weit weg, so schien es, hinter dem fauchenden, tobenden Lärm des Waldes, hörte er Maya um Hilfe schreien. Hin- und hergerissen versuchte D’arvan, zu ihr zurückzugelangen, aber ein dichtes Gestrüpp aus Stechpalmen, die nur so strotzten vor glänzenden, dolchscharfen Blättern, versperrte ihm den Weg. Der Wald, der sich sein Zögern zunutze machte, warf ihm Wurzeln wie erdverkrustete Tentakel um die Knöchel. Ein scharfer Ruck, und er lag auf dem Boden; dann begannen die Wurzeln, ihn fortzuziehen. – tiefer hinein in das unergründliche Herz des Waldes. Wilde Rosen schlangen sich um seine Hände und gruben die Abdrücke scharfer Stacheln in die zarte Haut seiner Handgelenke und seiner Finger, die noch immer den Griff des Schwertes umklammert hielten. Staubteufel wirbelten über den Boden und bewarfen ihn mit toten Blättern, Erde und Kieselsteinen, die ihm in den Augen brannten.

»Hilf mir!« Da war er wieder, Eilins Schrei. Mittlerweile schwach und voller Verzweiflung, brannte er sich wie ein Feuer durch D’arvans Gedanken.

»Ich kann nicht!« stieß er laut hervor, und Tränen des Schmerzes und der Frustration liefen ihm übers Gesicht. Seine Kleider waren an Knien und Ellbogen bereits vollkommen zerfetzt, und die Haut darunter war blutig aufgerissen. Seine Hände wurden langsam taub, weil die sich immer fester zuziehenden Schlingen der Ranken den Blutkreislauf abschnitten. Schon bald würde er das Schwert nicht mehr festhalten können, und dann hätte er keine Möglichkeit mehr, seiner Lehrerin zu Hilfe zu eilen …

Natürlich! Du Narr! Wo war er nur mit seinen Gedanken gewesen? Er war doch selbst ein Erdmagusch! Kein Wunder, daß der Wald ihn für einen Feind gehalten hatte, nachdem er wie irgendein törichter, unwissender Sterblicher auf ihn eingeschlagen hatte! Mit allen Kräften versuchte er, seine wirbelnden Gedanken zu konzentrieren, um sich daran zu erinnern, was die Lady Eilin ihm während der vergangenen Wochen beigebracht hatte. Dann endlich gelang es ihm, seine Kräfte zu sammeln, und er versuchte, mit seinen Gedanken den Wald zu erreichen – das Herz des Waldes, seine Seele.

Der Wald erwiderte seine Versuche mit heißem Zorn. Sein Verstand wurde eingehüllt hinter einem Nebel siedendheißer Wut. Aber D’arvan ließ nicht locker. Ich bin ein Freund! Ein Freund! Ich will mit euch der Lady helfen! Versteht doch, ich bin ein Erdmagusch, ihr eigener Schüler. Seht ihr? Flehentlich öffnete er sich dem Wald, wie Eilin es ihm gezeigt hatte, und ließ sich prüfen. Er rief die feuchten, berauschenden Düfte des erwachenden Frühlings herbei und den altehrwürdigen Moschus der Mutter Erde, die den Samen in sich aufnimmt; das gescheckte Sonnenlicht im Schatten der Buchen und den diamantenen Tanz des lebendigen Baches; das Silber des Mondlichts und die Seide des Morgennebels; das strahlend weiße Leichentuch der Wintertrauer und die alles durchdringende Fülle des Herbstfeuers.

Und etwas veränderte sich. Wie mit dem Umdrehen eines Schlüssels im Schloß, wie das Fallen von Ketten, wie das Offnen der Klauen des Winters, die das Land mit der Ankunft des Frühlings aus ihrem Würgegriff entließen – genauso war jetzt der Wald bereit, ihn zu akzeptieren. Das Heulen erstarb zu einem gedämpften Murmeln, und D’arvan verspürte unendliche Erleichterung, als der Zorn der Bäume nicht länger auf ihn einhämmerte. Die Wurzeln und Ranken lösten ihren Griff und fielen zu Boden, und vor ihm öffnete sich ein Pfad über den aufgewühlten Boden und die Brücke hinweg vor die Tür des Turmes. Mühsam kam D’arvan auf die Beine, dann rannte er los; nur ein einziger, irriger Zweig schlug ihm hart auf den Rücken, um ihn auf seinem Weg voranzutreiben.

Die Ranken, die sich über die Tür gezogen hatten, fielen mit einem schlangenartigen Rasseln hernieder, als D’arvan mit dem Schwert in der Hand näher kam. Als er an ihnen vorbei in die Küche lief, fragte er sich, ob sie wohl hinter ihm herkommen würden, aber irgendeine Gewalt schien sie davon abzuhalten, in das Gebäude einzudringen. Als er die Wendeltreppe erreicht hatte, fand der junge Magusch auch den Grund dafür. Er taumelte zurück und würgte, als er den Geruch böser Magie wahrnahm. Keuchend und mit überströmenden Augen quälte er sich Schritt für Schritt die Metallstufen hinauf, wobei er die glatte Wölbung des Treppengeländers als Halt benutzte.

Die oberen Räume, die von der Treppe abzweigten, waren vollkommen verwüstet. D’arvan zuckte zusammen, als er das Chaos in jedem Zimmer sah. Die Fenster waren zersprungen, die Holzbänke umgeworfen und zersplittert, die zarten jungen Setzlinge zerfetzt und zertrampelt. Jetzt, da er sich dem Gebrauch seiner Kräfte geöffnet hatte, konnte der Magusch das Elend der Pflanzen beinahe körperlich spüren; ihre winzigen, lautlosen Schmerzensschreie gellten durch seine Gedanken und zerrissen ihm das Herz. Aber von Eilin oder Davorshan war nirgends etwas zu sehen, und so sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht länger, Eilins Gedanken zu erreichen. Während er weiter nach oben stieg, suchte er in jeder einzelnen der verlassenen Kammern und fand nur überall dieselbe entsetzliche Zerstörung. Dann, als er um die letzte Biegung der Treppe ging, blieb er plötzlich stehen. Am oberen Ende der Treppe stand eine Gestalt mit einem Schwert in der linken Hand, von dem das Blut herabtropfte. Davorshan. Bei D’arvans Anblick verzog sich sein Gesicht zu einem grausamen, höhnischen Grinsen. »Sei gegrüßt, Bruder«, sagte er. »Dich zu finden hat länger gedauert, als ich dachte – aber dein Tod wird mich für all die Tage des Umherirrens auf diesen verfluchten Mooren entschädigen.« Dann hob er die Klinge und machte, Mord in den Augen, einen Schritt nach vorn.

