19 Die Verheerung

Der Leviathan hieß Ithalasa. Da er spürte, wie sehr Aurian einer Erholungspause bedurfte, schlug er ihr vor, sie zu einer geschützten Lagune weiter im Süden zu bringen, wo sein Volk oft Zuflucht suchte.

Auf dem Weg dorthin sah die Magusch die hinter der Küstenlinie verlaufende Felswand immer näher an das Meer herankommen, bis der Fels selbst schließlich eine steile Kliffküste bildete, so daß Aurian von den südlichen Reichen nicht mehr zu Gesicht bekam als eine hoch emporragende Wand scharfkantigen, grauen Gesteins, die grün gesprenkelt war von rauhem, dornigem Buschwerk in ihren vielen Spalten und Klüften. Mitunter wich das Kliff in weitem Bogen zurück und bildete tiefe, geschützte Buchten, aber Ithalasa schwamm immer weiter, ohne sich um die Küste zu seiner Rechten zu kümmern. Ein unverständliches Gemurmel an der äußersten Grenze von Aurians Wahrnehmung verriet Aurian, daß er sich während ihrer Reise mit anderen Walen unterhielt.

Ihr Kopf schmerzte von der blendenden Helligkeit der Sonne, die sich auf dem blauschillernden Wasser spiegelte. Aurian war heißhungrig und fühlte sich hundeelend. Trotz aller Versuche wollte es ihr einfach nicht gelingen, Anvar aus ihren Gedanken zu verbannen. Jedesmal, wenn sie ihre Augen schloß und zu schlafen versuchte, sah sie den unglücklichen Ausdruck seines Gesichtes bei ihrer Trennung am Strand vor sich. Und wenn sie dann drauf und dran war, Ithalasa zu bitten, umzukehren, dann überwältigte sie die Erinnerung daran, was zwischen Anvar, ihr und Sara in der letzten Nacht vorgefallen war, und ihr Ärger wurde aufs neue entfacht. Und wenn sie nicht an Anvar dachte, dann dachte sie an Forral, und das war noch schlimmer.

Weil sie schließlich überhaupt keine Vorstellung mehr hatte, wie sie weiter vorgehen sollte, beschloß sie, sich Ithalasa anzuvertrauen und ihn um Rat zu fragen. Zu ihrer Erleichterung erwies er sich als zugänglich für diesen Vorschlag und gab zu, daß er schon neugierig gewesen sei, die Ursache ihres Kummers und den Grund dafür zu erfahren, warum eine der Magusch sich so weit nach Süden begab.

Ithalasas Reaktion auf Aurians Geschichte war erschreckend. Sie wurde aufs neue völlig durchnäßt, als sein massiver Schwanz erregt auf das Wasser klatschte. »Der Kessel ist gefunden worden? Er ist in schlechte Hände gelangt? Ach, verwünscht sei dieser bittere Tag!« Seine Verzweiflung schlug wie eine Woge über der Magusch zusammen und ertränkte ihr Bewußtsein fast mit seiner Intensität.

»Du weißt von dem Kessel?« fragte sie, während sie mit Mühe auf seinem glitschigen, stampfenden Rücken das Gleichgewicht hielt. Eine dumme Frage, schalt sie sich selbst. Ganz offensichtlich weiß er davon.

»Ja«, erwiderte Ithalasa ernst. »Mein Volk hat in seinem Bewußtsein all die verlorenen Geheimnisse der Verheerung bewahrt. Sie sind unsere Bürde und unsere Sorge. Es wäre das beste, dieser Teil der Vergangenheit wäre vergraben und verloren.«

Er besaß das Wissen. Große Götter, er besaß das Wissen! Der Leviathan hatte die Antworten, nach denen Aurian suchte. Aber sie konnte, ohne daß es dazu weiterer Worte bedurft hätte, spüren, wie sehr es Ithalasa widerstrebte, von diesen Dingen zu sprechen.

Aber sie mußte es dennoch versuchen. »Ich habe Angst, dir Kummer zu machen, Großer, aber willst du mir nicht davon erzählen? Wenn ich dieses Böse bekämpfen will, dann ist meine Unwissenheit eine tödliche Waffe in den Händen meiner Feinde. Und kämpfen muß ich, selbst wenn es mich das Leben kostet. Ich habe geschworen, der Bosheit des Erzmagusch ein Ende zu setzen.«

»Kind, wie könnte ich dir davon erzählen?« Tiefes Bedauern schwang in Ithalasas Gedanken mit. »Ich kann verstehen, daß du gegen dieses Böse ankämpfen mußt, aber alle Rassen des Maguschvolkes haben einst geschworen, dieses gefährliche Wissen niemals wieder aufleben zu lassen, damit es nicht noch einmal eine Verheerung gibt. Ich darf dir nichts davon erzählen. Willst du die Zerstörung der Welt auf deinem und meinem Gewissen haben?«

Aurian seufzte. »Mächtiger, Weiser, ich bin für deine Begriffe sicherlich jung und unerzogen, aber ich weiß um die furchtbare Verantwortung, die auf mir ruht. Ich weiß, welche Verwüstungen ein Krieg zwischen den Magusch auslösen kann. Aber wenn ich in den Besitz der drei verlorenen Waffen gelangen könnte, dann ließe sich Miathan bestimmt unterwerfen, ohne daß allzuviel Schaden entsteht. Ich sage dir offen, daß ich in der Kriegskunst geschult bin. Aber ich wurde von jemandem unterrichtet, der weder für Gewalt noch für Zerstörung etwas übrig hatte. Er war der beste und sanfteste Mann, und das größte von den vielen großen Geschenken, die ich von ihm erhalten habe, ist der Respekt für unsere Mitgeschöpfe – ganz gleich, welcher Rasse sie angehören – und der Abscheu vor sinnlosem Töten und Blutvergießen.«

Der Leviathan versenkte sich für lange Zeit in seine Gedanken, aber er schirmte sie von der Magusch ab.

Schließlich seufzte er; ein mächtiger Seufzer, der eine funkelnde, in allen Regenbogenfarben irisierende Fontäne aus seinem Blasloch schießen ließ. »Kleine – laß uns einmal annehmen, daß du die Waffen findest. Laß uns weiter annehmen, daß du sie benutzt, um den Erzmagusch zu besiegen, und daß du dabei auch die vierte Waffe erlangst. Was würdest du dann tun?«

»Ich würde euch die Waffen geben«, erklärte Aurian ihm, ohne zu zögern. »Dein Volk wäre ein weit besserer Hüter dieser gefährlichen Dinge als meines. Ich würde es dir überlassen, zu entscheiden, ob sie aufbewahrt werden sollen, versteckt oder zerstört. Ich bin nicht auf Macht aus – ich will nur meine Aufgabe erfüllen.«

»Bist du dir dessen sicher?« Ithalasas Gedanken verrieten Überraschung.

