21 Die Armreifen Zathbars

Zentimeter um Zentimeter suchte Aurian den verlassenen Strand ab und fand die Überreste eines Feuers und Zeichen eines heftigen Kampfes. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Was war hier geschehen? Einige wenige klare Spuren – die Abdrücke fremder, spitzer Stiefel – waren noch immer zu sehen. Ein gedämpftes Glitzern im Sand zog ihren Blick auf sich. Nach kurzem Graben hielt die Magusch ihren eigenen Dolch in Händen. Mit sinkender Hoffnung versuchte sie zu rekonstruieren, was vorgefallen war, während sie geistesabwesend mit dem Messer herumspielte. Aus dem Wald führten keine fremden Fußabdrücke heraus. Die Eindringlinge mußten also vom Meer gekommen sein. Und tatsächlich, da war eine tiefe Furche am Rand des Wassers – da war der Bug eines Schiffes auf den Sand gezogen worden. Keine Leichen, kein Blut. Hatte man Anvar und Sara lebendig gefangengenommen? Und wenn ja, wo waren sie jetzt? Aurian verfluchte voller Selbstvorwürfe ihre Verspätung. Warum war sie nicht früher zurückgekehrt? Warum hatte sie sie überhaupt hier alleingelassen?

»Solche Gedanken sind töricht, Tochter, und ganz und gar zerstörerisch«, schalt Ithalasa sie sanft. »Du hast getan, was du tun mußtest. Wenn du deine Begleiter wiederfinden willst, kann ich dich vielleicht auf die richtige Spur bringen.«

Er erzählte ihr, daß die Schiffe in diesen Gewässern über einen großen Fluß kamen und gingen, der weiter unten an der Küste mündete. Seine Vettern, die Flußdelphine, hatten ihm erzählt, daß es viele Tagesreisen flußabwärts eine Stadt gab. Wenn ihre Begleiter irgendwo waren, dann dort.

»Obwohl du wirklich recht hattest, sie als Dummköpfe zu bezeichnen«, fügte er trocken hinzu. »Nur ein Narr entzündet in einem fremden Land ein solches Leuchtfeuer, um weiß der Himmel wen herbeizurufen! Aber jetzt mußt du dich entscheiden. Wenn du nach Norden reisen willst, um die Waffen zu suchen, kann ich dich ein gutes Stück mitnehmen, obwohl wir uns gewöhnlich nicht in die nördlichen Gewässer hineinwagen. Aber wenn du deine Begleiter suchen willst, dann führt dein Weg nach Süden, und ich kann dich zur Mündung des Flusses Khazala bringen – des Flusses, den man Lebensblut nennt.«

Aurian befand sich in einem Dilemma. Sie sollte eigentlich so schnell sie nur konnte nach Norden aufbrechen, denn die Zeit war gegen sie. Das Fortschreiten ihrer Schwangerschaft bedeutete, daß sie allmählich ihre Zauberkräfte verlor, die etwa im sechsten Monat ganz verschwinden würden. Bis das Kind geboren war, würde sie dann ihrer Magie beraubt sein. Aurian verspürte nicht den geringsten Wunsch, sich länger in den Südlichen Königreichen aufzuhalten, die den Magusch so feindlich gesinnt waren; auch ihr Baby wollte sie hier nicht zur Welt bringen. Ithalasa konnte sie mühelos und ohne große Schwierigkeiten in ihr eigenes Land zurückbringen. Aber die Magusch gab sich selbst die Schuld am Elend von Anvar und Sara. Sie hätte sie nie verlassen dürfen. Obwohl es ein größeres Risiko bedeutete und einen ernsten Rückschlag für ihre Pläne, würde ihr Gewissen ihr keine Ruhe lassen, wenn sie sie jetzt im Stich ließ. Schließlich bat sie mit schwerem Herzen und voller Zweifel ihren Freund, sie zur Flußmündung zu bringen.

»Tröste dich, Kleines«, sagte er zu ihr, als sie sich auf den Weg machten. »Wer kann die Wege des Schicksals ergründen? Es mag sein, daß du in diesen Ländern Aufgaben zu erfüllen hast, und vielleicht findest du dort sogar einen Teil dessen, was du suchst. Ein solcher Akt der Freundschaft und der Ehre wird sich sicher zum Besten wenden.«

Aurian dachte an ihre Liebe zu Forral, die in Freundschaft und Ehre begonnen und mit einer Tragödie geendet hatte, und unterdrückte eine Antwort. Aber der Abschied von Ithalasa war hart. Als sie ihn mit vielen Tränen an dem breiten Delta, das die Flußmündung bildete, zurückließ, fühlte Aurian sich, als ließe sie auch einen Teil ihrer Seele hinter sich. Sie dachte an Forral und Finbarr, an Vannor, Maya, D’arvan und sogar an ihre Mutter – und an Meiriel und den Erzmagusch, die sie so grausam verraten hatten. War ihr Leben dazu bestimmt, voll trauriger Abschiede zu sein? »Hör damit auf, du Idiot!« schalt Aurian sich selbst, als sie durch den klebrigen, roten Schlamm des Deltas watete. »Selbstmitleid wird dir auch nicht helfen.« Sie wischte sich mit ihrem zerfetzten Ärmel die Tränen ab und lächelte ein wenig, als sie daran dachte, wie Anvar sie einmal wegen dieser Angewohnheit gescholten hatte. In diesem Fall hier war sie vielleicht zu seinem Wiedersehen unterwegs, nicht zu einem Abschied. Aurian betete darum, daß es so sein würde.