Davorshan war oben auf der Treppe in der günstigeren Position – das zu beachten hatte D’arvan von Maya gelernt. Während er seine Klinge mit einer Hand umklammerte, die plötzlich feucht und glitschig vor Schweiß geworden war, begann der Erdmagusch langsam rückwärts die Treppe herunter zu gehen, wobei er sich vorsichtig von einer Stufe zu anderen herabtastete, denn er wußte, wie töricht es gewesen wäre, den Blick auch nur für einen Augenblick von seinem Bruder abzuwenden. Davorshans Haß grub sich wie ein Feuerstrahl in sein Gehirn, wie der Zorn des Waldes, nur tiefer, enger, viel vertrauter. Sie waren so viele Jahre lang miteinander verbunden gewesen – wie gut sein Bruder ihn doch kannte. Unerbittlich fraß sich Davorshans Grausamkeit in sein Gehirn, weckte all die Ängste und Selbstzweifel, die dort lauerten, und wischte allen Mut und alles Vertrauen beiseite. »Halbblut!« schleuderte sein Bruder ihm entgegen. »Rückgratloser, feiger, machtloser Bastard! Hast du wirklich geglaubt, es würde funktionieren, D’arvan – einfach wegzulaufen, um dich hinter den Rockzipfel der Lady Eilin zu verstecken? Ach, und was haben wir denn hier?«

Sein gnadenlos suchender Wille grub eine Erinnerung aus – für D’arvan die kostbarste von allen. »So!« Davorshans grausames Gelächter verhöhnte ihn. »Was hast du dir denn dabei gedacht, Brüderchen? Du mußtest also eine kleine, sterbliche Hündin bespringen, da du nichts Besseres haben konntest. Ist sie gut, D’arvan? Vielleicht probiere ich sie aus, nachdem ich dich umgebracht habe. Oder vielleicht tu ich es auch vorher, damit du zusehen kannst. Wo ist sie, hm? Wo hast du deine sterbliche Schlampe versteckt?«

Heißer Zorn überflutete D’arvan. Seine Hand, die das Schwert umklammert hielt, begann zu zittern. Aber Mayas Ausbildung war nicht umsonst gewesen. Sie hatte ihm beigebracht, sich auf keinen Fall von durchsichtigem Hohn übertölpeln zu lassen. Statt dessen begann er, seine Kräfte zusammenzunehmen, während er gleichzeitig immer weiter zurückwich und überlegte, welche Aspekte seiner Erdmagie er gegen seinen Bruder einsetzen konnte. Die Pflanzen dort oben waren zu klein, aber … Konnte er die Ranken, die den Turm umschlangen, zu Hilfe rufen? Wenn sie es schaffen konnten, durch ein Fenster zu brechen …

»O nein, das wirst du nicht tun!« Davorshans Stimme war ein wütendes Knurren. »Ich werde hier nicht meine Zeit mit einem magischen Wettstreit verschwenden, D’arvan – nicht auf ihrem Terrain.«

»Ach?« D’arvan hob die Hand, bereit zum Schlag.

»Ich warne dich! Willst du vielleicht für Eilins Tod verantwortlich sein?«

D’arvan hielt mitten in der Bewegung inne, und sein Blick flackerte unwillkürlich an seinem Bruder vorbei die Treppe hinauf.

»Gut gemacht«, höhnte Davorshan’ »Endlich merkst du es. Wenn sie gestorben wäre, hättest du es gespürt.«

»Wo ist sie?« rief D’arvan. »Was hast du mit ihr gemacht?«

Davorshan zuckte mit den Schultern und hielt sein bluttriefendes Schwert in die Höhe. »Verlaß dich nicht darauf, daß sie dir zur Hilfe kommt, obwohl du mir nicht genug Zeit gelassen hast, die Sache zu Ende zu bringen. Aber wenn du diese Sache hier mit Magie erledigen willst, dann denk daran, wo meine Talente liegen. Ich kann das Wasser des Sees anschwellen lassen, um diesen Turm zu versenken. Und wenn der Turm zusammenbricht, wo wird dann Eilin sein, hm?«

»Du Bastard!« stieß D’arvan durch zusammengebissene Zähne hervor.

»Nein, Bruder. Der Bastard bist du. Das hat Eliseth mir erzählt. Du hast mein ganzes Leben lang meine Kräfte aufgesogen – die Kräfte, die rechtmäßig mein hätten sein sollen –, und wenn ich dich töte, dann werden sie endlich mir gehören. Du hättest nie geboren werden dürfen!«

So also hatte Eliseth es geschafft, ihn zu seinem Treuebruch zu bewegen. D’arvan spürte den Haß seines Bruders, die brennende Gier und den unvernünftigen Zorn, die ihn verzehrten. Wenn diese Gefühle ihren Höhepunkt erreichten, würde Davorshan angreifen. D’arvan suchte vorsichtig mit dem Fuß nach der nächsten Stufe unter ihm und stellte fest, daß er auf einem Treppenabsatz, der zu einem der Turmzimmer führte, angelangt war. Ein Plan schimmerte in seiner Vorstellung auf. Er verzog die Lippen zu einem breiten, höhnischen Grinsen. »O nein, mein Bruder, da irrst du dich. Eilin hat mir die ganze Geschichte erzählt. Ich bin ein Kind der Liebe. Barvordran hat Adrina gehaßt, und dich hat sie nur bekommen, um seine Verdächtigungen zu beschwichtigen. Ich mag zwar der Bastard sein, aber du bist derjenige, der nie hätte geboren werden dürfen!«

»Lügner!« Davorshan stürmte mit verzerrtem Gesicht die Treppe herunter, und sein blutiges Schwert wirbelte durch die Luft. D’arvan warf sich zur Seite in die offene Tür des Turmzimmers und streckte den Fuß vor, so wie er es erst an diesem Morgen Maya hatte tun sehen. Er spürte einen heißen Ruck in seinen gequälten Muskeln, als sein Bruder mit seinem ganzen Körpergewicht sein Bein zur Seite stieß und ihn aus dem Gleichgewicht brachte, aber noch während er fiel, hörte er ein Dröhnen und Klirren, als Davorshan kopfüber die Metalltreppe herunterfiel. Es hatte funktioniert!

D’arvan benutzte eine der umgekippten Bänke, um sich wieder aufzurichten, und der Schweiß trat ihm auf die Stirn, als Feuer und Eis sich qualvoll durch sein verletztes Bein bohrten, das sein Gewicht nicht länger tragen konnte. Er taumelte und fiel abermals.

Dann stieß er einen von Mayas Lieblingsflüchen aus, zog sich zur Treppe und begann, Stufe um Stufe herunterzurutschen, auf dem Hintern, wie er und Davorshan es als Kinder so oft getan hatten. Die Erinnerung daran schmerzte wie ein Messer, das in einer Wunde herumgedreht wurde, aber die Kindheit war nun vorüber, und der Seelengefährte jener Tage hatte sich zu einem mordenden Monster entwickelt. Er mußte das untere Ende der Treppe erreichen, um Davorshan zu töten, falls dieser noch lebte, denn sonst würde sein Bruder mit Sicherheit ihn töten.