»Ich schwöre es dir. Großer, du darfst mich lesen, wenn du möchtest, damit du dir sicher sein kannst, daß ich die Wahrheit sage.«

»Du würdest dich dem unterziehen?« Der Leviathan klang erstaunt. Das Lesen war eine Prozedur, der sich nur ganz selten jemand freiwillig unterzog. Sie ging viel tiefer und war viel intensiver als die Prüfung der Wahrheit; es hieß, daß sie alle Tiefen der innersten Seele eines Lebewesens freilegte – und daß sie dem, der es gekonnt anstellte, die Möglichkeit gefährlicher Beeinflussung und anderen Mißbrauchs eröffnete. Schon mit dem bloßen Vorschlag hatte Aurian Ithalasa ihr absolutes Vertrauen ausgesprochen.

»Ja, das würde ich – und ich werde es«, sagte sie bestimmt.

»Also gut, Kleine. Ich nehme dein Angebot an – ■ es ist mir eine Ehre.«

Aurian nahm all ihren Mut zusammen und öffnete sich Ithalasas forschenden Gedanken.

Es war schlimmer, als sie es sich in ihren schlimmsten Vorstellungen hätte ausdenken können – ein zerreißendes Eindringen, viel tiefer und in viel intimere Bereiche vorstoßend, als es eine körperliche Vergewaltigung jemals sein konnte. Der Leviathan streifte durch ihr Bewußtsein, durch ihren Willen, wühlte den untersten Schlick und Bodensatz ihrer Seele auf, all das, was wertlos und niedrig war, all die Schwächen des Stolzes und Temperaments und der Sturheit, die so sehr ein Teil von Aurians Persönlichkeit waren. All das, was sie verleugnet, verdrängt oder vor sich selbst sicher versteckt hatte, wurde aufgerührt wie eine Schlammwolke vom Grunde eines klaren Baches.

Als es vorbei war, lag sie verkrampft und zusammengerollt auf dem höckerigen Rücken des Behemoth. Ihr war übel, und sie zitterte.

»Kleine, entspann dich.« Die Worte des Leviathan breiteten sich wie ein lindernder Balsam über Aurians wundes, verletztes Bewußtsein aus. »Nicht einmal die Götter selbst, so heißt es, waren vollkommen. Es ist nicht angenehm, sich seinen eigenen Fehlern und Schwächen zu stellen, aber das allein ist der Weg zur wahren Weisheit – den deswegen nur so wenige gehen. Du hast viel Gutes in dir – viel Ehrlichkeit, Ehrgefühl und Mut und dazu ein Herz voller Liebe –, welches das Schlechte bei weitem überwiegt. Halte beide Seiten von dir im Gleichgewicht, Tochter, dann wird alles gut sein.«

Tochter – er hatte sie Tochter genannt! Aurians Elend wurde durch eine heftige Woge von Liebe und Stolz gemildert. Sie versuchte, ihre Selbstkontrolle wiederherzustellen, wenigstens soweit, um ihn zu fragen, wie seine Antwort lautete, aber er ersparte ihr die Mühe.

»Was mich anbelangt – du hast mein Vertrauen«, erklärte er ihr, »und ich stehe tief in deiner Schuld, weil du mein Kind gerettet hast. Aber ich darf diese Entscheidung nicht allein treffen. Wir sind jetzt gleich an der Lagune – sie liegt hinter dieser hohen Landspitze, die dort aus dem Meer ragt. Dort bist du in Sicherheit und kannst etwas essen und dich erholen. Während du schläfst, werde ich mich mit meinem Volk beraten und deine Bitte vortragen, denn diese Entscheidung kann nur von unserem ganzen Volk getroffen werden. «

Aurian ließ die Hoffnung sinken. Nach allem, was sie durchgemacht hatte … Aber sie wußte, daß Ithalasa alles getan hatte, was in seiner Macht stand, und daß es falsch wäre, ihn weiter zu bedrängen. Es kostete sie große Anstrengung, ihm gebührend zu danken. Der Leviathan antwortete mit einem Lächeln; er wußte also ihre Anstrengungen zu würdigen. »Siehst du?« sagte er ihr. »Deine Weisheit nimmt bereits zu.«

Die Lagune war fast kreisrund; zum Ozean hin schützten sie vorgelagerte Riffe, zum Land hin hohe, steilwandige, unbezwingbare Klippen. Ein sichererer Platz ließ sich nicht denken – er war nur übers Meer oder durch die Luft erreichbar.

Aurian schwamm bis an den steinigen Strand, der sich am äußeren Rand der Lagune entlangzog, und Ithalasa trieb ihr einige Fische zusammen, die sie im flachen Wasser fangen konnte. Sie war dankbar für seine Hilfe, denn sie wußte, daß sie das allein nicht geschafft hätte. Während sie sich Feuer machte, verabschiedete sich der Leviathan und versprach, so schnell wie möglich zurückzukommen.

Die Magusch war todmüde. Sie aß ihren Fisch im Halbschlaf, und nachdem sie von einer Quelle getrunken hatte, legte sie sich zum Schlafen hin. Sie überließ es der Sonne, ihr die Kleider auf dem Körper zu trocknen, und schlief sofort ein. Und während sie schlief, träumte sie – einen wundersamen Traum der Vergangenheit aus der Morgendämmerung ihrer eigenen Welt.

Das Volk der Magusch war zahlreich und mächtig und beherrschte die Welt. Es herrschte über das Wetter und die Elemente, über die Meere und die Feldfrüchte, über die Vögel und die wilden Tiere und über die sterblichen Menschen, die keine Magie besaßen und kaum mehr als Tiere, Diener und Sklaven der Magusch waren. Alle Länder und alle Meere wurden von den vier großen Rassen des Maguschvolkes bewohnt, und jede Rasse kontrollierte einen der vier elementaren Bereiche der Magie.

Die menschlichen Magusch oder Zauberer, wie sie sich damals selbst nannten, herrschten über das Element der Erde. Sie konnten mit allen Geschöpfen der Erde sprechen und mit den Bäumen und allem, das auf der Erde wuchs. Die besten unter ihnen fanden sogar Zugang zu den Steinen und Felsen der Gebirge. Ihre Aufgabe war es, allerorten für Fruchtbarkeit zu sorgen und alles, was auf der Erde lebte und wuchs, im Gleichgewicht zu halten, so daß alles blühte und gedieh und seinen ihm zustehenden Platz im miteinander verwobenen Netz des Lebens einnehmen konnte.

Ihre Brüder, die Geflügelten Magusch oder Himmelsvolk, wie sie sich zu nennen pflegten, beherrschten das Element der Luft. Sie bewohnten horstähnliche Städte auf den luftigsten Höhen der höchsten Gebirge und waren verantwortlich für die Vögel und alle anderen Geschöpfe, die fliegen. Ihre Kräfte steuerten die mächtigen Winde und Stürme, die mit ihren Regenwolken die Erde fruchtbar machten.