Die Magusch hatte nicht damit gerechnet, daß die Reise flußaufwärts so lange dauern würde. Das Tal war breit und flach, eingezwängt zwischen hoch aufragenden Felsklüften aus rotem Stein. Sie fragte sich, was jenseits dieser Klippen liegen mochte, aber da sie eine Todesangst vor Höhen hatte, mußte sie es, soweit das möglich war, vermeiden zu klettern. Außerdem hatte sie weder die Zeit noch die Energie für irgendwelche zusätzlichen Wege. Die Reise war auch so schon schwer genug.

Aurian konnte sehen, warum man den Fluß Lebensblut nannte. Der breite, schlammige Strom zeigte dasselbe rostige Rot wie die Klippen, die an seinen Seiten aufragten. Der dünne Streifen Land zwischen den Klippen und dem Fluß war eine flache Ebene von stinkendem, rostbraunen Schlamm und stehenden, vom Schilf bedrängten Gewässern, und wegen des trügerischen, schlammigen Bodens war Aurian gezwungen, bei Tag zu reisen. Sie fühlte sich auf den nackten Schlammzonen schrecklich ungeschützt. Die Sonne brannte unerbittlich auf sie herab und versengte ihre bleiche Haut, und die Luft schien zu dick zum Atmen. Sie konnte nicht einmal ihre Kleider ablegen, denn die surrenden, gefräßigen Insekten, die sie umschwärmten, waren entschlossen, auf jedem Fleckchen nackter Haut nach Nahrung zu suchen. Ihre Hände und ihr Gesicht waren von juckenden, roten Stichen geschwollen, und die Willensanstrengung, derer es bedurfte, um sich nicht zu kratzen, war gewaltig. Aurian wußte, daß sie ihre Zauberkraft hätte nutzen können, um einen Schild zwischen sich und den kleinen Biestern aufzubauen, aber es widerstrebte ihr, ihre ohnehin schwindende Energie für Magie zu gebrauchen, und sie hatte Angst davor, das in einem Land zu tun, in dem es verboten war.

Am zweiten Tag war Aurian bereits vollkommen erschöpft, und sie litt schlimm unter der Hitze. Obwohl sie ihr langes, dickes Haar zu einem Zopf geflochten hatte, zerrte sein schweißgetränktes Gewicht schmerzhaft an ihrem Kopf, bis ihr schwindelig wurde.

Zur Mittagszeit konnte sie es nicht länger aushalten. Sie blieb stehen, um eine Pause zu machen, fand aber unter der brodelnden Sonne keine Ruhe. Nirgendwo gab es Schatten, und es blieb ihr noch nicht einmal die Möglichkeit, im Fluß Abkühlung zu suchen. Auf der Jagd nach den kleinen, aalartigen Fischen, die im Augenblick ihre einzige Nahrung darstellten, war sie großen Eidechsen begegnet, größer als sie selbst und ausgestattet mit langen, bezahnten Kiefern. Davon abgesehen war der Fluß auch voll von Blutegeln. Von den beiden, so dachte Aurian, wären ihr die Eidechsen immer noch lieber gewesen, aber sie war dennoch ängstlich darauf bedacht, auch ihnen aus dem Weg zu gehen.

Ihr Kopf dröhnte. Im Nacken, dort, wo ihr Zopf herabhing, war es ihr unerträglich heiß. Es hatte keinen Sinn. Ihr Haar mußte weg. Ein solcher Entschluß kostete sie nun nicht mehr so viel Überwindung, wie es früher der Fall gewesen wäre, da ihre jüngsten Entscheidungen soviel ernsterer Natur gewesen waren. Sie benutzte ein stehendes, schilfumsäumtes Gewässer als Spiegel, zog den Dolch hervor, den sie Anvar geschenkt hatte, und hackte sich den Zopf ab. Oh, was für eine wunderbare Erleichterung! Aurian fühlte sich buchstäblich leichter. Der abgetrennte Zopf lag mitleiderregend und wie eine tote Schlange auf dem Boden, überzogen mit getrocknetem Schlamm und Schweiß und verfilzt mit Gräsern und anderen namenlosen Dingen. Aurian starrte ihn angeekelt an. Bei den Göttern, dachte sie, wie weit ist es mit mir gekommen? Sie hatte sich immer so sorgfältig um ihr Haar gekümmert, so wie Forral es ihr beigebracht hatte, als sie noch ein kleines Mädchen war. Es schien, als hätte sie mit dem Zopf auch einen Teil ihres gemeinsamen Lebens abgetrennt. Ich will aber keinen dummen Prinzen. Ich werde dich heiraten. Die Erinnerung an diese kindlichen Worte jagte wie ein gezacktes Messer durch ihre Eingeweide.

Einem Impuls gehorchend, hob Aurian den Zopf hoch und wusch ihn in dem kleinen Teich aus. Augenblicklich löste er sich an dem durchtrennten Ende, und die Masse rotgoldenen Haares floß wie eine Wolke bei Sonnenuntergang im Wasser. Sie ließ das andere Ende des Zopfes verknotet, fischte ihn aus dem Wasser und schlang ihn sich um den Kopf, um ihn so gut sie konnte zu trocknen. Dann wickelte sie ihn fest um ihre Hand und verstaute ihn in einer der tiefen Taschen ihres Lederwamses, wo seine klamme Feuchtigkeit schon bald bis auf ihre Haut hindurchsickerte.

»Du Närrin!« schalt Aurian sich selbst. »Sentimentale Närrin! Du hast dir dieses verflixte Ding abgeschnitten, damit du es nicht länger mit dir herumschleppen mußt.« Aber dennoch war sie froh über ihre Entscheidung – so lange, bis sich das Wasser in dem Teich beruhigte und sie ihr Spiegelbild sah. Wie sah sie nur aus! Obwohl sie nie besonders eitel gewesen war, war Aurian jetzt doch entsetzt. Vorsichtig benutzte sie ihren Dolch, um sich die Haarsträhnen, die zottelig um ihr Gesicht hingen, ein wenig zurechtzuschneiden,’ bis das Ganze nicht mehr allzu schlimm aussah. In diesem Klima war ihre jetzige Frisur gewiß viel bequemer und praktischer, tröstete sie sich, als sie sich wieder erhob und weitertrottete.