Als er unten angekommen war, war sein Gesicht von Schweiß und Tränen überströmt. Davorshan lag bäuchlings und vollkommen regungslos auf den breiten Küchenfliesen am Fuße der Treppe. D’arvan betete, daß er bereits tot war. Der Griff des Schwerts war wie Eis in seiner zitternden Hand, als er sich auf die unterste Stufe kauerte, direkt über seinen Bruder. »O ihr Götter«, betete er, »bitte zwingt mich nicht dazu, das zu tun!« Aber gerade in diesem Augenblick stöhnte Davorshan leise, bewegte sich und rollte sich auf den Rücken. Obwohl seine Augen bereits glasig waren, konnte D’arvan den unversöhnlichen Haß spüren, der seine Gedanken verzerrte. Jetzt und immer. Endlich konnte D’arvan der Wahrheit ins Gesicht sehen und sie akzeptieren. Dann hob er das Schwert mit beiden Händen hoch über seinen Kopf und jagte die Spitze durch das Herz seines Bruders – und ein unaussprechlicher Schmerz durchbohrte seine eigene Brust, als ihre Gedanken sich ein letztes Mal verbanden. Mit einem lauten Aufschrei krümmte D’arvan sich zusammen.

»Bruder …« Davorshans gebrochenes Flüstern huschte durch D’arvans Denken, als die Seele seines Bruders aus seinem Körper floh. D’arvan spürte, wie der Schmerz in seiner Brust jenem alles versengenden Krampf wich, der das Hinscheiden eines Magusch kennzeichnete. Eines Magusch, der von seiner Hand gestorben war.

»D’arvan!« Mayas rauhe Stimme war ein Sonnenstrahl, der sich durch den dunklen Brunnen seiner Trauer bohrte. Wie betäubt hob er den Kopf, um zu ihr aufzusehen. Sie ließ sich neben ihn auf die Treppe sinken und legte ihre Arme um ihn. Die Tränen, die er selbst zu vergießen nicht in der Lage gewesen war, fluteten nun über ihr Gesicht, und er wußte, daß sie verstand. Aber ihre Stimme war, als sie wieder sprach, überraschend sachlich. »Du hast ihn getötet.«

Diese Feststellung bedurfte keiner Antwort.

»So, wie die Dinge liegen, wird er nicht der letzte sein«, fuhr Maya fort. »Es ist niemals leicht, für die meisten von uns jedenfalls. Und es sollte auch nie leicht sein. Alles, was wir versuchen können, ist, uns ein wenig davon zu distanzieren und weiterzuleben, so gut wir können. Aber ich verspreche dir, daß es niemals mehr so schlimm sein wird wie bei diesem ersten Mal. Das Schlimmste ist jetzt vorbei, mein Geliebter.«

D’arvan klammerte sich an sie, seltsam getröstet von ihren schroffen Worten. Wie sehr es seiner Maya doch ähnlich sah, Mitleid und gesunden Menschenverstand im gleichen Atemzug zu Wort kommen zu lassen. Wie glücklich er war, sie in all dieser Zerstörung, in all diesem Stoben bei sich zu haben … »Eilin!« Seine Stimme brach. »Maya, sie ist oben. Verletzt – schlimm, glaube ich.«

»Sieben verdammte Dämonen!« Maya sprang auf die Füße. »Wo?«

»Ganz oben.« Er versuchte aufzustehen und sank dann mit einem Schmerzensschrei wieder auf die Treppe.

Sie fuhr heftig herum. »Bist du verletzt?«

»Ich habe mir das Bein verrenkt, als ich diesen Schritt, den du mir beigebracht hast, gemacht habe. Geh du schon vor – ich komme nach, so gut ich kann.«

Maya biß sich auf die Lippe, nickte und lief nach oben.

D’arvan kam nur langsam und unter großen Schmerzen vorwärts; er mußte sich am Treppengeländer festhalten und sich mit seinem gesunden Bein, so gut es ging, hinaufziehen. Er war erst halb oben, als er das Klirren gestiefelter Füße auf den Metallstufen hörte und Maya an der Biegung der Treppe wieder auftauchte. Als sie ihn sah, hielt sie in ihrem ungestümen Lauf inne. »Sie stirbt.«

Maya hatte recht. D’arvan wußte es sofort, als er die Lady Eilin sah, wie sie in der Zerstörung ihrer Gemächer wie ein zerknittertes Bündel Lumpen hilflos auf dem Boden lag. Er hatte nicht gewußt, daß ein einziger Körper so viel Blut enthalten konnte. Es war überall; verschmiert auf Bett und Wänden, in kleinen Pfützen auf dem Boden, auf ihren Gewändern, die an Dutzenden Stellen aufgeschlitzt und zerrissen waren. Ihre Haut hatte bereits die bleiche Durchsichtigkeit des unmittelbar bevorstehenden Todes. Maya lehnte ihn gegen die Wand, wo er sein ganzes Gesicht auf sein gesundes Bein verlagerte; dann lief sie wieder zu Eilin hinüber. Der alte D’arvan hätte sich angesichts dieses Entsetzens würgend abgewandt. Der neue D’arvan spürte zwar, wie sich seine Eingeweide zusammenzogen – aber vor Wut. In einem einzigen grimmigen Augenblick lösten sich seine Trauer und seine Schuldgefühle darüber, daß er Davorshan hatte töten müssen, in Luft auf.

»Ich werde das nicht zulassen.« Seine Stimme klang fremd und weit entfernt, sogar in seinen eigenen Ohren.

»D’arvan, es gibt nichts mehr, was wir für sie tun könnten.« Maya kniete neben Eilin, und ihre Stimme war von Trauer erstickt. »Nicht einmal ein Heiler könnte …«

»Aber mein Vater kann es.«

»Was?«

D’arvan war plötzlich ganz ruhig. Es war eine gefährliche Sache, eine verzweifelte Sache, aber es war auch ihre einzige Chance. »Maya, geh jetzt bitte hinaus. Ich will nicht, daß du in diese Geschichte verwickelt wirst.«

»Ich will verdammt sein, wenn ich mich von dir wegschicken lasse.« Sie rappelte sich auf, und ihre Hände und Knie waren blutbefleckt. »Du hast keine Zeit, dich deswegen mit mir zu streiten.« Sie hob den Stab der Lady Eilin vom Boden auf und reichte ihn D’arvan. »Hier. Das wirst du zur Unterstützung brauchen – und nicht nur in einer Hinsicht.«

»Stures Weib!« Er küßte sie auf den Mund, überwältigt von Liebe, und spürte, wie die Spannung in ihren Lippen dahinschmolz, als sie seine Umarmung erwiderte.

»Dickköpfiger Bastard!« gab sie zurück. »Sei vorsichtig, D’arvan.« Sie trat zurück, zog ihr Schwert aus der Scheide und warf es durch die Tür. »Man darf in der Nähe der Phaerie kein Eisen bei sich haben, heißt es in den Legenden«, erklärte sie.