Bei den wichtigen Aufgaben, die das Wetter betrafen, arbeiteten sie mit den Meistern des Wasserelementes zusammen – den Magusch vom Geschlecht der Leviathane, denen alle Gewässer der Welt mit allen Lebewesen, die darin wohnten, Untertan waren. Sie beherrschten die Meere, die Flüsse und Seen und – mit der Magie der Kälte, bevor diese zum Bösen gewendet wurde – die großen Eiskappen im äußersten Norden und Süden der Erde. Sie spendeten den Regen, der von den Winden der Himmelsleute dahin gebracht wurde, wo er Not tat. Weil die Leviathane im Wasser lebten, konnte ihre Gestalt nicht menschlich sein. Da das Wasser ihr Gewicht trug, entwickelten einige von ihnen eine ungeheure Größe. Sie waren stromlinienförmig und langgestreckt, mit gewaltigen, gebogenen Fluken, mit denen sie steuerten, und mit flachen, waagerechten Schwänzen, mit denen sie eine große Geschwindigkeit erreichten. Aber sie waren warmblütig und luftatmend und brachten ihre Jungen lebend zur Welt. Es hieß, sie seien die älteste Rasse des Maguschvolkes, und die anderen stammten von ihnen ab. Auf jeden Fall besaßen sie von allen die tiefste Weisheit und die innigste Freude am Leben.

Das Element des Feuers war die Provinz der Drachenleute, die in den weiten Wüstenländern lebten. In ihrer äußeren Erscheinung waren sie die dramatischsten aller Magusch. Es waren schlangenartige Kreaturen mit langen Hälsen und langen Schwänzen und mit Flügeln, deren Schuppen metallisch glänzten. Ihre vorstehenden, blitzenden, edelsteinartigen Augen ermöglichten ihnen einen Rundumblick, ohne den Kopf bewegen zu müssen. Sie kamen rein silberfarben zur Welt und entschieden sich im Laufe ihrer Kindheit für eine bestimmte Farbe, die sie von da an behielten. Obwohl es immer einige gab, die verschiedene Blautöne, Grüntöne oder Schwarz bevorzugten, blieben die meisten bei den Farben ihres Elementes, des Feuers – sie wählten Rot- oder Goldtöne.

Die Drachen konnten zwei Arten von Feuer hervorbringen. Entweder verwandelten sie ihre aufgespeicherte Energie in einen langen, weitreichenden Feuerstoß, den sie ausatmeten, oder – und dieses Feuer war tödlicher in seiner Wirkung – sie bündelten die Energie durch die kristalline Struktur ihrer Augen zu einem dünnen, konzentrierten Strahl von bemerkenswerter Zerstörungskraft. Auch ihre Zähne und Klauen waren tödlich, wurden aber nur zur Verteidigung benutzt, denn die Drachenleute aßen kein Fleisch. Sie nahmen vielmehr mit ihren gewaltigen, durchscheinenden Flügeln, die wie die der Fledermäuse über zarte Knochen gespannt waren, reine Energie direkt von der Sonne auf, so wie es die Pflanzen mit ihren Blättern machen. Ihre Schwingen waren zum Fliegen nicht sonderlich geeignet, aber immerhin konnte ein ausgewachsener Drache damit ein kurzes Stück im Gleitflug zurücklegen. Die leichteren und kleineren Jungen kamen etwas weiter.

Zum Feuerzauber der Drachenleute gehörte sowohl die Kunst, Energie in Edelsteinen und Kristallen zu speichern, die in der Erde unter großer Hitze und großem Druck entstanden waren, als auch die Fertigkeit, Metalle zu bearbeiten und zu schmelzen. Sie herrschten über alle Arten feuriger Energie, und niemand war in der Lage, so tödliche und furchtbare Waffen herzustellen wie sie. Aber da sie ein friedliches Volk waren, hielten sie alles geheim, was sie auf diesem Gebiet ersonnen hatten.

Es lag in der Natur des Universums, daß den vier Abteilungen der elementaren Magie vier Abteilungen negativer Magie gegenüberstanden, die ihr Gegengewicht bildeten, und es war die Aufgabe und Verantwortung der Magusch, diese negative Magie unter Kontrolle zu halten und, wenn möglich, ins Positive zu wenden. Keine dieser magischen Gewalten war die spezielle Domäne einer bestimmten Rasse der Magusch; vielmehr war das Maguschvolk in seiner Gesamtheit für jede dieser Kräfte verantwortlich, denn alle negative Magie war wild, unvorhersehbar und geeignet, gewaltige Zerstörungen hervorzurufen.

Die erste und ursprünglichste der negativen Gewalten war die Alte Magie. Sie beruhte auf alten, elementaren Kräften, die schon seit Anbeginn der Zeit bestanden und bereits das Chaos des neu erstandenen Universums heimgesucht hatten, bis die Wächter dann die Magusch einsetzten, um für Ordnung zu sorgen. Die Alte Magie war die Zaubergewalt dieser uralten Wesen – der Felsengeister oder Moldan, die einstmals mit ihren gigantischen Erscheinungen die Welt bevölkerten, der Baumgeister oder Veridai und der Najaden, der Geister des Wassers. Diese uralten Elementargeister waren schon vor Urzeiten von den Vätern der Magusch unter Kontrolle gebracht worden; sie waren nur noch ihrer Kräfte beraubte Gefangene, es sei denn, daß sie absichtlich wieder in die Welt zurückgerufen wurden.

Die übrigen Rassen, die sich der Alten Magie bedienten, entstanden erst später: die Merfolk, die Phaerie und die Dwelven, die in Frieden und Eintracht mit den urzeitlichen Geistern in den Meerestiefen, im Innersten der Urwälder und in den Höhlen der Bergestiefen lebten. Sie konnten, so wie es ihnen gerade gefiel, entweder in der diesseitigen Welt oder aber im Anderswo erscheinen, das von den urzeitlichen Geistern bewohnt wurde. Angeblich entstammten sie, so wollten es Gerüchte, den Paarungen früher Magusch und der urzeitlichen Geister, aber wie dem auch sei, die Magusch hatten es jedenfalls für angebracht gehalten, sie in dem geheimnisvollen Anderswo oder Anderland der Alten Magie gefangenzusetzen, um diejenigen Völker zu schützen, die danach die Welt bewohnten, denn all diese Wesen galten als hinterhältig, falsch und gefährlich.

Keines dieser elementaren Wesen ließ sich gefahrlos beschwören und dienstbar machen. Wenn sie aus ihrer langen Gefangenschaft in die Freiheit der Welt gelassen wurden, standen ihnen gewaltige Kräfte zur Verfügung, die meist nicht nur ihr Opfer zu spüren bekam, sondern auch derjenige, der sie beschworen hatte. Und einige von ihnen schweiften zur großen Bestürzung der Magusch immer noch frei umher und schienen gelegentlich dem Gang der Geschichte irgendeine neue Richtung zu geben. Und das war gut so, denn gerade so, wie es ohne Gleichgewicht zum Chaos kam, würde ohne den Zufall die Welt bald zum Stillstand kommen.