An diesem Tag löste sie auch das Problem mit den Insekten, und zwar durch reinen Zufall. Als sie in der Ferne ein Schiff flußabwärts auf sich zukommen sah, blieb Aurian keine andere Wahl, als sich mit dem Gesicht nach unten in den Schlamm zu werfen, um sich zu verstecken, und dann ganz still auf dem Boden liegen zu bleiben, bis die Galeere außer Sicht war. Bei dieser Gelegenheit bemerkte sie auch, daß der stinkende Schlamm, der ihre Haut überzog, ein perfekter Schild war, nicht nur gegen die Sonnenglut, sondern auch gegen die blutsaugenden Biester, die sie so geplagt hatten. Sie dankte der Vorsehung und machte sich mit großer Erleichterung wieder auf den Weg, wobei sie nun ab und zu Pause machte, um ihren Schutz zu erneuern, wenn der Schlamm getrocknet war und sich in der grellen Sonne abgeschält hatte. Meine eigene Mutter würde mich nicht wiedererkennen, dachte sie, und fragte sich, was Eilin so weit weg in ihrem nördlichen Heim widerfahren sein mochte. Würde der Erzmagusch seinen Groll an ihr auslassen? Aurian erzitterte, und sie wünschte sich, irgendeine Möglichkeit zu haben, ihre Mutter zu warnen. Aber wie dem auch sei, sie konnte nichts anderes tun, als ihre Zähne zusammenzubeißen und sich der Aufgaben, die vor ihr lagen, anzunehmen.

Am vierten Tag wurde das Land allmählich trockener. Aurian sah auf ihrem Weg kleine Streifen kultivierten Landes mit eigenartigen, angepflockten Ziegen und primitiven Hütten aus geflochtenen Binsen: die Behausungen von Bauern und Fischern. Also konnte sie nur noch nachts weitergehen und mußte sich tagsüber in Ermangelung eines besseren Platzes in den von Blutegeln heimgesuchten Schilfbeständen verstecken. Die ständige Gefahr einer Entdeckung war ein schrecklicher Druck für ihre Nerven. Sie hatte gehofft, von den Bauern etwas zu essen stehlen zu können, um ihre unzureichende Fischdiät ein wenig aufzubessern, aber diese Menschen waren so verzweifelt arm und elend, daß sie sich nicht dazu überwinden konnte.

Am sechsten Abend erreichte Aurian schließlich ein Gebiet, das vollkommen kultiviert war. Jedes kostbare Stückchen Erde zwischen dem Fluß und den Klippen war genutzt worden. Die Unterkünfte, die sie jetzt zu sehen bekam, machten einen stabileren Eindruck. Sie bestanden aus Weidenruten und grobem Putz und waren mit den allgegenwärtigen Binsen gedeckt. Nun tauchten auch verkümmerte Bäume auf, und neben dem hochwillkommenen Versteck, das sie ihr boten, war Aurian mehr als erfreut darüber, zu entdecken, daß sie eine reiche Ernte an Nüssen trugen, die zu dieser Jahreszeit in ihrem eigenen Land nicht mehr zu finden sein würde. Aurian dankte den Göttern für diesen Segen.

Zwei Abende später, als sie um eine enge Biegung des Flusses kam, sah Aurian zum ersten Mal die Stadt. Der Anblick überraschte sie so sehr, daß sie sogar die Erschöpfung ihrer achttägigen, anstrengenden Reise vergaß. Noch nie in ihrem Leben hatte sie etwas derartiges gesehen. Gebäude, die im fahlen Mondlicht knochenweiß wirkten, kauerten sich dicht an dicht zu beiden Seiten des Flusses auf den flachen Boden und stiegen dann beinahe senkrecht in die Höhe – auf gefährlich konstruierten Terrassen, die in die Klippen hineingehauen waren, die das gesamte Tal überragten. Schmale, finster aussehende Kriegsschiffe bevölkerten die Kais am Flußufer in stiller Eintracht mit kleineren Booten und niedrigen, flachen Kähnen, deren kunstvolles Aussehen viel beruhigender war.

Die Stadt war erheblich größer, als die Magusch erwartet hatte, und ihre Architektur erschien ihr vollkommen fremd. Die Dächer waren flach oder gewölbt, und einige wurden von schlanken, geriffelten Turmspitzen gekrönt. Auch die Türen und Fenster waren in der Regel gewölbt und unterschieden sich damit sehr von der nützlichen, quadratischen Form, mit der sie vertraut war. Unmögliche Brücken, die vom Boden aus körperlos wie dünne Fäden wirkten, spannten sich hoch über ihrem Kopf, Hunderte von Fuß weit und tausend Fuß hoch. Bei dem bloßen Gedanken daran wurde Aurian mit ihrer irrationalen Höhenangst übel und schwindelig. Der Mangel an schützenden Mauern verwirrte sie, da sie nicht wissen konnte, daß die Klippen jenseits der Stadt von etwas viel Mächtigerem, viel Erschreckenderem bewacht wurden, als es eine von Menschen ersonnene Verteidigung je sein konnte.

Aurian schob sich das zerzauste Haar aus den Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Es würde kein Problem sein, in die Stadt hineinzukommen – aber was sollte sie tun, wenn sie erst einmal drin war? Wie sollte sie Anvar und Sara in einer Stadt von dieser Größe finden? Und waren sie überhaupt dort? Lebten sie noch? Warum hatte sie sie überhaupt allein gelassen? Um diese Fragen kreisten unaufhörlich ihre Gedanken, aber sie fand keine Antworten darauf.