»Ach, wirklich?« D’arvan ärgerte sich über sich selbst, weil er das nicht gewußt hatte. »Haben die Legenden sonst noch etwas Nützliches zu sagen?«

»Hm … . ja. Du mußt ihn mit drei wahren Namen rufen. Mach schnell, D’arvan.«

Während er sich auf den Stab lehnte, um sein verletztes Bein zu stützen, sammelte D’arvan seine Kräfte und schleuderte seine Gedanken und seinen Geist von sich, um irgendwie dieses mysteriöse Anderland zu erreichen, in dem angeblich die Phaerie hausten. Einmal mehr flehte er den Geist des Waldes herbei – seine Düfte und Farben, all die verschiedenen Stimmungen im Wechsel des Jahres: die Klänge schläfriger Bienen und bunter Vögel, das Rascheln der Blätter und das Rauschen der Bäche, das lautlose Huschen der Kaninchen und Eichhörnchen, die weichen, vorsichtigen Schritte der Hirsche und das verstohlene Dahingleiten von Füchsen und Wieseln. Dann holte er tief Luft und rief mit Stimme und Geist: »Hellorin! Waldfürst! Vater! Im Namen Adrinas, meiner Mutter, ich rufe dich!«

Nichts schien zu geschehen, und doch stand der Wald so klar, so wirklich vor seinen Augen, daß er beinahe sehen konnte, wie er um ihn herum Gestalt annahm. Die zerstörten Gemächer entzogen sich seinen Blicken, und wie durch einen wogenden Nebel sah er Bäume Gestalt annehmen – die mächtigen, silbernen Säulen der Buchen; eine stämmige Eiche, schwielig wie die Muskeln eines Riesen; biegsame Weiden und angriffslustige Stechpalmen, bewaffnet mit ihren Lanzen. Weißdorn, fröhlich wie eine blumengeschmückte Maid, und schlanke Ebereschen, ätherisch wie ein Traum. Durch die Bäume hindurch glitzerte sternenbeleuchtetes Wasser – plötzlich erkannte er den See mit seiner Insel, obwohl der Turm verschwunden war. Er konnte den würzigen Sommerduft des Grases riechen, das die kräftige Erde unter seinen Füßen bedeckte. Aber es war doch Winter draußen. Wie konnte das sein? D’arvans Augen weiteten sich. Maya stand mit weit geöffnetem Mund auf der Lichtung des Waldes, und ihre Hand griff automatisch nach ihrem fehlenden Schwert. Zu ihren Füßen lag die stille Gestalt von Eilin.

»Wer ruft den Waldfürst?« Die Stimme war tief und traurig wie der wilde Herbstwald, leicht und fröhlich wie eine Sommerbrise über den Baumwipfeln. Vor der gewaltigen Eiche stand eine Gestalt, die den riesigen Baum mit ihrer eigenen Größe vollkommen verdeckte. Die Gestalt war in schimmerndes, sich ständig erneuerndes Grau und Grün gehüllt und so unermeßlich groß, daß das Silber, das in ihren langen, dunklen Haaren funkelte, das Licht der Sterne war. Auf der Stirn des Mannes ruhte ein Diadem aus goldenen Eichenblättern, und darüber thronten die düsteren Verästelungen einer stolzen Hirschkrone. Als er wieder zu sprechen begann, war seine Stimme wie der Biß des Winters, wie die frohe Wärme eines neuen Frühlingstages. »Wer wagt es, den Fürst der Phaerie zu rufen?«

D’arvan wäre vor Ehrfurcht beinahe auf seine zitternden Knie gefallen. Er krampfte seine Finger fester um Eilins Stab und erinnerte sich daran, daß dieses Wesen sein Vater war. Dann verbeugte er sich tief, unfähig, irgend etwas zu sagen. Das hier überstieg seine kühnsten Vorstellungen. Was konnte man zu jemandem wie Hellorin schon sagen?

»Mein Fürst, gestatte mir, dir den Erdmagusch D’arvan vorzustellen – deinen Sohn.« Mayas rauhe Stimme durchschnitt das Schweigen.

»Was?« donnerte der Waldfürst und durchbohrte sie mit seinen Blicken. Blitze leuchteten in seinen Augen unter dunkel zusammengezogenen Brauen auf. Als er die Hand hob, schienen die Bäume selbst zu erzittern.

D’arvan stellte plötzlich fest, daß er sich wieder bewegen konnte. Er stützte sich auf den Stab, humpelte zu Maya hinüber und stellte sich schützend vor sie. »Es ist die Wahrheit!« rief er. »Ich habe dich bei deinem wahren Namen genannt: Vater – und du hast geantwortet. Meine Mutter war Adrina von den Magusch, und in ihrem Namen habe ich dich gerufen, denn wir brauchen dringend deine Hilfe. Die Lady Eilin, die Freundin meiner Mutter und Wächterin dieses Tals, liegt im Sterben.« Es sprudelte alles auf einmal aus ihm heraus. Vor D’arvans erstaunten Augen verschwand die ehrfurchtgebietende Gestalt.

D’arvan sah sich verzweifelt um. Dann trat sein Vater hinter einer Eiche hervor, auf eine normale, sterbliche Größe geschrumpft, aber nicht um einen Deut seiner Macht und Majestät beraubt. Grobe Muskeln traten auf seiner nackten Brust unter dem Umhang hervor. Starke Beine, in dunkle Hosen und hohe Stiefel gehüllt, standen weit auseinander auf dem Waldboden. Das geisterhafte Bild der geweihtragenden Stirn. Seine ernsten, königlichen Gesichtszüge und sein harter Mund waren nun weicher geworden, und der Ausdruck in seinen dunklen Augen verriet nicht das geringste von seinen Gefühlen. »Mein Sohn?« Die tiefe Stimme war sanft und erfüllt von tausend Fragen.

Der Waldfürst machte einen Schritt nach vorn, und starke Hände umklammerten D’arvans Schultern. Dunkle, unergründliche Augen forschten in seinem Gesicht, und D’arvan spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. »Mein Sohn«, murmelte Hellorin, und die Anfänge eines verwunderten Lächelns hoben die Ecken seines feingemeißelten Mundes. »Mein eigener Sohn, und ich habe nicht einmal gewußt, daß es dich gibt.«

»Vater …« flüsterte D’arvan. Dann ließ er den Stab fallen, schlang seine Arme um Hellorins breite Schultern, und dort, in der sternenbeleuchteten Waldlichtung, konnten Vater und Sohn einander endlich umarmen.

»D’arvan? Fürst Hellorin?« Mayas zögernde Stimme unterbrach die schweigende Vereinigung. Die Tränen in ihren Augen bezeugten, daß diese Vereinigung von Vater und Sohn auch die Schwertkämpferin nicht ungerührt gelassen hatte, aber wie immer praktisch veranlagt, zeigte sie auf Eilins niedergestreckten Körper. »Ich bitte um Verzeihung, meine Herren, aber die Lady ist in einem verzweifelten Zustand. Und vielleicht ist es schon zu spät.«

Der Waldfürst hob eine Augenbraue. »Wer ist diese tollkühne Person?« fragte er seinen Sohn.