Der zweite Bereich negativer Magie war von viel unheilvollerer Art, und seine Ursprünge lagen in geheimnisvollem Dunkel verborgen. Es war die Nekromantie, die Todesmagie, mit deren Hilfe ein Hexenmeister es vermochte, einem anderen Wesen die Lebenskraft selbst zu entziehen. So wie die Todesgeister, die sich dieser Magie bedienten, um sich vom Leben anderer zu ernähren, konnte auch ein dem Bösen ergebener Magusch die Lebensenergie anderer Wesen benutzen, um seine eigenen Kräfte zu vermehren und für begrenzte Zeit an Macht hinzuzugewinnen. Die vampirartige Vernichtung von Leben war dem innersten Gefüge des Universums so deutlich entgegengesetzt, daß nur wenige Magusch überhaupt von dieser Möglichkeit wußten, und die wenigen, denen sie bekannt war, hüteten dieses Geheimnis, so gut sie nur konnten.

Dann gab es die Kalte Magie. Es war die Magie der Entropie, die ihre Kräfte aus den kalten, leblosen, schwarzen Tiefen des Universums bezog. Von einem machtvollen Magusch konnte die Kalte Magie benutzt werden, um der Sonne selbst ihre Hitze und Kraft zu entziehen und die Welt in die Dunkelheit eines ewigen Winters einzutauchen.

Die vierte negative Magie war die Wilde Magie. Sie regierte die Elementargewalten der Natur – Unwetter, Stürme und Wirbelwinde, die Gezeiten und die Flutwellen des Meeres, Erdbeben, Vulkane und Blitze. Mit Hilfe der Wilden Magie, so hieß es, konnte ein Magusch die innerste Seele der Welt als eine lebendige Kraft beschwören; aber sie sich willfährig zu machen – ja, das war etwas ganz anderes.

In ihrem Traum sah Aurian all diese Erscheinungen und ihre Emanationen in einem Panoptikum der Geschichte, das sich über viele Generationen erstreckte, und zum Schluß wurde sie Zeuge, wie die vier Rassen der Magusch zur Verteidigung gegen die negative Magie die Waffen der Elemente schufen.

Die Rasse der Leviathane schuf den Kessel des Lebens, der als Schutz gegen eben jene Nekromantie bestimmt war, für die Miathan ihn mißbraucht hatte. Dann sah sie die Windharfe oder Harfe der Winde, das Werk der Himmelsleute, mit der sich die Wilde Magie bezwingen ließ, mit der sie aber genausogut herbeigerufen werden konnte, wenn sie in falsche Hände geriet – denn die Magusch hatten in ihrem selbstgefälligen Stolz etwas Grundlegendes übersehen: daß nämlich jede Waffe zwei Seiten hat.

Dann sah sie, wie die Zauberer – Aurians eigene Vorfahren – den Stab der Erde beisteuerten, mit dem sich die alte Magie kontrollieren ließ, und wie sie entsetzt miterleben mußten, wie die Waffe gegen sie selbst gerichtet wurde, um einen der Elementargeister auf die Welt loszulassen – einen Moldan, der dann die jetzt vom Meer bedeckte Kluft zwischen den nördlichen und südlichen Ländern aufgerissen hatte. Erst als es schon zu spät war, begriffen die Magusch ihren Irrtum.

Daraufhin ließ das mächtige Geschlecht der Drachenleute, der Meister aller Waffen, von ihrer Aufgabe ab, eine Schutzwaffe gegen die Kalte Magie herzustellen. Statt dessen schufen sie eine Meisterwaffe – das Schwert der Flamme –, der mannigfaltige Kräfte innewohnten, die jene der drei anderen Waffen übertrafen.

Diese letzte aller Waffen wurde für zu gefährlich erachtet, als daß man das Risiko eingehen konnte, sie in die falschen Hände geraten zu lassen. Ein Seher des Drachenvolkes sagte eine Zeit voraus, in der das Schwert gebraucht werden würde, um die Welt vor dem Bösen zu retten, aber diese Zeit lag unvorstellbar weit in der Zukunft. Unter seiner Anleitung wurde das Schwert allein für den Einen geschaffen. Die Klinge selbst verfügte über ein geheimnisvolles Wissen und würde die Hand erkennen, für die sie geschaffen war, und um das Risiko noch weiter zu verringern, wurde sie in einem großen, unvergänglichen Kristall versiegelt. Um das Schwert zu erlangen, mußte der Eine einen Weg finden, die Klinge daraus zu befreien. Als das alles getan war, versteckten die Drachenleute das Schwert dort, wo es niemand finden konnte, und die wenigen, die davon wußten, nahmen sich selbst das Leben. So erlosch jede Kenntnis vom Schwert der Flamme.

Aurian blinzelte und sah das erste Licht des Morgens auf dem Silber der Lagune. Jede Einzelheit des Traumes hatte sich klar und deutlich in ihr Bewußtsein eingeprägt. Sie fröstelte in der leichten Kälte des Morgengrauens und streckte ihre Arme und Beine aus, die steif geworden waren und schmerzten, da sie auf nacktem Fels gelegen hatte. Sie richtete ihre Kräfte nach innen und vergewisserte sich des winzigen Fünkchens Leben in ihr – ihres und Forrals Kindes. Ach, Forral! Würde sie jetzt für den Rest ihres Lebens jeden Morgen beim Aufwachen von der trostlosen Erkenntnis niedergeschmettert werden, daß er für immer von ihr gegangen war? Aber das Kind – ihr gemeinsames Kind – schien wohlauf zu sein. Es schlief sicher und zufrieden in ihr, und Aurian betete dafür, daß das so bliebe. Dann sah sie die dunkle Masse von Ithalasas Körper an die Wasseroberfläche kommen, und alle anderen Gedanken waren sofort verschwunden.

»Ist es gutgegangen, Vater?« fragte sie ihn und versuchte, ihre gedankliche Stimme nicht allzu bedrängend klingen zu lassen. »Was hat dein Volk gesagt?«

Er lachte – sie hörte es ganz deutlich in ihrem Kopf. »Dummes Kind – denk einmal nach! Du kennst die Antwort schon.«

»Ich kenne sie schon?« Aurian, die früh morgens nie in bester Verfassung war, staunte.

Ithalasa lachte noch einmal. »Natürlich kennst du sie. Die Hälfte von dem, was du wissen wolltest, hast du bereits erzählt bekommen!«

»Mein Traum! Natürlich!« Aurian lief voller Erregung den Strand hinunter und tauchte in das kalte Wasser ein, um ganz nah an den massigen Kopf des Leviathan heranzuschwimmen. Sie wünschte sich, daß er nicht zu groß gewesen wäre, um ihn zu umarmen. Er zwinkerte mit seinem ihr zugewandten, hellen, tiefen Auge.