Erst nach einer ganzen Weile wurde Aurian sich ihrer ungeschützten Position bewußt, und sie wandte sich nach rechts zu den Klippen, wo sie in einem Hain niedriger, knorriger Bäume Schutz fand. Sie erkannte sie wieder; es waren dieselben Bäume, die sie auch auf ihrem Weg flußaufwärts begleitet hatten, und wie erwartet hielten sie eine reiche Ernte reifer Nüsse für sie bereit. Mit dem Kind in ihrem Bauch, das ihre Energie aufsog, war Aurian schon wieder halb verhungert. Hastig sammelte sie, bevor auch der letzte Lichtstrahl des Mondes hinter den Klippen verschwand, eine große Menge Nüsse. Dann machte sie es sich zwischen den hohen Wurzeln eines alten Baumes bequem und begann, die harten Nußschalen mit dem Griff ihres Dolches aufzubrechen.

Nach dem Essen ging es ihr wieder besser, und sie konnte sich den vor ihr liegenden Problemen zuwenden. Von Forral hatte sie die Methode gelernt, ein Problem in kleine, lösbare, einzelne Schritte aufzuteilen. Welchen Schritt mußte sie in diesem Fall als ersten tun? Nun, vor allem mußte sie aufhören, sich Sorgen zu machen. Wenn Anvar und Sara dort waren, würde sie sie finden. Und wenn nicht, würde sie darüber nachdenken, wenn die Zeit dazu gekommen war. Immer schön eins nach dem anderen. Um in die Stadt zu kommen, ohne Verdacht zu erregen, mußte sie einige Kleider stehlen, mit denen sie ihre zerlumpte Kampfmontur ersetzen konnte. Sie mußte erreichen, daß man sie für eine Eingeborene hielt, also war es wichtig, erst einmal herauszufinden, wie diese Leute aussahen, und sich dann eine passende Verkleidung zu suchen. Da sie eine Magusch war, würde die Sprache ihr keine Probleme bereiten. Wenn sie mit ihrer Verkleidung fertig war, würde sie sich beschaffen müssen, was auch immer in diesen Gefilden als Geld benutzt wurde. Aurian begriff mit grimmiger Belustigung, daß sie ihrer wachsenden Sammlung von Fähigkeiten, seien sie nun magisch oder kriegerisch, nun auch den Diebstahl würde hinzufügen müssen. Sie streckte ihre schmerzenden Glieder und gestattete sich, sich zu entspannen. Jetzt, da sie einen Plan hatte, konnte sie sich im Versteck dieser schützenden Bäume i eine Weile ausruhen. j Voller Erschöpfung versank sie zwischen den Baumwurzeln j in tiefem Schlaf. Als der Morgen dämmerte und die Vogeljäger mit ihren Hunden und Netzen herbeikamen, schlief sie immer noch. Die Hunde hatten sie sofort entdeckt, und ihr Jaulen weckte sie gerade rechtzeitig, um ihr Schwert zu ziehen und sich gegen die Herren zu verteidigen. Die Jäger waren keine Krieger. Aurian tötete einen und setzte zwei weitere außer Gefecht, bevor ihre Kameraden es schafften, sie in ihren Netzen zu fangen.

Der Aufruhr hatte die Bauern, die auf den Feldern in der Nähe arbeiteten, herbeigelockt, und schließlich fand Aurian sich hilflos in den Netzen verfangen am Boden liegend wieder, umgeben von einer erstaunten, lautstarken Menschenmenge.

»Seht euch nur diese blasse Haut an!«

»Und dieses Haar. Es hat die Farbe von Blut!«

»Ein Krieger?«

»Ein Dämon?«

»Eine Frau?«

»Sie hat den armen Harz getötet!«

»Holt den Ältesten!«

Fluch über den Ältesten, dachte Aurian und bewegte ihre Hände ein wenig, um ihre Feuermagie zur Hilfe zu rufen, damit sie die Netze verbrennen konnte. Die Bewegung war unklug. Die Bauern sahen sie, und der rohe Schlag eines Knüppels raubte ihr das Bewußtsein.

Aurian erwachte mit rasenden Kopfschmerzen. Sie lag auf dem marmornen Fußboden einer langen, weißen Halle, immer noch gefangen in dem Netz der Vogeljäger und fest verschnürt mit einem Seil. Ihr Stab steckte immer noch in ihrem Gürtel, aber ihr Schwert war verschwunden. Die Magusch fluchte leise. Es sah so aus, als hätte man sie in die Stadt gebracht, und nachdem sie sich kurz umgesehen hatte, glaubte sie, sich in einer Art Gerichtssaal zu befinden. Die Richter, so fand sie schließlich heraus, wurden respektvoll als Gebieter bezeichnet. Es gab drei davon, alle gleichermaßen gekleidet in lange, weiße Gewänder; sie trugen einen fließenden, weißen Kopfschmuck und saßen auf einer erhobenen Plattform am anderen Ende der Kammer hinter einem Tisch. Die weißen Masken, die sie vor ihren Gesichtern trugen, verwandelten sie in anonyme, ausdruckslose Wesen. Für Aurian war das ein beängstigender Anblick. In ihrem Land war weiß die Farbe die Todes.

