16 Begegnung mit Wölfen

Der Tag ging bereits in den Abend über, als Eliseth unangemeldet in der Turmstube des Erzmagusch erschien. Miathan saß mit zusammengekniffenen Augen und aufs äußerste konzentriert über einen Kristall gebeugt, der auf einem schwarzen Tuch auf dem Tisch lag. Er blickte auf, und seine dunklen Augen blitzten, als er die Maguschfrau eintreten sah. »Erbarmen, Eliseth, kannst du mich nicht in Ruhe lassen? Weißt du nicht, wie schwierig das hier ist? Wenn ich Finbarrs Aufzeichnungen nicht hätte …«

»Wenn Finbarr nicht gewesen wäre, dann hätten deine verfluchten Geister uns inzwischen alle niedergemacht!« gab Eliseth knapp zurück. »Bei den Göttern, Miathan, warum hast du uns nichts davon erzählt?« Sie deutete auf den Kelch, der auf dem Tisch stand. Er hatte seine Schönheit eingebüßt; das fein polierte Gold war schwarz und stumpf geworden. »Du solltest doch am besten wissen, wie gefährlich es ist, mit der Hohen Magie herumzuspielen«, fuhr Eliseth fort. »Bragar und ich hätten dir helfen können, die in dem Kelch schlummernden Kräfte kennen und beherrschen zu lernen; aber nein – du mußtest es ja allein versuchen. Und jetzt schau dir das Ergebnis an! Ein Magusch ist tot, eine Magusch ist verschwunden, und eine weitere ist nur noch ein wahnsinniges Wrack. Nur die Götter wissen, wie viele Sterbliche deine Kreaturen in der letzten Nacht in der Stadt umgebracht haben. Alles ist in Aufruhr.«

»Genug!« brüllte Miathan. Er war aufgesprungen und lief im Zimmer hin und her, atmete tief ein und aus und bemühte sich, nicht wieder – wie gestern abend – seine Beherrschung zu verlieren. Die Folgen waren zu katastrophal gewesen. »Wie ist momentan die Situation in der Stadt?«

»Deswegen komme ich – um dir von den Auswirkungen deiner Schandtat zu berichten.« Eliseth nahm Platz und rieb sich müde die Augen. »Bragar und ich haben die ganze Stadt abgesucht, um deine Kreaturen zu finden und unschädlich zu machen. Nur die Götter wissen, ob wir sie alle erwischt haben – ich für meinen Teil bezweifle das. Wir haben verbreitet, daß niemand weiß, wo sie herkommen, und daß die heroischen Magusch Leib und Leben riskieren, um die Bürger von Nexis vor ihnen zu schützen.« Ihre Stimme troff vor Verachtung. »Sie scheinen das zu schlucken – zumindest im Augenblick; jetzt wäre also eine gute Gelegenheit, deine Herrschaft über die Stadt zu festigen, solange die Leute noch Angst haben.«

»Was ist mit der Garnison?« fragte Miathan scharf.

Eliseth zuckte die Achseln. »Die Truppen sind erschüttert über den tragischen Tod ihres geliebten Führers. Ich habe seine Leiche dort abgelegt, wo ich sie hinbringen sollte, und es hat nicht lange gedauert, bis sie gefunden wurde. Die Soldaten haben alle Hände voll zu tun, die Ordnung aufrechtzuerhalten – wegen Panik, Plünderei und dergleichen mehr –, und es scheint ein ausgeprägter Mangel an Führern zu herrschen. Maya, Forrals Stellvertreterin, ist in irgendeiner geheimnisvollen Mission unterwegs – niemand weiß wohin –, und der Kavalleriehauptmann Parric scheint verschwunden zu sein. Desertiert wahrscheinlich, wenn er halbwegs bei Verstand ist. Jedenfalls ist sein Leichnam bisher noch nicht gefunden worden.«

»Ausgezeichnet.« Miathan rieb sich die Hände. »Dann haben wir die Sache ja noch einmal gerettet. Gut gemacht, Eliseth.«

»Wenn wir das tatsächlich haben, dann merke dir gut, wer dir geholfen hat, aus diesem Dreck herauszukommen«, erwiderte Eliseth kurz angebunden. »Was sollen wir mit all den erstarrten Todesgeistern anfangen, Miathan? Du hast keine Ahnung, wie man die verfluchten Dinger zurück in den Kessel bekommt, und wir können sie kaum überall in der Stadt verstreut zurücklassen.«

»Du mußt einen Apportzauber anwenden – das hat bei denen funktioniert, die wir hier hatten.« Miathan machte eine Geste, die das ganze, inzwischen von Todesgeistern völlig freie Zimmer umfaßte. »Ich habe sie zunächst einmal unten in Finbarrs Archiven verstaut – kann man sich einen besseren Platz vorstellen?«

Eliseth runzelte die Stirn. »Offen gesagt, mißfällt mir die Vorstellung, über diesen Dingern zu hausen. Wir alle wissen, wie man den Ruhezauber löst und sie wieder in die Zeit zurückholen kann. Du solltest besser vorsichtig damit sein, Miathan.«

»Ich bin immer vorsichtig.« Miathans Stimme enthielt eine kaum versteckte Drohung. »Ich beabsichtigte, diesen Teil der Katakomben zu versiegeln, und nur du, Bragar und ich werden wissen, wo diese Kreaturen geblieben sind. Und ich bin sicher, daß ich dir vertrauen kann – oder?«

»Natürlich kannst du das.« Eliseth schluckte unbehaglich. »Ach übrigens, wie geht es Meiriel?«

»Immer noch nicht wieder bei Sinnen«, seufzte Miathan. »Finbarrs Tod hat sie schwer erschüttert. Ich habe einen halben Tag darauf verwendet, sie davon zu überzeugen, daß Aurian für seinen Tod verantwortlich ist und nicht ich. Sie ist im Moment in einem solch kritischen Zustand, daß es mir tatsächlich gelungen ist. Was sich für uns als nützlich erweisen könnte, wenn wir Aurian finden.«