»Das ist Leutnant Maya, eine unvergleichliche Kriegerin, eine treue und tapfere Kameradin und« – stolzer Trotz schwang in D’arvans Stimme mit, als er fortfuhr – »meine Lady.«

Der Waldfürst brach in Gelächter aus. Maya blickte finster drein, und D’arvan bedeutete ihr mit einer drängenden Geste, stillzuschweigen, denn er fürchtete den Wutausbruch, der unweigerlich kommen würde. »Ich vermag nicht zu sehen, was daran so komisch ist«, sagte er eisig.

Hellorin holte tief und keuchend Luft und wischte sich die Augen ab. »Ach, mein Sohn«, kicherte er. »Wie gut es tut, zu sehen, daß du schon jetzt die alten Traditionen unseres Volkes fortführst.«

»Was?« D’arvan war verblüfft.

»Hast du denn gar keine Ahnung von den Legenden?« fragte sein Vater, während in seinen Augen immer noch größte Heiterkeit „tanzte. »All diese Geschichten über die Phaerie, die Sterbliche verführen, um sie zu ihren Bräuten zu machen? Und zu Bräutigamen, was das betrifft, denn die Damen meines Volkes würden mir das Leben wahrhaftig schwermachen, wenn ich versuchen wollte, ihnen ihre gelegentlichen Chancen auf einen kräftigen, sterblichen Hengst streitig zu machen!«

Er wandte sich nun mit einer tiefen Verbeugung an Maya. »Lady Maya, ich fühle mich geehrt, die Erwählte meines Sohnes kennenzulernen, und ich entschuldige mich für meine ungehörige Heiterkeit. Meiner Meinung nach hat er wirklich eine sehr gute Wahl getroffen.« Sein Blick wanderte über ihren Körper wie eine Liebkosung; so offensichtlich und mit solcher Lüsternheit, daß D’arvan merkte, wie er plötzlich die Zähne zusammenbiß. Maya lief dunkelrot an und wußte nicht, ob sie empört sein oder sich geschmeichelt fühlen sollte. Dann richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf und sah Hellorin kalt in die Augen.

»Ich danke für deine Höflichkeit, Fürst, aber das ist kaum der richtige Zeitpunkt dafür. Könnten wir uns vielleicht der wirklich dringenden Angelegenheit zuwenden, deretwegen wir hier sind?«

D’arvan stöhnte und bedeckte mit einer Hand die Augen, und Hellorin brach in neuerliche Heiterkeit aus. »Eine exzellente Wahl, wahrhaftig! D’arvan, da hast du eine richtige Wölfin erwischt.« Seine Stimme wurde wieder nüchtern. »Hab keine Angst, kleine Kriegerin. Die Lady Eilin wird hier keinen weiteren Schaden leiden. Die Phaerie schätzen sie wegen ihrer Arbeit in diesem Tal, und ich würde es nicht zulassen, daß sie stirbt.

Indem ihr mich gerufen habt, habt ihr euch in mein Königreich gebracht, in dem die Zeit keinen Einfluß hat. Ihr Leben wird hier in der Schwebe gehalten – es wird geschützt und bewahrt. Aber ich muß wissen, wer verantwortlich für diese Freveltat ist und warum sie geschah. Ihr habt recht – das ist eine ernste Angelegenheit, und meine Instinkte sagen mir, daß sie nur Teil eines größeren Unglücks ist. Also wollen wir es uns bequem machen, Kinder. Erzählt mir, was sich in der Welt da draußen ereignet hat.«

Er machte eine kurze Handbewegung, und die Lichtung, auf der sie standen, zitterte und verschwamm. Die sie umgebenen Bäume wurden zu den Säulen einer großen Halle, und ihre Äste verbanden sich über ihren Köpfen zu einem Dach. An einer Seite, dort, wo die Stechpalmen mit ihren prachtvollen, blutroten Beeren gestanden hatten, loderte plötzlich ein Feuer in einem gewaltigen Kamin. Der Boden war von einem dunkelgrünen Teppich bedeckt. D’arvan keuchte. »Wahrhaftig, hier sieht es genauso aus wie in der Großen Halle der Akademie!«

»Und von wem, glaubst du, haben die Magusch den Entwurf gestohlen?« In Hellorins Stimme lag eine grimmige Spitze, die bei seinen nächsten Worten allerdings verschwand. »Kommt, setzt euch.«

D’arvan hob Eilins Stab auf, und Maya half ihm, zu einem tiefen, bequemen Sessel neben dem lodernden Feuer zu humpeln. Ein großer, grauer Hund hatte sich vor den Flammen ausgestreckt und nahm den ganzen Raum vor der breiten Feuerstelle ein. Obwohl Hellorin keine erkennbaren Befehle gegeben hatte, öffneten sich plötzlich die Türen am anderen Ende der Halle, und eine große, kupferhaarige Phaeriefrau trat ein, in Grün gewandet und so schlank wie die Weiden, denen sie ähnelte. Beim Anblick der blutüberströmten Fremden zog sie die Augenbrauen hoch.

»Melianne, würdest du uns bitte einige Erfrischungen bringen?« bat Hellorin sie. »Und übergib die Lady Eilin unseren Heilern.«

Meliannes braune Augen weiteten sich, als sie die Erdmagusch sah. »Lady Eilin! Mein Fürst, was für ein Unglück ist geschehen?«

»Genau das möchte ich jetzt herausfinden.« Er schickte sie mit einer Handbewegung fort. »Ruf die Phaerie zusammen, meine Liebe. Ich glaube, daß dieses Ereignis vielleicht das Ende unseres langen Wartens bedeutet.«

Die Augen der Phaerie begannen zu brennen. »Sofort, mein Fürst!« In einer lautlosen Explosion goldenen Lichtes verschwand sie. Hellorin kicherte, als er Mayas maßlose Verblüffung sah.

»Im allgemeinen benutzen wir die Türen«, sagte er trocken. »Melianne ist allerdings leicht erregbar.«

D’arvan war vollkommen erschöpft; die Ereignisse des Tages hatten ihn sowohl körperlich als auch geistig an die Grenzen seiner Kraft geführt. Zuerst dachte er, das Kräuseln in der Luft vor dem Kamin sei ein Trick, den der Feuerschein seinen müden Augen spielte. Dann hörte er Meliannes scharfe Stimme. Sie schien direkt aus der dünnen Luft zu kommen. »Barodh, du dummes Vieh. Geh mir aus dem Weg.«

Der Hund sprang auf und schlich sich schuldbewußt zu seinem Herrn. Dort, wo er gelegen hatte, begann die schimmernde Luft zu glühen, und es bildete sich eine Kugel goldenen Lichtes, die sich schließlich hob, um einen niedrigen, runden Tisch zu offenbaren. Auf dem schneeweißen Tischtuch prangten eine Flasche mit klarem, gelben Wein und drei kristallene Kelche. Den Rest des Platzes auf dem Tisch nahmen Brot und Früchte ein, und der wunderbare Duft des Essens ließ D’arvan das Wasser im Mund zusammenlaufen. Aber ein Schrei von Maya lenkte seine Aufmerksamkeit davon ab. »Eilin!«

Er fuhr in seinem Sessel herum, gerade rechtzeitig, um noch zu sehen, wie der Körper der Erdmagusch von demselben goldenen Licht umfangen wurde. Noch während er hinsah, war sie plötzlich verschwunden.