Aus den Geschichten, die Forral ihr erzählt hatte, glaubte Aurian zu wissen, daß die braunen, dunkelhaarigen, feinknochigen Menschen die Khazalim sein mußten. In diesem Fall würde der Gebrauch ihrer Magie den sofortigen Tod bedeuten; sie hatte bereits gesehen, daß überall auf der oberen, umlaufenden Galerie der Halle Bogenschützen Wache standen. Daher beschloß sie, sich die Magie als letzte Möglichkeit offenzuhalten – sie würde abwarten und sehen, ob sie sich nicht irgendwie herausreden konnte. Während ihre Wächter darauf warteten, an die Reihe zu kommen, hörte Aurian, wie die Gebieter die anderen Fälle behandelten. Die Bestrafungen waren von grausamer Härte. Der Verlust einer Hand für Diebstahl, Kastration oder Steinigung für ein ehebrecherisches Paar. Bei den Göttern, wie würde die Strafe für Mord aussehen? Angst ballte sich in Aurians Magen zu einer eisigen Faust zusammen, und sie straffte sich. Sie würde ihr Leben teuer verkaufen. Allerdings nicht hier, nicht mit diesen Bogenschützen im Rücken. Wenn sie sie hinrichten wollten, würden sie sie gewiß nach draußen bringen …

Schließlich kam Aurians Fall an die Reihe. Die Männer, die sie gefangen hatten, zerrten sie vor die kalt blickenden Gebieter und zwangen sie, immer noch gefesselt, auf die Knie. Der Dorfälteste, dessen Gesicht ausgezehrt, abgehärmt und mit den Narben einer ausgestandenen Krankheit überzogen war, erzählte seine Geschichte. Als er geendet hatte, wandten sich die Gebieter an die Magusch, und sie spürte, wie ihre kalten Augen sie durchbohrten, während sie das fremdartige Aussehen der Gefangenen zur Kenntnis nahmen. Dann begann der Mann in % der Mitte des Trios zu sprechen. »Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?«

Aurians Verstand hatte mit der blitzartigen Geschwindigkeit der Verzweiflung gearbeitet, um eine plausible Geschichte zu ersinnen, die ihr vielleicht das Leben retten würde. Da diese Leute so versessen auf eheliche Treue zu sein schienen, hatte sie sich für Vergewaltigung entschieden. Zögernd erklärte sie, daß sie mit ihrem Mann und dessen Schwester (für den Fall, daß Anvar und Sara irgendwo in der Stadt sein sollten) gereist war, als ein Sturm sie nach Süden verschlug und sie Schiffbruch erlitten. Sie habe die anderen verloren, erzählte sie, und sei auf der Suche nach ihnen flußaufwärts gegangen. Schließlich sei sie unter einem Baum eingeschlafen, wo sie bei ihrem Erwachen von einer Bande zerlumpter Männer überfallen worden sei (dieser Teil ihrer Geschichte, soviel stand fest, stimmte jedenfalls). Noch halb im Schlaf, habe sie geglaubt, diese Männer wollten sie vergewaltigen, und daher habe sie sich, so gut sie konnte, verteidigt, denn sie habe lieber sterben wollen, als sich einem anderen Mann als ihrem Ehemann hinzugeben.

Die Gebieter berieten sich mit leisen Stimmen, dann wandte ihr Sprecher sich wieder an Aurian. »Diese Geschichte erklärt aber nicht deine außergewöhnlichen Fähigkeiten im Kampf.«

Aurian bemühte sich nach Kräften, ruhig zu bleiben, und wünschte nur, sie hätte das Gesicht ihres Richters sehen können.

»In meinem Land werden viele Frauen zu Kriegern ausgebildet.«

»Ich verstehe.« Er legte die Arme auf den Tisch, beugte sich vor, und sie sah, wie seine Augen hinter der Maske schmal wurden. »Und wie willst du deine Kenntnisse unserer Sprache erklären? Nur die dämonischen Zauberer aus dem Norden haben eine solche Vertrautheit mit unserer Sprache. Kannst du leugnen, daß du eine von diesen Zauberern bist?«

Ein leises, erstauntes Wispern kam von den Zuschauern. Die Leute, die ihr am nächsten gestanden hatten, traten hastig zurück, ihre Augen vor Furcht geweitet. Aurian schluckte. Sie hatte sich verraten. Sie holte tief Luft, dachte schnall nach und setzte alles auf eine Karte. »Ich war eine Zauberin. Aber ich bin vor der Verderbtheit des Zauberergeschlechts geflohen, um mit meinem Mann Zusammensein zu können.« Was würden sie davon halten?

»Und ist dein Mann auch ein Zauberer?«

»Nein. Er ist ein Sterblicher, und unsere Verbindung war verboten. Das ist auch der Grund, warum ich geflohen bin und den Übeln der Zauberei für immer entsagt habe. Ich hatte nie die Absicht, in euer Land einzudringen, und ich will Eurem Volk nichts Böses. Ich bedauere zutiefst, was ich getan habe, aber es war wirklich ein Unfall. Alles, was ich will, ist, meinen Mann finden und von hier weggehen. Ich bin allein und schutzlos, und ich habe Angst. Um des Erbarmens willen, wollt ihr mich nicht gehen lassen?«

Der Gebieter zog sich hoch. »Erbarmen? In dieser Stadt gibt es kein Erbarmen für Missetäter. Du hast ein Leben geraubt. Verboten! Du bist eine Fremde, die in unser Land eingedrungen ist. Verboten! Du bist eine Zauberin. Verboten! Welches Recht auf Erbarmen hast du?«

Aurian senkte den Blick. »Keins, und doch bitte ich darum. Es mag sein – es ist – alles, was ich habe.«

Abermals berieten sich die Gebieter miteinander. Der Mann in der Mitte, der offensichtlich die größte Autorität besaß, schien mit den beiden anderen zu streiten. Schließlich wandte er sich wieder an Aurian. »Ich glaube, daß du auf jeden Fall die Wahrheit sagst, denn hättest du nicht deiner Zauberei entsagt, hättest du deine bösen Mächte gegen die Leute, die dich gefangengenommen haben, einsetzen können. Oder gegen uns. Das hast du nicht getan, was bedeutete, daß du nichts Böses im Schilde führst. Und du tust mir leid, denn du bist wirklich allein und schutzlos. Dein Mann ist bisher noch nicht hier in der Stadt erschienen. Wenn dem so wäre, hätte man ihn zu uns gebracht, so, wie es unser Gesetz verlangt.« Seine Wörter trafen Aurian wie ein körperlicher Schlag. Sie brauchte Trauer und Entsetzen nicht vorzutäuschen. Anvar und Sara mußten tot sein. Und es war ihre Schuld und das Ganze vollkommen umsonst.