»Hast du irgendwelche Spuren von Aurian entdeckt?«

»Nein – aber ich werde sie finden, keine Angst. Sie ist flußabwärts geflohen, das weiß ich. Ich habe Spuren ihrer Magie am Wehr entdeckt. In Norberth konnte ich sie nicht lokalisieren, deswegen habe ich die Suche auf den Ozean ausgedehnt. Ich vermute, daß Vannor mit ihr gegangen ist; oder hast du in der Stadt irgend etwas gefunden, was auf seinen Verbleib hindeutet?«

Eliseth schüttelte den Kopf. »Miathan«, schlug sie vor, »wäre es nicht besser, wenn du dich zunächst einmal auf Nexis konzentrierst? Vannor verschwunden, Forral tot – die Situation ist ziemlich kritisch.«

»Nein!« Miathans Augen leuchteten in wahnsinnigem Glanz. »Ich muß sie finden, Eliseth. Du weißt, daß sie Forrals Tod nicht ungesühnt lassen wird. Außerdem ist da immer noch die Sache mit diesem verfluchten Kind! Es darf nicht überleben.«

»Ich bin sicher, daß du sie finden wirst. In der Zwischenzeit kann ich mich ja für dich um die Dinge hier kümmern. Aber ich brauche Hilfe. Elewin sagt, daß die meisten unserer Diener und Wachen entweder tot oder geflohen sind.«

»Gut, dann kümmere dich darum.« Miathan, der sich bereits wieder seinem Kristall zugewandt hatte, bedeutete ihr geistesabwesend, zu gehen.

»Noch eine Sache.« Eliseth zögerte. »Mußt du Davorshan gerade jetzt fortschicken? Wir sind ja nicht mehr eben zahlreich, und ich könnte jetzt wirklich seine Hilfe brauchen.«

Der Erzmagusch stierte sie aus blutunterlaufenen Augen an. »Ja, ich muß, in der Tat. Er muß zum Tal gehen, Eliseth, denn Eilin ist die einzige hier, von der uns noch Gefahr droht. Ich habe vor, uns die Lady vom See vom Hals zu schaffen, ein für allemal.«

Humpelnd schleppte sich Maya den bewaldeten Hang hinauf, der an den oberen Rand des tief eingeschnittenen, mondbeschienenen Tales grenzte. Sie zerrte am Zügel von D’arvans Pferd, das sie führte. Es war großes Pech gewesen, daß ihr eigenes Pferd an diesem Morgen gelahmt hatte, nachdem sie auf ihrem Weg nach Norden anfangs so gut vorwärts gekommen waren. Damit mußte sie nun auch noch fertig werden, zusätzlich zu den Sorgen, die sie sich um D’arvan machte. Sie hielt kurz an, um zu verschnaufen, und blickte sich bekümmert zu dem Magusch um, der steif auf seinem Pferd saß, das Gesicht mit seinen zarten Zügen ausdruckslos, die Augen leer.

Maya murmelte einen Söldnerfluch. Sie wünschte, er würde endlich wieder normal werden. Er hatte sie vor drei Nächten fast zu Tode geängstigt, als er plötzlich diesen merkwürdigen Anfall bekam. Gerade eben noch hatten sie friedlich an ihrem kleinen Lagerfeuer gesessen, und im nächsten Moment hatte er sich völlig verkrampft, hatte sich sein Gesicht verzerrt und hatten sich seine Augen einwärts gedreht, bis nur noch das Weiß der Augäpfel zu sehen war. Er hatte sich irgend etwas von der Seele geschrien – daß Finbarr tot sei, und etwas von schrecklichen Ungeheuern und von Miathan –, bevor er zusammenbrach. Und seither war er so passiv wie ein Stein. Er konnte reiten, wenn sie ihn aufs Pferd setzte, essen, wenn sie ihm etwas in den Mund steckte, und schlafen – so sah es jedenfalls aus –, wenn sie ihm die Augenlider schloß und ihn hinlegte; aber ansonsten war mit ihm so wenig anzufangen, daß Maya ebensogut mit einem Leichnam hätte reisen können. Der Gedanke ließ die Kriegerin erschaudern. Sie hatte den jungen Magusch wirklich gern und versuchte, nicht an die Möglichkeit zu denken, daß sein Zustand von Dauer sein könnte. Maya biß sich auf die Lippen. Ich hoffe nur, daß ich Aurians Mutter bald finde, dachte sie. Sie wird doch bestimmt in der Lage sein, D’arvan zu helfen.

Nach kurzer Pause trottete Maya tapfer weiter den Hang hinauf. Wo immer die Probleme lagen, sie hoffte, daß Lady Eilin sie würde lösen können und sie wieder zurück in die Stadt gehen könnte. Sie hatte das Gefühl, daß dort irgend etwas ganz und gar nicht stimmte, und ihr Instinkt, der sich in über einem Dutzend Dienst jähren bei der Truppe entwickelt hatte, ließ sie selten im Stich. Sie wußte von Aurian, daß alle Magusch den Tod eines der ihren spürten. War dieser Anfall D’arvans seine Reaktion auf Finbarrs Hinscheiden gewesen? Und was hatte es mit dem Erzmagusch und den Ungeheuern auf sich? Wenn es in Nexis Schwierigkeiten gab, dann gehörte sie, Maya, schleunigst an die Spitze der Truppen. Unzufriedenheit mit sich selbst nagte an ihr. Sie und D’arvan waren sich in den letzten Monaten sehr nahe gekommen, und jetzt schämte sie sich, weil sie sich den Wunsch eingestehen mußte, sie hätte sich lieber nicht freiwillig für diese Aufgabe als Kindermädchen gemeldet.

Plötzlich lag das Tal vor ihr, weit und mondbeschienen. Maya hielt die Luft an. Es war enorm! Welche zerstörerische Kraft konnte diesen gewaltigen Krater geformt haben?

Sie führte das Pferd an dem steilen Abgrund entlang und suchte nach einem sicheren Weg für den Abstieg durch die steile schwarze Bergwand. Dann durchdrang zu ihrem Schrecken ein gellender Ruf, der einem das Blut gefrieren ließ, den Wald hinter ihr. Das unheimliche Geheul eines großen Wolfsrudels auf der Jagd. Das Pferd warf seinen Kopf herum und bäumte sich auf; D’arvan wurde zu Boden geworfen.