»Wir haben gedacht, das wäre der beste und schnellste Weg«, sagte er.

»Ach, vielen Dank, Großer«, keuchte Aurian. »Ich danke dir von ganzem Herzen!«

Ithalasa seufzte. »Es war keine leichte Entscheidung, und wir beten dafür, daß es die richtige war. Ich bitte dich, Tochter – wenn du deine Aufgabe erfolgreich bewältigt hast, dann vergiß nicht die Eide, die du mir geschworen hast. Wir möchten nicht, daß durch das, was wir heute tun, ein Tyrann geboren wird.«

Aurian wurde wieder nüchtern. Jetzt, da sie selbst die ganze Breite und Fülle der Gewalten geschaut hatte, mit denen sie es vermutlich zu tun bekommen würde, verstand sie nur allzugut, welch großes Vertrauen die Leviathane in sie gesetzt hatten.

Wassertretend streckte sie die Arme aus, um Ithalasas knotigen Kopf zu berühren. »Ich verstehe, Vater. Ich werde dich nicht enttäuschen, das schwöre ich.«

Ithalasa half ihr wieder, sich Fisch zum Frühstück zu fangen. Aurian hatte einen halben Tag und die ganze Nacht geschlafen und war jetzt, heißhungrig; ihr Körper stellte sich schon auf die Bedürfnisse des Kindes ein, das sie in sich trug. Während sie aß, setzte sie ihre Unterhaltung mit dem Leviathan fort.

»Vater, ich bin verwirrt«, sagte sie. »Ich wußte gar nicht, daß es vier Rassen der Magusch gibt. Auf der Akademie hat man uns beigebracht, daß wir die einzigen Magusch sind. Wir nennen uns selbst die Magusch oder das Maguschvolk und nicht Zauberer, so wie wir es früher gemacht haben – nach dem, was du mir erzählt hast. Was ist denn mit den anderen Rassen passiert? Warum haben wir nichts von euch gewußt? Und wo sind die Waffen geblieben?«

»Ah! Das ist, wie man so sagt, eine Geschichte für sich, und in der sind die Antworten auf alle deine Fragen unauflösbar miteinander verbunden. Es ist die tragische Geschichte der Verheerung, die ich dir zu meinem Leidwesen als nächstes erzählen muß.«

Aber Aurians Gewissen rührte sich. Seit sie sich – nachdem Ithalasa sie ausgelesen hatte – ihrer Fehler ganz bewußt war, hatte ihr Zorn auf Anvar nachgelassen und sich in ein erstickendes Schuldgefühl verwandelt. Sie wußte, wie ihre Arroganz ihn verletzt hatte, und sie hatte keine Vorstellung, was wirklich hinter dieser Affäre mit Sara steckte, über die sie sich so bitter entzweit hatten. Sie waren beide im Unrecht gewesen, aber wie oft hatte Forral ihr eingeschärft, niemals ihre Kameraden im Stich zu lassen, ganz gleich, was geschah t Aurian war beschämt, und ganz abgesehen davon, gab es eine mahnende Stimme in ihrem Inneren, einen Instinkt, der sie drängte, sofort zu Anvar zurückzukehren. Es gab nichts daran zu rütteln. Ganz gleich, wie sehr es sie auch ärgerte, sie mußte zurück zu den beiden. Diese Idioten würden allein niemals zurechtkommen, und sie hatte Vannor versprochen, daß sie sich um sein verflixtes, treuloses Weib kümmern würde.

»Weiser, bevor du mir davon erzählst, muß ich meine Gefährten finden. Ich hätte sie nicht allein zurücklassen dürfen, und ich fürchte, daß sie schon in Schwierigkeiten sind.«

Ithalasa seufzte. »Ach, Kleine, habe ich dir nicht gesagt, daß du die Weisheit noch lernen würdest? Aber jetzt, so fürchte ich, mußt du noch etwas anderes lernen – nämlich, dich zwischen einer weniger wichtigen und einer wichtigeren Sache zu entscheiden. Ich kann das Wagnis nicht eingehen, dir den Rest der Geschichte erst später zu erzählen. Obwohl ich das Einverständnis meines Volkes dazu gewonnen habe, gab es doch viele Zweifel. Und jeder von uns kann jederzeit seine Meinung ändern, und selbst wenn das nur einer tut, darf ich dir nichts weiter erzählen. Aus diesem Grund müssen wir so schnell wie möglich handeln. Die Geschichte der Verheerung ist lang, und es hat auch keinen Sinn, wenn wir uns bei Nacht auf die Reise begeben. Außerdem bist du immer noch erschöpft, und wegen des Kindes, das du in dir trägst, benötigst du nach einer so intensiven Gedankenübertragung zunächst einmal Ruhe. Wenn du die Geschichte hören willst, dann können wir erst morgen nach deinen Freunden suchen.«

Aurian biß sich auf die Lippen. Sie saß gefangen in einer Zwickmühle zwischen ihrem Gewissen und ihrem Verstand, der ihr sagte, was jetzt dringend notwendig war. Sie mußte den Rest der Geschichte hören. Die Zukunft der Welt hing vielleicht davon ab. Und Anvar und Sara waren doch bestimmt noch wohlauf, oder? Ithalasa hatte sie an einem sicheren Platz abgesetzt. Aber diese innere Stimme ließ sich nicht zum Schweigen bringen, und sie sagte ihr, daß sie es falsch machte. Aurian schüttelte den Kopf und rang mit sich. Schließlich traf sie ihre Entscheidung. Ich muß hierbleiben und das Ende der Geschichte hören – das ist zu wichtig, als daß ich darauf verzichten könnte. Und wenn ich herausgefunden habe, was ich wissen muß, dann werde ich mich auf den Weg zur Anvar und Sara machen.

Ithalasa wartete so nahe vor der Küste, wie es ihm möglich war, und schwieg – seine Gedankenverbindung zu Aurian war unterbrochen –, bis sie ihr Dilemma gelöst hatte und sich ihm wieder zuwandte. »Also gut«, sagte sie, »ich werde bleiben und hören, was du mir zu erzählen hast.«

»Das ist richtig, glaube ich. Du wirst das Wissen wiedererlangen, das dein Volk vor langer Zeit verloren hat. Mache weisen Gebrauch davon, Kind.« Und dann kamen Ithalasas Gedanken wieder in einer überwältigenden Flut über sie, füllten ihr Bewußtsein mit Worten und Visionen aus, die sich vor ihr entfalteten und sie zur Zeugin der Schrecken und Tragödien lange vergangener Zeiten werden ließen.