Als der Gebieter wieder zu sprechen begann, klang seine Stimme weniger hart als zuvor. »Nach dem Gesetz müßtest du für deine Verbrechen sterben, aber der Schnitter der Seelen würde es gewiß mit Mißfallen betrachten, wenn wir eine Frau in deiner schwierigen Lage verdammen würden. Doch gehen lassen können wir dich nicht. Also werden wir dir die Wahl überlassen. Als Alternative zur Hinrichtung magst du die Arena riskieren, wo Verbrecher wie du zur Unterhaltung des Khisu und des Volkes kämpfen und zwar bis zum Tode. Es heißt, du hättest große Fähigkeiten als Kriegerin gezeigt. Vielleicht kannst du dir, wenn du gut kämpfst, deine Freiheit zurückgewinnen – oder du wirst, falls du weiter nach deinem Mann suchen willst, die Möglichkeit haben, ihm in die Kornkammern des Schnitters zu folgen. Akzeptierst du dieses Unheil?« Es war keine Frage, und Aurian wußte das auch. Aber zumindest ließ er eine winzige Möglichkeit zur Flucht.

»Ich akzeptiere – und ich danke Euch für Eure Gnade«, sagte sie.

»Da wäre noch etwas …« Der Gebieter winkte einen Bediensteten des Gerichts heran und gab ihm mit leiser Stimme einen Befehl. Der Mann verließ den Raum und kam kurz darauf mit einem grauen Metallkasten in der Hand zurück. Der Kasten war mit fremden, geheimnisvollen Symbolen ziseliert, die Aurian schaudern ließen. Der Gebieter blies die dicke Staubschicht weg und hob den Deckel, um etwas aus dem Kasten herauszunehmen, das sie nicht sehen konnte. Er wies die Wachen an, ihre Fesseln zu lösen, ging vorsichtig auf sie zu und befestigte mit überraschend sanften Bewegungen etwas an ihren Handgelenken. Als das zweite Schloß zuschnappte, krümmte Aurian sich und fiel zu Boden. Ihr eigener Schmerzensschrei dröhnte ihr in den Ohren. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr Inneres nach außen gestülpt. Eine schleichende Schwäche überwältigte sie, als würde ihr die Seele aus dem Leibe gesogen. Sie spürte starke Arme unter sich, als der Gebieter sie auf eine Bank an der Wand hob und ihr einen Becher Wein an die Lippen hielt. Dankbar nippte Aurian daran. Ihre Muskeln versagten ihr den Dienst, und ihr war schwindelig, ein Mangel – eine kalte, graue Leere, die ihrem suchenden Geist immer wieder entschlüpfte.

»Was hast du mit mir gemacht?« flüsterte sie.

Der Gebieter schien erschüttert zu sein. »Ich habe dir die Armreifen von Zathbar angelegt. Ein Zauberbann – ein Artefakt, das wir vor langer Zeit in einem Drachenhort gefunden haben. Das Geheimnis seiner Schöpfung ist in den Nebeln der Zeit verlorengegangen. Ich hatte keine Ahnung, daß die Armreifen eine solche Wirkung auf dich haben würden, aber sie sind notwendig, wenn du in unserem Land leben willst. Die Armreifen sind mit Zaubersteinen besetzt, die deine Zauberkräfte aufheben und in sich zusammenschmelzen lassen; sie werden mein Volk gegen jeden Versuch von dir schützen, deine bösen Mächte auf uns zu richten.«

Aurian spürte einen heißen Zorn in sich aufsteigen. Diese Leute, die so heftig gegen die Benutzung von Zauberei protestiert hatten, hatten selbst zu negativer Magie gegriffen, um Aurians magische Kräfte zu fesseln. O ihr Götter, dachte Aurian verzweifelt. Wie soll ich nur jemals wieder hier herauskommen?

Das Kriegerquartier in der Arena war sehr angenehm – für ein Gefängnis jedenfalls. Aurians Zelle hatte verriegelte Fenster und eine stabile Tür, aber die glatten, weißen Wände und der braun geflieste Boden waren makellos sauber, und sie hatte einen Tisch, einen Stuhl, eine Truhe und ein schmales Bett für sich. An den Wänden waren Haken befestigt, an denen sie ihre Kleider aufhängen konnte, und ein gewebter Teppich auf dem Boden brachte einen Hauch fröhlicher Farbe in die Zelle. Aurian konnte sich kaum noch daran erinnern, wie sie hierher gekommen war. Irgend etwas hatte ihr geholfen und ihre Fesseln gelöst, und sie war zu Tode erschöpft auf dem Bett eingeschlafen.

Als sie erwachte, dämmerte es bereits. In einer Nische hoch oben in der Wand brannte eine Öllampe unerreichbar hinter einem kleinen Eisengitter, wahrscheinlich für den Fall, daß sie beschließen sollte, sich selbst in Brand zu setzen, dachte sie trocken. Die Schmerzen und die Erschöpfung waren verflogen, und nur eine gräßliche graue Leere war zurückgeblieben – das Fehlen ihrer Magie. Aurian kämpfte die Panik nieder, die sie zu ersticken drohte. Sei kein Narr, sagte sie sich, sonst wirst du niemals hier herauskommen. Aber oh, diese trostlose, kalte Leere … Gewöhn dich besser daran, befahl sie sich unnachgiebig. Und zwar schnell.