Maya fluchte, hielt sich verbissen an den Zügeln fest und kämpfte mit dem verängstigten Tier. »Nein, das wirst du nicht tun«, murmelte sie. »Ich werde dich nicht auch noch verlieren!« Irgendwie gelang es ihr, die Zügel um einen starken Ast zu schlingen und festzubinden. Das Pferd bockte und wieherte, während sie dorthin zurückrannte, wo D’arvan lag. Er wies kein Anzeichen einer Verletzung auf und schien den Sturz ebensowenig wahrgenommen zu haben wie alles andere auch. Sie schleppte seine steife Gestalt zu dem Baum hinüber, lehnte ihn an den Stamm und richtete sich keuchend wieder auf. Das Heulen kam näher, wurde immer gellender und erregter.

Sie waren ihr auf der Spur! Großer Chathak, sie kamen von allen Seiten!

Maya überlegte, ob sie das Pferd laufen lassen und darauf hoffen sollte, daß es die Wölfe von ihr ablenken würde, aber dann beschloß sie, sich diese Möglichkeit als letztes Mittel aufzusparen. Sie mußte ja D’arvan noch quer durch das Tal bringen, und das würde sie ohne Reittier niemals schaffen. Gebückt sammelte sie einen kleinen Stoß Zweige und einige trockene Blätter, die ihr als Zunder dienten. Dann schlug sie einen Funken, machte ein kleines Feuer und legte noch einige tote Äste darauf, die sie unter den Bäumen fand. Wölfe fürchteten das Feuer. Sie zückte ihr Schwert und steckte es vor sich in die Erde, damit sie es griffbereit hatte. Dann nahm sie ihren Bogen vom Rücken, zog einen Pfeil und bezog mit dem Rücken gegen den Baum neben D’arvan Posten.

Wie eine dunkle Welle strömten die Wölfe mit triumphierendem Jaulen zwischen den Bäumen hervor. Dann sahen sie das Feuer. Die graue Welle brach sich, zögerte. Ein Wolf kam aus dem Halbdunkel in das Licht des Feuers gelaufen, ein gewaltiges, silbergraues Tier, dessen Augen in der Glut der Flammen grüngold leuchteten. Maya spannte den Bogen bis zum äußersten, zielte und …

»Halt!«

»Was zum …!« Maya machte einen Satz, und der Pfeil flog irgendwo in die Dunkelheit. Verdammter D’arvan! Warum hatte er sich gerade diesen Sekundenbruchteil ausgesucht, um wieder zu sich zu kommen? Fieberhaft griff sie nach dem nächsten Pfeil in ihrem Köcher.

»Halt, Maya!« D’arvans Stimme war jetzt drängend. »Laß das! Ich kann mit ihm reden. Er will uns nichts tun.«

Maya setzte den Pfeil auf die Sehne, zögerte dann und starrte den Wolf absolut ungläubig an.

Er saß auf seinen Hinterläufen, sein Maul zu einem breiten Grinsen geöffnet, und die Zunge hing ihm seitlich aus dem Maul heraus, alles ganz wie bei dem freundlichen Hund, der sich seine Bissen an der Küchenbaracke der Garnison abzuholen pflegte. Der Reste der Meute saß in gleicher Positur da oder lag entspannt auf dem Boden. Maya rührte sich nicht.

»D’arvan«, sagte sie leise mit zusammengebissenen Zähnen, »würdest du mir vielleicht erklären, was zur Hölle hier vorgeht?«

Der junge Magusch setzte sich mühsam auf. »Sie bewachen das Tal«, sagte er. »Eilin hat ihnen befohlen, gut achtzugeben, nach dem – nach dem, was neulich nachts passiert ist.«

»Was ist denn neulich nachts passiert, D’arvan?«

D’arvan verzog das Gesicht zu einer Maske des Schmerzes. »Finbarr …« Er schüttelte den Kopf; seine wie hinter einem Schleier liegenden Augen wirkten ruhelos. Der Klang von Hufschlägen, erst metallisch auf Felsen, dann gedämpft auf dem Lehmboden des Waldes, ersparte ihm eine Antwort. Maya straffte die Sehne ihres Bogens, und die Wölfe erhöben sich eilig.

Ein weißes Pferd kam aus dem Wald; es trug die in einen Umhang gehüllte Gestalt einer Frau mit wirrem Haar. Der Stab in ihrer Hand erstrahlte in einem überirdisch grünen Licht. Die Spitze von Mayas Pfeil entflammte in gleißendem Licht, und die Kriegerin ließ ihn sofort fluchend fallen.

»Wer seid ihr?« Die Stimme der Frau klang angespannt.

Maya holte tief Luft und zwang sich, ganz ruhig zu bleiben. »Maya, Leutnant der Garnison von Nexis und Freundin der Lady Aurian. Ich habe eine Botschaft von Lady Aurian an ihre Mutter, die Lady Eilin.« Langsam griff sie in ihre Bluse, zog eine Schriftrolle hervor und hielt sie der Lady mit einer Verbeugung hin. Einer der Wölfe kam zu ihr hingetrottet und nahm die Rolle in sein Maul. Dann lief er damit zu Eilin hinüber und legte ihr sein Mitbringsel in die Hand. Im Lichte ihres Zauberstabes prüfte Eilin die Rolle und nickte. »Das ist ihr Siegel«, sagte sie besänftigt. Sie erbrach das Siegel, entrollte das Papier und überflog schnell dessen Inhalt.

»Bist du D’arvan?« Die Lady wandte sich dem jungen Magusch zu, der aufgestanden war und sich verbeugte. »Ja, Lady Eilin.«

»Bleib, wo du bist!« Eilins Stimme knallte wie ein Peitschenhieb über die Lichtung, und der große Wolf gab ein tiefes, warnendes Grollen von sich. »Woher soll ich wissen, daß ich euch vertrauen kann?« sagte die Lady. »Nach dem, was sich vor einigen Nächten ereignet hat.«

»Würde mir vielleicht jemand erklären, was sich vor einigen Nächten ereignet hat?« unterbrach Maya sie.