»Keine Angst, Maya.« Hellorins Stimme klang beschwichtigend. »Meine Heiler übertreffen die der Magusch noch bei weitem. Eßt, Kinder, und ruht euch aus – und erzählt mir eure Geschichte.« Er goß ihnen Wein ein und reichte ihnen die funkelnden Kelche. Maya, die gerade einen Schluck davon nehmen wollte, zögerte plötzlich, und der Waldfürst lächelte. »Wieder einmal die Legenden, Maya? Nun, du brauchst dir in diesem Fall keine Sorgen zu machen. Wenn ihr unser Essen eßt und unsere Getränke trinkt, werdet ihr euch dadurch nicht weiter in meine Macht begeben, als ihr es bereits getan habt.«

D’arvans und Mayas Blicke begegneten sich, und der Magusch zuckte die Achseln. Das war schließlich sein Vater, und er hatte ihnen bisher nur geholfen. Er nahm einen Schluck von dem Wein und sah, daß Maya es ihm gleichtat, obwohl sie immer noch mißtrauisch schien. Irgendwie wärmte ihn der Gedanke, daß sie ihm sogar hierher gefolgt war, noch mehr als das Getränk, das wahrhaftig kräftig genug war. D’arvan spürte, wie es durch seinen Körper rann, als brenne sich ein flüssiges Feuer durch seine Adern. Seine Müdigkeit verschwand, und der Raum um ihn herum wurde plötzlich wieder vollkommen klar. Der krampfartige, heiße Schmerz in seinem verletzten Bein löste sich auch, als hätte es ihn nie gegeben.

Hellorin drängte sie zu essen, und während sie das taten, erzählte D’arvan ihm von Miathans Verrat, von dem Bruch des Maguschkodex und davon, wie die Magusch nach und nach dem Bösen anheimgefallen waren. Hellorin sagte nichts, bis D’arvan am Ende seiner Geschichte angelangt war und von Davorshans Angriff auf Eilin und dem Tod seines Bruders berichtete, gefolgt von ihrem verzweifelten Hilferuf an den Phaeriefürsten. Als er schließlich schwieg, sprang sein Vater von seinem Stuhl auf und schwenkte seine Faust mit einer Geste des Sieges gen Himmel. »Endlich!« rief er. »Endlich!« Draußen in der Halle erhob sich ein Chor jubelnder Phaeriestimmen in wilder Freude. Maya sprang mit einem Ausruf des Entsetzens auf die Füße.

»Vater!« D’arvans schockierte Stimme durchbrach das Frohlocken des Waldfürsten. Schwer atmend setzte Hellorin sich wieder auf seinen Stuhl.

»O mein Sohn«, stieß er hervor, »wenn du nur wüßtest, wie sehr wir in all den endlosen Jahren auf diese Nachricht gewartet haben! Um Himmels willen, setz dich wieder, Mädchen!« Er zeigte gereizt auf Maya, die immer noch aufrecht dastand, während ihre Augen die Halle nach irgendeiner Waffe absuchten.

»Mein Fürst, wie kannst du frohlocken angesichts einer so furchtbaren Geschichte?« fragte D’arvan mit kaltem Vorwurf.

»Hast du meine Mutter vergessen? Ich bin Magusch so gut wie Phaerie, und du verhöhnst meine Trauer wie die all der Menschen, die unter diesem Bösen zu leiden haben.«

Hellorin sah seinen Sohn ausdruckslos an, aber seine nächsten Worte klangen sehr weich. »Ich möchte mich bei euch beiden von Herzen entschuldigen. Bitte, Lady Maya, setz dich wieder und laß mich erklären, dann wirst du vielleicht meine unziemliche Freude begreifen.«

Maya warf ihm einen wilden Blick zu. »Das will ich hoffen«, knurrte sie.

»Man hat euch gelehrt, daß das Universum von Zufall und Gleichgewicht zusammengehalten wird«, begann Hellorin, während er sich etwas Wein nachschenkte. »Ihr wißt vielleicht nicht, daß die Magusch in diese Welt gebracht wurden, um das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten und zu bewachen, so wie andere in andere Welten geschickt wurden, damit der Zufall sie nicht in ihren Würgegriff bekam und das Universum dem Chaos anheimfiel, dem Bankert des Zufalls.«

Die Kriegerin klopfte nach wir vor gereizt auf die Armlehne ihres Sessels.

»Geduld, Maya. Um eine lange Geschichte abzukürzen: Wir Phaerie waren immer, nun ja, ziemlich unberechenbar, und wir verfügen über große Kräfte der Alten Magie. Das alte Maguschvolk hat uns gefürchtet, denn es hielt uns für Handlanger des Zufalls, was in gewisser Weise der Wahrheit entsprach. Es gelang ihnen schließlich, uns aus der Welt auszuschließen – uns in diesem Anderswo gefangenzusetzen, das wir nicht verlassen können, es sei denn, man ruft uns. Und seitdem leben wir an einem Ort, von dem aus wir die Ereignisse auf der Welt nicht beeinflussen können. Wir sind außerdem nicht in der Lage› hier untereinander Kinder zu zeugen – daher auch unsere ständige Suche nach Sterblichen oder Magusch, um unsere Rasse zu vergrößern.«

D’arvan erstarrte. »Du meinst, du hast meine Mutter benutzt …«

»Nein – niemals!« Hellorin streckte die Hand aus, um seinen Arm zu berühren. »Glaubst du, wir Phaerie sind Monster? Kein Kind wird uns geboren, es sei denn durch die tiefste Liebe.

Es zerriß mir das Herz, als Adrina nach Nexis zurückkehrte, um dieses lächerliche Versprechen zu erfüllen, das sie ihrem Vater gegeben hatte. Ich habe geweint und getobt und geflucht. Ich hatte nur den einen verzweifelten Wunsch: ihr nachzugehen – sie zu finden und sie nach Hause zu bringen. Aber ich konnte nicht von hier weg, es sei denn, man rief mich, und das hat niemand getan – bis es zu spät war.« Seine Stimme war von Trauer erstickt.

»Oh, Vater«, flüsterte D’arvan, zu bewegt, um mehr zu sagen.