Sie setzte sich auf, suchte den Raum ab und sah eine großzügige Mahlzeit auf dem Tisch stehen. Ah, das sah wirklich gut aus! Sie schien schon seit einer Ewigkeit nichts mehr gegessen zu haben. Obwohl die Speisen kalt geworden waren, schmeckten sie ihr wunderbar. Es gab da eine Art Haferbrei aus gekochten Hülsenfrüchten, würzig und wohlriechend, dazu eine Keule gebratenen Fleisches, das sich als Ziege erwies, und ein etwas seltsames flaches Brot. Außerdem stand auf dem Tisch eine Schale mit Früchten und einem weißen Käse, der so stark war, daß ihr die Tränen in die Augen traten – und Wein, ein reicher, dunkler Rotwein, fruchtig und stark. Aurian schlang alles in sich hinein, um die Tage des Fastens wieder wettzumachen. Dann nahm sie sich einen randvollen Becher Wein und die Flasche mit ins Bett, lehnte sich an die Mauer und legte ihre Füße hoch. Sie blinzelte in die tanzende Flamme der Lampe, bis sie alles doppelt und verschwommen sah. Ihr Götter, dieser Wein war wirklich stark! Oder hatte er nur deshalb eine solche Wirkung auf sie, weil sie so erschöpft war?

Die Magusch fühlte sich seltsam betäubt und schwerelos. Der Diebstahl ihrer Zauberkräfte, ihre augenblickliche Zwangslage und der Verlust von Anvar und Sara – an nichts von alledem konnte sie im Augenblick denken. Sie wußte, daß sie irgendwelche Pläne schmieden mußte, aber sie konnte sich einfach nicht dazu überwinden. Seit ihrer Flucht aus der Akademie hatte sie pausenlos unter Druck gestanden, ihr Leben sich immer auf des Messers Schneide befunden. Jetzt war sie gefangen und hatte keine andere Wahl, als stillzusitzen, und ihr Verstand und ihr Geist nutzten die Gelegenheit nach Kräften, um sich auszuruhen und sich zu erneuern. Und der Wein tat das seinige. Langsam fielen ihre Augen zu, und sie begann einzunicken …

Dann hörte sie plötzlich, wie ein Schlüssel im Schloß herumgedreht wurde. Blitzartig setzte Aurian sich auf und blinzelte in das blendende Sonnenlicht, das durch das verriegelte Fenster ihrer Zelle fiel. Sie griff nach ihrem Schwert, aber es war natürlich nicht mehr da. Ein großer, braunhäutiger Mann in mittleren Jahren trat mit einem Tablett in der Hand in die Zelle. Die Magusch machte keine Bewegung, sondern beobachtete ihn, während er zum Tisch ging und seine Last dort absetzte. Sein Kopf war vollkommen kahl, und über dem linken Augen trug er eine Augenklappe. Von der Klappe aus verlief eine bleiche, gezackte Narbe quer über sein Gesicht. Unter seinen weiten, roten Gewändern war sein Körper kräftig, breitschultrig und geschmeidig; er erinnerte sie schmerzlich an Anvar.

Schließlich drehte er sich zu ihr um und verbeugte sich tief.

»Einen schönen Tag wünsche ich dir, Krieger.« Seine Stimme war tief und weich.

Aurian reagierte instinktiv auf seine Höflichkeit und neigte zur Antwort den Kopf. »Einen schönen Tag wünsche ich dir, Herr – und dein Tag wird sicher schöner sein als meiner, fürchte ich«, fügte sie trocken hinzu.

Der Mann lächelte. »Das bleibt abzuwarten. Eliizar bin ich, und Schwertmeister der Arena.« Er verbeugte sich abermals. Aurian erhob sich, rieb sich ihren schmerzhaft steifen Nacken und antwortete ihm in gleicher Manier.

»Aurian bin ich – und eine Närrin, so scheint es, daß ich im Sitzen eingeschlafen bin.« Während sie sprach, fragte sie sich, warum die Armreifen sie nicht ihrer Fähigkeit, die fremde Sprache zu sprechen, beraubt hatten. War es möglich, daß der Zauber eine Lücke aufwies?

Eliizar lächelte. »Du warst wirklich sehr erschöpft – und auch hungrig, wie es scheint.« Er zog angesichts der spärlichen Überreste dessen, was von ihrem Abendmahl übriggeblieben war, die Augenbrauen hoch. »Ich hielt es für das beste, dich erst einmal schlafen zu lassen. Wir haben Masseure hier, die sich um deinen steifen Nacken kümmern können, aber laß uns als erstes miteinander frühstücken. Ich bin neugierig, deine Geschichte zu hören, und sicher, daß du viele Fragen hast, die du mir stellen möchtest.«

Das Frühstück bestand aus hartgekochten Eiern, dem unvermeidlichen flachen Brot und dazu Käse, Honig und Früchten – und einem mit einem flachen Deckel verschlossenen Topf, aus dem das verführerischste Aroma aufstieg.

»Was ist das?« fragte sie Eliizar. Seine Augenbrauen fuhren überrascht in die Höhe.

»Du kennst keinen Liafa? Dann hast du nie gelebt! Liafa ist der Segen des Kriegers – es gibt Kraft, Mut und ein waches Auge.« Er goß ihr eine Tasse von der dampfenden, schwarzen Flüssigkeit ein und reichte sie Aurian, die augenblicklich eine Grimasse zog. Es sah aus wie Schlamm. Aber dann atmete sie noch einmal das berauschende Aroma ein, nahm einen Schluck und – würgte. Der Geschmack war stark und ausgesprochen bitter.