Eilin blickte sie streng an. »Du meinst, du weißt es nicht?«

»Meine Schuld, Lady«, sagte D’arvan. »Finbarrs Tod war ein so schwerer Schock für mich …« Er zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, was seither passiert ist, bis ich wach wurde und die Wölfe sah.«

»Dein Glück, daß dich wenigstens die Wölfe wach bekommen haben«, sagte Eilin trocken. »Aurian schreibt in ihrer Botschaft, daß sich deine magischen Kräfte nie entfaltet haben. Wie kommt es dann, daß du mit meinen Wölfen sprechen kannst?«

»Das weiß ich nicht«, gab D’arvan zu. »Ich habe vorher nie versucht, mich mit Tieren zu unterhalten. Ich wußte nicht, daß ich das konnte.«

»Nun, dann gibt es ja noch Hoffnung für dich«, sagte Eilin. »Das heißt, wenn du mir die Wahrheit sagst. Wirst du dich prüfen lassen?«

D’arvan nickte und trat mit angespannter Miene vor. Die Lady streckte ihm ihren leuchtenden Stab entgegen, und er streckte die Hand aus, um dessen mit Eisen eingefaßtes Ende fest in die Hand zu nehmen. Der grüne Schimmer leuchtete auf und bildete eine blendende Aureole, die den Körper des jungen Magusch ganz einschloß.

D’arvan stöhnte und sank auf die Knie. Durch das funkelnde Licht hindurch konnte Maya erkennen, daß ihm Schweißtropfen auf die Stirn traten, und unwillkürlich entfuhr ihr ein Schrei. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, aber schon versperrte der große Wolf ihr den Weg, und einige andere kamen hinzu und bildeten einen Kreis um sie.

Dann war es vorüber. Das Maguschlicht erlosch, nur noch die flackernden Flammen von Mayas kleinem Feuer beleuchteten die Lichtung, und D’arvan ließ mit einem Seufzer der Erleichterung den Stab los. Er schien in sich zusammenzusinken. Eilin lächelte. »Du hast dich wacker geschlagen, junger Magusch«, sagte sie. »Die Wahrheitsprüfung ist keine angenehme Erfahrung.« Sie wandte sich Maya zu. »Meine Entschuldigung, Leutnant Maya, dafür, daß ich euch beide verdächtigt habe. Aber schwere Zeiten stehen uns bevor – die schwersten, die die Welt seit der Verheerung gesehen hat.«

»Lady, was ist denn nun geschehen?« verlangte Maya zu wissen. »Wenn es in Nexis Probleme gibt, dann sollte ich sofort dorthin zurückkehren.«

Eilin schüttelte den Kopf. »Nein, mein Kind. Es wäre ein großer Fehler, unausgeruht und ohne zu wissen, was vorgefallen ist, nach Nexis zurückzueilen. Im Grunde ist es wahrscheinlich ohnehin sinnlos, daß du zurückkehrst. Gedulde dich noch ein wenig. Kommt mit zu mir, dann werde ich euch erzählen, was ich weiß – schlimme Nachrichten, soviel steht fest –, und dann können wir entscheiden, was zu tun ist.«

»So soll es sein, Lady.« Maya zügelte ihre Ungeduld und zwang sich anzuerkennen, daß es jetzt das beste war, Lady Eilins Vorschlag zu befolgen.

Lady Eilin nahm D’arvan mit auf ihr Pferd, Maya vergrub sorgfältig die Reste ihres Feuers, bestieg dann das andere, immer noch unruhige Tier und schloß sich der Lady an. Sie ließen die Wölfe, die weiter Wache hielten, hinter sich zurück.

Die warme, rote Glut in Eilins Küchenherd vertrieb rasch die Kälte der Winternacht. Die Lady ließ es die beiden sich bequem machen, tischte Brot und Käse auf und schenkte ihnen dampfenden, aromatischen Tee in große Tassen ein, an denen sie ihre Hände wärmten. Als die Magusch sich mit ihrer eigenen Tasse zu ihnen setzte, konnte Maya ihre Neugier kaum noch bezwingen. Eilin öffnete ihren Mund, als ob sie endlich reden wollte, hielt dann aber mit einem leichten Achselzucken der Hilflosigkeit inne.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe schon so lange zu niemandem mehr gesprochen; man kommt aus der Übung.« Sie seufzte. »Nun ja, es muß wohl sein.« Sie schloß die Augen und ließ die Erinnerung in sich erstehen. Maya hätte am liebsten vor Ungeduld laut aufgeschrien, aber sie nahm sich zusammen und übte sich in Geduld.

»Ich gehe gewöhnlich zu Bett, wenn die Sonne untergeht«, sagte Eilin schließlich. »Vor drei Nächten wachte ich plötzlich auf – ich glaubte, Aurian gehört zu haben, die mich rief. Um Hilfe rief. Sie klang so verzweifelt – und ich wußte, daß es kein Traum war. Ich konnte aber danach nichts mehr hören und war zu Tode geängstigt. Ich stand auf und holte mir meinen Kristall. Es ist schon Jahre her, seit ich zum letzten Mal die Hellseherei damit praktiziert habe – wonach hätte ich auch damit draußen in der Welt Ausschau halten sollen? Solange Aurian mich gelegentlich besuchte, wußte ich, daß es ihr gutging. Aber in jener Nacht habe ich in den Kristall geschaut, und ich sah …« Ihre Stimme brach, und ihre Hände wurden weiß, so krampfhaft umklammerten sie die Tasse.

»Was hast du gesehen?« drängte Maya. »Lady, bitte …«

Eilin seufzte lang und tief. »Grauenhafte Erscheinungen«, sagte sie. »Kreaturen, so schrecklich, daß es sich jeder Vorstellung entzieht. Der Erzmagusch hat leichtfertig mit einem uralten magischen Werkzeug hantiert. Aus dem Abgrund von Legenden und Geschichte hat er die Todesgeister des Kessels entfesselt.«

Maya verstand nichts von diesen Dingen, aber sie sah das Entsetzen auf D’arvans Gesicht und die Blicke, die er und Eilin austauschten. Sie wußten offensichtlich um das Ausmaß der furchtbaren Bedrohung.