In den Tagen des goldenen Zeitalters herrschte überall Frieden und Eintracht. Die vier Rassen der Magusch arbeiteten gemeinsam an ihrer großen Aufgabe, Frieden, Reichtum und Gerechtigkeit in der Welt aufrechtzuerhalten. Aber ständig lauerte hinter dem sorgsam gehüteten Gleichgewicht der Zufall wie ein Wolf und wartete darauf, den Geschicken der Welt eine andere Richtung zu geben.

Unglückverheißende Sterne gingen der Geburt von Incondor und Chiannala voraus. Incondor gehörte zu den Himmelsleuten, war stattlich, muskulös und drahtig. Seine großen, gefiederten Schwingen besaßen die schillernde Schwärze des Rabengefieders. Schon in jungen Jahren war er ein mächtiger Hexer und versprach in dieser Kunst noch größer zu werden, bis er – von seinem Hochmut übermannt – seinen eigenen Untergang besiegelte. Um einer Wette willen – einer dummen, im Rausch mit seinen wilden Freunden abgeschlossenen Wette – stahl er die Harfe der Winde, um die verbotene Wilde Magie zu beschwören; er ließ einen Wirbelwind erstehen, der ihn in den Himmel hinauftragen sollte, höher, als sich jemals einer seines Volkes gewagt hatte. Aber der Wirbelwind, angetrieben von den unberechenbaren Gewalten der Wilden Magie, erwies sich als zu mächtig, um sich von ihm beherrschen zu lassen.

Die Gewalten des Sturmes zerrissen und zerschmetterten seine Flügel und schleuderten ihn dann als einen Haufen zerschmetterter Knochen und Glieder zu Boden. Der gewaltige Sturm tobte weiter und richtete große Verwüstungen an, bei denen viele ihr Leben lassen mußten, bevor es den Weisen des Himmelsvolkes gelang, ihn in ihre Gewalt zu bekommen.

Man glaubte, daß Incondor, verkrüppelt, wie er war, gestraft genug sei. Der Himmel würde ihm für immer verschlossen bleiben, und ohne die Freiheit des Luftraumes war das Leben eines geflügelten Magusch trostlos, hatte all seine Bedeutung verloren. An die Erde gefesselt, verkrüppelt und in Ungnade gefallen, wurde er von seinem Volk verbannt und nach Nexis geschickt, der größten Stadt der Zauberer. Man hoffte, daß er dort körperlich geheilt werden – das Heilen war eine Spezialität der Zauberer – und vielleicht endlich auch Weisheit finden würde. Körperlich geheilt wurde er, soweit das möglich war, obwohl sein Körper für immer verkrüppelt blieb und seine“ Schwingen nicht mehr zu retten waren. Aber bevor er auch Weisheit erlangen konnte, lernte er Chiannala kennen, und damit war es um das Gleichgewicht in der Welt geschehen.

Chiannala stammte aus der Verbindung eines Zauberers und dessen sterblicher Dienerin. Solche Paarungen waren aufgrund der körperlichen Ähnlichkeit zwischen den Rassen möglich, aber sie kamen selten vor, weil die kurz bemessene Lebensspanne der Sterblichen den Maguschpartner zu sehr belastete. Dazu kam noch, daß die Zauberer – hochmütiger Stolz war den Magusch angeboren – auf die Sterblichen als niedere, primitive Kreaturen herabsahen, die machtlos und unbegabt in einer Welt dahinvegetierten, in der Magie alles bedeutete.

Allerdings dachten nicht alle Zauberer so, und so kam es gelegentlich zu diesen Verbindungen. Die Nachkommen daraus konnten sowohl dem einen als auch dem anderen Elternteil ähneln und sich als Sterbliche oder als Magusch erweisen, wie es der Zufall gerade wollte.

Chiannala hielt sich ganz an ihren Vater und wollte schon frühzeitig nichts mehr mit ihrer sterblichen Mutter zu tun haben; sie widmete sich wie besessen dem Studium der Magie und der Entwicklung ihrer magischen Fähigkeiten. So versuchte sie, den Makel ihrer niederen sterblichen Herkunft auszulöschen. Doch obwohl sie in ihren Studien in einem solchen Maße brillierte, daß sie offenbar der geeignetste Kandidat war, als nächste das Amt des Obersten Zauberers zu übernehmen, wurde sie vom Rat abgewiesen, weil sie ein Halbblut war. Verbittert und gedemütigt lernte sie schließlich Incondor kennen und fand in ihm einen Gesinnungsgenossen.

Damit war die Saat des Unglücks gesät. Um sich am Volk der Magusch zu rächen, das sie beide zurückgewiesen hatte, planten sie, die Macht an sich zu reißen und über die Welt zu herrschen.

Indem sie ihre Heilkräfte in zerstörerischer Weise einsetzte, rief Chiannala eine Seuche hervor, der die Zauberer zum Opfer fielen wie das Gras der Sense und die das gesamte Gemeinwesen der Zauberer zerrüttete, während sie verzweifelt nach Heilung suchten. In dem ganzen Durcheinander stellte man plötzlich fest, daß der Stab der Erde verschwunden war, und es fand sich niemand, der um seinen Verbleib wußte.

Incondor hatte inzwischen Wilde Magie über den Bergfesten des Himmelsvolkes entfesselt, hatte ihre Wohnplätze durch Hurrikane, Tornados und Schneestürme zertrümmert, die sein Volk hilflos zurückließen, unfähig, sich aus eigener Kraft von den bösen Verwünschungen zu befreien.

Während die Magusch dieser beiden Rassen alle Hände voll zu tun hatten, mit dem Unglück fertig zu werden, das über sie gekommen war, griff das schreckliche Paar das Drachenvolk mit Kalter Magie an. Sie vernichteten fast die ganze Rasse der Drachen, für die die Sonnenenergie lebensnotwendig war. Schließlich übergaben die wenigen Überlebenden, die über das Maß des Erträglichen hinaus gelitten hatten, den beiden die tödlichen Geheimnisse der Feuermagie, einschließlich der Herstellung explosiver Waffen und der Kunst, Energie in Kristallen zu speichern.

Die ganze Welt war jetzt in Aufruhr und alles Gleichgewicht unwiederbringlich verloren. In den weiten Ozeanen rissen sich die sanften Leviathane zu spät von ihren Meditationen los, um sich sogleich von Feuermagie bedroht zu finden. Explosionen wühlten die Tiefen des Meeres auf und schlachteten die sanften Riesen ohne Gnade hin. Die Überlebenden wurden von ganzen Armeen der Merfolk gejagt, die von Chiannala mit Hilfe der Alten Magie entfesselt worden waren.

Durch und durch friedfertig, hatten die Leviathane diesen Angriffen nichts entgegenzusetzen. Statt dessen zogen sie sich zurück, und ihre Anzahl nahm immer weiter ab. Während ihres Rückzuges wurde den Leviathanen der Kessel des Lebens, der ihr Werk und ihre wichtigste Verantwortung war, von Merfolk gestohlen. Schließlich gelangte er in die Hände von Incondor und Chiannala.