Hellorin nahm einen tiefen Schluck von seinem Wein. »Nun versteht ihr vielleicht, warum wir mit den Magusch nicht gut Freund sind. Sie haben uns seit vielen, langen Zeitaltern unserer Freiheit beraubt, und sie waren im Unrecht, als sie das taten. Seht ihr, der Zufall ist für die Welt genauso wichtig wie das Gleichgewicht. Ohne uns begannen die Magusch stillzustehen; sie wurden immer in sich gekehrter, stolzer und selbstherrlicher. In ihrem Stolz schufen sie die vier großen Artefakte der Macht, von denen der Kessel nur eines ist. Als die Verheerung kam, wären wir ihnen beinahe entkommen, aber nur beinahe. Dann, in unserem bittersten Augenblick, keimte unsere größte Hoffnung. Das Schwert der Flamme, die mächtigste der vier Waffen, wurde uns von ihren Schöpfern zur Aufbewahrung übergeben, denn sie wollten, daß es aus der Welt herausgenommen wurde, bis der Eine käme, für den es geschmiedet war. Wenn die Zeit käme, so sagten sie uns, müßten wir es der Welt zurückgeben und Fallen und Wachen aufstellen, damit es um keinen Preis in die falschen Hände gerät.«

›Aber woher sollen wir wissen, wessen Hand bestimmt ist, dieses Schwert zu führen?‹ fragten wir.

»Das wird eure Prüfung sein‹, antworteten sie uns.

›Woher sollen wir wissen, wann das Schwert gebraucht wird?‹ fragten wir weiter.

›Ihr werdet es wissen‹, sagten sie. ›Eine Zeit wird kommen, da wird das Maguschvolk dahinschwinden und versagen und übereinander herfallen wie Wölfe. Bruder wird Bruder töten und der Ehrgeiz die Treue verraten und die Welt in großes Dunkel versinken. Dann ist die Zeit gekommene ›Aber wie sollen wir der Welt das Schwert zurückgeben?‹ fragten wir. ›Wie können wir es bewachen, da wir doch machtlos sind?‹

›Das‹, sagten sie, ›ist euer Probleme Also fragte ich sie: ›Was ist unsere Belohnung dafür, diese große Aufgabe zu übernehmen? ‹«

Hellorin hielt inne, und seine Augen glänzten. »Sie versprachen uns unsere Freiheit, versprachen uns, daß wir mit dem Schwert den alten Zauberbann überlisten und zurück in die Welt kommen könnten. Wie schworen ihm Treue, ihm und dem Einen, der es ergreifen wird. Wenn er es für sich beansprucht, werden wir ihm zurück in die Welt folgen, um an seiner Seite gegen das Böse zu kämpfen. Wenn wir das Böse überwunden haben, werden wir frei sein, so, wie wir es früher waren. Frei, meine Kinder!«

»Wenn Bruder Bruder tötet«, flüsterte D’arvan. »Die Zeit ist also gekommen. Aber wie willst du das Schwert zurückgeben, Vater? Wie willst du es bewachen?«

Der Waldfürst versuchte, D’arvans Blick auszuweichen. Er starrte reglos ins Feuer, und sein Gesicht war überschattet von Schmerz. Das Schweigen zwischen ihnen zog sich in die Länge.

»Ich gehe davon aus, mein Fürst, daß du die Absicht hast, dazu uns zu benutzen«, sagte Maya geradeheraus.

Endlich blickte Hellorin wieder auf und nickte. »D’arvan, es tut mir leid«, sagte er. »Es gibt uralte Gesetze, die den Umgang mit den Phaerie regeln. Gesetze, die ich selbst vor langer Zeit zum Schutze meines Volkes geschaffen habe. Als du mich gerufen hast, hast du dich diesen Gesetzen unterworfen, und ich kann sie nicht ändern, nicht einmal für meinen Sohn. Du hast eine Gunst von mir erbeten – die Rettung der Lady Eilin –, so wie seinerzeit die Lady mich gebeten hat, ihr Kind zu finden, und ich habe euch beiden geholfen. Jetzt seid ihr mir verpflichtet, und ich kann einen Dienst von euch verlangen. Verstehst du mich?«

»Du willst, daß wir das Schwert bewachen.« D’arvans Enttäuschung über seinen Vater kämpfte mit seinem Verständnis für die Zwangslage des Waldfürsten. Ein Herrscher sollte seinen eigenen Gesetzen gehorchen, und auf Hellorins Schultern lastete die Verantwortung für sein Volk. »Ich werde es versuchen«, sagte er schließlich. »Aber Vater, ich bitte dich nur um eines – bitte laß Maya aus dem Spiel.«

»Nein, D’arvan. Wir werden das zusammen durchstehen.«

»D’arvan, das kann ich nicht.« Hellorin und Maya erhoben beide gleichzeitig ihre Stimmen zum Protest.

Der Magusch blickte mit wachsendem Ärger von seinem Vater zu seiner Geliebten. »Hört auf der Stelle damit auf.«

Maya und Hellorin sahen einander an und brachen in Gelächter aus. »Ah, was für eine Frau!« sagte Hellorin. »Wie sehr ich wünschte, ich könnte euch beide hier bei mir behalten. Aber wir stehen im Bann von Ereignissen, die viel größer sind als wir.« Er streckte die Arme aus und zog sie beide eng an sich. »Ich verspreche euch, daß ihr nicht getrennt werdet, obwohl ich euch als Liebende auseinanderreißen muß. So lange zumindest, bis ihr eure Aufgabe erfüllt habt. Da das so sein wird, müssen die größeren Ereignisse noch eine Weile warten. Ihr braucht ein wenig Zeit füreinander – soweit die Zeit hier überhaupt Gültigkeit hat –, und ein Zimmer ist für euch bereit. Geht, Kinder, und ruht euch aus – oder auch nicht, ganz wir ihr wollt!« Er sah sie mit einem arglistigen Zwinkern an. »Ich werde euch rufen, wenn es Zeit ist, zu gehen.«

Am nächsten Morgen trafen sie sich in der großen Halle wieder, nach dem, was für die Welt eine Nacht gewesen wäre, auch wenn sie D’arvan und Maya zu kurz vorgekommen war. Hellorin umarmte sie noch einmal. »Seid ihr bereit, Kinder?«

Sie nickten. Sie waren bereit, soweit das möglich war. Während der kurzen Zeit, die sie hatten allein sein dürften, hatten sie ihre Ängste und Geheimnisse miteinander geteilt, hatten sich ihre eigenen Schwüre geschworen, einander endlos geliebt und versucht, für die Zeit, die sie getrennt sein würden, Erinnerungen in ihrem Gedächtnis zu bewahren. »Wird es Eilin gutgehen?« fragte Maya, und D’arvan staunte wieder einmal über ihren Mut, während sie aufrecht und gelassen vor seinem Vater stand.

Hellorin nickte. »Unsere Heiler sagen, daß sie sich erholen wird, und sie wird in Sicherheit und Ehren bei uns bleiben, bis diese Sache erledigt ist.«

»Ich danke dir«, sagte Maya einfach. »Hast du eine Ahnung, wie lange das dauern wird?«

Da war ein Stocken in ihrer Stimme, und D’arvan wurde plötzlich klar, daß sie ebensoviel Angst hatte wie er.

Hellorin schüttelte den Kopf. »So lange, bis der Eine das Schwert fordert, das ist alles, was wir wissen. Laßt uns um unser aller willen hoffen, daß er sich beeilt!«

Mayas Augen zwinkerten. »Was macht dich so sicher, daß es ein Mann ist, mein Fürst?« Sie trat zurück, um D’arvan die Möglichkeit zu geben, sich nun selbst von seinem Vater zu verabschieden.