»Das war aber noch nicht alles«, fuhr die Lady fort, und ihre Augen wurden dunkel vor Kummer. »Maya, es tut mir leid, daß ich dir das mitteilen muß. Der Erzmagusch hat eine dieser entsetzlichen Kreaturen auf Forral losgelassen. Ich sah ihn fallen, und ich sah ihn sterben.«

»Nein«, flüsterte Maya. Die Welt schien stillzustehen. »O Lady, nein.« Sie hatte geglaubt, als Kriegerin damit zurechtzukommen, Kameraden in der Schlacht zu verlieren, aber jetzt spürte sie, wie sich ihr die Kehle vor erstickten Tränen zuschnürte. Nicht Forral! Sie hatte nie einen besseren Mann gekannt. Er war nicht nur ihr Kommandant gewesen, sondern in den letzten Monaten auch ein enger Freund geworden, so wie Aurian. Arme Aurian! Maya rang nach Luft. »Was ist mit Aurian?« stöhnte sie.

»Sie lebt. Finbarr kam noch rechtzeitig, um sie zu retten. Irgendwie hat er einen Weg gefunden, diese Monstrositäten unschädlich zu machen, und zwei Männer – sterbliche Männer – haben Aurian dann fortgebracht.« Eilins Stimme klang bemüht. »Ich habe keine Ahnung, was danach mit ihr geschehen ist. Ich nehme an, daß sie geflohen ist. Sie lebt, dessen bin ich mir sicher, aber ich kann sie nicht finden. Ich habe meine Verbindung zu ihr verloren, als der arme Finbarr starb. Die Todesgeister waren zu zahlreich für ihn. Am Ende fiel er, und D’arvan muß seinen Tod gespürt haben, so wie alle anderen Magusch auch.«

»Ja«, flüsterte D’arvan. »Ich habe gespürt, wie er dahinging. Große Götter, Lady, was sollen wir nur tun? Wie konnte Miathan einer solchen Tat fähig sein?«

»Miathan war immer zu weit mehr fähig, als die meisten ihm zugetraut haben.« Eilins Augen wurden hart. »Ich habe nie einen Beweis dafür besessen, daß er bei Geraints Tod die Hand im Spiel hatte, aber ich hatte meine Vermutungen. Das war einer der Gründe, warum Ich hierher floh, als Aurian noch ein Säugling war. Aber mit den Jahren habe ich mir selbst eingeredet, daß es eine dumme Idee war, aus Kummer geboren, und deshalb habe ich meiner Tochter gestattet, an die Akademie zu gehen, als sie älter wurde. So eine Dummheit! Ich hätte meinen Instinkten vertrauen sollen. Aber ich wünschte, ich wüßte, warum der Erzmagusch sich so plötzlich zu dieser neuerlichen Untat entschlossen hat. D’arvan, du warst an der Akademie. Hast du irgendeine Erklärung dafür?«

»Eigentlich nicht, Lady, obwohl Miathan sich in letzter Zeit merkwürdig verhalten hat. Was er mir angetan hat – er und mein Bruder …« D’arvan erzählte ihr seine Geschichte, und Eilins Miene verfinsterte sich noch mehr.

»Lächerlich!« sagte sie. »Natürlich hast du magische Kräfte, das müßte er doch wissen.« Dann hielt sie inne. »Ach, oder doch nicht?« murmelte sie. »D’arvan, hat dir deine Mutter jemals von deinem Vater erzählt?«

Der junge Magusch blinzelte sie fragend an. »Was soll sie mir erzählt haben, Lady? Meine Eltern sind beide gestorben, als ich noch sehr jung war – ungefähr zu der Zeit, als Miathan Erzmagusch wurde –, aber ich kann mich an meinen Vater noch ganz gut erinnern. Bavordran war ein Wassermagusch; schlau, ja, aber in keiner Hinsicht etwas Besonderes. Was hätte sie mir von ihm erzählen sollen?«

Eilin schien sich für einen Augenblick in ihren Gedanken zu verlieren, aber dann setzte sie sich kerzengerade auf, und ihre Züge zeigten plötzlich Entschlossenheit. »Vielleicht bin ich die einzige, die es weiß«, murmelte sie zu sich selbst. »Vielleicht hat Adrina beschlossen, sich nur mir anzuvertrauen.« Sie sah D’arvan direkt an. »Mach dich auf einen Schock gefaßt, junger Magusch«, sagte sie. »Davorshan ist nicht dein Zwillingsbruder, er ist nur dein Halbbruder. Sein Vater war Bavordran, aber deiner … Nun, das ist eine ganz andere Geschichte.«

D’arvan fiel die Tasse aus der Hand; sie zersplitterte auf dem Boden, ohne daß er es überhaupt merkte. »Was meinst du damit?« stöhnte er. »Das kann doch nicht wahr sein! Wie ist das möglich?«

»Oh, wir Maguschfrauen können diese Dinge regeln, wenn es sein muß«, sagte Eilin. »Nachdem sie dich empfangen hatte, hat Adrina schnell dafür gesorgt, daß Bavordran auch einen eigenen Sohn bekam, um seine Verdächtigungen zu zerstreuen. Ihr seid nur wenige Tage nacheinander gezeugt worden, und es war für sie nicht schwierig, dafür zu sorgen, daß ihr am gleichen Tag geboren wurdet – Adrinas Begabung für das Heilen war genauso einzigartig wie ihre Fähigkeiten in der Erdmagie.« Sie zuckte die Achseln. »Es war ziemlich gewagt von ihr. Von Anfang an hat man sich gewundert, warum ihr beiden euch so gar nicht ähnlich saht.«

»Aber …« D’arvan würgte, als blieben ihm die Worte im Halse stecken. »Dann – wer ist dann mein Vater?«