Sie setzten den Kessel für ihre bösen Zwecke ein und beschworen die Todesgeister herauf – Gespenstervampire, die lebendigen Seelen die Lebenskraft aussaugten. Diese nekromantischen Gewalten ließen sie auf das bedrängte Volk der geflügelten Magusch los. Das verzweifelte Himmelsvolk versammelte sich vollzählig – bis hin zum kleinsten Kind – und vereinte seine geistige Kraft zu einem letzten verzweifelten Schlag – einem einzigen vereinten Ausbruch magischer Kraft, der auf das böse Paar zielte. Aber Incondor und Chiannala waren darauf vorbereitet. Mit Hilfe der Feuermagie der Drachenleute hatten sie einen großen Kristall vorbereitet, der die magische Kraft des Himmelsvolkes absorbierte und festhielt. So blieb die Rasse des Himmelsvolkes für immer ihrer magischen Kräfte beraubt.

Die Magusch waren in verzweifelter Not; ihre Anzahl hatte sich auf wenige vermindert, und ihre Waffen waren verloren oder in die Hände ihrer Feinde gefallen. Aber die letzte Hoffnung der Welt ist immer die, daß der Wille des Bösen sich irgendwann gegen sich selbst richtet. Als ihr Ziel schon in greifbare Nähe gerückt war, begannen Incondor und Chiannala sich gegenseitig die Führung streitig zu machen. Mit Hilfe des Kessels saugte Chiannala die Lebensenergie einer gewaltigen Armee von sterblichen Sklaven auf und führte sie ihren magischen Kräften zu. Und Incondor verstärkte seine Macht mit Hilfe des großen Kristalls, in dem die magische Kraft der Himmelsleute gespeichert war, so daß sie schließlich alle verbliebenen Kräfte in sich vereinten. Die Welt wurde von Feuer und Eis, von Fluten und Stürmen, von Erdbeben und Blitzen verwüstet, als die beiden ihren Kampf ausfochten. Mächtige Armeen von Elementargeistern wurden entfesselt, mit denen sie einander zu vernichten trachteten; dabei blieb jedes Leben auf der Strecke, das zufällig im Weg war. Und schließlich geschah das Unvermeidliche: Chiannala und Incondor vernichteten einander, und das Universum atmete auf. Die wenigen Überlebenden kamen aus den Trümmern einer verwüsteten Welt gekrochen, in der nichts mehr so war wie einst.

Die Leviathane hatten sich in ihrer Verzweiflung gerettet, indem sie eine kleine, grimmige Rasse von Kriegern gezüchtet hatten – die Orca –, die der ständigen Bedrohung durch die Merfolk ein Ende machen und den Frieden der Meere wiederherstellen sollte. Aber so furchteinflößend sie auch sein mochten, auch die Orca hatten das sanfte Herz der Leviathane und verabscheuten das Morden, und das Blut ihrer Opfer lastete unerträglich auf ihren Gewissen. Deshalb wurde ihrer Rasse, nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hatte, die Gnade des ewigen Schlafs gewährt; sie wurden eingeschlossen in einer tiefen unterseeischen Höhle und können jederzeit wieder zum Leben erweckt werden, wenn sich das jemals als nötig erweisen sollte. Nachdem dies vollbracht war, beschloß die Rasse der Leviathane, nie mehr Umgang mit den aggressiven und zerstörerischen Völkern des Landes zu pflegen. Sie kapselten sich von allem Kontakt mit der äußeren Welt ab und kehrten zu ihren Meditationen und Spielen zurück. Die Völker auf der Oberfläche der zerstörten Erde hatten bald vergessen, daß die Leviathane etwas anderes waren als wilde Tiere.

Als Buße dafür, daß sie die Geheimnisse der Feuermagie offenbart hatten, mit der solch gewaltiges Unheil angerichtet worden war, kapselten sich ebenfalls die noch übriggebliebenen Drachen ab, zogen sich in die Wüsteneien zurück und leisteten den Eid, die Magie für alle Zeiten aufzugeben. Sie versuchten, Begegnungen mit anderen als ihrer Art zu vermeiden, aber sie wurden oft von Kriegern aufgestört, die allerdings über mehr Mut als Verstand verfügten.

Zu jenen Zeiten brachen viele der Drachen ihren Schwur und bedienten sich der Gewalten der Feuermagie, um sich selbst in andere Welten zu versetzen. Und manchmal kam es vor, daß ein neugieriger Drache im Verlangen nach Kontakt mit der Außenwelt einen Sterblichen – der reinen Herzens und sanftmütig sein mußte – als Gefährten entführte.

Die verbliebenen Himmelsleute, die ihrer magischen Kräfte beraubt waren, übergaben die Windharfe einer Wächterin, die jenseits der Welt existiert – der Cailleach oder Herrin der Nebel, die außerhalb der Zeit an den Gestaden des zeitlosen Sees wohnt. Dezimiert und ihrer Magie beraubt, entwickelten sie notgedrungen ihre kriegerischen Fähigkeiten weiter. Sie beschränkten sich auf ihren eigenen Lebensraum, den sie aber stets mit äußerstem Einsatz gegen alle Eindringlinge verteidigten, denn ihr Sturz in die Niederungen der Machtlosigkeit hatte. sie tief beschämt. Die übrige Welt lernte schnell, einen großen Bogen um sie zu machen. Und die Zauberer? Nun, bei ihnen war es etwas anderes. Als die Seuche um sich griff, sorgte der Oberste Zauberer für den schlimmsten Fall vor. Er befahl seinem Sohn, Avithan, der für seine Weisheit berühmt war, sechs Magusch seines Volkes mit besonderen Fähigkeiten auszuwählen – drei Männer und drei Frauen –, die ihre Rasse erhalten sollten, wenn sie alle verloren waren.

Avithan entschied sich für Iriana, deren Gebiet die wilden Tiere der Erde waren, für Thara, die sich auf alles verstand, was wächst, und für Melisanda, deren Fähigkeit zu heilen es ihr sehr schwermachte, ihr Volk in dieser schlimmen Zeit zu verlassen. Mit ihnen sollten drei Männer gehen – Chathak, der die Drachen liebte und Kenntnisse von deren Magie hatte, Yinze, ein Freund des Himmelsvolkes, und Ionor der Weise, Botschafter der Zauberer bei der Rasse der Leviathane.

Avithan begab sich zu der Cailleach und beschwor sie, diese sechs Auserwählten für hundert Jahre aus der Zeit zu nehmen. Sie war unter der Bedingung einverstanden, daß er selbst für immer die Zeitlichkeit verließ und ihr Seelengefährte würde, denn am Zeitlosen See war es einsam, und Avithan war wohl anzusehen und besaß dazu eine gute und weise Seele. Er willigte ein und verschwand aus der Welt, um in der Legende als Avithan, Vater der Götter, wieder zu erscheinen.