Hellorin umarmte ihn heftig. »Wie sehr es mich bekümmert, den Sohn zu verlieren, den ich gerade erst gefunden habe.«

»Und mich bekümmert es, dich zu verlieren«, flüsterte D’arvan. »Ich hoffe, wenn das alles vorbei ist, werden wir einen Weg finden, uns dafür zu entschädigen.«

Hellorin nickte ernst. »Und jetzt, mein Sohn, mußt du uns in deine Welt bringen«, sagte er.

D’arvan starrte ihn an. »Ich? Aber wie?«

»Tu dasselbe, was du gestern getan hast. Ruf den Wald, den wirklichen Wald. Benutze den Stab der Lady Eilin, den du bei dir trägst – er hat mehr Macht, als du dir vorstellen kannst.«

Es war leichter, als D’arvan erwartet hatte. Eilins Stab schien von allein nach Hause gehen zu wollen. Binnen weniger Atemzüge standen sie im Licht des Sonnenaufgangs am Seeufer. Das Gras war aufgerissen, wo die Wurzeln sich hineingebohrt hatten, und obwohl die Ranken sich vom Turm zurückgezogen hatten, waren dessen Mauern zerfurcht und die Fensterscheiben zerschlagen, so daß der Bau dem Zugriff der Elemente nun offen und schutzlos ausgeliefert war.

»Es würde Eilin das Herz brechen, wenn sie das sähe«, murmelte D’arvan.

»Das wird sie nicht.« Während Hellorin sprach, begann der Turm zu verschwimmen und verschwand schließlich ganz. An seiner Stelle stand nun ein gewaltiger roter Kristall. Als er die ersten Strahlen der Sonne auffing, erglühte er in pulsierender Helligkeit und summte vor Macht und Kraft, ein Trugbild, so wollte es scheinen. In seinen glitzernden Facetten wurden die Umrisse des Schwertes sichtbar, eines Schwertes, das in seinem eigenen geisterhaften Licht schimmerte.

»So kann es nicht bleiben.« Hellorin machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand, und der massive Edelstein verfinsterte sich und wurde grau, bis er schließlich das Aussehen eines riesigen, groben Felsbrockens hatte. Die ganze Vegetation schwärmte aus, um ihn zu bedecken, und Moos und Flechten erschienen plötzlich auf seiner rauhen Oberfläche.

Maya keuchte. »Wie hast du das gemacht?« wollte sie wissen. »Ich dachte, du hättest keine Macht in dieser Welt.«

»Ich habe es durch D’arvan getan«, erklärte der Waldfürst. »Er hat mich hierher gebracht, und er ist zum Teil ein Phaerie wie ich und zum Teil ein Magusch; und die Magusch haben diese Regeln gemacht. Aber wir müssen uns beeilen. Ich kann ihre Magie nur bis zu einem gewissen Punkt lenken.« Auf Hellorins Gesicht zeichnete sich bereits die gewaltige Anstrengung ab. »Und jetzt, meine liebste Tochter …«

»Warte!« Maya rannte auf D’arvan zu und schlang ihre Arme um ihn. »Ich liebe dich«, wisperte sie.

»Und ich liebe dich.« Er küßte sie ein letztes Mal und trat dann, als der Waldfürst die Hand hob, widerwillig zurück.

Maya verschwand. An ihrer Stelle erschien das schönste Geschöpf, das man seit der Morgendämmerung der Welt erblickt hatte. Ein Einhorn, körperlos und, wie es schien, geschaffen aus allen Arten von Licht: dem Glimmern von Sternen, dem hauchzarten Mondlicht, den silbernen Morgennebeln und weißglühenden Sonnenstrahlen dort, wo seine Hufe den Boden berührten. Auf seiner Stirn thronte ein langes, schlankes, grausam scharfes Silberhorn.

»Siehst du?« sagte Hellorin weich. »Unsere Kriegerin trägt noch immer ihr Schwert – denn es wird ihre Aufgabe sein, das Schwert der Flamme zu beschützen. Nur du kannst sie sehen, für alle anderen wird sie unsichtbar sein. Um des Schwertes wert zu sein, muß sein Träger ebenso weise wie mutig sein. Um sich ihm zu nähern, muß der Eine eine Möglichkeit finden, das Unsichtbare zu sehen, denn auf keine andere Weise kann das Einhorn überwunden werden.«

»Überwunden?« rief D’arvan. »Getötet, meinst du?«

»Nein, ich meinte nicht getötet. Es ist ein Teil des Zauberers, daß Mayas Wächterschaft aufgehoben wird, sobald irgend jemand außer dir sie sehen kann. Es wird keine Notwendigkeit zum Töten geben. Außerdem«, fügte Hellorin hinzu, »würde ein Wesen, das es wert ist, das Schwert der Flamme zu tragen, ein so wunderschönes Geschöpf freiwillig töten? Ich glaube nicht.«

D’arvan schüttelte den Kopf. »Und was hast du für mich auf Lager?« fragte er gepreßt.

»Für dich? Du bist Erdmagusch und Sohn des Waldfürsten. Du trägst den Stab der Lady Eilin, und der Wald wird dir gehorchen. Du mußt den wilden Wald in dieses Tal zurückbringen; fülle ihn mit einer unüberwindlichen Barriere aus Bäumen. Die wilden Geschöpfe werden hier bei dir wohnen, und die Wölfe werden deine Freunde sein und dir bei deiner Arbeit helfen. Du wirst das Schwert vor allen Feinden bewahren, und der Wald wird den Feinden des Bösen Zuflucht geben – die du ebenfalls schützen und bewahren wirst – und doch werden sie dich niemals sehen, nie von deiner Gegenwart erfahren. Du und Maya, ihr werdet euch die Wächterschaft teilen, bis der Eine kommt, um das Schwert zu holen. Dann werdet ihr befreit und wieder vereint, so wie wir alle, wenn die Zeit gekommen ist.« Noch während er sprach, begannen die Umrisse seines Körpers zu zittern und zu schimmern. »Ich kann nicht länger bleiben. Lebe wohl, mein Sohn, und vergib mir.« Er verschwand.

D’arvan sah das Einhorn an. Das wilde, schöne Geschöpf schnaubte und scharrte auf dem Boden, wobei es in kleinen Explosionen von Sonnenlicht feuchtes Erdreich in die Luft schleuderte. Dann trottete es zu dem Magusch hinüber und legte den Kopf auf seine Schulter, und seine großen, dunklen Augen waren unergründliche Teiche des Kummers. D’arvan schlang die Arme um seinen starken, gewölbten Nacken unter der üppigen Mähne, und Tränen schnürten ihm die Kehle zu. »O meine Liebste«, murmelte er, »wie sehr ich dich vermissen werde.« Das unsichtbare Einhorn schnaubte und warf seinen Kopf zurück.

»Du hast recht«, sagte D’arvan. »Ich sollte mich besser gleich an die Arbeit machen.«

Dann drehte er sich um, hob den Stab der Lady Eilin und begann, den Wald zu rufen.

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