Eilin lächelte. »Hellorin, der Fürst der Wälder.«

»Lady, das finde ich gar nicht spaßig!« Maya hatte D’arvan noch nie so verärgert gesehen. »Wie kannst du es wagen, dir solche Scherze mit mir zu erlauben! Der Fürst der Phaerie, wahrhaftig! Was für ein Unfug! Die gibt es doch nur in Mythen und Kindermärchen!«

Eilin blickte ihn streng an. »Junge, dachtest du, ich würde mit dergleichen scherzen? Du liegst völlig falsch, wie fast alle anderen auch. Natürlich existieren die Phaerie, und es gibt sie schon viel länger als die Sterblichen oder die Magusch. Sie haben ihre eigenen Kräfte, andere als wir, und wenn sie sie dazu verwenden, sich von uns fernzuhalten, dann kann ich ihnen das nicht übelnehmen. Deine Mutter hat mir niemals erzählt, wie sie Hellorin kennengelernt und sich in ihn verliebt hat, aber es war an der Akademie kein Geheimnis, daß sie und Bavordran kaum etwas füreinander empfanden. Sie hat nur eingewilligt, seine Lebensgefährtin zu werden, weil ihr Vater darauf bestand – Zandar, der vor Miathan Erzmagusch war. Er war besorgt, daß die Magusch aussterben könnten, und Bavordran war damals der einzige Partner, der noch frei war.« Eilin seufzte. »Ja, sie hat sich schließlich mit ihm abgefunden, weil sie ihren Vater liebte und respektierte, aber es hat ihr kein Glück gebracht. Bavordran war der langweiligste und egozentrischste Magusch, den ich jemals kennengelernt habe, und er hat ihr das Leben auf jede Weise schwergemacht. Als Adrinas Freundin war ich froh darüber, daß sie doch noch Liebe erfahren hat, wenn auch nur kurz und mit einem Phaeriefürsten. Und du warst die Frucht dieser Liebe, D’arvan. Dein Bruder war ein Kind der Pflicht, aber du warst ein Kind der Liebe.«

D’arvan schauderte. »Aber, Lady«, rief er verzweifelt, »was bin ich denn nun eigentlich?«

»Einzigartig!« erwiderte Eilin munter. »Meiner Meinung nach, D’arvan, bist du dem Rest der Magusch keineswegs unterlegen. Aurian glaubt, daß du vielleicht für die Erdmagie begabt bist, und die Tatsache, daß du in der Lage bist, mit meinen Wölfen zu sprechen, scheint das zu bestätigen. Wir werden bald wissen, wie weit du dich in diese Richtung entwickeln kannst. Und was die Fähigkeiten anbelangt, die du möglicherweise von deinem Vater geerbt hast – nun, ich weiß kaum, wo man da anfangen soll. Die magischen Kräfte der Phaerie gehen weit über das hinaus, was wir Magusch je kennengelernt haben. Wollen wir uns zunächst auf das konzentrieren, was ich dir beibringen kann; danach, so schlage ich dir vor, gehst du dann und fragst Hellorin.«

»Was?« D’arvan schnappte nach Luft.

»Ich wüßte nicht, warum du das nicht solltest«, erwiderte Eilin. »Ich weiß, daß die Phaerie uns hier in diesem Tal sehr nahe sind. Sie heißen meine Arbeit hier gut – daß ich die Bäume wieder hierher zurückbringe und alles, was dazugehört … Und wenn sein eigener Sohn nach ihm ruft, dann antwortet Hellorin bestimmt. Aber …« Sie hob warnend die Hand. »Du darfst dich nicht kopfüber in solch ein Abenteuer stürzen, D’arvan. Die Phaerie gelten als ziemlich gerissen, und ich will dich gerade jetzt nicht an sie verlieren. Wir müssen Miathan entgegentreten, und da Aurian verschollen ist und Finbarr tot, bleiben nur noch wir beide übrig, du und ich. Den anderen würde ich nicht so weit trauen, wie ich spucken kann.«

»Aber, Lady, was können wir denn schon gegen den Erzmagusch ausrichten?« sagte D’arvan.

»Im Moment habe ich auch keine Idee. Ich denke, wir warten am besten und schauen, was passiert. Jedenfalls bin ich müde, und ihr seid müde, und du hast heute nacht so oft einen Schock erlitten, daß du kaum noch in der Lage sein dürftest, einen klaren Gedanken zu fassen. Und die arme Maya sieht aus, als würde sie jede Sekunde einschlafen.« Eilin lächelte der Kriegerin freundlich zu. »Ich schlage vor, wir gehen jetzt alle zu Bett und schmieden morgen früh unsere Pläne.«

Dagegen hatte keiner etwas einzuwenden. Zu viele schockierende Nachrichten, das war es wohl, dachte Maya, als Eilin ihr den kleinen Raum neben der Küche zeigte, in dem früher einmal Forral gewohnt hatte. D’arvan wurde Aurians altes Zimmer zugewiesen. Die schmerzhafte Erinnerung an ihre beiden verlorenen Freunde rief Maya ins Gedächtnis zurück, daß es noch etwas gab, das sie der Lady bisher nicht anvertraut hatte. »Lady Eilin«, sagte sie plötzlich, nicht mehr fähig, sich zu überlegen, wie sie es ihr schonend beibringen könnte. »Wußtest du, daß Aurian und Forral ein Paar waren?«

»Ein Paar?« Einen furchtbaren Moment lang leuchteten Eilins Augen in Maya hinein, und dann verbarg die Magusch ihr Gesicht in den Händen. »Große Götter«, flüsterte sie. »Warum habe ich das nicht kommen sehen? Da war immer diese tiefe Zuneigung zwischen ihnen – aber wie konnten sie nur so dumm sein?« Sie wandte sich zu Maya um, die Augen von Schmerz verdüstert. »Nun, sie können nicht dafür verantwortlich gemacht werden, daß sich der Erzmagusch dem Bösen hingegeben hat, aber jetzt wissen wir, was ihn zu seinen Taten trieb. Miathan war besessen von dem Gedanken an die Reinheit unserer Rasse, und er hat ihnen diese Verbindung sicherlich übelgenommen.« Sie schüttelte den Kopf. »Mein armes Kind«, murmelte sie. »Mein armes, armes Kind.« Eilin stieg die Stufen ihres Turmes hinauf, und Maya konnte von unten ihr leises Weinen hören.