Denn als ein Jahrhundert vergangen war und die sechs Auserwählten zurückkehrten, fanden sie eine Welt vor, die sich bis zur Unkenntlichkeit verändert hatte. Die anderen Rassen der Magusch hatten sich in ihre selbstauferlegte Abgeschiedenheit begeben, und die Rasse der Zauberer war durch die Seuche und die Verheerung, die ihr gefolgt war, völlig ausgetilgt worden. So, wie es aussah, wurde die Welt von der niederen Rasse der Sterblichen beherrscht, die wie Ratten in den Ruinen des geschundenen Planeten haust.

Die sechs überwanden ihren Schrecken und ihren Schmerz und machten sich zügig an die Arbeit. Irianas und Tharas Aufgabe war es, die Tierwelt wiederherzustellen und die Erde wieder grün und fruchtbar zu machen. Melisanda heilte die von Krankheiten geplagten Sterblichen und deren Tiere. Die Männer unternahmen weite Reisen und sammelten die noch auffindbaren Kenntnisse der magischen Disziplinen des Feuers, der Luft und des Wassers, denn alle magische Macht lag jetzt in den Händen der Zauberer, die sich fortan als einzige noch Magusch nannten. Und untereinander machten sich die sechs daran, für den Erhalt ihrer Rasse zu sorgen – eine angenehme Aufgabe, aber auch eine, die mit sorgfältiger Planung durchgeführt werden mußte. Als Schutz gegen zukünftigen Mißbrauch ihrer magischen Kräfte legten sie den Maguschkodex nieder und hinterließen ihn ihren Nachfahren als ein unabänderliches Gesetz, das einzuhalten jeder Magusch bei seiner Seele schwören muß. Und sich in das Unausweichliche fügend – nämlich, daß schließlich für die verachteten Sterblichen das Zeitalter der Freiheit gekommen war –, machten sie sich daran, ihnen soviel beizubringen wie möglich, damit ihre Rasse an Weisheit und Verantwortlichkeit zunehmen konnte.

Tausend Jahre lang mühten sie sich ab und entschlossen sich dann, zu erschöpft für weitere Taten, zusammen aus dem Leben zu scheiden. Sie gingen als Götter und Gottheiten in die Legende ein – Iriana mit den Tieren, Thara von den Feldern und Melisanda mit den heilenden Händen; Chathak, Gott des Feuers, Yinze vom Himmel und Ionor der Weise. Aus ihm wurde für die südlichen Rassen der Schnitter der Seelen, weil er einen Teil des Vermächtnisses der Leviathane besaß und sie es waren, die den Kessel geschaffen hatten, der, so hieß es, über die Wiedergeburt der Seelen wachte. Avithan wurde zum Vater der Götter und Cailleach zu ihrer Mutter.

Aber was war aus den vier großen Artefakten der Macht geworden? Das Schwert war verborgen und wartete auf den Einen, für den es geschmiedet ward. Die Windharfe hatte die Zeitlichkeit verlassen. Der Stab der Erde war verloren, und man glaubte, daß der Kessel in der Verheerung untergegangen sei. Wer hätte gedacht, daß ein Bruchstück davon die Zeiten überdauerte, um in zukünftigen Zeitaltern noch einmal den Sand des Zufalls in das Räderwerk des Gleichgewichts zu streuen.

Aurian tauchte aus Ithalasas Erzählung wieder an die Oberfläche ihres Bewußtseins empor, benommen von dem, was sie gesehen und gehört hatte. Die Geschichte ihres Volkes war vor ihr ausgebreitet worden wie ein offenes Buch. Aber nach alledem schien ihr Ziel unerreichbarer zu sein als jemals zuvor. Miathan hatte eine der Waffen, und zwei der anderen waren offenbar jedem Zugriff entrückt. Selbst die vierte, der Stab der Erde, war seit ungezählten Zeitaltern verloren. Nur die Gegenwart des Leviathan hielt die Magusch von einem gewaltigen Fluch ab. Statt dessen begnügte sie sich mit einem verzagten Seufzer.

»Ach, Vater. Du hättest dir keine Sorgen zu machen brauchen, was ich mit den Waffen anstellen könnte. Ich sehe nicht die geringste Hoffnung, in ihren Besitz zu gelangen. Ich muß wohl ohne sie gegen den Erzmagusch ins Feld ziehen – aber die Götter allein wissen, wie.«

»Verzweifle nicht, Kleine«, beruhigte Ithalasa sie. »Du weißt jetzt viel mehr über die Natur unserer Welt und über die Mächte und die Völker, die sie beherbergt, als dein Feind. Vielleicht wirst du Verbündete finden, mit denen du nicht gerechnet hast. Und da du jetzt das Schicksal der Waffen kennst, kann es gut sein, daß sie sich schließlich ganz von selbst bei dir einfinden.«

Wohl kaum, dachte Aurian unwillig, verbarg diesen Gedanken aber sorgfältig vor Ithalasa. Er hatte sein Bestes getan, und sie war ihm dankbar. Seine nächsten Worte steigerten ihre Dankbarkeit noch. »Ich kann noch eines tun, um dir zu helfen, Tochter. Weder ich noch meine Leute können für dich kämpfen. Das liegt jenseits unserer Natur. Aber ich werde dir eine Beschwörungsformel überlassen – die alte Beschwörung, um die Orca aus ihrer Ruhe zu erwecken. Aber ich bitte dich um ihres Leidens willen, diese Beschwörung nicht zu gebrauchen, wenn du nicht in äußerster Not bist. Doch weiß ich auch, daß du das nicht tun würdest.« Und wieder überschwemmten seine Gedanken sie voller Liebe und Anerkennung, und mit ihnen zusammen übertrug er ihr die Beschwörungsformel – den seit ewigen Zeiten nicht mehr benutzten Ruf, um die Krieger der Rasse der Leviathane aus ihrem Schlaf zu wecken.

»Ithalasa, wie kann ich dir jemals danken?« sagte Aurian. Sie war geradezu überwältigt von Dankbarkeit.

»Verhüte eine neue Verheerung, Tochter. Stell den Frieden der Welt wieder her, falls du es irgendwie vermagst.«

Die Nacht senkte sich über sie, und Aurian war wieder hungrig und sehr müde. Der Leviathan bestand darauf, daß sie aß und schlief, bevor sie zu ihren Gefährten zurückkehrte. Am nächsten Morgen machten sie sich auf den Weg nach Norden. Die Magusch saß auf dem breiten Rücken ihres Freundes und versuchte, ihre Angst und Ungeduld zu zügeln. Als sie den waldgesäumten Strand erreichten, wo sie Anvar und Sara zurückgelassen hatten, fanden sie niemanden vor.

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