»Es – es schmeckt nicht so, wie es riecht«, sagte sie ein wenig töricht.

Eliizar lächelte und häufte einen Löffel voll Honig in ihre Tasse, den er anschließend energisch verrührte. »Versuchs noch einmal«, drängte er sie. Aurian griff nach der Tasse, als sei sie eine Schlange, aber da sie nicht ihr Gesicht verlieren wollte, trank sie noch einmal davon. Diesmal leuchtete ihr Gesicht vor Freude auf. Nachdem der Honig die Bitterkeit vertrieben hatte, war das Getränk einfach köstlich – und außerdem anregend. Aurian, der es immer schwerfiel, morgens richtig aufzuwachen, war begeistert. Mit großer Lust machte sie sich nun über ihr Frühstück her.

»Wie bist du hierher gelangt, Aurian?« fragte Eliizar und lenkte ihre Aufmerksamkeit vom Essen ab. »Wie ist es möglich, daß eine Dame ein Krieger ist? In diesem Land kennt man keine Schwertkämpferinnen.«

Aurian wiederholte die Geschichte, die sie bereits den Gebietern erzählt hatte. Als sie ihre beiden verlorengegangenen Begleiter erwähnte, wurde Eliizars gesundes Auge schmal. »Ah«, sagte er nachdenklich. »Dann ist an den Gerüchten vielleicht doch etwas Wahres.«

Aurian zuckte bei seinen Worten zusammen. »Was für Gerüchte?«

Der Schwertmeister zögerte. »Es hat vielleicht nichts damit auf sich«, sagte er schließlich. »Du weißt, wie manchmal plötzlich aus dem Nichts ein Gerücht entsteht …«

Aurian umklammerte sein Handgelenk. »Sag es mir!«

Eliizar wandte den Blick ab. »Na schön«, sagte er widerwillig. »Vor ein paar Tagen hieß es auf dem Markt, daß ein Korsarenschiff irgendwo weiter oben an der Küste Fremde gefunden habe und daß eine Frau von überwältigender Schönheit dabeigewesen sein soll. Aber kein Fremder ist meines Wissens in die Stadt gekommen – bis auf dich natürlich.«

»Wenn jemand sie gefangengenommen hat, was wäre dann mit ihnen passiert? Bitte sag es mir.«

»Man hätte sie vor die Gebieter gebracht, so wie dich. Das ist Gesetz bei uns«, sagte der Schwertmeister schroff.

»Und wenn nicht?« beharrte Aurian.

»Nun, es gibt schon seit langem Gerüchte über einen illegalen Sklavenhandel, aber in diesem Falle hätte man die Frau gewiß an ein Haus der Lust verkauft. Und du kannst sicher sein, daß das nicht passiert ist. Jedermann in der Stadt hätte mittlerweile von einem Wunder erfahren, daran gibt es keinen Zweifel. Laß es auf sich beruhen, Aurian. Was auch immer ihnen widerfahren ist, es hat auf dich hier keinen Einfluß.«

Eliizar schluckte und machte ein unglückliches Gesicht. »Kriegerin, du mußt dich an diesem Ort auf dein eigenes Überleben konzentrieren, solange du nur kannst. Seit du das Gelände der Arena betreten hast, stehst du unter dem Bann des Todes, mag er nun früher kommen oder später.«

Aurian ließ entsetzt seinen Arm los. »Aber der Gebieter sagte, ich hätte eine Chance, meine Freiheit zurückzugewinnen.«

Der Schwertmeister schüttelte den Kopf. »Es war grausam und falsch von ihm, eine solche Hoffnung in dir zu wecken«, sagte er ausdruckslos.

»Dann hat er also gelogen? Es gibt keine Möglichkeit …?«

»Ausgeschlossen!« Eliizar erhob sich abrupt. »Hier bist du nichts als Schwertfutter für die Belustigung des Khisu. Er ist ein grausamer Mann, und keiner weiß das besser als ich. Zuerst muß ich herausfinden, welches Kampfniveau du im Vergleich zu den anderen Kriegern hast. Ich habe dein Schwert, das ich dir wiedergeben soll. Du wirst mit den anderen trainieren, immer unter Beobachtung. Wir kämpfen in der Arena auf Leben und Tod. Sei gewarnt! Wenn du dort kämpfst und es dir gelingen sollte, deinen ersten Gegner zu besiegen, dann wirst du als nächstes gegen zwei auf einmal kämpfen müssen, dann gegen drei. Und falls du durch ein Wunder all das überleben solltest, wirst du dem Schwarzen Dämon gegenübergestellt.«

Aurians Kopfhaut kribbelte. »Und wenn ich diesen Dämon besiege?«

»Dann erhältst du deine Freiheit wieder. Aber das ist unmöglich. Niemand hat je den Dämon besiegt. Niemand kann das!«

Aurian stand auf und straffte die Schultern. »Ich werde ihn besiegen«, knurrte sie. »Wann fangen wir an?«

Eliizar schüttelte traurig den Kopf und ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Aurian hörte, wie der Schlüssel im Schloß umgedreht wurde. Sie zuckte mit den Schultern und kehrte zu ihrem Frühstück zurück. Sie hatte nicht die Absicht, die heimtückische Angst, die sie um sich und um ihr Kind hatte, auch noch zu unterstützen. Sie würde all ihre Kraft benötigen. Nachdem sie gegessen hatte, ruhte sie sich eine Weile aus und versenkte sich dann in die tiefe Meditation von Forrals lange vernachlässigten Übungen für Schwertkämpfer. Was auch immer kommen mochte, sie würde bereit sein. Sie mußte es sein!

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