Mitten in der Nacht, in der dunkelsten und schlimmsten Stunde, wenn es den Anschein hat, daß es niemals wieder Morgen wird, ging Maya von ihrem Zimmer in die Küche, um sich an der Glut des Herdes zu wärmen. Trotz ihrer Erschöpfung hatte sie es nicht geschafft, einzuschlafen. Ihre Gedanken waren erfüllt von Kummer um Forral, der ihr so nahe schien in dem Zimmer, das einst das seine gewesen war, und von Furcht um Aurian, die jetzt ein Flüchtling war. Ihr Götter, wie groß mußte ihr Schmerz sein! Maya sorgte sich außerdem um ihre Stadt, die jetzt von einem dem Bösen verfallenen Wahnsinnigen beherrscht wurde, und um ihre Truppen, die die Folgen der über sie hereingebrochenen Katastrophe würden tragen müssen. Zwischen Trauer und Sorge war sie zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Ihre verzweifelten Anstrengungen machten alles nur noch schlimmer. Was ist los mit mir? dachte sie verzweifelt. Ich bin ein verdammter Soldat. Ich bin dazu ausgebildet, mit Gefahrensituationen zurechtzukommen! Es muß irgend etwas geben, das ich tun kann! Aber was immer es war, es entzog sich ihr. Niemals zuvor war sie sich so allein vorgekommen – so vollkommen erbärmlich hilflos.

Das Geräusch einer Tür, die geöffnet wurde, ließ sie nach ihrem Schwert greifen, aber der Eindringling war nur D’arvan, der aus seinem Zimmer kam. Er wirkte ausgemergelt und zerquält. »Du auch?« sagte Maya kläglich. Sie war dankbar für die Gesellschaft.

D’arvan starrte sie an. »Wie soll ich wohl schlafen können nach alledem, was ich heute abend erfahren habe?« fragte er.

»Ja, wie wohl? Ich kann ja auch nicht schlafen nach dem, was ich erfahren habe, und bei dir war es ja noch viel schlimmer.« Das Selbstmitleid, das in der Stimme des Magusch mitgeschwungen hatte, war ihr eine heilsame Erinnerung. Sie war nahe daran gewesen, im gleichen Sumpf zu versinken. »Möchtest du etwas Tee?« fragte sie ihn.

»Nein! Ich will, daß das alles nicht wahr ist! Ich will aufwachen und in meinem Bett in der Akademie liegen, will, daß alles so ist wie immer – und daß keine von diesen verfluchten Geschichten sich jemals ereignet hat!« Er ließ sich neben Mayas Stuhl auf den Boden sinken und stützte seinen Kopf auf die Hände. Obwohl er versuchte, es vor ihr zu verbergen, konnte sie spüren, daß er von Schluchzen geschüttelt wurde. Maya strich ihm über sein feines, helles Haar. »Ich auch, mein Lieber«, murmelte sie traurig, »ich auch.«

D’arvan sah kurz zu ihr auf und verbarg sein Gesicht in den Händen. »Bei den Göttern, wie mußt du mich verachten!« schluchzte er.

Maya war überrascht. »Wofür, um alles in der Welt?« sagte sie.

»Weil ich zu nichts zu gebrauchen bin. Ich bin ein nutzloser Feigling – ich kann nur wie ein Mädchen weinen und mich selbst bejammern. Aber du bist eine Kriegerin – du bist mutig – ich weiß, wie mutig du bist. Du würdest dich niemals so gehen lassen wie ich.«

Maya kicherte. »Wenn du wüßtest. Vor nicht einmal einer Stunde lag ich nebenan und habe geheult wie ein Schloßhund!«

D’arvans Augen weiteten sich. »Wirklich?«

»Natürlich, du Dummkopf. Wir haben furchtbare Dinge erfahren – Verrat über Verrat, ganze Tragödien –, und du mußtest darüber hinaus noch mit einigen besonders schockierenden Neuigkeiten fertig werden. Und jetzt können wir unseren Gefühlen ruhig freien Lauf lassen – hier, wo wir im Moment sicher sind: Es kann nie ein Fehler sein, Trost zu benötigen – oder sich trösten zu lassen, D’arvan. Und wir beide haben es gerade jetzt besonders nötig.« Während sie sprach, ließ sich Maya neben den jungen Magusch auf den Boden sinken und legte ihre Arme um ihn. Er wandte sein Gesicht ab.

»Wie kannst du es ertragen, mich zu berühren?« murmelte er. »Du weißt ja gar nicht, was ich bin.«

»Quatsch! Ich weiß genau, was du bist – das weiß ich schon seit Monaten. Du bist schüchtern und gutherzig, du liebst die Musik und die Blumen, und du hast die erstaunlichste Begabung fürs Bogenschießen, die mir jemals untergekommen ist. Ich kann es immer noch nicht glauben, wie du damals bei deinem ersten Besuch in der Garnison nur mal probeweise mit meinem Bogen geschossen und mir dann erzählt hast, du hättest nie zuvor so ein Ding in der Hand gehalten. Das ist also schon einmal eine Sache, für die du gut bist. Dann kannst du mit den Wölfen sprechen, und Lady Eilin glaubt, daß du die Erdmagie beherrschen wirst – und wer weiß schon, welche Talente du vielleicht von deinem Vater geerbt hast? Ich weiß, was du bist, D’arvan. Du bist auf jeden Fall etwas ganz Besonderes.«

Es fing damit an, daß sie ihn tröstete. Während sie sprach, spürte Maya, wie D’arvan sich entspannte, und langsam legten sich seine Arme um sie. Sie war eigentlich überrascht, wie gut ihr das tat, und mußte dann feststellen, daß ihre Gedanken plötzlich darum kreisten, wie anziehend sie ihn in letzter Zeit doch gefunden hatte. Halt! warnte sie ihr gesunder Menschenverstand. Es ist eine Dummheit. Du weißt, wie es Aurian und Forral ergangen ist.

Aber Maya kümmerte sich nicht darum. Sie machte sich keine Illusionen darüber, in welch jämmerlicher Lage sie sich befanden, und plötzlich kam es ihr so vor, als sei dies vielleicht die letzte Gelegenheit für sie beide.

»Weißt du«, murmelte sie D’arvan zu, »daß du das schönste Gesicht hast, das ich je gesehen habe?« Und dann küßte sie ihn.

Der Magusch erstarrte, seine Lippen reagierten nicht im geringsten. Jäh riß er sich los. »Nein!« keuchte er. »Ich kann nicht!«

Maya kam sich unaussprechlich dumm vor, versuchte aber, das beste aus der Situation zu machen. Wie konnte sie sich nur mit Anstand aus der Affäre ziehen? »So schlimm, hm?« fragte sie mit einem Achselzucken.

D’arvans Gesicht lief karminrot an. »Nein, Maya! Ich meine – du sollst nicht denken … Es ist nicht wegen dir …«

»Nun, das beruhigt mich immerhin.« Ihr Versuch, ihn von seinem Gestammel zu erlöschen, schien die Sache noch schlimmer zu machen. Er wandte sein Gesicht ab und weigerte sich, sie anzusehen.

»Es tut mir leid«, murmelte er. »Ich kann nicht. Ich meine, ich habe nie … Ach verdammt, ich wüßte ja noch nicht einmal, wo ich anfangen sollte!«

Maya lächelte. »Wenn du willst«, sagte sie sanft, »dann ist es mir eine Ehre und ein Vergnügen, dir das beizubringen.«

Zuerst war er unbeholfen – unbeholfen und verlegen und furchtbar schüchtern. Aber Maya war geduldig. Zart und ohne Hast ermutigte und leitete sie ihn, und der Ausdruck von Erstaunen auf D’arvans Gesicht – zum erstenmal, als er selbst den Höhepunkt der Lust erreichte, und dann noch einmal, als sie ihm zeigte, wie er die gleiche Lust bei ihr erregen konnte – belohnte sie mehr als reichlich dafür. Beim Anblick seines im ersten Dämmerlicht strahlenden Gesichts überflutete Maya ein so intensives Gefühl der Zärtlichkeit, daß es ihr den Atem verschlug. So wählerisch sie auch in der Vergangenheit bei der Auswahl ihrer Liebhaber gewesen war – es war keiner dabeigewesen, der dieses Gefühl in ihr wachgerufen hatte. Sie streckte die Hände aus, um sein Gesicht zu berühren. »Siehst du«, erklärte sie ihm, »jetzt haben wir noch etwas entdeckt, auf das du dich verstehst.«

D’arvan lief rot an, aber seine Augen glänzten vor Freude. »Ach, Maya. Ich hätte mir nie erträumt … Maya – du gehst doch nicht zurück in die Stadt, oder? Ich möchte von jetzt an nie mehr von dir getrennt werden.«

Maya legte ihre Stirn in tiefe Falten, als sie begriff, wie sehr sie die Dinge kompliziert hatte. »D’arvan«, sagte sie sanft. »Es wird die Zeit kommen, da wir kämpfen müssen. Das weißt du doch, oder?«

Zu Mayas Überraschung blickte sie der Magusch klar und bestimmt an. »Das weiß ich – und dazu bin ich bereit«, sagte er. »Es ist schwer zu erklären, aber nach meiner – nachdem Davorshan mich verraten hatte, war es so, als hätte mein Leben keinen Sinn mehr. Ich fühlte mich hohl wie ein Schatten, aber das ist jetzt ganz anders geworden. Zum erstenmal in meinem Leben fühle ich mich wie ich selbst, wie mein ganz eigenes Selbst, und ich habe jetzt etwas, für das ich kämpfen will. Ich möchte nur, daß wir den Kampf gemeinsam ausfechten, welche Formen er auch annehmen mag. Und wenn du wirklich meinst, daß du nach Nexis zurückkehren mußt, dann soll meine Magie eben warten. Ich verstehe mich ja immerhin aufs Bogenschießen, weißt du. Ich hatte den besten Lehrer, den man sich denken kann – in allen Dingen.«

Maya war von seinen Worten völlig verblüfft. Schließlich fand sie ihre Stimme wieder. »Mir kommen hundert Gründe in den Sinn, warum ich zurückgehen sollte«, sagte sie. »Aber irgendwie … Nun, vielleicht wäre es das beste, wenn ich eine Weile hierbliebe. Lady Eilin scheint der Ansicht zu sein, daß meine Rückkehr nach Nexis völlig sinnlos ist, obwohl ich ein schlechtes Gewissen habe, daß ich meinen Posten verlassen habe. Aber ich will dich auch nicht hier alleinlassen, liebes Herz. Vielleicht können wir zusammen irgendeinen Weg finden, unsere Fähigkeiten vereint gegen den Erzmagusch einzusetzen – das hängt natürlich davon ab, ob Eilin diesem Arrangement zustimmt. Sie wird wahrscheinlich entsetzt sein und mich sofort aus ihrem Tal hinauswerfen.«

»In diesem Fall«, sagte D’arvan bestimmt und mit einem neuen, freudigen Klang in seiner Stimme, »kann sie gleich uns beide zusammen hinauswerfen.«

Sie schliefen noch, als Eilin sie am Morgen fand. Sie lagen zusammengerollt auf dem zerwühlten Bett wie zwei Katzen. D’arvans Haut wirkte auf seinen Armen, mit denen er Mayas gebräunten drahtigen Körper umschlungen hielt, besonders weiß, und er lächelte im Schlaf. Das gelöste, lange, dunkle Haar der Kriegerin fiel über die beiden wie ein Umhang. Die Lady starrte die beiden eine ganze Weile lang schweigend an. »Nicht schon wieder«, seufzte sie, zuckte dann hilflos die Achseln und blickte gen Himmel. »O ihr Götter«, murmelte sie. »Warum laßt ihr es immer wieder geschehen? Nun sind es schon drei, um die ich mich sorgen muß.«

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